Um diese sich entfaltende Realität zu erkennen, müssen wir jedoch die koloniale Vergangenheit und die kapitalistische Gegenwart aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Wir leben heute in einem System der Bewirtschaftung der Weltressourcen, das sich Kapitalismus nennt und in dem die ökonomischen Belange weitgehend durch Märkte geregelt werden. Wenn wir nun darauf hinweisen, dass inmitten dieser Ordnung ein neuer Kolonialismus entsteht, stellen wir eine neue Art von Beziehung zwischen Kolonialismus und Kapitalismus her.
Bevor wir dies vertiefen, ist es vielleicht hilfreich, mit einer grundsätzlichen Definition der Begriffe Kolonialismus und Kapitalismus zu beginnen. Wikipedia sagt:
Kolonialismus bezeichnet eine Praxis oder Politik der Kontrolle eines Volkes oder einer Staatsmacht über andere Völker oder Gebiete, oft durch die Gründung von Kolonien und im Allgemeinen mit dem Ziel der wirtschaftlichen Vorherrschaft. Im Zuge der Kolonisierung zwingen die Kolonisatoren den Kolonisierten oft ihre Religion, Sprache, Wirtschaft und andere kulturelle Praktiken auf. Die fremden Verwalter herrschen über das Gebiet in Verfolgung ihrer eigenen Interessen und mit der Absicht, von den Menschen und Ressourcen der kolonisierten Region zu profitieren.[1]
Zum Kapitalismus ist auf Wikipedia zu lesen:
Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das auf Privateigentum an Produktionsmitteln und deren gewinnorientierter Nutzung beruht … Die Entscheidungen und Beschlüsse über Investitionen fällen in einer kapitalistischen Marktwirtschaft Vermögenseigentümer, Grundbesitzer oder Personen mit der Fähigkeit, Kapital oder Produktionsmittel auf den Kapital- und Finanzmärkten zu bewegen, während die Preise und die Verteilung von Waren und Dienstleistungen hauptsächlich durch den Wettbewerb auf den Waren- und Dienstleistungsmärkten bestimmt werden.[2]
Geht man von diesen Definitionen aus, sind Kolonialismus und Kapitalismus zwei völlig unterschiedliche Phänomene.
Der Kolonialismus wird hier als eine Praxis (oder Politik) beschrieben, während der Kapitalismus ein ganzes System darstellt. Wichtiger noch: Der Kolonialismus ist ausbeuterisch, er nimmt Menschen Dinge mit Gewalt weg und übt aus der Ferne Macht aus, unter anderem um sicherzustellen, dass die Kolonisierten die Denk- und Handlungsweisen des Kolonisators akzeptieren und übernehmen. Im Gegensatz dazu scheint der Kapitalismus weniger brutal vorzugehen. Er gibt sich geradezu zivilisiert, organisiert die Ressourcen und trifft bessere ökonomische Entscheidungen. Ja, auch der Kapitalismus gibt einer Gruppe von Menschen die Kontrolle (den Eigentümern der Produktionsmittel), aber Gewalt und Zwang übt er nicht aus. Die Konkurrenz im Kapitalismus wird auf Märkten ausgetragen, was Missbrauch verhindern und für die Wirtschaft insgesamt von Vorteil sein soll.
Uns ist natürlich bewusst, dass diese Definitionen unvollständig und – je nach weltanschaulichem Standpunkt – auch strittig sind. Aber ob man sie nun im Ganzen akzeptiert oder nicht, sie fassen recht gut das Allgemeinverständnis zusammen: Im Kolonialismus ging es um ausbeuterische Extraktion, während es im Kapitalismus um die gemeinschaftliche Produktion geht. Wir verwenden hier ganz bewusst einmal die Vergangenheitsform »ging« und einmal die Gegenwartsform »geht«, denn nach gängiger Auffassung liegt der Kolonialismus historisch gesehen vor dem Kapitalismus. Demzufolge musste die extraktivistische Brutalität des Kolonialismus erst ein Ende finden, um die zivilisiertere Produktionsweise des Kapitalismus zu ermöglichen. Diese weitverbreitete Ansicht der Geschichte müssen wir in Frage stellen.
