Esteban
Vogelgezwitscher von draußen weckte ihn. Wo war er? Einen Moment lang sah er sich verwirrt um, fühlte etwas warmes neben sich. Dann fiel es Esteban wieder ein. Sie hatten die Nacht miteinander verbracht. Oliver lag neben ihm, einen Arm unter dem Kopf verschränkt im Schlaf, leise Atemgeräusche von sich gebend.
Bist du jetzt zufrieden? Das hast du nun davon, hast dich nicht zurückhalten können gestern. Wieder diese innere Stimme in ihm, die nichts lieber tat, als ihn fertig zu machen. Musste das wirklich sein, so früh am Morgen? Mensch, Esteban, du machst dir alles nur schwerer. Jetzt wird es dir richtig weh tun, hier wegzugehen. Und er wird sich entschuldigen und sagen, dass diese Nacht bedeutungslos für ihn war. Garantiert.
Es würde das Beste sein, wenn er sich anzog und verschwand. Er konnte Oliver einen Zettel schreiben und diesen auf den Küchentisch legen…
In diesem Moment gab Oliver ein seufzendes Geräusch von sich und öffnete die Augen. „Guten Morgen”, sagte er und schaffte es, ihm trotz seiner Verschlafenheit ein Lächeln zu schenken. Soviel zu dem Plan, sich davon zu schleichen… „Bleibst du zum Frühstück? Ich würde mich freuen.”
Esteban wollte nicht unhöflich sein, also sagte er: „Wenn … wenn es dir keine Umstände macht.”
„Aber nicht doch. Geh ruhig ins Bad. Handtücher sind im Schrank an der Wand. Ich mache uns inzwischen einen Kaffee. Was magst du zum Frühstück essen?”
Er zuckte mit den Schultern. „Was immer du isst.”
„Obst und Toast?”
Esteban nickte „Das klingt gut.”
Während Oliver sich einen Morgenmantel aus dunkelblauem Satin überstreifte, sammelte er seine Kleidung ein, ging ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Als das warme Wasser auf seinen Nacken prasselte und seinen Körper hinunterrann, kehrte das Gedankenkarussell zurück. Was sollte er Oliver sagen? Wie viel ihm diese Nacht bedeutete? Nein, bloß nicht, Oliver würde dann sonst was von ihm denken.
Andererseits, das war weder ein unbedeutender Flirt gewesen, noch ein verirrter Kuss. Sie hatten beide gewusst, was sie taten, hatten sich beide nicht zurückgehalten.
Aber war das für Oliver einfach nur ein einmaliges kleines Abenteuer gewesen – ein One Night Stand mit einem Kollegen? Oder war da mehr? Und wenn es so war, was hatte das für Konsequenzen für sie? Herrjeh, das alles konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen! Er musste sich auf seinen Umzug konzentrieren. Für romantische Anwandlungen hatte er einfach keine Zeit.
Aber dann erinnerte er sich wieder an die letzte Nacht und sein Körper strafte seine Gedanken Lügen. Er stellte die Dusche auf kaltes Wasser ein, um die aufkeimende Erregung wieder los zu werden. ¡Madre de Dios! 1 Was sollte er Oliver bloß sagen?
Kurz darauf fand er ihn in der Küche. Oliver summte vor sich hin, während sein Kaffeeautomat leise zischte. Der Duft von geröstetem Toast lag in der Luft.
Oliver macht eine einladende Geste in Richtung des Küchentisches. „Bitte, setz dich. Milch und Zucker zum Kaffee? Oder möchtest du lieber ein anderes Kaffeegetränk – Espresso oder Cappuccino?”
Esteban zögerte. „Kaffee mit Milch bitte.”
„Kommt sofort.”
„Wie kannst du so früh am Morgen schon so munter sein?”, fragte er.
„Es ist doch schon zehn. Ich bin ein Frühaufsteher, sonst stehe ich noch früher auf. War schon immer so”, erwiderte Oliver lachend.
„Hör mal … wegen letzter Nacht …” Esteban blieben die Worte im Hals stecken.
