Wir sind bereits auf die verschiedenen kommerziellen Akteure eingegangen, die mit der Quantifizierung des Sozialen befasst sind. Wo sind hier der Staat und Regierungsbehörden einzuordnen? Man kann davon ausgehen, dass es im öffentlichen Sektor nicht weniger Bereiche der Datenextraktion gibt als in der Privatwirtschaft. Schaut man genauer hin, sieht man sogar, dass sich beide Bereiche zunehmend verflechten.
Es ist allgemein anerkannt, dass der Staat gewisse Daten über uns speichern muss (und wir hoffen, dass er dies auf sichere Weise tut). Aber wenn der Staat seine Datenbanken ohne jede Transparenz und Rechenschaftspflicht gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen einsetzt, wird die Sache vertrackt. In der nordspanischen Region Katalonien kam ans Tageslicht, dass die offiziellen Stellen ein umfangreiches techno-soziales System zur Überwachung der muslimischen Bevölkerung eingerichtet hatten – zur »Prävention«, wie es hieß. Ein paar falsch interpretierte Posts auf Facebook zusammen mit Hinweisen auf eine Beteiligung an Gruppierungen, die sich gegen Islamophobie wenden, können schon genügen, damit ein Antrag auf Staatsbürgerschaft abgelehnt und der Antragsteller ausgewiesen wird. Und auch wenn sich das System nicht ausschließlich auf digitale Überwachungsmethoden stützt, spielt doch Technologie eine große Rolle in diesem Programm namens PRODERAE, dem »Prozess zur Aufdeckung und Verhinderung von Radikalisierung und Extremismus«.[1]
Diese Art der Überwachung wird auch an Staatsgrenzen ausgeübt. Erinnern Sie sich an die Geschichte von Khaled am Anfang dieses Kapitels? Staaten greifen zunehmend auf Daten zurück, um die Bewegungen von Migranten über »smarte Grenzen« zu kontrollieren. Wie man sich denken kann, führt diese Datafizierung der Grenzen nicht zu einer humaneren Behandlung dieser Personen. Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen waren Ende 2022 weltweit 110 Millionen Menschen auf der Flucht vor Armut, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen oder Umweltzerstörung.[2] Beim Versuch, eine Staatsgrenze zu überqueren, sehen sie sich häufig mit einer Vielzahl von Technologien zur Datenerfassung konfrontiert, wie wir bei Khaled gesehen haben.
Smarte Grenzen – wir haben das Wort »smart« in Kapitel 3 im Zusammenhang mit dem smarten Haus kennengelernt, aber hier bekommt das Wort einen verhängnisvollen Beigeschmack – sind nicht selten todbringende Grenzen. Die zunehmend allgegenwärtige Überwachung zwingt Migranten, den Grenzübertritt an weniger stark überwachten, dafür aber gefährlicheren Stellen zu versuchen, was zu höheren Todesraten geführt hat.[3] Zudem sind smarte Grenzen anfälliger für Missmanagement, werden die Instrumente, die sie smart machen, doch vom privaten Sektor bereitgestellt, was Regulierung und Rechenschaftspflichten erschwert.
An smarten Grenzen sind zahlreiche Technologien im Einsatz: Automatische Überprüfungssysteme für Visumanträge, autonome Überwachungstechnologien wie Drohnen, smarte Videosysteme, die Menschen verfolgen und identifizieren können, umfangreiche biometrische Systeme (Gesichtserkennung, Fingerabdrücke und Iris-Scans) zur Kontrolle von Migranten an Grenzübergängen, Fußfesseln und andere Geräte zur Standortbestimmung, ein umfangreiches System zur Extraktion, Analyse und zum Abgleich von Daten aus staatlichen, medizinischen und schulischen Akten, Telefonverbindungsdaten, sozialen Medien und anderen Quellen persönlicher Information.
Hinter diesen gewaltigen staatlichen Anstrengungen stehen zahlreiche Unternehmen, die sich auf die Quantifizierung des Sozialen spezialisiert haben, darunter bekannte Namen wie Amazon und Microsoft, auf deren Cloud-Dienste man sich für die Speicherung und Verarbeitung der extrahierten Daten verlässt. Aber der Sektor umfasst auch andere, weniger bekannte Unternehmen, die eine nicht minder entscheidende Rolle für die Massenverarbeitung von Daten spielen, beispielsweise Palantir, Salesforce und LexisNexis. Diese Unternehmen erhalten Regierungsaufträge in Millionenhöhe, begleitet von komplexen Vereinbarungen, die stets offenlassen, ob die für einen bestimmten Zweck gesammelten Daten nicht doch auch für ganz andere verwendet werden können.