Der Kapitalismus, den Tracy als ihre tägliche Realität erlebt, ist nicht ohne die Rolle zu verstehen, die der Kolonialismus bei dessen Ermöglichung spielte und immer noch spielt. Um dies zu erklären, müssen wir über den engeren historischen Kontext hinausblicken und uns in Erinnerung rufen, dass der Reichtum, der in den Bergwerken und auf den Plantagen des Kolonialismus erwirtschaftet wurde, die Fabriken des frühindustriellen Kapitalismus finanzierte.
In manchen Fällen geschah die Umwandlung von kolonialem Reichtum in kapitalistische Ressourcen in nur einer Generation. Ein Beispiel dafür ist der britische Unterhausabgeordnete Richard Pennant, erster Baron Penrhyn, ein Befürworter der Sklaverei, der sechs Zuckerplantagen und Hunderte Sklaven auf Jamaika besaß und gleichzeitig aktiv an der Entwicklung der walisischen Schieferindustrie beteiligt war. Oder der schottische Textilhändler John Pender, der sein Vermögen mit Baumwollprodukten von den Sklavenplantagen in den USA machte und dann einen Großteil dieses Reichtums in Überseekabel investierte, die eine Telegraphenverbindung zwischen dem Vereinigten Königreich, Amerika und Indien herstellten. Natürlich verlief der Transfer von Reichtum oft viel komplizierter, umfasste mehrere Beteiligte sowie verschiedene Institutionen und Nationen. Tatsache ist jedoch, dass der Kolonialismus den Übergang Europas vom Feudalismus zum Kapitalismus erheblich erleichterte.
Wie genau? Einer Schätzung zufolge führte der Kolonialismus mit seinen extraktiven Unternehmungen in den letzten 300 Jahren dazu, dass das Pro-Kopf-Einkommen der Kolonisatorenländer zwischen 14 und 78 Prozent stieg. Es war der Kolonialismus, der es den europäischen Protokapitalisten (Kaufleuten, Handwerkern, Großgrundbesitzern) ermöglichte, die Bauern von ihrem Land zu vertreiben, Kapital anzuhäufen, die Produktion zu erhöhen, jederzeit Lohnarbeiter anheuern zu können, und das alles mit Unterstützung des Staates. Diese Akkumulation von Reichtum und Macht sicherte den Europäern einen Vorsprung gegenüber konkurrierenden Protokapitalisten in Afrika, Asien und China, was Europas globale Vorherrschaft festigte und es dem Kontinent ermöglichte, seinen Reichtum in weitere Kolonialunternehmen zu investieren. Ohne den akkumulierten Reichtum der Extraktion hätten die Unternehmer nicht über den sicheren Zugang zu Ressourcen verfügt, der es ihnen erlaubte, die Produktionsmittel zu besitzen und so überhaupt erst zu Kapitalisten zu werden.[3]
Wie immer man es auch sieht, es ergibt keinen Sinn, den Kolonialismus als primitive, zu überwindende Vorstufe des Kapitalismus zu betrachten. »An die Stelle der Peitsche des Sklaventreibers tritt das Strafbuch des Aufsehers«,[4] schrieb Karl Marx über den Kapitalismus, doch er hatte damit unrecht. Sklaverei war im Kolonialismus eine wichtige Form der Arbeitsorganisation auf globaler Ebene, die gerade während der Wachstumsphase des Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebte. Beispielsweise dehnten sich in dieser Zeit die Sklavenplantagen im Süden der USA erheblich aus. Zwar hatte das Vereinigte Königreich die Sklaverei gesetzlich verboten, doch dies hinderte die britische Wirtschaft keineswegs daran, hohe Profite mit den Produkten der Sklaverei zu machen, etwa über ihre Hafenstädte Bristol und Liverpool. Die Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty und Gabriel Zucman argumentieren, dass in den USA während des 19. Jahrhunderts mehr mit dem Handel und dem Besitz von Sklaven erwirtschaftet wurde als durch Fabriken und das Transportwesen zusammen. Heutige Historiker sind zunehmend davon überzeugt, dass die kolonialistischen Produktionsmethoden keineswegs organisatorisch rückständig waren, sondern dass sie die modernsten Formen der Buchhaltung, des Finanzwesens und ganz allgemein des »rationalen« Managements menschlicher Körper anwendeten, alles mit dem Ziel, die Wirtschaftsleistung zu den geringstmöglichen Kosten zu erhöhen.[5]