Oliver drehte sich von der Arbeitsfläche mit dem Toaster zu ihm herum. „Es war eine sehr schöne Nacht mit dir. Ich habe jede einzelne Minute genossen. Und ich hätte nichts dagegen, das zu wiederholen”, sagte er mit Nachdruck. „Aber es liegt an dir zu entscheiden. Du hast ja gesagt, dass du nach Los Angeles zurückgehst, und ich will mich dir in keinster Weise aufdrängen, um es mal so auszudrücken.”
Esteban wusste nicht recht, ob er erleichtert sein sollte. „Also … hat es dir nichts weiter bedeutet.”
Oliver schüttelte den Kopf. „Das würde ich so nicht sagen. Aber wie gesagt, ich will dir nicht im Weg stehen. Du hast gerade erst eine Beziehung hinter dir. Diese Nacht, wir beide – das war kein Fehler, nicht aus meiner Sicht. Aber wenn es etwas einmaliges bleibt, dann ist das so.”
Allmählich hatte Esteban eine Ahnung, worauf Oliver abzielte. Unverbindlicher Sex, der ihnen beiden Spaß gemacht hatte. Das war es gewesen. Nicht mehr, und nicht weniger. Oder doch? Er traute sich nicht nachzuhaken; Oliver würde es bestimmt in den falschen Hals bekommen. „Gut, dass du es so siehst. Geht mir ähnlich”, sagte er schließlich, den Kopf voll ungesagter Worte.
Er trank den Kaffee schluckweise. Oliver toastete Brot und stellte einiges auf den Tisch – Obst, Butter, Marmelade, Käse, Erdnussbutter und noch andere Köstlichkeiten.
„Glaubst du, unser Film wird Erfolg haben?”, fragte Esteban ihn kurz darauf, während er sich Butter auf eine geröstete Scheibe schmierte.
Oliver griff nach einem Apfel. „Ich weiß nicht. Ich hoffe es. Jeder Film, der gut ankommt, ist wie ein gutes Arbeitszeugnis. Aber mein Eindruck ist, Komödien sind nicht einfach. Wenn die Witze nicht zünden, wenn das Publikum nicht ordentlich was zu lachen hat, dann kann es schnell nach hinten losgehen.”
„Ich hatte jedenfalls viel Spaß beim Drehen.”
„Ja, geht mir ähnlich. Erinnerst du dich an die eine Szene, die wir so oft drehen mussten? Als Sally irgendwann angefangen hat zu singen? And time goes by so slowly 2 …” Oliver zog die Silben übertrieben in die Länge.
Esteban lächelte. Er hätte hier stundenlang sitzen können, ihm zuhören, mit ihm gemeinsam lachen. Warum konnte er nicht genug von diesem Engländer kriegen? Himmel, er fand sogar den Akzent süß, mit dem dieser sprach.
„Wirst du dich eigentlich wieder bei einer Seifenoper bewerben, drüben in den Staaten?
Esteban zuckte mit den Schultern und biss von seinem Toast ab. „Ich nehme, was ich kriege. Ich muss mal schauen.”
„Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Glück!” Oliver strich ihm über den Arm.
Die simple Berührung traf ihn wie ein Stromstoß. Himmel, er musste raus hier! Aber er wollte sich die Verunsicherung nicht anmerken lassen. „Danke, kann ich gebrauchen”, sagte er so cool wie möglich.
„Was hast du heute noch vor?”, fragte Oliver.
„Ich wollte anfangen zu packen. Warum fragst du?”
„Ach, ich dachte nur gerade, es ist ja Sonntag. Vielleicht könnten wir noch etwas zusammen machen? Ich hab heute Abend schon was vor, aber bis dahin ist ja noch viel Zeit.”
Estebans Idee, hier so schnell wie möglich zu verschwinden, löste sich in Luft auf. „An was dachtest du denn? Du kennst dich hier besser aus.”
„Hmm. Warst du schon mal im Hyde Park?”
„Nein.”
„Wir könnten da spazieren gehen. Es gibt auch einen See dort, auf dem man Tretboot fahren kann, es gibt ein, zwei Bootsverleiher. Und heute scheint die Sonne.”
