Stellen Sie sich vor, Sie sind der König oder die Königin von England. Genauso gut könnten Sie aber auch das Oberhaupt des kolonialen Spaniens, Frankreichs oder der Niederlande sein. Für welches Land Sie sich auch entscheiden, die Aufgabe, die vor Ihnen liegt, ist im Wesentlichen stets dieselbe: Es gilt, Territorien zu besiedeln, mit Rohstoffen zu handeln, Städte zu gründen und die einheimische Bevölkerung unter Kontrolle zu halten. Eine gehörige Portion Ehrgeiz und Habgier sind für diesen Job sicherlich nützlich.

Entdecken, Expandieren, Ausbeuten und Ausrotten – das sind die strategischen Mittel Ihres Handwerks. Mit ein paar Klicks wenden Sie diese vier Strategien nacheinander an und errichten sich so Ihr Imperium. Und dann wenden Sie sie wieder an. Und wieder. Und sollte Ihr Reich untergehen, der Konkurrenz unterliegen oder in einem Krieg vernichtet werden, so ist das kein Problem. Sie fangen einfach von vorne an, schließlich ist alles nur ein Videospiel: Sid Meier’s Civilization, ein rundenbasiertes Strategiespiel aus dem Jahr 1994 (Neuauflage 2008).

Entdecken, expandieren, ausbeuten, ausrotten – oder eXplorieren, eXpandieren, eXtrahieren, eXterminieren –, das ist die bewährte Strategieformel für sogenannte »4X-Spiele«. Aber sie fasst auch sehr treffend zusammen, wie die europäischen Kolonialherren vorgingen, als sie riesige Vermögen für sich selbst, aber gewaltiges Elend für alle anderen schufen und nebenbei die Organisation der Ressourcen dieser Welt völlig neu ordneten.

Der Kolonialismus war ein vielschichtiges Projekt, geführt

In all ihren Operationen folgten sie getreulich dem 4X-Modell. Sie rüsteten »Entdeckungsfahrten« aus, um neue Orte ausfindig zu machen, die sich mit militärischen und technologischen Mitteln kontrollieren ließen; sie sorgten für die »Expansion« ihres Herrschaftsgebiets, indem sie Kolonien gründeten, aus denen sich mit Gewalt Ressourcen fortschaffen ließen und deren Bevölkerung sie zur Arbeit zwingen konnten; sie betrieben die »Ausbeutung« dieser Kolonien, indem sie ein globales Handelsnetz errichteten, das diese Ressourcen zum Vorteil des Kolonisators in Reichtum verwandelte; und schließlich brachen sie durch »Ausrottung« jeden Widerstand der Kolonisierten und zerstörten deren besondere Lebensweise. So könnte man die Geschichte des Kolonialismus von 1492 bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts in aller Kürze zusammenfassen. Mit Hilfe des 4X-Modells gelang es den europäischen Kolonisatoren, über 84 Prozent des Globus zu kontrollieren, obwohl ihr Kontinent nur 8 Prozent der Landmasse des Planeten ausmacht.[2]

Schauen wir einmal, inwiefern dies mit dem Vorgehen der großen Technologieunternehmen zusammenpasst.

Aber wie beim historischen Kolonialismus ist die Inbesitznahme des Territoriums nur der Anfang. Waren die Kolonien einmal gegründet, wurde ein System zur kontinuierlichen Ausbeutung und Verwandlung ihrer Rohstoffe in Reichtum errichtet. Big Tech hat ein ganz ähnliches Ausbeutungssystem geschaffen; es funktioniert durch Geschäftsmodelle, die »unsere« Daten – also die Daten, die sich aus dem Tracking unseres Lebens generieren lassen – in Reichtum und Macht (allerdings nicht für uns) verwandeln. Auf der Mikroebene bedeutet dies, dass unsere Daten verwendet werden, um uns durch gezielte Werbung und Profilerstellung individuell anzusprechen. Auf der Makroebene hat es zur Folge, dass unsere Daten in aggregierter Form dazu verwendet werden, Entscheidungen zu fällen oder Prognosen zu treffen, die sich auf große Gruppen von Menschen auswirken, beispielsweise, wenn ein Algorithmus darauf trainiert wird, Unterscheidungen anhand von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Einkommen oder Gesundheitszustand durchzuführen. Möglich wird dies dadurch, dass

