Eine wichtige geistige Grundlage für die gesamte „deutsche Mystik“ und für Johannes Tauler ist die „deutsche Albertschule“ und deren Lehre vom menschlichen Intellekt.71 Dieses spezifisch aus der albertinischen Philosophie ausgehende, gegen die Intellektlehre des Thomas gerichtete deutsche Denken ist der Schlüssel zum Verständnis von Eckharts und damit auch zu Taulers Seelengrundspekulation.72
Albert der Grosse (Albertus Magnus) (ca. 1193 – 1280) kommentierte die Lehre des Aristoteles, vermittelt durch den arabischen Philosophen Averroes (1126 – 1198), da dessen Kompendium aristotelischen Denkens ins Lateinische übersetzt worden war.73 Auf die averroistische Deutung des Aristoteles aufbauend, entwickelte Albert eine Seelenlehre, die auf der einen Seite von Thomas von Aquin und auf der anderen Seite – allerdings in direkter Opposition zu Thomas und der von ihm vertretenen Scholastik – von Dietrich von Freiberg (1250 – 1318/20) und Berthold von Moosburg weitergedacht wurde.74 Dietrich von Freiberg beeinflusste mit seiner Intellektlehre Meister Eckhart75 und (über Eckhart und Berthold von Moosburg) auch Johannes Tauler. Nicht zu Unrecht lässt sich deshalb eine Linie von Albert über Dietrich zu Eckhart ziehen.76 Eckhart übernahm jedoch nicht nur einfach die Lehre Dietrichs. Gerade in der Deutung des intellectus geht Eckhart eigene Wege, die wiederum Tauler beeinflussten.
Sehr lange wurde der Einfluss Alberts des Grossen auf die Geistesgeschichte sehr einseitig gedeutet. Im europäischen Zusammenhang galt er vor allem als der Lehrer des Thomas von Aquin.77 Dabei wurde übersehen, dass Albert in seiner deutschen Heimat Schüler hatte, die, auf ein durch Albert vermitteltes neuplatonisches Fundament aufbauend, eigene Denkwege gingen und mit diesen der Scholastik des Thomas von Aquin Widerstand leisteten.78 Diese Denker – Meister Eckhart vielleicht ausgenommen – blieben lange Zeit gänzlich unbekannt.79 Dabei sind diese deutschen Albertschüler – vor allem Dietrich von Freiberg (1250 – 1318/20) – der Schlüssel zum Verständnis Meister Eckharts (und über diesen auch Taulers).80 Bis zu deren „Wiederentdeckung“ durch die Herausgeber des „Corpus Philosophorum Teutonicum Medii Aevi“ vermochte man das Denken Eckharts nicht immer nachzuvollziehen, da man dessen geistige Grundlage nicht richtig kannte: Der Dominikaner Heinrich S. Denifle (+1905) nannte Eckhart 1886 zwar einen Scholastiker, zuvor wurde er u.a. vom evangelischen Theologen Carl Wilhelm Schmidt als Antischolastiker bezeichnet81, allerdings glaubte Denifle „auf Grund seines thomistischen Vorverständnisses, das sich als Vorurteil erweisen sollte, Eckehart als undisziplinierten Scholastiker bezeichnen zu dürfen und sprach ihm jede höhere philosophische Begabung ab.“82 Doch in Wahrheit hat Denifle „Eckhart in seinem Grundanliegen nicht verstanden.“83
Dieses Grundanliegen hätte Denifle verstehen können, wenn er sich von der Scholastik des Thomas als Vorverständnis für Meister Eckhart hätte lösen können und stattdessen einen Blick auf die deutschen Vertreter der albertinischen Richtung geworfen hätte.84 Denn gerade zwischen 1250 und 1350 entstand eine autonome deutsche philosophische Kultur, die mit der Blüte der sog. „deutschen Mystik“ zusammenfiel.85 Dies war kein bloßer Zufall, sondern hängt – wie Sturlese zeigt – eng mit Albert dem Grossen zusammen.86 In der Geschichte der Philosophie ist Albertus Magnus „Ausgangspunkt und Beweger einer deutschen Sonderentwicklung, die das philosophische Denken in Deutschland für ein Jahrhundert ... der Provinzialität entriss und auf eine Höhe führte, die es erst mit Leibniz wieder gewann.“87