Esteban versetzte die Vorstellung, weiter Zeit mit Oliver zu verbringen, in geradezu kindische Begeisterung. Wie peinlich . Das wollte er sich nicht anmerken lassen. „Ein Spaziergang hört sich gut an”, sagte er deshalb nur.
Nachdem sie zu Ende gefrühstückt hatten, fragte Oliver: „Möchtest du laufen oder lieber mit dem Auto fahren? Ich schätze, von hier ist es ein Fußweg von ungefähr einer Stunde. Ich jogge gelegentlich zum Park hinunter.
„Lass uns zu Fuß gehen”, bat Esteban. „Und kurz bei mir vorbeigehen, dann kann ich meine Medizin nehmen.”
„Ja, in Ordnung. Aber es könnte sein, dass wir unterwegs angesprochen werden.”
„Und wenn schon. Oder hast du Angst vor Paparazzi?”
„Nein. Aber ich setze mir auf jeden Fall eine Sonnenbrille auf”, erwiderte Oliver.
„Gute Idee. Ich hole meine von zu Hause.”
Oliver zog sich eine Shorts und ein schlichtes Shirt an, dazu Turnschuhe – ganz wie ein sonntäglicher Jogger. Er packte zwei Flaschen Mineralwasser in einen Beutel.
Kurz darauf genossen sie die Sonne und das warme Wetter, während sie südwärts schlenderten. Sie durchquerten den Primrose Hill Park und liefen einen kleinen Umweg zu Estebans Wohnung. „Wartest du kurz draußen? Ich hab nicht aufgeräumt”, fragte er.
„Wenn dir das lieber ist, klar”, erwiderte Oliver.
Hastig schloss Esteban die Haustür auf, wetzte in seine Wohnung. Schnell die Tabletten genommen und die Sonnenbrille aufgesetzt; innerhalb weniger Minuten war er wieder bei Oliver. Der unterhielt sich gerade mit einem der Nachbarn.
„War schön Sie kennenzulernen”, verabschiedete er sich, als Esteban dazu kam.
„Dein Nachbar hat mich neulich im Theater gesehen”, erzählte er, während sie weitergingen.
Ihr Weg führte quer durch den Regent’s Park, vorbei am Londoner Zoo, aus dem vereinzelte Tiergeräusche zu ihnen herüberdrangen, darunter das Zwitschern exotischer Vögel .
„Du kannst dich glücklich schätzen – ich spiele nicht oft den Stadtführer für Kollegen.” Oliver schenkte ihm ein schelmisches Grinsen.
„Ich fühle mich geehrt”, gab Esteban zurück und deutete eine spielerische Verbeugung an.
Olivers Grinsen wurde noch breiter.
Einige Zeit später bogen sie ein in den Gloucester Place, der sich als ziemliche lange Straße entpuppte, größtenteils mit drei- oder vierstöckigen Wohnhäusern hinter den für London typischen schwarzen Gitterzäunen.
Anschließend bogen sie nach rechts ab.
„Siehst du das Monument da vorn? Das ist der Marble Arch”, erklärte Oliver.
„Sollte man den kennen?” Esteban betrachtete nachdenklich das große helle Bauwerk, das über drei bogenförmige Durchgänge verfügte, zwei kleinere und einen großen in der Mitte.
„Als Londoner, würde ich sagen, ja. Dahinter fängt schon der Hyde Park an.”
Wenig später passierten sie das Monument und betraten den weitläufigen Park. Soweit das Auge reichte, gab es hier langgezogene Grünflächen, Bäume und Gehwege.
Oliver deutete auf eine Stelle, in deren Nähe sich ein Imbiss befand. „Möchtest du eine Rede oder einen Vortrag halten?”
Esteban sah ihn verständnislos an. Oliver grinste und deutete auf das Schild am Imbiss mit der Aufschrift „Speaker’s Corner”.
„Hier an diesem Platz darf jeder, der möchte, das Wort ergreifen und öffentlich sprechen.”
„Egal, über was?
„Fast. Die einzigen Tabuthemen sind die Königin und ihre Familie.”
Esteban betrachtete den Platz näher. „Aber hier ist keine Rednerbühne.”
„Soweit ich weiß, bringen sich die Leute selbst etwas mit, zum Beispiel kleine Trittleitern, auf die man sich drauf stellen kann.”
