Die erste und häufigste Version des zivilisatorischen Narrativs von Big Data ist das Argument des Komforts. Bequemlichkeit ist immer ein gesellschaftlicher Kompromiss zwischen dem, was zur Aufrechterhaltung einer gewissen Lebensweise erforderlich ist, und anderen Interessen. Welche Art von Kompromiss wird uns hier empfohlen?
Oft wird uns gesagt, dass wir unsere Daten gegen Dienstleistungen tauschen, die wir schätzen oder benötigen. Dies klingt nach einem guten Deal, der allerdings einige Haken hat. Zwar behaupten die riesigen Datenplattformen, gerade auch »meine« Daten unter den Milliarden Eingaben zu benötigen, für sich genommen haben sie aber wenig Wert. Jedenfalls so lange nicht, bis sie zusammen mit den Daten vieler anderer Menschen in einen riesigen Pool geworfen werden, so dass die Beziehungen zwischen all diesen Daten zutage treten können. Der Deal, den wir machen, ist also ein völlig anderer; er ist gesellschaftlicher Natur, nicht individuell.[1] Doch die Gesellschaft sollte sich auch die Frage stellen: Ist eine solche Vereinbarung tatsächlich für uns alle von Vorteil? Ist das wirklich ein guter Deal, auch auf gesellschaftlicher Ebene?
Ohne Zweifel ist das moderne Leben und Arbeiten komplexer geworden, wir pendeln unablässig zwischen virtuellen und realen Orten hin und her und versuchen, den Kontakt zu Freunden und Familie aufrechtzuerhalten, die oft verstreut leben. Vielleicht stimmt es ja, dass sich das Tempo des modernen Lebens in den letzten Jahrzehnten beschleunigt hat.[2] Wenn dem so ist, helfen uns die zahlreichen Verknüpfungsmöglichkeiten, die uns die Plattformen der sozialen Medien bieten, vielleicht wirklich dabei, diesen gestiegenen Druck zu bewältigen. Es ist durchaus komfortabel, mit wenigen Klicks Fotos mit Familie, Freunden und Bekannten via WhatsApp-Gruppe zu teilen. Und eine gestresste Mutter kann ohne viele Briefe und Anrufe über Facebook rasch einen Kindergeburtstag organisieren. Andere schätzen ihren Smart Speaker als digitalen persönlichen Assistenten, der ihnen die Haustür öffnet oder das Licht einschaltet, wenn sie gerade die Hände nicht freihaben.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir alle unter Druck stehen und einige dieser Lösungen durchaus nützlich sind. Aber angesichts der riesigen Territorien der Datenextraktion, die wir in Kapitel 2 aufgezeigt haben, sind wir durchaus berechtigt, auch nach den Kosten dieser Lösungen auf gesellschaftlicher Ebene zu fragen und sie gegen ihre individuellen Annehmlichkeiten abzuwägen. Hierbei sind hauptsächlich drei Arten von Kosten in Betracht zu ziehen.
Erstens entstehen Kosten aufgrund der ungleichen Machtverhältnisse, die sich aus der massiven Ausdehnung der Datenterritorien in Bereiche wie Landwirtschaft, Gesundheit und Bildung sowie allgemein ins Arbeits- und Privatleben ergeben. Wie wir gesehen haben, sind die Datenbeziehungen fast immer asymmetrisch und geben den Plattformen und Unternehmen Möglichkeiten, Details unseres Lebens zu tracken, die uns umgekehrt nicht offenstehen.
Zweitens ergeben sich Kosten für alle – und potenziell ernsthafte Schäden – aus der Entwicklung großer, die gesamte Gesellschaft erfassender Datensammlungssysteme. Wir haben in Kapitel 2 den einfachen Fall des Kfz-Versicherungsvertrags behandelt, der es Versicherern heute nicht selten ermöglicht, über die Daten hinaus, die ihnen die Halter selbst mitteilen, auch einen kontinuierlichen Datenstrom direkt aus deren Auto abzuzweigen, das für die Fahrer damit praktisch zum Überwachungsinstrument geworden ist. Dafür winken dem Versicherungsnehmer günstigere Prämien – ein Vorteil, der sich ins Gegenteil verkehrt, wenn ihm am Steuer mal ein Fehler unterläuft. Langfristig liegt der Nutzen allein auf der Seite der Versicherungsunternehmen, da solche Verträge die abgedeckten Risiken tendenziell einschränken. Man stelle sich vor, Krankenversicherungen erhielten in ähnlicher Weise Zugang zu Daten, auf die sie bislang keinen Zugriff haben, beispielsweise darüber, wo wir uns in den sozialen Medien herumtreiben oder welche Suchanfragen wir im Internet stellen. Die Folgen wären noch weitaus dramatischer.
