Die Klosteranlage der Benediktinermönche, umgeben von Feldern, Äckern, Obstgärten und Weinbergen, lag etwas abseits, aber gut in Sichtweite der Landstraße. Eine hohe Mauer umgab die Abtei mit der Kirche, dem Konventsgebäude mit dem Kreuzgang, einem separaten Gästehaus sowie den Stallungen, Wirtschaftstrakten und Werkstätten. All das gruppierte sich um einen großen Innenhof, auf dem es bei ihrem Eintreffen kurz vor Beginn der Dämmerung noch geschäftig zuging. Besonders die Konversen hatten noch allerhand zu tun, um alles für die bevorstehende Nacht zu richten. Erst bei Sonnenuntergang endete der lange Arbeitstag der Laienbrüder und auch der vieler einfacher Mönche.
Chabrol Tullien hatte nicht zu viel versprochen. Sie wurden von den Mönchen, denen die Betreuung von Gästen oblag, mit großer Freundlichkeit empfangen. Dass der Fuhrmann ein bekanntes und gern gesehenes Gesicht im Kloster war, mochte einiges dazu beigetragen haben. Denn nicht nur der Prior, ein Mann von stattlicher Gestalt und gewandtem Auftreten, eilte herbei, sondern auch Bruder Donatus, der tonnenrunde Cellerar*, ließ es sich nicht nehmen, sie bei ihrer Ankunft zu begrüßen.
Man wies ihnen die letzten drei freien Kammern im Gästehaus zu. Die anderen Quartiere waren schon von einer elfköpfigen Gruppe von Kaufleuten aus St. Etienne belegt, die noch vor dem Wintereinbruch über die Alpen und nach Oberitalien wollten. Sie hatten im Kloster Zuflucht vor dem schlechten Wetter gesucht. Da Gerolt in dieser Nacht wieder an der Reihe war, bei den Pferden zu schlafen, wovon sie auch hinter Klostermauern nicht abgehen wollten, reichten die Zimmer gerade für Tarik, Maurice und McIvor sowie für Beatrice und Heloise. Chabrol und sein sauertöpfischer Schwiegersohn mussten dagegen mit zwei kargen Zellen im Wohnhaus der Mönche vorlieb nehmen, worüber sie sich sehr betrübt zeigten.
»Aber zum Essen und Zechen kommen wir gleich zu Euch in die Gaststube!«, raunte ihnen Chabrol noch zu, bevor er mit seinem Schwiegersohn einem der Gastbrüder hinüber zum Konventsgebäude folgte. »Ich werde auch noch ein vertrauliches Wort mit Bruder Donatus reden, damit er gleich in den Keller hinuntersteigt und Euch auch ordentlich was abzapft! Bei dem habe ich einen Stein im Brett, seit ich ihn mit einer edlen Tinktur versorge, die ihm gut gegen die Gicht in den Gliedern hilft!«
Als sie sich wenig später unten in der großen Gaststube einfanden und sich an einen der langen Holztische nahe des Kaminfeuers setzten, waren sie voll froher Erwartungen, wie die abendliche Mahlzeit und das Maß des ihnen zugeteilten Weins wohl nun ausfallen würde. Den Beutel mit dem Heiligen Gral hatte sich Gerolt über die Schulter gehängt. Er setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf die Bank, wickelte sich den Lederriemen um seinen linken Fuß und schob ihn so zwischen seine Beine, dass er ihn immer spüren konnte.
Kaum hatten sie Platz genommen, als sich auch schon Chabrol und Claude bei ihnen einfanden, sogleich gefolgt von den Kaufleuten, von denen sich einige zu ihnen an den Tisch setzten.
Das Essen, das wenig später in großen Holzschüsseln aufgetragen wurde, war deftige Kost, wie sie dem kalten, nassen Wetter entsprach. Auch die dazu gereichten Brotlaibe machten dem Klosterbäcker alle Ehre, hatten sie doch eine herrlich knusprige Kruste. Und der Wein, den der Cellerar persönlich in glasierten Tonkrügen anschleppte, erwies sich als so vorzüglich, wie Chabrol behauptet hatte.