„Ach so”, erwiderte Esteban.
Oliver zuckte mit den Achseln. „Ich schätze, es ist zu früh für eine Rede, heute am Sonntag. Zu wenig Publikum.” Er wies auf die Imbissbude. „Möchtest du auch einen Kaffee?”
„Ja, gern.”
Wenig später schlenderten sie mit zwei Pappbechern weiter den Park entlang, in dem zu dieser Stunde nur wenig Fußgänger unterwegs waren. Nur einige Jogger liefen an ihnen vorbei und eine Frau mit ihrem Hund.
„Wie hat das bei dir angefangen, mit den Depressionen?”, fragte Oliver plötzlich.
Esteban hatte geahnt, dass diese Frage irgendwann kommen würde. Er zuckte mit den Schultern. „Das ging los, kurz nachdem mir klar wurde – also, ich meine, richtig klar – dass ich schwul bin. Wir hatten ja in dem mexikanischen Restaurant über unsere Outings gesprochen, aber da wollte ich dir noch nicht davon erzählen. Tut mir leid.”
„Das macht doch nichts”, erwiderte Oliver. Einen Moment lang nahm er Estebans Hand und drückte sie, streichelte seine Finger.
„Jedenfalls … Ich wusste nicht, mit wem ich darüber sprechen sollte und zog mich zurück”, fuhr Esteban fort. Oliver ließ seine Hand wieder los. „Meinen Freunden gegenüber war ich abwechselnd verlegen und ge reizt. Wenn mich jemand foppte, weil ich immer noch keine Freundin hatte, hätte ich heulen mögen. Ich konnte mich auch nicht mehr auf die Schule konzentrieren, meine Leistungen gingen in den Keller. Das war dann der Zeitpunkt, als meine Eltern hellhörig wurden. Sie wollten wissen, was mit mir los war, aber ich brachte es nicht über mich es ihnen zu sagen. Noch nicht. Also habe ich all meinen Kummer in mich hineingefressen. Ich meine, nicht wortwörtlich, ich hatte keine Essstörung. Aber ich habe alles mit mir selbst ausgemacht. Ich habe schlecht geschlafen und die ganze Zeit gegrübelt. Irgendwann war ich so fertig, dass ich nicht mehr weiter leben wollte.”
„Hattest du denn gar niemanden, dem du dich anvertrauen konntest?”
„Naja … ich hab einmal mitten im Unterricht einen Heulkrampf bekommen. Weiß nicht mehr, warum, aber es muss irgendeine Kleinigkeit gewesen sein, die mir aber in der Situation riesengroß erschien. Der Lehrer hat mich zur Schulpsychologin geschickt und die hat sich dann lange mit mir unterhalten. Und wenig später war ich bei einem Psychiater – auf Anraten dieser Psychologin. Dieser Arzt hat dann bei mir Depressionen festgestellt. Ich hab dann Antidepressiva bekommen und eine Gesprächstherapie. Meine Eltern haben darauf bestanden. Sie selbst waren völlig überfordert mit der Situation und ich schätze, sie hätten mir nicht viel helfen können.”
Er runzelte die Stirn bei der Erinnerung daran. „Damals, das war Mitte der Millenniumsjahre, waren Depressionen noch nicht so … wie soll ich sagen? Es gab noch nicht so viele Nachrichten darüber, wenig soziale Medien und so weiter. Ich kann mich auch an keine Pr ominenten erinnern, die damit an die Presse getreten sind und von ihren Erfahrungen berichtet haben. Das kam erst später. Und die ganzen Vorurteile damals… dieses ,reiß dich zusammen, dir geht’s doch eigentlich gut’ und andere Sprüche, das habe ich häufig gehört. Verstehst du, was ich meine?”
„Ich glaube schon.” Oliver sah ihn mitfühlend an. „Mensch, tut mir leid, was du alles durchmachen musstest. Hast du dich denn dann in der Gesprächstherapie geoutet?”
„Ja. Aber mein Therapeut vertrat die Ansicht, die Depressionen seien schwerwiegend genug, und wenn ich mich vor Freunden und Verwandten outen würde, könnte sich mein gesundheitlicher Zustand womöglich noch verschlechtern, wenn es negative Reaktionen geben würde.”
