Vergleiche zwischen dem alten und dem neuen Kolonialismus sind zweifelsohne aufschlussreich, doch gleichsetzen darf man sie nicht. Dafür ist die Geschichte zu komplex und vielschichtig. Es lässt sich keine Liste mit Punkten zum Abhaken erstellen, die einen simplen Eins-zu-Eins-Vergleich zwischen der Niederländischen Ostindien-Kompanie und Alphabet-Google ermöglichte. Geschichte mag sich gelegentlich wiederholen, aber nicht so direkt. Dieses Buch bemüht sich daher um eine besondere Perspektive, durch die sich erkennen lässt, dass der Datenraub unserer Tage in Wirklichkeit tatsächlich eine Fortsetzung des kolonialen Landraubs ist, der vor fünf Jahrhunderten die Kontrolle über die Ressourcen der Welt neu organisierte und die Möglichkeiten ihrer Ausbeutung in die Hände einiger weniger legte. Aus ihr betrachtet lassen sich sechs wichtige Gemeinsamkeiten zwischen dem historischen Kolonialismus und dem Datenkolonialismus ausmachen.
Erstens, und das ist das Wichtigste, beruhen beide Systeme auf der Aneignung der Ressourcen der Welt, die sie als etwas behandeln, das man sich einfach so nehmen darf. In der Vergangenheit wurden unter dieser Prämisse beispielsweise die natürlichen Ressourcen und Arbeitskräfte Amerikas, Afrikas und eines Großteils von Asien sowie des Pazifiks geplündert. Und in unserer heutigen Zeit ist es das Leben der Menschen, das in Form von Daten geplündert wird.
Zweitens dient diese Aneignung immer einem umfassenderen Zweck: dem Aufbau einer neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die diesen Landraub letztlich rechtfertigt. Unabhängig davon, ob die Entwicklung über Jahrhunderte (wie beim historischen Kolonialismus) oder nur über Jahrzehnte (wie beim Datenkolonialismus) verlaufen ist, Ziel war und ist stets eine Neuordnung aller Lebensaspekte, die eine bestimmte, ausschließlich dem Kolonisator zugutekommende Form von Ausbeutung etabliert.
Drittens arbeiten beim Aufbau dieser kolonialistischen Ordnung und diesem globalen Landraub Staaten und Konzerne Hand in Hand. In der Vergangenheit waren Kolonialstaaten Monarchien, die Privilegien an eigens für den Zweck der kolonialen Extraktion geschaffene Unternehmen wie die British South Africa Company vergaben. Heute spielen Konzerne eine noch viel größere Rolle in komplexen Allianzen mit Nationalstaaten und ihren Regierungen, wie wir am Beispiel Chinas und Indiens, aber auch in unterschiedlicher Weise in den USA und in Europa sehen können. Tatsache bleibt jedoch, dass sowohl der historische Kolonialismus als auch der Datenkolonialismus von Partnerschaften zwischen Staaten und Konzernen getragen wird.
Viertens wirkt sich der Kolonialismus heute wie damals verheerend auf die Umwelt aus. Die globale Erderwärmung ist zwar eine direkte Folge des industriellen Kapitalismus, doch war es der Kolonialismus, der dafür die Voraussetzungen schuf, indem er die natürliche Welt wie einen billigen, nur unter dem Aspekt des Profits betrachteten Wegwerfartikel behandelte. Einige Formen der Umweltzerstörung sind so alt wie der Kolonialismus selbst, so der Abbau von Metallen und Erzen, auf den auch der heutige Elektroniksektor angewiesen ist. Andere sind zwar jüngeren Datums, haben aber enge Verbindungen zu früheren Zeiten des Kolonialismus: Man denke nur an die Verwüstungen, die heutzutage Öl- und Agrarriesen anrichten, die sich auf die Kontrolle ursprünglicher Kolonialgebiete stützen. Andere wiederum sind völlig neue Auswirkungen des Datenkolonialismus, wie zum Beispiel der Energie- und Wasserverbrauch von Rechenzentren, die CO2-Emissionen, die der Online-Versandhandel verursacht oder die wachsende Zahl von Satelliten, die unsere Erde umkreisen.
Fünftens, ein sehr wichtiger Punkt, ist es ein kennzeichnendes Merkmal des Kolonialismus, dass er eine tiefe gesellschaftliche Kluft schafft, die die Ausbeutereliten von der ausgebeuteten Bevölkerungsmehrheit trennt. Zur weiter oben erwähnten Vorstellung, dass das Kolonialland nur auf Inbesitznahme wartete, gehörte auch die Annahme, dass den Menschen, die bereits dort lebten, kein Wert zukam. Der Datenkolonialismus führt neue, mit der Ausbeutung von Daten verbundene Formen der Ungleichheit ein, die nicht selten die älteren Ungleichheiten, einschließlich der Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht, wiederholen und vertiefen. Und sämtliche Entwicklungen im Zusammenhang mit der Datenextraktion, auf die in späteren Kapiteln noch eingegangen wird, spielen sich von vornherein in einer durch große Ungleichheiten geprägten globalen Wirtschaft und Geopolitik ab, die maßgeblich vom Kolonialismus geprägt sind.