Diese Argumentationslinie reicht sogar noch weiter. Die heutige enorme Wohlstandskonzentration im Globalen Norden sowie die dominante Position der USA in der Weltwirtschaft können nicht losgelöst von dem ungleichen historischen Erbe der Kolonialreiche des 19. und 20. Jahrhunderts verstanden werden. Dieses Erbe ist der Grund für die nach wie vor sehr unterschiedlichen Möglichkeiten, die sich den Volkswirtschaften der Welt bieten: Eine ihrer Folgen ist die sogenannte »neue internationale Arbeitsteilung«, zu der die Verlagerung eines Großteils der Produktion im niedrigen Preissektor vom Globalen Norden in den Globalen Süden gehört.[6] Zu nennen ist hier auch die Struktur multilateraler Organisationen wie der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, die vom Westen dominiert werden, der den sogenannten »Entwicklungsprozess« leitet.[7]
Gewöhnlich wird die Geschichte der vergangenen fünf Jahrhunderte nur unter einem Blickwinkel betrachtet, obwohl wir immer zwei benötigen, die sich überschneiden: Kolonialismus und Kapitalismus. Es verfälscht die Wahrnehmung, den Kolonialismus und den Kapitalismus als zeitlich voneinander getrennte Perioden zu betrachten, die lediglich ein historischer Entwicklungsprozess miteinander verbindet, und dabei den Kolonialismus (dessen brutale Phase glücklicherweise beendet ist) als erste und den Kapitalismus (unter dem wir glücklicherweise leben) als spätere zu sehen. Der Kolonialismus gehörte schon immer mit dazu, er hat zunächst die Grundlagen für den zukünftigen Kapitalismus geschaffen und dann in der wachsenden Weltwirtschaft den rebellischen Industriekapitalismus beflügelt. Der Kapitalismus trägt seit jeher die Gene des Kolonialismus in sich. Und das gilt bis heute, auch wenn es in großen Teilen der Welt keine Kolonialreiche mehr gibt. (Die Menschen in Puerto Rico, Palästina und Amerikanisch-Samoa sehen das allerdings womöglich anders.)
Damit kein Missverständnis aufkommt: Wir wollen nicht behaupten, der Kapitalismus sei lediglich ein verkappter Kolonialismus – er ist ein eigenständiges Phänomen mit ganz eigenen Merkmalen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation. Trotzdem müssen wir Kolonialismus und Kapitalismus als parallele, miteinander verbundene Prozesse betrachten. Genau betrachtet hing das Organisationssystem der Profiterzeugung, das den Kapitalismus ausmacht, stets vom kolonialen Landraub ab, der zwei Jahrhunderte vor dem Kapitalismus begann. Dieser koloniale Landraub setzte sich im 19. und 20. Jahrhundert fort (man denke an die Ölförderung und die Extraktion immer seltenerer Minerale), und er hält bis heute an.[8] Dass der Kapitalismus eine kolonialistische Dimension hat, ist kein Zufall, es liegt in seinem Wesen.
So wie Kolonialismus und Kapitalismus – Extraktivismus und Produktion – stets Hand in Hand gehen, zeigen die heutigen neuen Methoden des »Datenschürfens«, dass weiterhin ähnliche Prozesse am Werk sind. Autoren, die ausschließlich unter dem Aspekt der Dynamik des Kapitalismus beschreiben, was heute mit unseren Daten geschieht, schätzen aus diesem Grund auch Ausmaß und Stärke der Datenextraktion, die heute im Gange ist, falsch ein. Zahlreiche Theorien gehen davon aus, dass wir eine neue Form des postindustriellen Kapitalismus erleben – einen Datenkapitalismus, einen Informationskapitalismus, einen Plattformkapitalismus oder, um einen von Shoshana Zuboff geprägten und häufig angeführten Begriff zu nennen, einen Überwachungskapitalismus.[9] Diese Analysen sind in vielerlei Hinsicht nützlich, helfen sie uns doch, die besondere Art und Weise zu verstehen, wie Daten innerhalb des Kapitalismus unsere Produktionsweise und unseren Konsum verändern. Aber ein entscheidender Punkt fehlt all diesen Erklärungsversuchen: eine den historischen Kontext berücksichtigende Darstellung des schieren Ausmaßes und der scheinbar unaufhaltsamen gesellschaftlichen und kulturellen Kraft des Datenraubs, der derzeit stattfindet.