Drittens besteht die Gefahr, dass die systematische Datenextraktion völlig neue Formen der Extraktion wirtschaftlicher Werte und deren Verarbeitung zu Dienstleistungen ermöglicht. Die Risiken tragen hier nicht die Dienstleistungsnutzer – Uber ist unbestreitbar komfortabel –, sondern die Beschäftigten in Bereichen, deren Arbeitsbedingungen vollständig von Plattformen diktiert werden, deren Betreiber im Globalen Norden sitzen. Dieser Wandel vollzieht sich nicht nur beim Ridesharing, sondern auch in Bereichen wie Lieferservice, Hausmeisterservice und einfachen Tätigkeiten, wie sie häufig von Wanderarbeitern ausgeübt werden. In diesen Fällen kommt der Komfort einigen, vielleicht sogar vielen, zugute, für andere bringt er jedoch Nachteile. Auch hier sollten wir uns auf das Gesamtarrangement (die dauerhafte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung) konzentrieren, die durch datenintensive Plattformen geschaffen werden kann.
Dies führt uns zu einem vierten und damit verbundenen Kostenpunkt, nämlich der effektiven, aber fast unmerklichen Reproduktion von Ungleichheiten, die das Erbe des historischen Kolonialismus sind. Nehmen wir als Beispiel die Sicherheit in den eigenen vier Wänden. Jeder, ob arm oder reich, braucht sie, und Wohlhabende auf der ganzen Welt lassen sie sich etwas kosten, weshalb Sicherheit auch ein attraktives Betätigungsfeld für Big-Tech-Konzerne ist. Aber der Einsatz solcher Technologien in Gesellschaften wie den USA mit ihrer langen Geschichte der Segregation wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht neutral ausfallen. Nehmen wir Amazons smarte Videotürklingel namens Ring, die mit einem breiten Netzwerk von Strafverfolgungsbehörden verbunden ist. Als Amazon Ring kaufte, erwarb es auch die App Neighbors, gedacht für den Austausch unter Nutzern über möglicherweise sicherheitsrelevante Vorgänge in ihrem Viertel. In der Folge hat Ring Patente für Systeme zur Gesichtserkennung und andere Techniken angemeldet. Solche Systeme werfen grundsätzliche Fragen über persönliche Freiheiten auf, bekannt ist aber auch, dass sie gerade für Bevölkerungsgruppen, die schon am meisten unter dem Kolonialismus zu leiden hatten, besondere Gefahren bergen.[3]
Unter dem Vorwand des Komforts versuchen Plattformen, zum Betriebssystem der Gesellschaft zu werden. Auf diese Weise, so ihr Kalkül, werden wir sie regelmäßiger und intensiver nutzen und ihnen mehr Werbeeinnahmen verschaffen. Je mehr Macht sie über unser Leben gewinnen, desto besser können sich diese Plattformen dann als komfortable Lösung für die Probleme anbieten, die sie mitverursacht haben. Möchten Sie sich vor »Rache-Pornos« schützen, also vor der unerwünschten Verbreitung ihrer selbstgeschossenen Nacktfotos in sozialen Medien? Dann schicken Sie doch einfach genau diese Selfies an Facebook! Das Unternehmen wird ihre digitale Signatur analysieren (angeblich ohne dass ein Mensch die Bilder dabei zu Gesicht bekommt) und sie anschließend aus der Masse von Postings herausfiltern, falls sie jemand publik macht.[4] Möchten Sie das Tracking durch Google einschränken? Dann sollte Ihr nächstes Mobiltelefon ein Google Pixel sein, »so designt, dass Privates auch wirklich privat bleibt« und die Nutzer »die volle Kontrolle« über all ihre Daten haben![5]
Bedenklich an unserem vermeintlich so guten Deal mit den Big-Tech-Plattformen ist auch die Zeitdimension – ist das alles wirklich auch langfristig komfortabel? Vielleicht gefällt mir, was eine neu installierte Plattform bietet, aber womöglich verliere ich später das Interesse. Allerdings bekomme ich dadurch die von mir gesammelten Daten nicht zurück, und sie büßen auch nicht ihren Wert für die Zukunft ein. Der Datendeal und insbesondere der gesellschaftliche Deal, der sich daraus ergibt, dass wir alle ähnliche individuelle Datendeals abschließen, ist auf Dauer angelegt – das ist komfortabel für die Unternehmen, aber auf lange Sicht nicht unbedingt für uns. Die sich daraus ergebende Umgestaltung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse wird sich, einmal in Gang gesetzt, nicht einfach rückgängig machen lassen. Daraus ergibt sich die konkrete Gefahr, dass durch den vermeintlich guten Deal kurzfristige individuelle Vorteile gegen langfristigen gesellschaftlichen Schaden eingetauscht werden.[6]