Und schließlich sechstens: Die räuberischen Handlungen des Kolonialismus waren und sind so offenkundig ungerecht, dass sie stets durch positivere Narrative des »Zivilisationsfortschritts« bemäntelt werden müssen. In vergangenen Jahrhunderten waren diese Narrative von eurozentrischer Fortschrittsgläubigkeit oder christlichen Erlösungsidealen geprägt. In der Ära von Big Tech orientieren sich diese Narrative eher an Werten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, bewahren aber auch Elemente des alten zivilisatorischen Sendungsbewusstseins. Jedenfalls kann man sich nur schwer vorstellen, dass Facebook den Aufbau einer Internet-Infrastruktur in über dreißig afrikanischen Ländern betreibt, ohne an eine solche Mission zu glauben.[1]
Trotz dieser sechs Gemeinsamkeiten bestehen auch erhebliche Unterschiede zwischen dem historischen Kolonialismus und dem Datenkolonialismus. Schließlich geht es hier um Daten und nicht um Land, mithin um eine völlig andere Art von Vermögenswert. Während die Ressourcen, die aus einem Stück Land extrahiert werden können, begrenzt sind, kann derselbe Datensatz von einer unbegrenzten Anzahl von Parteien unendlich oft genutzt werden. Genau das ist es, was Ökonomen meinen, wenn sie Daten – im Gegensatz etwa zu Land – als ein nicht rivalisierendes Gut bezeichnen.
Doch auch wenn sowohl der historische Kolonialismus als auch der Datenkolonialismus durch erhebliche Ausbeutung geprägt sind, dürfen wir nicht vergessen, dass die Extraktion nur den ersten und nicht den letzten Schritt beim Aufbau einer sozialen und wirtschaftlichen Ordnung darstellt und dass diese Ordnung unweigerlich durch den für ihre Zeit typischen Grad an organisatorischer Komplexität geprägt ist. Zweifelsohne sind unsere Wirtschaft und ihre Organisationsstrukturen heute erheblich komplexer, als sie es im 16. oder 18. Jahrhundert waren.
Will man also genauere Aussagen über den Datenkolonialismus machen, sollte man ihn nicht bloß anhand ähnlicher oder unterschiedlicher Auswirkungen des historischen Kolonialismus beschreiben, sondern aufzeigen, wo er ihn noch verschlimmert. Die haarsträubenden Ungerechtigkeiten des historischen Kolonialismus (Diebstahl, Sklaverei, Diskriminierung) werden keineswegs durch die neuen Ungerechtigkeiten des Datenkolonialismus ersetzt, sondern noch verstärkt. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn unsere Verwendung der Begriffe »historischer Kolonialismus« und »Datenkolonialismus« könnte den falschen Eindruck erwecken, dass wir glauben, eine Art des Kolonialismus sei nun Geschichte, während eine neue beginnt. Wenn wir den Datenkolonialismus als neue Form des Kolonialismus bezeichnen, dann meinen wir damit, dass er eine Weiterentwicklung und keine spontane Neubildung darstellt. Daher sollte der Datenkolonialismus auf einer Stufe mit Begriffen wie Plantagenkolonialismus oder Siedlerkolonialismus verstanden werden. Sie alle beschreiben unterschiedliche, sich jedoch überschneidende Aspekte und Auswirkungen eines Phänomens, das eine lange und bis heute anhaltende Geschichte hat: den Kolonialismus.
Unsere Betonung der Gefahren des Datenextraktivismus könnte vielleicht den Eindruck erwecken, dass wir generell Daten kritisch sehen oder bestreiten wollen, dass es gute Gründe für ihre Erhebung und Verarbeitung geben könnte. Das ist nicht unser Standpunkt. Es gibt natürlich viele sinnvolle Anlässe für die Erhebung und Nutzung von Daten, die wir nicht zuletzt für das Verständnis und die Verbesserung der Welt benötigen. Bedenklich finden wir jedoch die Nutzung von Daten zum ausschließlichen Zweck der Gewinnerzielung ohne jede gesellschaftliche Validierung und öffentliche Kontrolle, insbesondere dann, wenn Konzerne uns diese Nutzung in ein Narrativ der Rettung und des Fortschritts verpacken. Aber warum sollten wir glauben, dass alle sinnvollen Verwendungsmöglichkeiten von Daten an Bedingungen der Extraktion geknüpft sind, wie wir sie in diesem Buch erörtern? Nicht die Daten selbst, sondern ihre Nutzungsbedingungen definieren und prägen derzeit die Welt von Big Tech und KI. Gegen diese Nutzungsbedingungen müssen wir etwas unternehmen, hier braucht es ein Umdenken, und dabei kann uns die Perspektive der Kolonialgeschichte helfen.