Das bringt uns zum vierten X, wo sich ein etwas komplexeres Bild ergibt. »Ausrottung« nahm in der Geschichte des Kolonialismus vielfältige Formen an. Todesfälle gab es hauptsächlich durch Krieg, Massensuizid, Krankheiten, Hunger und andere Formen der Gewalt. Spanier, Portugiesen, Briten und Amerikaner sind für den Tod von 175 Millionen Ureinwohnern Amerikas verantwortlich, in Indien starben 100 Millionen Menschen unter der Kolonialherrschaft des Vereinigten Königreichs. Während des transatlantischen Sklavenhandels kamen 36 Millionen Afrikaner ums Leben (darin nicht eingerechnet jene, die nach ihrer Ankunft in Amerika als Sklaven zugrunde gingen). Eine Million Tote in Algerien gehen auf das Konto der Franzosen, in Indonesien wurden Hunderttausende von den Niederländern getötet. Viele weitere Millionen bleiben wohl für immer ungezählt.[3]

Aber rohe physische Gewalt war nicht die einzige Option. Der Kolonialismus trägt zwar auch schon immer die Vernichtung menschlichen Lebens in sich, doch schon früh verstanden die Kolonisatoren, dass sie auch jegliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Alternative zum Kolonialismus eXterminieren mussten. Eine ihrer Strategien war die Einführung von Monokulturen, die für den Kolonisator hochprofitabel waren, aber den Kolonisierten die Möglichkeit nahmen, selbst für ihre Ernährung zu sorgen. Man denke nur an den Aufbau einer Kaffeeproduktion durch die Niederländer in Ostindien, die von einer Ernte von 45 Kilogramm im Jahr 1711 auf 5,4 Millionen Kilogramm im Jahr 1723 anwuchs.[4] Oder an die Zuckerplantagen, die in der Karibik zu großer Armut und Elend führten, während sie auf dem Höhepunkt ihrer Produktion im 18. Jahrhundert beachtliche 5 Prozent zum britischen

Zu den Strategien der (wirtschaftlichen) Vernichtung gehörte auch die Verhinderung möglicher Konkurrenz durch die Überschwemmung der Märkte mit billigen Waren, die die heimische Produktion ruinierten. Ein Beispiel dafür ist der britische Baumwollhandel, der konkurrenzlos preiswerte, maschinell hergestellte Textilien auf die Weltmärkte warf. In Kolonien wie Indien entzog dies der Lebensweise und den Verdienstmöglichkeiten der indigenen Bauern, Spinner und Weber den Boden, ganz zu schweigen von dem unendlichen Leid, das dadurch über die Sklaven auf den Plantagen in Amerika kam.[6] Überall in der kolonialen Welt gab es Anweisungen wie die folgende, die 1763 von London an den Gouverneur von Québec erging, um die lokale Industrie kleinzuhalten: »Es ist unser ausdrücklicher Wille und Wunsch, dass auf keinen Fall … Zustimmung zu einem Gesetz oder Gesetzen zur Einrichtung von Manufakturen … gegeben wird, da sich diese schädlich und nachteilig auf unser Königreich auswirken.«[7]

Die monopolistischen und wettbewerbsfeindlichen Praktiken von Big Tech haben vergleichbar disruptive Auswirkungen. Das Ausmaß, in dem sie eingesetzt werden, lässt sich schwerlich ignorieren: Lebte 1945 noch jeder dritte Mensch auf der Welt unter kolonialer Herrschaft, so hat heute etwa jeder dritte ein Facebook-Konto und fast jeder nutzt in irgendeiner Form Suchmaschinen. Das Umfeld, in dem dies stattfindet, und die Auswirkungen sind natürlich völlig andere, aber die Vergleichbarkeit der Größenordnung heißt auch, dass Konzernen wie Meta – zu dem Facebook, Instagram und WhatsApp gehören – oder OpenAI große Macht über das Leben vieler Menschen zukommt. Metas herausragende Stellung, so wurde vielfach

Formen der wirtschaftlichen und kulturellen Ausrottung brauchen immer eine gewisse Zeit, um ihre Wirksamkeit zu entfalten, aber sie sind mögliche Folgen eines Wandels, den wir bereits vor Augen haben: eine gewaltige Verschiebung der Machtverhältnisse, die sich aus der Eroberung virtueller Territorien ergibt. Währenddessen wird uns eine ganz andere und viel positivere Geschichte über Daten erzählt. Und auch dazu gibt es eine historische Parallele. Der Kolonialismus gab sich stets einen stark zivilisationsfördernden Anstrich, er verbreitete ein alternativloses Weltbild, das jede andere Entwicklung ausschloss und sämtliche Beiträge der Kolonisierten unsichtbar machte. Diese Weltanschauung ermöglichte es den Kolonisatoren, nicht nur über die Körper der Menschen, sondern auch über ihre Herzen und Köpfe die Kontrolle zu erlangen. Die