Alle ließen es sich schmecken. Sogar Beatrice schien an dem Essen nichts auszusetzen zu haben, wie ihre zufriedene Miene verriet.
Der Wein lockerte die Zungen der Männer und rötete ihre Wangen. Und nachdem sich Beatrice und Heloise schon bald auf ihr Zimmer zurückgezogen hatten, wurde das Gespräch immer lebhafter und lauter. Zumal als McIvor auf Drängen des Cellerars, der sich zu ihnen gesetzt hatte, damit begann, von den Abenteuern und Schlachten zu erzählen, die er mit seinen Gefährten im Heiligen Land bestanden hatte. Er war jedoch klug genug, dabei ihre wahren Namen und ihre Zugehörigkeit zum Orden der Tempelritter zu verschweigen. Er gab vor, sich mit seinen Kameraden den Hilfstruppen der Johanniter angeschlossen zu haben, da sie alle mit den Gebräuchen dieses Ordens bestens vertraut waren. Und dass ihr Beruf das Kriegshandwerk des Ritters war, sah auch jeder unbedarfte Bauer, Kaufmann oder Mönch ihnen sofort an.
»Habt Ihr auch in der fürchterlichen Schlacht um Akkon gegen die irrgläubigen muslimischen Horden gekämpft?«, fragte Bruder Donatus mit aufgeregt blitzenden Augen.
»Dieses Glück ist uns leider nicht vergönnt gewesen«, antwortete Maurice und machte dabei eine betrübte Miene. »Was hätten wir darum gegeben, zur Ehre Gottes in Akkon unser Leben zu lassen! Doch unsere kleine Truppe hat Outremer schon im letzten Winter verlassen, sodass uns diese ruhmreiche und heldenhafte Schlacht zu unserem großen Kummer entgangen ist. Aber wir standen im Wort unseres damaligen Befehlshabers, ihn auf einem . . . nun ja, mehr privaten Feldzug zu begleiten, über den ich jedoch lieber nicht reden möchte.«
Bruder Donatus nickte eifrig. »Dann wollen wir auch nicht in Euch dringen. Aber erzählt, was Ihr so alles im Heiligen Land erlebt habt!«
McIvor kam dieser Aufforderung bereitwillig nach, zumal der Wein allmählich seine Wirkung tat. Er geriet mächtig in Fahrt und erzählte immer haarsträubendere Geschichten, die wenig mit den tatsächlichen Geschehnissen zu tun hatten – was der Begeisterung seiner Zuhörer jedoch keinen Abbruch tat, sondern sie nur noch aufmerksamer an seinen Lippen hängen ließ.
Auch Tarik und Maurice fanden schnell Gefallen daran, sich an diesen fantasievollen Berichten zu beteiligen. Sie genossen die fröhliche, unbeschwerte Runde und Bruder Donatus sorgte dafür, dass immer wieder ein neuer Krug Wein auf den Tisch kam. Es war, als fürchtete er, all diese wundersamen, aufregenden Geschichten würden ein schnelles Ende finden, sowie seine ritterlichen Gäste in leere Becher schauten.
Dagegen begnügte Gerolt sich damit, nur gelegentlich einen Einwurf zu machen oder eine kurze Beschreibung realer Orte oder lokaler Gebräuche zu geben. Ihm stand nicht der Sinn nach vielem Reden und schon gar nicht wollte er seine Fantasie bemühen, um sich etwas einfallen zu lassen, woran sich die Männer ergötzen konnten. Nach einer Weile wurde er des lärmenden Geschwätzes überdrüssig. Er wusste, dass seine Freunde sich so schnell nicht von der üppig sprudelnden Weinquelle würden trennen können. Ihm jedoch war der Schlaf im Stroh des angrenzenden Stalls wichtiger. Die Nacht würde für ihn ohnehin recht kurz sein.