Die kolonialistischen Anklänge smarter Grenzen sind frappierend. Seit jeher spielten bei Kontrollen der kolonialen Grenzen auch Daten eine Rolle. Zahlreiche Techniken – Pässe, Fingerabdrücke, Impfausweise – wurden zu diesem Zweck erfunden. Für Menschen kann die Überwindung staatlicher Grenzen mit großen Schwierigkeiten verbunden sein, für Technologien ist sie ein Kinderspiel; an der Grenze bewährte Verfolgungs- und Überwachungstechniken verbreiten sich rasch im Rest des Landes oder auch in anderen Ländern. Man denke nur an den Einsatz von Identifizierungstechnologien im Polizeialltag von Autokratien wie dem Iran. Dort wird mit ihrer Hilfe seit September 2022 die Einhaltung von Bekleidungsvorschriften für Frauen überprüft.[4] Grenzen waren schon immer Orte, an denen die Autorität des Nationalstaates im Rahmen der umfassenderen Logik des Kolonialismus wenn nötig mit Gewalt durchgesetzt wurde. Die vernetzte Macht und die unbegrenzte Reichweite der heutigen Technologien der Datenextraktion haben die Asymmetrien, zu denen dies führt, noch verstärkt.
Der umstrittene Silicon-Valley-Unternehmer Peter Thiel hat einmal gesagt: »Meiner Generation wurde die Besiedlung des Mondes versprochen, stattdessen haben wir Facebook bekommen.«[5] Thiel gehörte zu den ersten Geldgebern von Facebook, doch bald gründete er sein eigenes Unternehmen. Wir meinen hier nicht den Online-Bezahldienst PayPal[6], für den er vor allem bekannt ist, sondern seine Rolle beim Anschub von Palantir Technologies, einem Unternehmen, das heute eine wichtige Rolle bei der vom Staat organisierten Grenzsicherung spielt. Palantir bietet sich als Fallstudie dafür an, wie die Klasse der Datenkolonialisten dem Staat ihre Dienste in den Bereichen Datenverwaltung und Territorialmanagement andient.
Palantir ist ein US-amerikanisches, an der New Yorker Börse notiertes Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von 34,5 Milliarden Dollar. Gegründet im Jahr 2003 ist es bis heute eines der verschwiegensten Big-Tech-Unternehmen. Es arbeitet ähnlich den Datenaggregatoren, denen wir in der Automobil- und Werbebranche begegnet sind: Palantir sammelt nicht selbst Daten, sondern bietet Datenintegrationsdienste an. Die Kunden von Palantir kommen vor allem aus den Bereichen Sicherheit, Verteidigung und Nachrichtendienste, auch zahlreiche Unternehmen und Organisationen aus dem Gesundheitswesen, der Medikamentensicherheit und anderen Bereichen gehören dazu. Zunehmend umstritten ist die Rolle von Palantir beim Aufbau der Datenverarbeitung des britischen National Health Service.[7] Insgesamt liegt das Betätigungsfeld von Palantir hauptsächlich im zentralen staatlichen Aufgabenbereich.
Behörden sammeln viele Daten über Menschen, die Staatsgrenzen überschreiten. Außerdem haben sie direkt oder über ihre Befugnisse Zugang zu gewaltigen Mengen weiterer Daten. Ihr Problem: Wie lassen sich diese Datenquellen miteinander verknüpfen und sinnvoll nutzen? Vor allem: Wie lässt sich dies systematisch, kontinuierlich und in Echtzeit bewerkstelligen, um bei Grenzkontrollen Personen herauszufiltern, von denen womöglich eine Gefahr ausgeht? Hier vor allem bietet sich Palantir an. Das Dienstleistungsunternehmen kann viel mehr als nur Datensätze zu noch größeren aggregieren. Ohne allzu sehr in die wirklich komplexen technischen Details zu gehen: Palantir arbeitet auf drei miteinander verbundenen Ebenen von zunehmender Bedeutung. Um ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie das funktioniert, stellen wir uns einen staatlichen Kunden vor, der sich von Palantir beraten lässt.