Zweifellos hängt die gesamte Frage des »Komforts« mit anderen Veränderungen des modernen Lebens zusammen, die weit über die Auswirkungen digitaler Plattformen oder der Datenextraktion hinausgehen: dem Rückgang sicherer Arbeitsplätze, dem zunehmenden Bedarf an flexiblen Arbeitszeiten, die sich mit den komplizierten Erfordernissen von Kinderbetreuung und der Pflege älterer Angehöriger vereinbaren lassen, dem Verschwinden beliebter Treffpunkte wie Kneipen oder Gemeindezentren, an denen man früher Informationen austauschte. Man kann sicherlich argumentieren, dass auch den Plattformen sozialer Medien – von Etsy und Instagram bis hin zu Alipay und WeChat – eine wichtige Rolle bei der Bewältigung unseres zunehmend unsicheren und komplexen Lebens spielen. Aber sind sie die einzigen Plattformen, die das könnten? Warum sollten wir nicht auch Alternativen in Betracht ziehen, die weniger Daten erheben?
Die Frage nach dem Komfort stellt sich mit besonderer Dringlichkeit in den Volkswirtschaften des Globalen Südens, die häufig nur über eine gering ausgebaute oder in einem schlechten Zustand befindliche Infrastruktur verfügen. Unter solchen Bedingungen kann das, was anderswo reiner Komfort ist, rasch zur alltäglichen Notwendigkeit werden. Nicht einmal in Südafrika, das zu den wohlhabendsten Ländern Afrikas zählt, verfügt die Mehrzahl der Menschen über ein Smartphone zu einem bezahlbaren Tarif.[7] Für die Mehrheit der Bevölkerung Afrikas ist es gar nicht möglich, etwas anderes als Facebook oder WhatsApp für Nachrichten oder Anrufe zu nutzen, da Meta diese Kosten subventioniert, um die Attraktivität seiner Dienste zu steigern.
Im Globalen Süden ist Facebook also eher ein aufgezwungener Komfort, der sich zudem keineswegs natürlich ergibt, sondern direkt aus dem Erbe des Kolonialismus resultiert, und dies aus zweierlei Gründen. Der erste ist die immer noch schlechte oder fehlende Telekommunikationsinfrastruktur, eine Folge jahrhundertelanger Unterinvestition. Der zweite Grund ist, wie bereits angedeutet, die privilegierte Position von Facebook, mit Staaten und Telekommunikationsanbietern Sonderkonditionen aushandeln zu können, die den Zugang zu dieser Plattform und mit ihr verbundenen Diensten verbilligt oder kostenlos macht. Facebook hat solche Abmachungen, als Free Basics bekannt, mit mehr als dreißig afrikanischen und vielen anderen Ländern in Asien, Lateinamerika und dem pazifischen Raum getroffen. Das Motiv dafür ist weniger Nächstenliebe als der Versuch, die sinkenden Nutzerzahlen im Globalen Norden auszugleichen. Tatsächlich ist die Gesamtzahl der Facebook-Nutzer rückläufig, was den Bedarf an neuen Nutzern in anderen Ländern noch erhöht.[8]
Die Wirtschaft ist auf Informationsaustausch angewiesen, weshalb man in Ländern mit mangelhafter Transportinfrastruktur und schlechten Kommunikationsmöglichkeiten nur schwer etwas gegen so komfortabel scheinende Dienste wie Facebook einwenden kann. Manche sehen in Facebook den einzigen Kanal im heutigen Afrika, über den man Marktinformationen erhalten kann. Balqees Awad, eine Bewohnerin der sudanesischen Hauptstadt Khartum, erklärte der sudanesischen Journalistin Nesrine Malik für den Guardian, wie sie Facebook in Zeiten akuten Versorgungsmangels nutzt:
Wenn eine Bäckerei Brot hat oder eine Tankstelle Treibstoff geliefert bekommt, meldet das immer jemand aus der Gruppe. Auch wenn es irgendwo verstärkte Polizeipräsenz gibt, macht das die Runde. Die Patrouillen greifen sich manchmal willkürlich Leute, um sie zu erpressen, oder sperren sie einfach ein.