Bevor wir konkreter auf das (für diese Arbeit notwendige) Denken Alberts zu sprechen kommen, wollen wir kurz auf die zwei Albert-Richtungen in Deutschland blicken. Vertreter der einen Richtung, die Tauler maßgeblich beeinflusste, sind Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart; an der Spitze der anderen Richtung steht Johannes Picardi von Lichtenberg – „drei Persönlichkeiten von Format, alle drei Dominikaner-provinziale, Magistri der Theologie, Pariser Professoren.“88
„In Paris lehrte Dietrich 1296, Eckhart 1302 und 1311, Picardi 1310. Alle drei trugen dort quaestiones und quodlibeta vor, lasen über die Sentenzen und die Heilige Schrift, hielten Universitätspredigten. Aber es gibt keine Spur davon, dass diese Tätigkeit bei ihrem Pariser Publikum mehr als eine gewisse Neugier weckte. Pariser Quodlibeta von Eckhart, Dietrich, Picardi kennen wir nicht. ... In Deutschland hingegen wurden die Werke dieser Meister gesammelt, benutzt, diskutiert und in einigen Fällen sogar in die Volkssprache übertragen.“89
Für Sturlese zeigt sich in der unterschiedlichen Aufnahme der Werke dieser deutschen Dominikaner, dass es zu jener Zeit bereits eine eigenständige deutsche philosophische Kultur gegeben haben könnte. In dieser wiederum sieht er die philosophischen Ursprünge für die sog. „deutsche Mystik“.90
Die von Johannes Picardi vertretene Richtung sieht in Albert vornehmlich den Aristoteles-Kommentator und Naturwissenschaftler. In Picardis Quaestiones von 1303 wird Albert fünfmal ausdrücklich erwähnt:
„Zwei Zitate betreffen die Auslegung von sehr spezifischen Aristoteles-Stellen, die übrigen beziehen sich auf zwei große naturwissenschaftliche Fragen, nämlich die Mischung der Elemente und die Natur des Lichts.“91
Thomas von Aquin wird dagegen bei allen wichtigen theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Fragen genannt – nicht weniger als 15-mal. Picardi hat Albert „ausschließlich als Aristoteles-Kommentator oder als ‚Wissenschaftler‘ benutzt.“92 Die Interpretation Picardis wurde von vielen deutschen Dominikanern übernommen.93 Picardis Richtung entsprach dem Denken der europäischen Scholastik.94 Im deutschen Sprachraum existierte jedoch noch eine Alternative zu dieser Deutung: Für Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart, den Dietrich-Schüler Berthold von Moosburg und Johannes Tauler ist Albertus Magnus nicht nur der Aristoles-Kommentator und Naturwissenschaftler, sondern darüber hinaus ein Neuplatoniker.95 Bereits einer der ersten Schüler Alberts, Ulrich Engelbert von Straßburg96 (ca. 1225 – 1277) hat in seinem „Summum Bonum“ (von 1270), der ersten „Summe des Albertinismus“97, eindeutig bezeugt:
„Im Denken Alberts koexistieren aristotelische Lösungen mit einer neuplatonischen Metaphysik, die Wissenschaft Alberts ist durchsetzt von magischen, hermetischen Elementen.“98
Ulrich hat in seinem Werk „De summo bono“ sechzehn verschiedene Kapitel aus Alberts „De causis et processu universitatis“ wörtlich abgeschrieben – einer der am stärksten neuplatonisch orientierten Schriften Alberts, wie Sturlese hervorhebt99:
„Alle aus De causis exzerpierten Stellen drehen sich um neuplatonische Thesen, und zwar: Die Lehre von Gott als ´allgemein tätigem Intellekt´ (intellectus universaliter agens); ferner die intellektuelle Emanation der Welt aus Gott, ‚fluxus‘, die Theoreme der ‚causa essentialis‘ und der vierfachen Einteilung der ‚causae primariae‘, der Weltgründe: Gott, Intelligenzen, Himmelsseelen, Natur; endlich, die ‚anima nobilis‘-Lehre und die damit verbundenen Fragen nach den Intelligenzen und der Himmelsbewegungen.“100
Bemerkenswert sei auch, dass Ulrich die Thesen Alberts ganz bewusst in den theologischen Kontext seiner Summe aufnahm und ihnen dadurch eine theologische Autorität verlieh: „Er hat damit den Weg zur Würdigung des neuplatonischen Aspektes im Denken Alberts geebnet.“101 Wenn Ulrich in seiner Summe deshalb Platon den Vorrang einräumt102, bedeutet das keineswegs die vollkommene Ablehnung des Aristoteles. Ulrich glaubte wie Albert an das „komplementäre Verhältnis zwischen Plato und Aristoteles.“103 Die deutsche Albert-Schule um Dietrich von Freiberg vertrat die gleiche Sicht, was schließlich dazu führte, dass insbesondere der Neuplatoniker Proklos gerade in Deutschland großen Anklang fand104:
„Das Ansehen, das Proklos in Deutschland genoss – die Elementatio theologica bei Dietrich von Freiberg und Eckhart, die 1280 übersetzten Opuscula bei Berthold von Moosburg und Tauler – hatte im ganzen Mittelalter anderswo nicht seinesgleichen.“105
Ulrich bezeichnet in seinem Werk Albert als einen „expertus in magicis“, als einen, der Erfahrung in den „magischen Künsten“ habe.106 Dazu bemerkt Sturlese:
„Expertus in magicis ist weder ein Hinweis auf die ‚angewandten Wissenschaften‘ ..., noch ein naives Missverständnis ... . Es ist eine Redewendung, welche Ulrich aus Alberts De anima entnahm und mit der beide, der Meister und der Schüler, auf die hermetische Nekromantie Bezug nahmen.“107
Albertus Magnus hat in seinem Gesamtwerk mehr als 109-mal Gedanken des Hermes Trismegistos108 ausdrücklich übernommen und nur fünfmal kritisiert. Ob ihm an einer Versöhnung des Hermes und des Hermetismus mit Platon und Aristoteles lag, wie Sturlese fragt, lässt sich jedoch nicht beantworten.109 Wie dem auch sei, Albert fand in den hermetischen Schriften Anknüpfungspunkte für seine Intellektlehre. Ruh zeigt, dass Albert den Satz „Homo nexus est dei et mundi“ („Der Mensch ist das Band, das Gott und Welt verbindet“) dem Hermes zuweist.110 Sodann zitiert Ruh einen Abschnitt aus Alberts Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles:
„Im Buch ‚Vom Gott der Götter‘, das [seinem Schüler] Asklepius gewidmet ist, sagt Hermes Trismegistus in erhabener Weise, der Mensch sei das Band zwischen Gott und Welt, indem er nämlich über der Welt steht mit einer doppelten Erkenntnisweise (indagatio), einer sinnlichen (physica) und einer abstrakten (doctrinalis), durch die der menschliche Verstand seine Vollendung erreicht: in dieser Hinsicht kann er zutreffend ‚Lenker der Welt‘ genannt werden. Insofern der Mensch jedoch unter Gott mit diesem verbunden ist (subnexus deo), empfängt er die göttlichen Herrlichkeiten, die nicht der Welt und mit ihr Raum und Zeit angehören, empfängt sie dank seiner in ihm angelegten Ähnlichkeit mit Gott durch das Licht des einfachen Intellekts, der am Gott der Götter teilhat.“111
Was Albert hier mittels des Hermes beschreibt, ist die Erleuchtung des menschlichen Intellekts durch den göttlichen Intellekt, was den Menschen gottähnlich und die Vereinigung mit Gott erst möglich macht.112 Das sind Gedanken, die von Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart aufgenommen und weitergeführt worden sind. Halten wir mit Sturlese fest:
„Kein Zweifel, dass Albert die deutsche philosophische Kultur am tiefsten prägte. ... Die Stilisierung Alberts zum Wissenschaftler wurde von den Thomisten verfolgt und hatte im Wesentlichen den Zweck, seine Autorität im allgemeinen philosophisch-theologischen Bereich einzuschränken. Andere versuchten, Albert zum Schutzherrn einer neuplatonisch-hermetisch orientierten philosophischen Richtung zu erheben. Dies entsprach einer Interpretation, die schon zu Alberts Lebzeiten entstanden war, eine bedeutende Entwicklung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts erlebt hatte und die konkurrierende thomistische Richtung zu einer stetigen Auseinandersetzung zwang. ... Alle Persönlichkeiten, die an dieser Debatte teilnahmen, waren Dominikaner. Von der Gründung des Kölner Studium Generale (1248) bis zur Gründung der ersten deutschen Universität (Prag, 1348) kontrollierte der Predigerorden alle deutschen Bildungsanstalten von Bedeutung. Dies alles wirft ein neues Licht auf die Frage, warum Albert auf die deutsche philosophische Kultur des 14. Jahrhunderts so stark wirkte. Es bestimmt auch das, was man ‚deutsche spekulative Mystik‘ nennt. Deren Konturen decken sich mit denen der neuplatonisch-hermetischen Strömung – einer philosophischen Strömung, die ihre Autoren, Texte, Bildungsstrukturen, Träume hatte, und an deren Spitze Albert der Große stand.“113