Als Erstes organisiert Palantir die zahlreichen Rohdatensätze, die eine Regierungsstelle in ihrem Bereich gesammelt hat. Mit anderen Worten, es verknüpft Datenbanken miteinander (beispielsweise eine mit Angaben zu ausländischen Studenten und eine mit ausländischen Straftätern). Die Behörden selbst haben vielleicht keine Ahnung, wie sie diese Daten integrieren können, möglicherweise halten sie es sogar für unmöglich. Palantir räumt alle Ungereimtheiten aus dem Weg, sorgt für systematische Ordnung und verwandelt so einen Haufen von Nullen und Einsen in einen einzigen großen und aussagekräftigen Datensatz. Nach diesem Muster hat Palantir mit seiner Analysesoftware Foundry die Daten des National Health Service (NHS) im Vereinigten Königreich auf Vordermann gebracht.[8]
Als Nächstes geht Palantir in die Tiefe und sucht nach verborgenen Mustern in diesem riesigen Territorium der nun bereits vororganisierten Daten. Informatiker sprechen in diesem Zusammenhang von der Erstellung einer »Ontologie« – ein geläufigerer Begriff wären »Metadaten«. Dabei werden immer feinere Möglichkeiten der Kennzeichnung und Ordnung von Daten geschaffen, um verborgene Muster in Milliarden von Datensätzen ans Tageslicht zu bringen.
Auf der dritten Ebene geht es dann richtig zur Sache: Mit Hilfe der von Palantir entdeckten Tiefenmuster lassen sich Korrelationen zwischen bestimmten Datenkonstellationen und zukünftigen Straftaten erstellen. Mit solchen Prognosen ermöglicht Palantir es staatlichen Stellen, in Einzelfällen Präventivmaßnahmen gegen Personen oder Aktivitäten zu ergreifen, bevor das prognostizierte Ereignis eintritt.
Auf diese Weise ist Palantir praktisch ein aktiver Regierungsbestandteil geworden. Palantir bietet weit mehr als nur diskrete Unterstützung der unbestreitbar komplexen Aufgaben moderner Staaten. Das Unternehmen macht es möglich, riesige, unstrukturiert scheinende Datenmengen entscheidungsreif aufzubereiten. Palantir macht Muster auch in bislang voneinander unabhängigen riesigen Datenbanken sichtbar. Das Unternehmen kreiert durch seine komplexe Datenverarbeitung neue, zuvor nie identifizierte Zielsetzungen (der Fachausdruck lautet »Datenobjekte«). Sobald sie einmal klar formuliert sind, richten sich Entscheidungsfindung und Planung an ihnen aus.[9]
So lieferte Palantir der US-Polizei und US-Zollbehörde ICE, die auch für den Grenzschutz zuständig ist, ein Tool, mit dessen Hilfe durch Kombination mehrerer Datenbanken Personen ohne gültige Papiere identifiziert werden können. Dies hatte die gezielte Verhaftung und Abschiebung von Familienmitgliedern von Kindern zur Folge, die die US-Grenze allein überquert hatten, wodurch diese Kinder effektiv daran gehindert wurden, Hilfe bei ihren Verwandten in den USA zu suchen. Zwar behauptete Palantir, seine Software sei nie in Abschiebefällen eingesetzt worden, doch nachweislich wurden von ICE mindestens 443 Personen allein im Rahmen dieser speziellen Operation abgeschoben.[10]
Palantir schafft buchstäblich neue Möglichkeiten staatlichen Handelns. Technisch ausgedrückt erfüllt das Unternehmen laut einer Mitteilung der US-Börsenaufsichtsbehörde (SEC) den Bedarf seiner Kunden an »generalisierbaren Plattformen für die Modellierung der Welt und die Entscheidungsfindung«. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Modellierungen für den einmaligen Gebrauch, die nach ihrem Einsatz ad acta gelegt werden. Vielmehr stellen sie die Instrumente einer dauerhaften neuen Infrastruktur für die Entscheidungsfindung von Staaten dar. Was für die USA bereits Realität zu sein scheint, deutet sich auch in Europa an, wo Palantir für Sicherheitsorgane in Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich tätig ist.[11] In Krisenzeiten hat Palantir Hochkonjunktur: Das Unternehmen beriet die griechische und niederländische Regierung während der Coronapandemie und die britische bei der Bewältigung der hohen Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine.[12] Palantir strebt nach eigenen Worten an, »das Standard-Betriebssystem für Daten in der gesamten US-Regierung zu werden«.