„Ach herrjeh, das war aber kein guter Rat. Oder?”
Esteban schüttelte den Kopf. „Ich weiß es bis heute nicht. Ich glaube, damals war es vielleicht einfacher, ein depressiver Jugendlicher zu sein – nach außen hin – als ein depressiver schwuler Jugendlicher. Vermutlich hab ich mir auf die Weise einiges an Prügel und homophoben Sprüchen erspart. Aber innerlich hat’s mich fast zerrissen. Wenn ich heute zurückblicke, ist es ein Wunder für mich, dass ich nie ernsthaft versucht habe, mir das Leben zu nehmen. Ich hab nämlich oft mit diesem Gedanken gespielt, das hatte ich ja schon erzählt. Ich hab lange Zeit gedacht, ich dürfe nicht so sein. Wie ich bin, was ich bin. Schwul. Das wollte nicht in meinen Kopf rein und ich hatte die Hoffnung, es würde irgendwann weggehen. Dass ich irgendwann doch noch ,normal’ werden würde.”
Oliver gab ein mitfühlendes Seufzen von sich .
Esteban trank einen Schluck. „Aber die eigene Orientierung ist ja nicht etwas, das man wählen kann. Ich hab mich dann auch noch in einem älteren Schüler verknallt, der hetero war. Das war eine seltsame Zeit – auf der einen Seite war ich sterbensunglücklich, auf der anderen Seite hat mir der Gedanke an ihn irgendwie Hoffnung gegeben. Auch wenn ich wusste, dass es mit uns nie etwas werden würde, aber allein schon in seiner Nähe zu sein, das hat mich glücklich gemacht. Schon merkwürdig, oder? Ich hab das meinem Therapeuten anvertraut, der wollte mir diese Vernarrtheit ausreden. Weil es ja nichts brächte. Ich war ziemlich wütend auf ihn. Ich meine, er hatte ja recht, aber auf der anderen Seite war diese Verliebtheit für mich wie ein Rettungsring. Zumindest für eine Weile.”
„Gab es noch andere schwule Kids an deiner Schule?”
„Bestimmt, aber nicht in meiner Klasse. Ich hatte ja den einen erwähnt, den diese Idioten in den Müllcontainer gestopft haben… Jedenfalls habe ich damals keine Jugendlichen kennengelernt, die damit offen umgegangen sind. Ich bin irgendwann in der Theatergruppe gelandet und das hat mich gerettet.”
„Wie meinst du das?” Oliver sah ihn aufmerksam an.
„Naja, das Schauspielen halt. Jede Woche konnte ich wenigstens zeitweise jemand ganz anderes sein und musste mich nicht gedanklich mit all meinen Problemen beschäftigen. In andere Rollen zu schlüpfen, das hat mir ungeheuer geholfen und ich bin auch mit der Zeit selbstbewusster geworden. Denn in der Theatergruppe habe ich viel Anerkennung bekommen. Es waren einige nette Leute dort. Und dann die Auftritte, der Applaus … das hat mir sehr viel gegeben.
Olivers Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Seine Augen leuchteten. „Das kann ich gut verstehen.” Er wurde wieder ernst. „Und wie ist es heute für dich?”
„Ich hab oft Existenzängste … seit ich aus der Soap raus bin, noch mehr. Bringt der Job ja auch mit sich, die Unsicherheit, wann man wieder Arbeit hat und wie viel Geld sie bringt.”
„Das geht uns allen ja so, mehr oder weniger. Hast du denn mal überlegt, doch etwas Anderes zu machen, mit einem festen Gehalt?”
Esteban lachte auf. „Darüber denke ich ständig nach, jeden Monat mindestens einmal. Aber bisher hatte ich ja meistens Glück, was die Jobs betrifft. Und wenn es nur Werbespots waren, aber die bringen schließlich auch Geld.”
Oliver nickte. „Ja, das ist wahr. Ich mache regelmäßig Witze darüber, dass ich im Notfall immer noch irgendwelche Aushilfsjobs machen kann. Aber wenigstens haben es meine Eltern aufgegeben, mich zu fragen, ob ich nicht doch noch was ,Vernünftiges’ machen möchte.”