Albertus ist der einzige Gelehrte, dem der Beiname „der Große“ gegeben wurde.115 Geboren in Lauingen (bei Dillingen) an der Donau, studierte er in Padua ein studium litterarum, ein Artes-Studium. 1223 trat er in den Predigerorden ein. 1245 erhielt er das Magisterium und ging als Professor für drei Jahre nach Paris. 1248 bekam er den Auftrag, das neue Haus für die Generalstudien in Köln zu gründen und zu leiten. Unter Albert wurde Köln zu einem der bedeutendsten wissenschaftlichen Bildungszentren des Abendlandes. Zu seinen ersten Schülern gehörte Thomas von Aquin. Von 1254 – 1257 war Albertus der Provinzial der deutschen Ordensprovinz. 1260 ließ er sich – trotz Warnungen des Ordensgenerals – zum Bischof von Regensburg ernennen. Zwei Jahre blieb er im Amt, dann trat er – obwohl er sein Amt sehr erfolgreich ausübte – zurück. Er wirkte sodann als Bibellektor in Würzburg und Straßburg und kehrte 1270 nach Köln zurück. Dort starb er am 15. November 1280.116
Wir beschränken uns in dieser Arbeit auf die Seelenlehre Alberts. In Alberts Gesamtwerk nimmt diese einen großen Raum ein:
„Zwischen 1250 und etwa 1263 verfasste Albert zum einen die breit angelegte Paraphrase zur Seelenschrift des Aristoteles, im weiteren die Libri de intellctu et intelligibili, die viele Anspielungen auf das dritte Buch von De Anima enthalten, eine eigenständige Schrift De natura et origine animae (die Albert selbst auch Liber de immortalitate animae zitiert), den Kommentar zur aristotelischen Metaphysik, der in vielen Kapiteln auf Probleme der Seelen- und Intellektlehre eingeht; und schließlich eine Streitschrift De unitate intellectus; diese wendet sich gegen arabisch-averroistische Fehldeutungen der aristotelischen Intellekt-Theorie. In den Kommentaren zu den zoologischen Schriften des Aristoteles, insonderheit zu den Abhandlungen über die Sinnenwesen und deren spezifische Fähigkeiten, erörtert Albert eine Reihe von wichtigen anthropologischen Fragen, die mit der Seelenlehre zusammenhängen. Die letztgenannten Schriften sind mutmaßlich zwischen 1254 und 1257 verfasst worden; die bereits erwähnte Abhandlung De natura et origine animae war zunächst als Teil des Liber de animalibus konzipiert worden.“117
Alberts Absicht war, „das großartige enzyklopädische System aller Wissenschaften, als welches sich die Philosophie des Aristoteles darbot“118, zu kommentieren.
Der wichtigste Vermittler der aristotelischen Philosophie war für Albert der arabische Denker Averroes (1126 – 1198), da dessen Kompendium aristotelischen Denkens ins Lateinische übersetzt war. Averroes hatte die gesamte griechische und arabische Aristoteles-Deutung fast vollständig bearbeitet und war mit den interpretatorischen Problemen seiner Vorgänger bestens vertraut.119
Averroes setzt sich in seinem De-Anima-Kommentar120 ausführlich mit den Problemen auseinander, die sich aus der Intellektlehre des Aristoteles ergeben haben.121 Bei Aristoteles stehen sich zwei Seelenauffassungen gegenüber, die Seele als Lebensprinzip aller pflanzlichen, tierischen und menschlichen Körper einerseits, die Seele als Ort der möglichen Teilhabe am Ewigen und an der Erkenntnis aller Dinge andererseits – der menschliche Intellekt.122
Aristoteles bestimmt in seinem Buch De anima die Seele als „die erste Wirklichkeit eines natürlichen Körpers, der dem Vermögen nach Leben hat.“123 Die Seele ist demnach „Ursache und Ursprung des lebenden Körpers.“124 Darüber hinaus bestimmt Aristoteles den „nous“ (Geist, Intellekt) des Menschen als Teil bzw. als Vermögen der Seele. Der Intellekt ist „animae intellectus“125 bzw. die Seele ist „anima intellectiva“126. Dieser Intellekt ist laut Aristoteles „wesensgemäß unkörperlich“127, woraus er auf dessen Unsterblichkeit schließt. Beim Intellekt in der Seele gibt es nun zwei Weisen128:
„Die eine Weise ist ein intellectus, der alles wird, die andere ein intellectus, der alles bewirkt. Der intellectus, der alles bewirkt, macht die Dinge, die in dem alles werdenden intellectus der Möglichkeit nach sind, wirklich sichtbar, so wie das Licht die Farben, die ohne es nur der Möglichkeit nach sichtbar sind, zur Erscheinung bringt. Der intellectus, der alle Dinge werden kann und von sich selbst her leer ist, heißt im Mittelalter intellectus possibilis. Der Intellekt aber, der die Formen der Dinge in der Seele aufleuchten lässt, heißt im Mittelalter intellectus agens.“129
Der intellectus agens ist deshalb „edler“ und „vornehmer“ als der rezeptive intellectus possibilis.130 Wichtig ist nun, „dass der intellectus das einzige Seelenvermögen ist, das essentiell abgetrennt vom Körper ist: ‚Das Sinnesorgan existiert nämlich ohne Körper, der intellectus aber ist abgetrennt‘ (429 b 5).“131 Der Intellectus wird also erst das, was er seinem Wesen nach ist,
„in der Trennung … von der Seele; daher ist er nicht an der Vergänglichkeit des Körpers gebunden: … ‚Aber erst abgetrennt … ist er das, was er wirklich ist, und nur dieses ist unsterblich und immerwährend‘ (430 a 25).“132
Dagegen ist der rezeptive, erleidende Intellekt sterblich und geht mit dem Körper unter.
Die Konsequenz dieser Seelen- und Intellektlehre war, dass die christliche Lehre von der Unsterblichkeit der individuellen Seele in Frage gestellt werden konnte: Wenn nämlich der tätige Intellekt, wie Aristoteles lehrt, als abgetrennte Wesenheit und nicht als Teil der menschlichen Seele gedeutet wird, wie lässt sich dann überhaupt noch von der Unsterblichkeit der individuellen Seele sprechen?133
Dieses Problem erkannte Albert der Große. Eine große Hilfe war ihm dabei der Lösungsansatz des Averroes, der die Ungenauigkeiten des Aristoteles bei der genauen Bestimmung des menschlichen Verstandes zu überwinden suchte, indem er der Erkenntnisfähigkeit des Menschen, dem Verstand, vier geistige Tätigkeiten zuordnet134: Averroes bezeichnet den Verstand als „aktives, erleuchtendes Prinzip aller geistlichen Operationen“135 – den intellectus agens (den wirkenden, tätigen Verstand). Gemeint ist „ein aktives geistiges Prinzip, das aus den Höhen eines übergeordneten Geistes heraus in den menschlichen Seelen wirksam wird.“136 Diesem aktiven Prinzip ist der rezeptive Verstand zugeordnet: Der intellectus possibilis (mögliche Verstand) oder intellctus materialis (materiale Verstand) ist der „Ort des Erkennens“137. Der intellectus possibilis nimmt die vom intellectus agens erzeugten Formen auf. Das im intellectus possibilis nur mögliche Erkennbare kann erst durch die Tätigkeit des intellectus agens Wirklichkeit werden. Intellectus agens und intellectus possibilis, aktives und passives Prinzip des menschlichen Verstandes, gehören somit zusammen und sind für Averroes gleich ursprünglich. Deshalb sind beide „unvergänglich und … überindividuell.“138 Als drittes Prinzip des menschlichen Verstandes bezeichnet Averroes die Einbildungskraft (intellectus passivus). Der passive Verstand ist abhängig von den durch die Sinnesorgane vermittelten sinnlichen Daten. Die Einbildungskraft ist an den menschlichen Organismus gebunden und somit sterblich.139 Die im Laufe eines Lebens erworbenen Denkinhalte des passiven Verstandes sind bei den Menschen verschieden; sie konstituieren das Wissen und den Bildungsstand des einzelnen Menschen. Den in einem Leben erarbeiteten Wissensstand nennt Averroes den theoretischen bzw. habituellen Verstand – intellectus speculativus oder habitualis.140