Eine kürzlich durchgeführte Sprachanalyse der von Palantir eingereichten Patente hat etwas noch Beunruhigenderes zutage gefördert. Offenbar hat der Datenaggregator Ambitionen, neu zu definieren, was für Machthaber als Wissen zählt – und sogar für jene, über die Macht ausgeübt wird. Die Autoren der Studie formulieren es so: »Palantir arbeitet auf eine Welt hin, in der seine Plattform ein universeller ›Schatten‹-Wissensgraph für Regierungen, Branchen und Organisationen wird.« Mit anderen Worten: Palantir hält der gesellschaftlichen Welt einen Spiegel vor und bringt mächtige Organisationen und Regierungen dazu, in ihm ihr Territorium zu erkennen[13] – ein Spiegel, den es vor dem Auftauchen von Palantir nicht gab.
Diese Mission spiegelt sich auch in den erst jetzt bekanntwerdenden Details über die Rolle wider, die Palantir bei der Unterstützung der ukrainischen Armee gegen die russischen Invasoren spielt. Durch die Zusammenführung von Daten kommerzieller Satelliten mit Informationen aus Geheimdienstquellen und Aufklärung von der Front haben Palantir und die ukrainische Armee ein System entwickelt, das es Kommandeuren ermöglicht, das gemeinhin als »Nebel des Krieges« bezeichnete Informationsdefizit zu lichten. Die Daten werden auf der anderen Seite des Erdballs von leistungsstarker KI verarbeitet und dann mit Hilfe von Musks Satellitennetzwerk Starlink in Echtzeit auf das Schlachtfeld zurückgespielt. Experten zufolge verschafft dieses System einer Armee einen so großen Vorteil, dass man ihn mit der Verfügbarkeit von Atomwaffen vergleichen kann. Es werde auf Dauer die Art und Weise verändern, wie Kriege geführt werden.[14]
Dabei ist Palantir nur ein prominentes Beispiel unter vielen dafür, wie Unternehmen und Regierungen im Zeitalter des Datenkolonialismus Hand in Hand Datenextraktion betreiben. In den oberen Etagen der Klasse der Datenkolonialisten arbeitet man gemeinschaftlich daran, zu verändern, was in unseren Gesellschaften als »verwertbares« Wissen gilt. Den Ukrainern scheint dieses Wissen nun einen militärischen Vorteil zu verschaffen. Man könnte sich allerdings auch Sorgen darüber machen, dass Palantir seine Technologie vielleicht einmal an Armeen verkauft, die wir nicht unterstützen.[15] Für Khaled bestimmt dieses neue Wissen die Zwänge, unter denen er leben muss.
Zum jetzigen Zeitpunkt, kaum zwanzig Jahre nach der Gründung von Palantir, lässt sich noch nicht sagen, wohin das führen wird. Die East India Company benötigte nach ihrer Gründung im Jahr 1599 anderthalb Jahrhunderte, um zu jener quasi-staatlichen Militärmacht heranzuwachsen, als die sie in die Geschichte eingegangen ist.[16] Der Firmenname Palantir ist durchaus Programm: Die »Palantíri« sind in Tolkiens »Herr der Ringe« als »Sehende Steine« beschrieben, mit deren Hilfe man in die Vergangenheit und die Zukunft blicken kann. Die ungelöste Frage ist und bleibt: Wer hat die Kontrolle über eine solche Macht, und zu welchem Zweck?
Palantir ist lediglich ein besonders augenfälliges Beispiel für den allgegenwärtigen Wandel. In der gesamten Weltwirtschaft bieten sich Big-Tech-Unternehmen wie Microsoft und Google Unternehmen und Staaten als Lieferanten für Informationsinfrastruktur an. Ohne Dienstleister, die Datenintegration und Cloudspeicherung im großen Maßstab organisieren, wären Unternehmen heute gar nicht mehr in der Lage, ihre Beziehungen zur Welt zu verwalten (Palantir selbst nutzt Google Cloud).