Der gewaltige Transfer der im Verlauf der Geschichte des Kolonialismus weltweit extrahierten Ressourcen ist der entscheidende Bezugspunkt zum Verständnis dieses globalen Datenraubs. Der Raub an den Daten der Welt ist keine Fehlentwicklung der jüngeren Zeit (kein Nebeneffekt einer irgendwie aus dem Ruder gelaufenen technologischen Entwicklung), wie es Zuboff und andere prominente Kritiker zu behaupten scheinen,[10] sondern die Fortsetzung einer bereits sehr alten Geschichte der Extraktion. Dies zu ignorieren und so zu tun, als hätte die heutige gewaltige Akkumulation von Reichtum durch Big Tech keine extraktivistische Ader, die den kolonialen Landraub widerspiegelt, hieße, in Geschichtsvergessenheit zu verfallen. Anzuerkennen, was nicht zu leugnen ist, dass nämlich in vielen Teilen der Welt der Kapitalismus immer noch vom Erbe der historischen kolonialistischen Enteignung profitiert, sollte uns nicht daran hindern, den neuen kolonialen Raubzug zu sehen, der sich direkt vor unseren Augen abspielt.
Nur wenn wir Kolonialismus und Kapitalismus auf diese Weise durchdenken, enthüllt sich uns die erschreckende Realität hinter Tracys Sorgen: Ja, es gibt eine neue Kolonie, eine neue Zone der Extraktion, die der Datenkolonialismus ausbeutet. Und was er aus ihr herausholt, sind wir selbst und unser Leben. Immer und überall. Heutzutage ist es das Leben aller Menschen, das einfach so darauf wartet, dass jemand es sich aneignet. Und diese Ausbeutung ist in unsere Geräte und die von uns genutzten Plattformen eingearbeitet, die genau so funktionieren, wie es beabsichtigt ist: Es steckt weder irgendein Bösewicht noch ein Fehler dahinter. Diese Ausbeutung ist ein Merkmal des Routinebetriebs unserer elektronischen Geräte.
Bedeutet dies, dass die großen Leidensunterschiede, die der historische Kolonialismus hinterlassen hat, keine Rolle mehr spielen? Ganz und gar nicht. Bedeutet es, dass dieser neue Kolonialismus etwas Grundlegendes im Leben aller Menschen bedroht, unabhängig von ihrer Herkunft, Klasse, ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung? Ja, allerdings. Was es hier zu begreifen gilt, ist diese seltsame Art und Weise, wie der Kolonialismus die ererbten Ungleichheiten fortführt und sie mit neuen Werkzeugen kombiniert, die einen möglicherweise radikal neuen Einfluss auf das menschliche Leben haben. Genau diese Kombination bezeichnete der aus Kamerun stammende Sozialtheoretiker Achille Mbembe provokant und für viele sogar kontraintuitiv als »das Schwarzwerden der Welt«,[11] ein Ausdruck, auf den wir in Kapitel 5 noch zurückkommen werden.
Aber was bedeutet das für unsere Sicht des Kolonialismus als eines sich entwickelnden historischen Phänomens?
Wenn der Kolonialismus von Relevanz dafür ist, wie wir den Umgang mit Daten unseres heutigen Kapitalismus interpretieren, was bedeutet das dann für unser Verständnis des Kolonialismus als eines langfristigen historischen Prozesses?
Kolonialismus und Kapitalismus verändern sich ständig und passen sich an, wie es historische Kräfte generell tun. Gesellschaftliche Bewegungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, kulturelle Trends oder Religionen »beginnen« und »enden« nicht einfach. Sie sind nicht statisch. Sie entwickeln und wandeln sich. Jedenfalls gilt das ohne Zweifel für den Kapitalismus – und wir behaupten, dass es beim Kolonialismus nicht anders ist.
Die offensichtlichste Veränderung des Kolonialismus besteht im Übergang vom Landraub zum Datenraub. Dies ist eine relativ neue Entwicklung, und sie kann die Organisation des menschlichen Zusammenlebens noch bis weit in die Zukunft verändern, so wie die Auswirkungen des ursprünglichen kolonialen Landraubs bis heute nachhallen. Der Datenraub verändert bereits jetzt in immer mehr Teilen der Welt die Art und Weise, wie wir Bildung, den Gesundheitsbereich und unsere Arbeitswelt erleben.