Sie kamen an einem Brunnen mit mehreren Bronzefiguren vorbei, die fast über den Wasserfontänen zu schweben schienen – ein Mann und eine Frau, die miteinander tanzten und weitere kleinere Figuren, die tanzende Kinder abbildeten.
Eine fröhliche Leichtigkeit lag in diesen Statuen, obwohl sie in Wahrheit sicherlich schwer waren. Das erinnerte Esteban mit einem Mal daran, wie häufig er nach außen hin ebenfalls Leichtigkeit und Charme mimte, während es in seinem Inneren ganz anders aussah. In Olivers Gegenwart hatte er jedoch nicht das Gefühl, sich verstellen zu müssen. Vielleicht lag es an der Unverbindlichkeit ihrer Bekanntschaft .
„Immer wenn ich hier vorbei komme, male ich mir insgeheim aus, dass da zwei Männer miteinander tanzen”, riss Oliver ihn aus seinen Gedanken. „Ich weiß, das ist albern, aber ich kann es nicht lassen.”
„Ich finde das nicht albern. Ich hab auch schon hin und wieder überlegt, wie es wohl wäre, wenn berühmte Geschichten statt Mann und Frau ein schwules oder ein lesbisches Paar oder noch andere Beziehungsformen hätten.”
Sie schlenderten an dem Brunnen vorbei.
„Weißt du noch, wie wir gewitzelt haben, dass wir einander schreiben, wenn ich mal als Actionstar auftrete und du als Hamlet?”, fragte Oliver ihn.
Esteban nickte.
„Was hältst du davon, wenn wir E-Mail-Adressen austauschen?”
„Ich dachte, das mit den Rollen war als Witz gemeint?”
„Mehr oder weniger. Aber ich würde gern mit dir in Kontakt bleiben.”
Estebans Herz setzte einen Schlag aus. Er blieb stehen.
„Ich dachte, E-Mails sind vermutlich einfacher als Textnachrichten, wegen der Zeitverschiebung”, erklärte Oliver.
Esteban nickte, denn der Gedanke schien ihm verlockend. Er zog sein Smartphone hervor. „Dann sag mal an. Ich tipp mir das hier ein.”
„Okay. Aber du musst mir schwören, meine E-Mail-Adresse an niemanden weiterzugeben.”
„Dito.”
Sie beide tippten die Adressen in ihre Smartphones. Olivers bestand aus einer Buchstaben-Zahlen- Kombination, die keinerlei Rückschluss auf ihren Besitzer erlaubte.
„Schau besser noch mal nach, ob ich da keinen Zahlendreher drin habe”, bat Esteban ihn und zeigte ihm das Smartphone-Display.
Oliver schaute es sich an. „Ist richtig so. Übrigens, wenn wir weiter auf dieser Strecke gehen, können wir Sightseeing machen.”
„Was gibt es denn zu sehen?”
„Den Buckingham Palace. Er ist ungefähr zwanzig Minuten von hier entfernt, im Green Park.”
„Na, dann, auf geht’s, würde ich sagen”, erwiderte Esteban. Ihm lag nicht wirklich viel daran, Sehenswürdigkeiten zu bestaunen, aber er genoss es, mit Oliver unterwegs zu sein und hatte nichts dagegen, ihre gemeinsame Zeit noch ein wenig auszudehnen.
Sie schlenderten weiter, vorbei an langgestreckten Wiesen, Bäumen, Sträuchern und vereinzelten Blumenbeeten, die für bunte Tupfen in all dem Grün sorgten. Wenig später mussten sie eine Straße überqueren und kamen an einer Underground Station vorbei.
Oliver wies auf einen weiteren Triumphbogen, auf dem eine große Bronzeskulptur thronte. „Geradeaus sehen Sie den Wellington Arch mit einer Quadriga, einem Streitwagen, der von vier Pferden gezogen wird. Dieser Triumphbogen wurde errichtet, um …”
„Oh, bitte keine Geschichtsvorträge, ich kann mir das eh nicht alles merken”, wehrte Esteban lachend ab.