Solche Verbindungen sind keineswegs eine neue Entwicklung, sondern Teil einer viel längeren und weitgehend unbeachteten Geschichte der Zusammenarbeit zwischen Staaten und Unternehmen. In den USA profitierte Alphabet (der Eigentümer von Google) schon früh von engen Verbindungen zum US-Verteidigungsministerium, und wie die Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato gezeigt hat, stützte sich selbst Apple, das sich gerne mit dem Nimbus von Unabhängigkeit umgibt, bei technischen Innovationen wie dem iPod, dem iPhone und dem iPad auf staatlich finanzierte Forschungsarbeiten. Es ist allgemein bekannt, dass die DARPA (der für die Forschung zuständige Zweig des US-Verteidigungsministeriums) den Aufbau des Internets finanzierte.[17] So ist es keine Überraschung, dass das Pentagon im Dezember 2022 mit Alphabet einen 9 Milliarden Dollar schweren Vertrag abschloss, gemeinsam mit Amazon, Microsoft und Oracle Cloud-Computing-Dienste aufzubauen.[18] Kein Wunder auch, dass DARPA die Entwicklung sprachgesteuerter Schnittstellen finanzierte, ein wichtiger Bestandteil von Stimmerkennungssystemen.[19]
Vor diesem Hintergrund kann es den Westen eigentlich auch nicht verwundern, dass die chinesische Regierung ihren wichtigsten Plattformen Anschubhilfe gegeben hat.[20] Umgekehrt hat der jüngste Konflikt zwischen der chinesischen Regierung und Plattformen wie Alibaba, Tencent und dem Fahrdienstleister DiDi (im Juni 2021 verbot China den Download der DiDi-App nur wenige Tage, bevor das Unternehmen an der New Yorker Börse notiert wurde) gezeigt, wie sehr diese Unternehmen auf politische Unterstützung angewiesen sind. Im 14. Fünfjahresplan, im April 2021 von der Kommunistischen Partei Chinas beschlossen, werden Daten zum ersten Mal zu den wichtigsten Gütern der Nation gezählt, was erwarten lässt, dass die staatliche Kontrolle in diesem Sektor deutlich anziehen wird.[21]
Der auffälligste Unterschied bei der Entwicklung von Big Tech in China im Vergleich zum Westen ist jedoch, dass man dort von Anfang an bestrebt war, die »Verbraucher-, Unternehmens- und Regierungsdaten« zu einem gesamtnationalen Wirtschaftsgut zusammenzufassen.[22] Es lohnt sich, einen Blick auf die Richtlinien von Chinas »Internet-Plus-Strategie« zu werfen, die KI mit einem Sozialkreditsystem verbindet.
Die politischen Absichtserklärungen zur Einführung eines Sozialkreditsystems sprechen eine deutliche Sprache. Begriffe wie »Mitwirkungsmöglichkeiten« oder »Freiheit« des Marktes, wie man sie oft im Silicon Valley hört, sind der chinesischen Regierung fremd. Stattdessen spricht sie direkter von einer »Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung durch den Markt«.[23] Im Mittelpunkt steht also Ordnung als gesellschaftliches Ziel, nicht unbedingt Freiheit. Doch der Begriff »Ordnung« beschreibt auch ziemlich gut viele der durch Daten bewirkten gesellschaftlichen Veränderungen, die wir in den vorangegangenen Kapiteln analysiert haben.
Hier haben wir eine Gelegenheit, die Logik zu erkennen, die die scheinbar so heterogene Klasse der Datenkolonialisten bewegt, ganz gleich, wo sich ihre Vertreter befinden und ob sie in Unternehmen oder Regierungen tätig sind. Wir sehen hier einen außergewöhnlichen Ehrgeiz am Werk, der ein neues, beständiges Wissen der Welt sucht und auf dieser Grundlage territoriale Macht mit einer Intensität auszuüben versucht, die in der Geschichte ihresgleichen sucht. Die ersten Nutznießer sind die Unternehmen als Eroberer der Datenterritorien, doch wir können sicher sein, dass die Regierungen nicht hinter ihnen zurückstecken wollen.
Man sollte die Angelegenheit jedoch nicht allein unter dem Aspekt autoritärer staatlicher Übergriffe sehen. In den westlichen Medien gab es viele kritische Berichte über Chinas Sozialkreditsystem oder das Aadhaar-Programm der indischen Regierung, das selbst für einfachste Transaktionen mit dem Staat einen biometrischen Ausweis verlangt. Manche sehen einen »wohlfahrtsindustriellen Komplex« heranwachsen – eine Allianz privater Unternehmen, die Hand in Hand mit dem Staat daran arbeiten, aus dem Wohlfahrtssystem und der konventionellen industriellen Entwicklung kommerzielle Vorteile zu ziehen.[24] Die Wahrheit ist, dass sämtliche Regierungen, auch demokratische, in vielen ihrer Tätigkeitsfelder von datenintensiven Programmen profitieren.