Eine weitere wichtige Veränderung des Kolonialismus ist die veränderte Rolle, die die Gewalt in seiner neuen Erscheinungsform spielt. Der historische Kolonialismus war brutal und unmenschlich. Aber wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, fand er auch Mittel und Wege, ohne direkte physische Gewalt auszukommen, vor allem durch kulturelle und wirtschaftliche Gewalt. Das bringt uns zu einer wichtigen Frage: Wenn physische Gewalt dem Datenkolonialismus im Grunde fremd ist, ist es dann überhaupt sinnvoll, dieses Phänomen als Kolonialismus zu bezeichnen?
Dabei ist zu bedenken, dass sich der Kolonialismus, wie wir bereits dargelegt haben, im Einklang mit den gesellschaftlichen Beziehungen entwickelt, die Teil des Kapitalismus sind. In früheren Jahrhunderten hatten die Kolonisatoren nur zwei Mittel zur Verfügung, um sich Land und Gold anzueignen: Gewalt und Lügen. Oft griffen sie zu beidem: Sie mordeten, plünderten und tauschten wertlosen Tand gegen Gold. Andere Möglichkeiten, das koloniale Ziel der Aneignung von Ressourcen in dem von den Kolonisatoren gewünschten Umfang, Tempo und mit der von ihnen erhofften Gewinnspanne zu erreichen, gab es damals nicht, da zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten keinerlei soziale Beziehungen bestanden.
Aber heute, nach fünf Jahrhunderten Kolonialismus und zwei Jahrhunderten Kapitalismus, ist diese Art von Gewalt nicht mehr nötig, oder besser gesagt, sie hat sich weiterentwickelt und eine eher symbolische Gestalt angenommen. Unsere Enteignung (der Verlust der Kontrolle über unsere persönlichen Daten in all ihren Facetten, wie wir ihn am Arbeitsplatz erleben, wenn wir einen Kredit beantragen, ja selbst bei der Erziehung unserer Kinder) mag nicht weniger absolut sein, aber es ist keine Gewalt nötig, um uns dazu zu bringen, auf »Zustimmung« zu klicken, bevor wir eine App installieren. Angesichts der gewaltigen rechtlichen und praktischen Infrastruktur der kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen genügt ein einziger Klick, um uns in die endlosen Spiralen der Datenextraktion zu stürzen. Mit anderen Worten: Die heutigen Formen der Datenextraktion funktionieren nahezu reibungslos, was jedoch keineswegs bedeutet, dass sie in ihren langfristigen Auswirkungen völlig gewaltfrei sind, wie Tracy nun befürchten muss, wenn sie an die Auswirkungen ihrer Menstruations-App auf die Kontrolle über ihren Körper denkt. Der springende Punkt ist, dass hier ein mit dem Kolonialismus vergleichbarer Akt der Aneignung vollzogen wird, Gewalt hin oder her. Dies führt uns zu einer weiteren Beobachtung über die Verbindung zwischen Kolonialismus und Kapitalismus.
Wenn sich der Kolonialismus ständig weiterentwickelt, ist natürlich nicht zu erwarten, dass seine heutigen Erscheinungsformen ein exaktes Abbild der kolonialen Praktiken sind, die wir in den letzten 500 Jahren erlebt haben. Daher ist es so sinnlos wie unsensibel, danach zu fragen, wo denn hier die Gewalt bleibt und ob die Nutzung von Facebook uns tatsächlich genau wie einst die Plantagenarbeiter zu Sklaven macht. Natürlich ist dem nicht so, und das muss es auch nicht, um von kolonialistischer Ausbeutung sprechen zu können.
In fünf Jahrhunderten hat sich eine Menge geändert. Daher ist auch zu erwarten, dass sich der heutige Datenkolonialismus in seinen Erscheinungsformen deutlich von früheren Versionen kolonialistischer Aneignung unterscheidet. Dies lässt sich am besten erklären, wenn wir Form, Inhalt und Funktion des Kolonialismus im Verlauf der Geschichte getrennt voneinander betrachten.