Und so entschuldigte er sich unter dem Vorwand, von Kopfschmerzen geplagt zu werden und jetzt Ruhe nötig zu haben. Ein kurzer Segensspruch des Cellerars, hier und da ein flüchtig verständnisvolles Nicken und die scherzhafte Bemerkung von Chabrol, dass der Klosterwein ganz sicherlich nicht dafür verantwortlich zu machen sei, das war alles, was sein früher Aufbruch aus dieser Runde bewirkte. Solange der einäugige Ritter mit ihnen am Tisch saß und es nicht an Wein mangelte, waren alle zufrieden. Und dass Gerolt einen schäbigen Beutel unter dem Tisch hervorholte und ihn sich unter den Arm klemmte, schien niemand wahrzunehmen.
Er begab sich in den Stall, wo er sich gleich bei ihrem Eintreffen in der Abtei aufmerksam umgesehen hatte, nachdem er zusammen mit McIvor ihre Pferde trocken gerieben und versorgt hatte. Den idealen Ort zum Schlafen und zum Wachehalten hatte er schnell gefunden. Es war der leere Einstellplatz gleich gegenüber der Stalltür. Die anderen Gäste hatten ihn aus offensichtlichen Gründen für ihre Tiere verschmäht, da er der Zugluft am stärksten ausgesetzt war. Hier hatte er sich ein dickes Bett aus Stroh aufgehäuft. Und nach einem Versteck für den Heiligen Gral hatte er auch nicht lange Ausschau halten müssen. Er war am allerbesten in der großen Futterkiste aufgehoben, die gleich links neben dem Brettertor an der Wand stand und fast bis oben mit Hafer gefüllt war.
Nachdem Gerolt sich vergewissert hatte, dass ihm niemand gefolgt war, machte er sich in der pechschwarzen Dunkelheit daran, den Hafer in der hinteren rechten Ecke der Futterkiste mit beiden Händen zur Seite zu schaufeln und dabei den Beutel mit dem heiligen Kelch immer tiefer zu drücken, bis er auf dem Boden der Kiste ruhte, armhoch von Hafer bedeckt.
Als das getan war, gürtete er sein Schwertgehänge auf, zog die Klinge aus der Scheide und legte sie so neben sich, dass der beidseitig geschliffene Stahl nach hinten über seinen Kopf hinausragte und sich der Griff der Waffe auf Brusthöhe im Stroh befand. So konnte er bei Gefahr das blanke Schwert mit einem raschen Griff packen und war sofort kampfbereit.
Er mochte vielleicht gerade fünf Minuten auf seinem Strohlager gelegen haben, als er plötzlich das Knirschen von Sand und kleinen Steinen hörte. Sofort alarmiert, packte er sein Schwert, sprang auf, huschte zur Stalltür und schob sie einen Spalt auf.
Ein schmale Gestalt näherte sich dem Stall. Der Mann hielt in der Linken eine Laterne und in der Rechten einen kleinen Krug. Er ging langsam, sichtlich bemüht, nichts von dessen Inhalt zu verschütten.
Im Licht der Laterne sah Gerolt, dass der Mann einige Jahre jünger war als er selbst und die braune Kutte eines Konversen trug. Darüber hatte er sich eine lederne Schürze gebunden, die völlig verdreckt war. Dass es sich dabei um Stallmist handelte, roch er schon, noch bevor der Konverse vor ihm stand. Beruhigt, dass er von diesem Laienbruder kaum etwas zu fürchten hatte, verbarg er vor ihm sein Schwert. Er wollte dem jungen Burschen keinen Schreck einjagen.