Nicht zuletzt profitieren sie auch vom Datenraub, den die von den Konzernen entwickelten Techniken überhaupt erst ermöglichen. Dies war eine der zentralen Erkenntnisse der Enthüllungen von Edward Snowden im Jahr 2013. Fallen wir also nicht auf die Mär von den guten Unternehmen und den bösen Regierungen herein, und erst recht sollten wir nicht leichtgläubig annehmen, dass demokratische Regierungen Technik auf förderliche Art nutzen und autoritäre Regierungen sie für finstere Zwecke einsetzen. Das Wesen der Regierung verändert sich weltweit durch die neue Form der Kontrolle und des Wissens, die Datenterritorien durch eine »öffentlich-private Überwachungspartnerschaft« ermöglichen, in der die alten Regierungsriegen eng mit der neuen Klasse der Datenkolonialisten zusammenarbeiten, um die Machtverhältnisse anders zu ordnen.[25]
Hier zeigt sich eine wichtige Kontinuität mit der Geschichte des Kolonialismus und des industriellen Kapitalismus. Der Staat hatte schon immer einen großen Bedarf an Informationen über das Gebiet, das er zu regieren beanspruchte. Seine Möglichkeiten, diese Informationen zu erlangen, haben sich insbesondere im 19. Jahrhundert erheblich vergrößert, als die Kolonialmächte in ihren Kolonien neue Überwachungstechniken wie Fingerabdrücke einführten und ausgefeiltere statistische Methoden entwickelten, um die unter den Umbrüchen der frühen Industrialisierung leidende einheimische Bevölkerung zu verwalten.
Heute versuchen die Regierungen zunehmend, die kommerziellen Techniken der Datenanalyse und algorithmischen Verarbeitung für ihre tägliche Entscheidungsfindung zu nutzen. In vielen Fällen stützen sie sich dabei auf die von Big Tech bereitgestellte Infrastruktur; 6500 US-Regierungsstellen sollen bereits die Cloud-Dienste von Amazon nutzen.[26] Zu den Regionen, in denen sich solche Dienste ausbreiten, gehört Lateinamerika, wo Regierungen mit geringen Ressourcen gerne nach schnellen Lösungen für schwierige soziale Probleme greifen. So hat beispielsweise in Argentinien die Regierung kürzlich einen Vertrag mit Microsoft unterzeichnet, um mit Hilfe von KI eine »Technologieplattform für soziale Interventionen« zu schaffen, die Schwangerschaften bei Teenagern aus der Unterschicht prognostizieren soll.[27] Ein anderes lateinamerikanisches Projekt im Sozialbereich ist Horus, das in Argentinien und Brasilien Vergeudung öffentlicher Mittel durch intensivere Profilierung von Sozialhilfeempfängern verringern soll; hier kamen KI-Dienste von Big-Tech-Unternehmen wie Microsoft zum Einsatz.[28]
In der Zwischenzeit hat die indische Regierung, wie bereits erwähnt, das Aadhaar-Identifikationssystem als Infrastruktur für Wohlfahrtsleistungen und vieles andere aufgebaut. Mitte 2019 waren 89 Prozent der Bevölkerung dort erfasst.[29] Ursprünglich wurde die Einführung des Systems damit begründet, sämtliche Bedürftigen in den staatlichen Datenbanken erfassen zu wollen, um es ihnen zu erleichtern, ihre Ansprüche an das Sozialsystem geltend zu machen. Es hat sich jedoch zu einem viel umfassenderen Hilfsmittel für staatliche und wirtschaftliche Aktivitäten in Indien entwickelt, das Ähnlichkeiten mit dem chinesischen System aufweist. Die Erfassung der biometrischen Daten, auf denen es fußt, geschah von Anfang an in öffentlich-privater Partnerschaft, was zu erheblichen Bedenken hinsichtlich Datenschutz und Überwachung führte.[30] Daten werden in Indien nicht anders als in China zum Brennpunkt einer nationalistischen Politik.[31]
Selten kommt es hingegen vor, dass ein Staat beschließt, den Bürgern seine Dienste auf der Grundlage der durchaus denkbaren Alternative anzubieten, den Datenfluss unter ihrer alleinigen Kontrolle zu belassen. Estland ist mit seinem X-Road-Projekt ein seltenes Beispiel hierfür.[32] Bisher hat noch kein Staat versucht, das Beispiel Estlands zu kopieren.