Ähnlich verhält es sich mit Unternehmen, die ihre Dienstleistungen aufgrund schlechter Infrastruktur nur schwer vermarkten können. In Ägypten, so Malik, sind viele Kleinunternehmen auf Facebook angewiesen, um Kunden zu gewinnen.[9] Allerdings entstehen in manchen Regionen des Globalen Südens mittlerweile lokale Netzwerke mit einer Informationsinfrastruktur für Unternehmen, die sich nicht auf Plattformen des Globalen Nordens wie Facebook stützen, beispielsweise das Open Network for Digital Commerce in Indien.[10]
Ist aber nun das stärkste Argument für Facebook, dass die Plattform eine leicht zugängliche Informationsstruktur in Ländern schafft, die unter dem Erbe des Kolonialismus zu leiden haben? Falls dem so ist, sollte man über Big Tech auch unter einer längerfristigen historischen Perspektive nachdenken und versuchen, sich darüber klar zu werden, wem genau die immer noch bestehende soziale und wirtschaftliche Ungleichheit eigentlich nützt, die mit der Macht westlicher Plattformen verbunden ist. Durchaus möglich, dass die Interessen von Facebook, einem Big-Tech-Unternehmen mit Sitz im Globalen Norden, auf Dauer nicht deckungsgleich mit denen der Menschen dieser Gesellschaften sind. Es wäre jedenfalls nichts Neues, dass Kolonisatoren versuchen, durch den Aufbau einer komfortablen Infrastruktur ihre Herrschaft zu stützen.
Ähnliches lässt sich über die Rolle sagen, die globale Medienplattformen wie WhatsApp dabei spielen, Hunderten Millionen von Zwangsmigranten bei ihrer gefährlichen Suche nach einem besseren Leben jenseits der Grenzen ihres Landes zu helfen, Kontakt mit Familie und Freunden in der Heimat zu halten. Dies gilt auch für die Bedeutung von Facebook und Twitter für die politische Mobilisierung und den politischen Diskurs in autoritär regierten Staaten wie dem Iran oder Saudi-Arabien. Aber wir müssen uns auch fragen, was daraus folgt, wenn wir so argumentieren. Wollen wir wirklich sagen, dass die Vorteile der Plattformen des Globalen Nordens am besten in autoritären Ländern mit schwacher Kommunikationsinfrastruktur funktionieren, die oft ehemalige Kolonien des Westens sind? Falls ja, liegen wir wieder ganz auf der kolonialistischen Argumentationslinie.
Unterdessen darf man nicht vergessen, dass in Afrika längst nicht mehr nur US-amerikanische, sondern auch chinesische Unternehmen eine große Rolle spielen. Ganz offensichtlich wetteifern beide Großmächte des Datenkolonialismus um die Gunst der afrikanischen Verbraucher.
So sehr wir versucht sein mögen, das Narrativ des Komforts zu akzeptieren, es lässt sich nicht ohne weiteres von alten und neuen kolonialistischen Prozessen und von den spezifischen Kosten trennen, die mit der neuen Landschaft der einseitigen Datenextraktion verbunden sind, von der viele Aspekte der heutigen Gesellschaft und Wirtschaft gekennzeichnet sind. Doch wenden wir uns nun dem zweiten Kandidaten für ein neues »Fortschrittsnarrativ« zu: der Vernetzung.