»Das soll ich Euch von unserem Cellerar bringen, mein Herr«, sagte der Konverse und hielt ihm den Krug hin. »Ich soll Euch von Bruder Donatus ausrichten, dass dies Wein von seinem allerbesten Fass ist. Er hat auch den anderen eine Runde ausgeschenkt. Und er meint, dass auch Ihr daran teilhaben sollt.«
Gerolt zögerte. »Sag ihm, ich danke für seine Freundlichkeit, aber ich glaube, ich habe für heute schon genug von seinem vortrefflichen Wein getrunken.«
Der junge Konverse machte ein betroffenes Gesicht. »Das könnt Ihr mir nicht antun, Herr! Der Allmächtige verzeih mir meine Worte, aber diesen Wein hier hütet Bruder Donatus inniger als das kostbare Evangeliar, das er sich in unserem Scriptorium hat schreiben und bebildern lassen! Wenn ihr den verschmäht, wird er nicht nur tief gekränkt sein, sondern mich für Eure Ablehnung verantwortlich machen!«, sprudelte er beschwörend hervor. »Dann wird er seinen Zorn an mir auslassen und dafür sorgen, dass ich mein Leben lang nur Mist kehren und die Felder damit düngen muss! Habt Erbarmen mit mir, mein Herr! Nehmt doch wenigstens zwei, drei Schlucke!«
Gerolt lachte auf. »Deine Sorgen möchte ich haben, Konverse! Also gut, gib schon her!« Er nahm ihm den Krug ab, setzte ihn an die Lippen und ließ einen ordentlichen Schluck Wein durch seine Kehle rinnen. Ein köstlicher Nachgeschmack blieb in seinem Mund zurück, als er den Krug wieder absetzte. »Bei der seligen Jungfrau Maria, das ist wirklich der vollmundigste, süffigste Wein, der mir je auf die Zunge gekommen ist!«
Der Konverse atmete erleichtert auf. »Ich wusste doch, dass er Euch munden würde! Und jetzt kann ich auch mit reinem Gewissen unserem Cellerar ausrichten, dass Ihr seine besondere Gabe zu würdigen wisst!«
»Ja, sag ihm das. Ich werde ihm morgen auch noch selbst danken. Und lass nur, den Krug nehme ich mit hinein«, sagte Gerolt. »Vielleicht gönne ich mir ja noch einen zweiten Schluck. An so etwas Hervorragendes kommt man nun wahrlich nicht alle Tage.«
»Dann wünsche ich Euch eine gute Nacht und den Segen des Herrn«, sagte der Konverse und ging davon.
Gerolt legte den Riegel wieder von innen vor, kehrte zu seinem Strohlager zurück, legte das Schwert an seinen Platz und ließ sich den herrlichen Wein schmecken. So etwas Gutes konnte man wahrlich nicht verschmähen. Zudem war es ja auch nur ein kleiner Krug, der kaum mehr als zwei Becher gefüllt hätte.
Weit davon entfernt, berauscht zu sein, aber mit dem wohligen Gefühl, von Kopf bis Fuß von herrlicher Wärme erfüllt zu sein, streckte er sich im Stroh aus, legte die Arme im Nacken zusammen und blickte in die Dunkelheit über sich. Ein tiefer, innerer Frieden überkam ihn. Nicht einmal der Gedanke an den Achsenbruch ihrer Kutsche vermochte sein Wohlbefinden zu trüben. Zwei Konversen des Klosters würden morgen mit ihnen zur Unglücksstelle zurückkehren und den Schaden fachmännisch beheben, so war es mit dem Prior ausgemacht. Gut, sie verloren dadurch einen Tag und würden das Kloster für die Reparatur bezahlen müssen. Aber sie hatten keinen Grund, mit dem Verlauf ihrer Reise unzufrieden zu sein. Vermutlich lag eine der beiden gefährlichsten Wegstrecken ihrer Mission auf französischem Boden hinter ihnen. Nachdem sie vier Tage unbehelligt vorangekommen waren, durften sie wohl annehmen, dass sie den Iskaris im Raum Marseille durch die Maschen gegangen waren. Und die andere gefährliche Etappe war dann die letzte, nämlich wenn sie sich bis auf ein, zwei Tagesreisen Paris genähert hatten. Aber mit Gottes Beistand, größter Wachsamkeit und ein wenig Glück würden sie ihr Ziel unbeschadet erreichen und den Heiligen Gral in der Templerburg in die Hände von Armand legen, der zur geheimen Bruderschaft der Gralshüter gehörte und wohl schon seit Monaten mit wachsender Sorge auf ihr Eintreffen wartete. Und mit diesem Gefühl von Zuversicht und Gottvertrauen sank er schließlich in die Tiefen des Schlafes.
* Ordensbruder, der in einem Kloster für den Wein- und Vorratskeller zuständig ist.