Kapitel 1

Tracy kann sich gar nicht vorstellen, wie sie als alleinerziehende Mutter in den USA ihren Alltag ohne Internet und all die nützlichen Apps auf ihrem Smartphone bewältigen sollte. Sie schätzt sich glücklich, in unserem digitalen Zeitalter zu leben. Ihr Mobiltelefon und ihr Laptop sind ihre ständigen Begleiter, und gerne nutzt sie die von Big Tech bereitgestellten kostenlosen Apps, um Arzttermine zu vereinbaren, Lebensmittel und andere Waren zu bestellen, Rechnungen zu begleichen, Unterstützungszahlungen von ihren Eltern zu erhalten, die Kinderbetreuung zu organisieren, mit den Lehrern ihrer Tochter zu kommunizieren und vieles mehr. Wenn sie, was nicht zu häufig vorkommt, mal Zeit für ein Päuschen hat, nutzt sie solche Apps auch gerne für unterhaltsame Spielchen oder zum Austausch mit Freunden und Familie.

Auf dem College war in einem Seminar auch einmal von den Gefahren für die Privatsphäre die Rede gewesen, die mit der Nutzung solcher Dienste einhergehen. Doch Tracy hat kein Problem damit, dass Daten von ihr gesammelt werden, schließlich tut sie nichts Verbotenes und hat nichts zu verbergen. Sie ist gewiss keine Terroristin, warum sollte es ihr also etwas ausmachen, dass ein Unternehmen Informationen über sie zusammenträgt, wenn sie dafür kostenlos dessen Dienste in Anspruch nehmen darf?

So dachte Tracy zumindest, bis der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten die aus dem Jahr 1973 stammende Grundsatzentscheidung Roe v. Wade aufhob, die einer Frau das Recht zusprach, selbst über einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Plötzlich konnte jeder US-Bundesstaat per Gesetz Abtreibungen kriminalisieren. Tracy, die selbst bereits eine Abtreibung hinter sich hat, weiß, wie wichtig dieses Thema ist. Plötzlich macht sie sich Sorgen, dass bestimmte Daten, die von ihr genutzte Apps und Dienste sammeln, womöglich vor Gericht gegen sie verwendet werden könnten. In Zeitungsartikeln wird ihr empfohlen, ihren Menstruationskalender zu löschen und keinen Fitnessmonitor mehr zu benutzen. Eine Freundin erzählt, ihr smarter Wasserzähler, der seit zwei Jahren in ihrer Wohnung installiert ist, könne allein durch die Analyse der Veränderungen des Verbrauchs feststellen, ob die Bewohnerin schwanger sei – oder eben nicht mehr. »Stell dir das mal vor«, empört sich ihre Freundin. Smarte Wasserzähler registrieren, wie oft jemand die Toilettenspülung betätigt. Da schwangere Frauen häufiger auf die Toilette müssen, kann dies verräterisch sein. Und wenn die Toilettenspülung plötzlich wieder seltener betätigt wird, kann dies als Hinweis auf einen erfolgten Schwangerschaftsabbruch gewertet werden. Tracy wird auch klar, dass ihre Shopping-Apps anhand der von ihr gekauften Produkte eine ziemlich genaue Einschätzung darüber erlauben, was in

Plötzlich fühlt sich Tracy nicht mehr wie jemand, der nie etwas Verbotenes tut, sondern sie fürchtet, dass ihre Datenspur gegen sie verwendet werden könnte, um zu beweisen, dass sie doch etwas Unerlaubtes getan hat, nämlich einen Schwangerschaftsabbruch. Dergleichen ist zwar in ihrem Bundesstat bislang nicht passiert und wird hoffentlich auch nie passieren, aber erst vor kurzem hat sie in den Nachrichten gehört, dass Facebook der Polizei im Bundesstaat Nebraska Zugriff auf die Direktnachrichten einer Teenagerin gegeben hat, die wegen einer Abtreibung belangt wird, und dass Abgeordnete im Bundesstaat Texas an einem Gesetz arbeiten, das es unter Strafe stellen soll, auch nur Informationen über die Möglichkeiten eines Schwangerschaftsabbruchs zu verbreiten. Schon kursiert die Befürchtung, soziale Medien könnten Postings zum Thema Abtreibung zensieren, sollte dies Gesetz werden.

Tracy beginnt sich zu fragen, wozu sie eigentlich ihr Einverständnis gegeben hat, als sie in den Dutzenden von Apps, die sie auf ihrem Mobiltelefon installiert hat, auf »Zustimmen« klickte. Welche Daten wurden schon von ihr gesammelt, und wie könnten sie verwendet werden? Warum werden sie überhaupt gesammelt, und wer profitiert am Ende davon? Sie findet es schwierig, Antworten auf solche Fragen zu finden, auch Google hilft ihr hier kaum weiter. Sicher, das Suchmaschinen-Unternehmen hat erst kürzlich erklärt, keine Standortdaten von Frauen, die Abtreibungskliniken aufsuchen, aufzuzeichnen, aber bedeutet das denn nicht zugleich, dass Google Daten über alle anderen Aufenthaltsorte von Frauen sammelt? Später liest

Auf einmal kommen Tracy all die kostenlosen Dienste gar nicht mehr so wunderbar vor. Die politische Wetterlage braucht sich nur ein klein wenig zu ändern, und etwas, das eben noch zum normalen Leben gehörte, gilt auf einmal als kriminell, und ihre Datenspur lässt sie verdächtig erscheinen.

Viele von uns kennen jemanden wie Tracy, manche sind vielleicht selbst in einer ganz ähnlichen Lage wie sie. Aber kann man Tracy deshalb schon ein Opfer des Kolonialismus nennen? Sklaven waren Opfer des Kolonialismus, kein Zweifel. Unterdrückte und entrechtete Menschen, die vor Jahrhunderten für riesige Imperien schufteten, waren Opfer des Kolonialismus. Auf Tracy hingegen scheint das nicht so richtig zuzutreffen. Sieht man einmal von ihren Sorgen um Datenschutz ab, führt sie ein relativ komfortables Leben und weiß die Annehmlichkeiten digitaler Geräte zu schätzen. Ja, es ist beängstigend, dass ihre persönlichen Daten im strafrechtlichen Sinne gegen sie verwendet werden könnten. Aber müsste man eine derartige Verfolgung nicht eher der böswilligen Regierung statt den eigentlich wohlmeinenden Unternehmen ankreiden? Ist es daher nicht völlig unangebracht, ja sogar eine Verhöhnung, zu behaupten, Tracy sei das Opfer eines neuen Kolonialismus?

In diesem Buch soll nicht behauptet werden, dass digitale Plattformen uns den brutalen Kolonialismus vergangener Jahrhunderte mit seiner Zwangsarbeit und seinen unmenschlichen Lebensbedingungen zurückbringen.

Wir wollen hier etwas anderes zeigen: dass unser heutiges digitalbestimmtes Leben und die Art der Beziehungen, die wir mit Unternehmen eingehen, die dieses Leben ermöglichen, fundamentale Veränderungen der Machtverhältnisse zur Folge