Als Beispiel für diese historischen Missionierungsbestrebungen kann die New England Company gelten. Die 1649 gegründete Gesellschaft widmete sich der »Erziehung« der »heidnischen« Bevölkerung in den britischen Kolonien durch anglikanische Missionsarbeit, die Errichtung von Schulen und die Übersetzung der Bibel in die Sprachen der indigenen Bevölkerung. Ihr erster Präsident war der Wissenschaftler Robert Boyle, der vor allem für das nach ihm benannte Gesetz bekannt ist, das die Beziehung zwischen Druck und Volumen von Gasen beschreibt. Weniger bekannt ist er für seine Theorien über die Natur der Hautfarbe und den Ursprung dunkelhäutiger Menschen. Boyle setzte sich zwar für eine bessere Behandlung von zum Christentum konvertierten Sklaven ein, lehnte jedoch wie viele seiner Zeitgenossen die Sklaverei nicht grundsätzlich ab. Wie alle Mitglieder der Royal Society profitierte auch er von den Investitionen dieser Institution in Aktien der Royal African Company und damit vom Sklavenhandel.[9]

Auch Big Tech wähnt sich heute auf einer zivilisatorischen Mission, die sich mit ihren Technologien und Geschäftszielen vermischt. Zum Teil dreht sie sich nach wie vor um die westliche Wissenschaft: Netzwerkwissenschaft, Datenwissenschaft, Computerwissenschaft und dergleichen. Um das Christentum ist es ihr nicht mehr zu tun, dafür geht es um so hehre Vorstellungen wie Komfort und Vernetzung, die uns angeblich allen das Leben versüßen und zu einer wundervollen neuen

Zivilisatorisches Sendungsbewusstsein, ökonomische Motive, Machtausübung und die Einführung spezifischer Technologien waren in der Geschichte des Kolonialismus seit jeher eng miteinander verwoben. Allerdings wirkten sie sich stets sehr ungleich aus, begünstigten einige, benachteiligten andere. Wir haben dies bereits an unserem Beispiel der Telegraphenverbindung im südlichen Afrika gesehen. Ein weiteres Beispiel ist der Aufbau eines Stromnetzes in der indischen Provinz Madras zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Elektrizität galt als Triumph der westlichen Wissenschaft über den »Teufel der Finsternis«, und während sie anfangs ausschließlich dazu diente, das Leben der Weißen komfortabler zu machen und damit deren kulturelle Überlegenheit unter Beweis zu stellen, versprach man sich von ihrer Verbreitung schließlich auch eine Art Werbeeffekt für die propagierten Vorteile des Kolonialismus, die man nun gnädig auch der indigenen Bevölkerung zugutekommen lassen wollte. Elektrizität brachte nicht nur Kinos, Straßenbeleuchtung und Straßenbahnen, sie versorgte auch Einrichtungen wie Krankenhäuser mit Energie – und generierte ganz nebenbei Einnahmen für britische Unternehmen. Aber über diese Annehmlichkeiten, Vergnügungen und öffentlichen Dienstleistungen hinaus diente die Elektrizität auch dem Betrieb von Waffenfabriken und Leuchttürmen, die Schiffen mit Kolonialwaren

Man braucht bloß »Elektrizität« durch »Daten« zu ersetzen, um zu sehen, wie sich bei Unterschieden im Detail manche Elemente der Geschichte auf geradezu gespenstische Weise wiederholen. Auch die Methoden der Datenverarbeitung werden als wissenschaftliche Errungenschaft gepriesen, als ein Geschenk, das Komfort, Vernetzung und neue Formen der Erkenntnis verspricht. Man braucht jedoch nur einmal ein wenig hinter die Fassade dieses zivilisatorischen Geschenks zu schauen, um festzustellen, dass es auch neue Formen der Kontrolle (Gesichtserkennung und Arbeitsplatzüberwachung), der Diskriminierung (Algorithmen, die über den Zugang zu Diensten auf der Grundlage von Persönlichkeitsprofilen entscheiden) und der Ausbeutung (ins Bodenlose fallende Löhne von Beschäftigten der Gig Economy) mit sich bringt.

Die Diskussion über das koloniale Erbe der westlichen Wissenschaft soll einer der roten Fäden dieses Buches sein. Dies ist ein heikles Thema, keine Frage. Ständig herauszustreichen, wie