Da der Kolonialismus ein sehr komplexer, sich über Jahrhunderte entwickelnder Prozess ist, haben sich seine Form und sein Inhalt im Laufe der Zeit verändert und angepasst. Mit Form meinen wir die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Merkmale des Kolonialismus zu einem bestimmten Zeitpunkt. Man beachte, dass sich der Kolonialismus der Plantagenbesitzer (die sich Land aneigneten, um Nutzpflanzen anzubauen, aber nicht unbedingt auch auf ihm lebten) stark vom Kolonialismus der Siedler (für die das geraubte Land den Mittelpunkt ihrer Existenz bildete) unterscheidet. Mit Inhalt meinen wir die spezifische Art und Weise, wie sich diese bestimmte Form an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten manifestierte. Der Kolonialismus der Spanier in Mexiko sah ganz anders aus als der Kolonialismus der Briten in Indien. Alle diese historischen Formen des Kolonialismus unterscheiden sich natürlich wiederum stark vom Datenkolonialismus. Wir wollen diese Unterschiede keineswegs leugnen.
Wichtiger ist die Ähnlichkeit, die Gemeinsamkeit dieser Formen des Kolonialismus, die sie alle zu Formen eines historisch gewachsenen Kolonialismus macht. Es handelt sich dabei um die Funktion – oder, wenn man so will, die Kernaufgabe – des Kolonialismus. Der letztendliche Zweck all dieser historischen Formen des Kolonialismus war es, zu extrahieren, zu enteignen. Deshalb ist das Bild des Landraubs immer noch passend, wenn man verstehen will, was heute mit den Daten geschieht, denn Kolonialismus bedeutet immer und überall, anderen das zu nehmen, was ihnen gehört, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Rechte. Unabhängig von der Nationalität des Kolonisators, unabhängig von der geographischen Lage oder der Zeit, im Kolonialismus ging es immer darum, dass sich die Kolonisatoren etwas, das ihnen nicht gehörte, mit Gewalt aneigneten.
Wir wollen nicht bloß sagen, dass das, was mit unseren Daten geschieht, Züge des historischen Kolonialismus trägt oder ihm oberflächlich ähnelt. Uns geht es vielmehr darum, zu zeigen, dass durch die Beziehungen zu digitalen Plattformen, die wir eingehen, tatsächlich eine neue und erweiterte koloniale Ordnung errichtet wird. Diese neue koloniale Ordnung, die auf der Extraktion von Daten beruht, wird langfristig fast alle Menschen der Möglichkeit berauben, die Urteile zu kontrollieren, die über sie gefällt werden, und sie wird dies auf der Grundlage von Daten tun, die man sich über ihr Leben beschafft hat, genau wie Tracy es befürchtet.
All dies löst bislang keine großen Proteste aus. Ein Hauptgrund dafür ist, dass wir mit Narrativen gefüttert werden, die die Realität verschleiern. Zu diesen Narrativen gehört die Wiederholung der kolonialistischen Mär, dass Ressourcen billig sind.
Wirtschaftsvertreter bringen oft vor, die Daten, die sie aus unseren Online-Aktivitäten extrahieren, seien »einfach so da«. Es sind die Daten, die wir, ganz nebenbei und ohne dass es uns Mühe kostete, generieren, wenn wir im Internet unterwegs sind, und die einfach verlorengingen, wenn sie (die Konzerne) sie nicht durch sorgfältige Datenveredelung guten Zwecken zuführen würden. Wäre es nicht schade, wenn all dieses Wissen verlorenginge, Daten, die zur Lösung so vieler Probleme der Menschheit beitragen könnten? Warum also sollte die Kontrolle über diese gewaltige Menge an »Datenabfall« nicht kostenlos an die Wirtschaft abgegeben werden?
Es ist verblüffend, wie sehr diese Argumentation der Rechtfertigung der einstigen Kolonialherren für die Aneignung von fremdem Land gleicht. Sie behaupteten einfach, das Land mit seinen natürlichen Ressourcen, das sie sich unter den Nagel rissen, sei im Überfluss vorhanden, werde von niemandem beansprucht und »warte einfach nur darauf«, dass es sich jemand nehme – mit anderen Worten, es sei billig zu haben. Eine ganze »neue« Welt stehe bereit, vom Kolonisator erschlossen zu werden, dessen bloßes Auftauchen als Besitzerklärung genüge. Um dies zu bemänteln, bediente man sich einfach einer alten Rechtsdoktrin: Das geraubte Land wurde als herrenlos betrachtet, als terra nullius, wie es im Lateinischen heißt, was nichts anderes bedeutet als Niemandsland.