„Wie du willst”, erwiderte Oliver. „Ich gebe zu, ab hier hätte ich sowieso improvisieren müssen.”
Einige Zeit später standen sie vor dem Buckingham Palace. Ein gewaltiges dreigeschossiges Bauwerk, das vermutlich mindestens doppelt so lang war wie das White House. Eine Handvoll Touristen fotografierten die Front aus allen möglichen Blickwinkeln. Das Gebäude wurde durch einen Gitterzaun gesichert, der mit vergoldeten Wappen und Ornamenten verziert war.
„Wohnt die Queen hier?”, fragte er.
„Ja, die meiste Zeit wohnt sie hier mit ihrer Familie. Und darüber hinaus noch einige andere Adlige, glaube ich. Aber es gibt auch noch andere Schlösser, z.B. Windsor und Balmoral.”
„Wow. Kann man den Palast denn besichtigen?”
„Nur zu bestimmten Zeiten, in erster Linie im August und September, soweit ich weiß. Und auch nur einige Teile, natürlich.”
„Warst du mal drin?”
„Nein, hat sich bisher nicht ergeben und ich war auch nicht so scharf drauf, um ehrlich zu sein.”
„Echt nicht?” Esteban sah ihn überrascht an.
„Naja, nur weil man in einer bestimmten Stadt aufgewachsen ist und immer noch dort wohnt, heißt es ja noch lange nicht, dass man alle Sehenswürdigkeiten kennt.”
Esteban nickte ihm zu. „Auch wieder wahr.”
„Ich hab hin und wieder mal Changing of the Guards gesehen, den Wachwechsel. Das zieht auch sehr viele Touristen an, die stehen dann hier Schlange.” Er deutete auf einen der Wachposten am Palast, in dem ein Mann mit roter Uniform und einer hohen schwarzen Mütze stand.
Oliver sah auf seine Armbanduhr. „Heute haben wir ihn verpasst, er ist im Sommer immer um elf Uhr.”
„Das macht nichts. Vielleicht kann ich es mir ein anderes Mal ansehen.”
„Ich denke, ich werde den Weg zurück nach Hause joggen”, sagte Oliver und sah in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er sah Esteban direkt an und umarmte ihn.
Esteban nahm den Duft seines Aftershaves wahr. Vermutlich würde er nun immer, wenn er diesen Geruch irgendwo wahrnahm, an ihn denken…
„Es war schön mit dir”, sagte Oliver mit Nachdruck, als er sich von ihm löste.
„Das fand ich auch.” Esteban fühlte sich mit einem Mal rührselig. Ach herrjeh, das fehlte gerade noch, dass mir gleich die Tränen kommen... „Hast du etwas dagegen, wenn ich noch ein Stück mit dir jogge?”
„Nein, das würde mich freuen.”
Sie setzten sich in einer lockeren Geschwindigkeit in Bewegung und liefen den Weg zurück. Nach zwanzig Minuten war Esteban allerdings völlig außer Atem.
„Warte mal”, rief er Oliver zu, der mit lockeren Bewegungen neben ihm lief. „Und das meine ich nicht als Wortspiel zu deinem Nachnamen.3
Oliver trabte leicht auf der Stelle, sah ihn fragend an.
„Entschuldige, aber ich habe keine Kondition. Ich schaffe nicht den ganzen Weg zurück in diesem Tempo. Ich werde zur Underground Station gehen.”
„Kein Problem. Alles Gute für dich!”
„Danke, dir auch.”
Oliver schlang ein weiteres Mal seine Arme um ihn. „Und wie gesagt, schreib mir mal, wenn du magst. Ich würde mich sehr freuen.”
Esteban erwiderte die Umarmung innig. Am liebsten hätte er Oliver gar nicht mehr losgelassen. „Das mache ich. Spätestens, wenn ich als Hamlet auf der Bühne stehe.
„Perfekt. Wir lesen uns.” Oliver löste sich von ihm. Er zwinkerte ihm zu und joggte weiter. Esteban sah ihm nach, bis er in all dem Grün des Hyde Parks verschwunden war.

1 Spanischer Ausruf: Mutter Gottes
2 Englisch: Und die Zeit vergeht so langsam
3 waits = Englisch: er/sie wartet