Dumm nur für die Kolonisatoren, wenn das Land dann teilweise bewohnt war! Doch aus ihrer eurozentristischen Perspektive hatten diese Bewohner keine Rechte an dem Land, unter anderem, weil sie es einfach nicht richtig nutzten (dazu waren sie, so die Behauptung, nicht »zivilisiert« genug). Dass die Kolonisatoren das Land mit Sicherheit produktiver nutzen würden (jedenfalls gemäß ihrer Definition von Produktivität), gab ihnen ihrer Meinung nach das Recht, sich das Land einfach unter den Nagel zu reißen und damit zu schalten und zu walten, wie sie wollten.[12] Spätere Kolonisatoren, insbesondere die Engländer, entwickelten dann die Idee, die kolonisierten Völker gehörten einem »von Natur aus unterwürfigen« Menschentypus an, während sie sich selbst als Kolonisatoren eine vermeintlich natürliche Eignung zur Herrschaft zusprachen.[13]
Schnell erkannten Kolonisatoren, dass sie eine weitere wichtige Ressource brauchten, um die natürlichen Reichtümer nutzen zu können: menschliche Arbeitskraft. Kurzerhand wurde die Arbeitskraft der Kolonisierten vom Kolonisator ebenfalls als billig und im Überfluss vorhanden dargestellt – analog zur billigen Natur. Nach dem Weltbild des Kolonisators waren einige Menschen dazu prädestiniert, solche Arbeit zu verrichten, und dieses Schicksal ergab sich hauptsächlich aus ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer »Rasse«. Die Arbeit der indigenen oder in die Kolonien verschleppten Schwarzen Menschen war tatsächlich billig, zumindest wenn man die Kosten für die Gewalt, mit denen sie unter Kontrolle gehalten wurden, außer Acht lässt. Jan Pieterszoon Coen, Generalgouverneur der Niederländischen Ostindien-Kompanie und Gründer von Batavia (dem heutigen Jakarta), rechtfertigte die niederländische Ausbeutung der indigenen Bevölkerung folgendermaßen: »Darf ein Mann in Europa etwa nicht mit seinem Vieh umgehen, wie es ihm beliebt? Genau dasselbe gilt für den Master und seine Leute.«[14] Auf diese Weise verwandelte die billige Arbeit die billige Natur in eine einfach zugängliche und reichhaltig sprudelnde Quelle des Wohlstands.
Wenn wir dem Kolonialismus in seiner historischen Entwicklung folgen, sehen wir einen kontinuierlichen Übergang bis heute von billiger Natur zu billiger Arbeit zu billigen Daten.
Diese Vorstellung der billigen Daten ergibt sich aus derselben extraktivistischen Rationalität, die wir bei der Idee billiger Natur und billiger Arbeit am Werk gesehen haben. Man denke nur daran, wie viele Daten wir durch unsere Online-Aktivitäten generieren, indem wir Inhalte hochladen, etwas markieren, Beiträge liken oder teilen. Auf all dies verwenden wir Zeit und Mühe, sicherlich manchmal zu viel. Doch die Plattformen kommen absolut kostenlos an diese Daten, ohne jegliche Bezahlung. Es heißt, diese Daten seien im Überfluss vorhanden, hätten keinen Eigentümer, sie seien »einfach so da«, für jeden, der sie sich nehmen will. Ja, wir mögen sie individuell produzieren, aber sobald sie aggregiert sind, gelten sie als herrenloses Abfall- oder Nebenprodukt, auf das wir keine Ansprüche mehr erheben können.
Wie viele andere koloniale Rohstoffe bedürfen jedoch auch Daten der Verarbeitung und Veredelung. Aber das erfordert hochspezialisierte Technologie, wie sie nur Spitzenunternehmen zur Verfügung steht. Unser einziger Beitrag besteht offensichtlich darin, das Rohmaterial dafür zu erzeugen. Man erzählt uns, dies sei nun mal eben der Fortschritt, es gehe darum, uns stärker zu vernetzen und eine bessere Gemeinschaft aufzubauen und außerdem die KI zu füttern, damit sie die Probleme der Menschheit lösen kann. Doch bislang sind die wahren Nutznießer nicht wir, sondern die Eigentümer der Plattformen und KI-Modelle, die ihnen helfen, ihre Gewinne zu maximieren.