Den intellectus agens stattet Averoes nach Aristoteles De anima III, 5 mit folgenden Prädikaten aus141: (1) Der Intellekt ist als intellectus agens in actu. Er erkennt aufgrund seiner Aktualität alles. (2) Der intellectus agens ist seinem Wesen nach Tätigkeit. „Als Wissen, das in actu ist, ist er seine Inhalte.“142 (3) Der intellectus agens schafft (creare) die Erkenntnisinhalte für den veränderlichen Intellekt. (4) Der Mensch ist aufgrund des intellectus agens Gott ähnlich. „Die Dinge seien nichts anderes als das Wissen Gottes.“143
Die Intellektlehre des Averroes betont die Nicht-Individualität des tätigen und möglichen Intellekts. „Geistige Erkenntnis war gedacht als das Eintreten des individuellen Denkens in die Sphäre der Allgemeinheit, Verbindlichkeit, Über-Individualität.“144 Die aktiven Verstandesteile der Intellekte aller Menschen leben nach dem Tod des Einzelmenschen zwar weiter, doch sind sie einheitlich, d.h. zu einer Einheit in einer überirdischen geistigen Instanz verschmolzen.145 Das hat zur Folge, dass „eine persönliche und individuelle Unsterblichkeit der menschliche Seele … damit ausgeschlossen“146 ist. Averroes beseitigt mit seiner Lehre des Verstandes somit
„zwar die Ungereimtheiten der aristotelischen Intellektlehre, die Frage jedoch, wie ein anonymer Geist konstitutiv sein könnte für eine besondere Art von Seele, die Form ist für ausschließlich den menschlichen Leib, wird vernachlässigt. Averroes bemüht sich bloß um den … Nachweis, dass der ´intellectus materialis´, der rezeptive Geist, keinesfalls ein Epiphänomen der körperlich-materiellen Konstitution des menschlichen Leibes sein kann.“147
In der Schrift „De unitate intellectus contra Averroistas“ setzt sich Albertus Magnus mit der averroistischen These von der „Einheit des Verstandes“ auseinander.148 Darin stimmt er Averroes zu, dass der intellectus agens und der intellectus possibilis als gleich ursprünglich zusammengehören und dass deswegen beide „getrennt“ und „einig“ sein müssen. Das gelte dann auch für den gesamten Verstand. Daraus folgt weiter, dass sich diese vom Körperlichen „getrennte“ geistige Wesenheit nicht in materieller Vielheit vervielfältige, sondern eins bleibe.149
Im Einzelnen sagt Albert gemäß Averroes, die menschliche Seele sei eine einheitliche Substanz mit mehreren Vermögen. Ein Teil dieser Vermögen komme der Seele zu, sofern sie der Verwirklichung des menschlichen Körpers diene; der Verstandesteil der Seele jedoch – der Intellekt – wirke getrennt vom menschlichen Organismus. Dieses „getrennte“ Vermögen sei deshalb ein Teil der Seele, weil sie Ähnlichkeit mit der ersten Ursache habe, welcher sie ihr Sein verdanke.
„Wir wollen sagen, dass in unserer Seele ein Verstandesteil ist, und wir behaupten, dass, was man Verstandesseele nennt, eine Substanz ist, welcher Vermögen entspringen, die teilweise getrennt sind, so dass sie weder körperliche Formen noch Kräfte innerhalb des Körpers sind; andere aber entspringen ihr, die Kräfte sind, welche im Körper wirksam werden. Und jene, die nicht Kräfte innerhalb des Körpers sind, sind ihr (=der Seele) aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der ersten Ursache, durch welche (die Seele) ist und Bestand hat. Jene aber, die Kräfte innerhalb des Körpers sind, befinden sich in ihr, sofern sie eine Seele ist, deren Eigentümlichkeit es ist, Verwirklichung eines Körpers zu sein und innerhalb des Körpers und in die Natur hinein zu wirken, denn so sind die Natur und die naturhaften Vermögen ihre (=der Seele) Instrumente.“150
Albert erklärt weiter: Der Intellekt, der aufgrund seiner Teilhabe an der ersten Ursache ein „Abglanz des ersten Lichtes“ ist, ist der tätige Verstand (intellectus agens). Er erleuchtet und beleuchtet die sich abwechselnden Gegenstände menschlichen Denkens. Den intellectus agens versteht Albert dabei als ein „reines Erleuchten“, das jedoch mit der Verstandhaftigkeit der Gesamtseele korrespondiert, sofern sie den menschlichen Organismus mit Leben erfüllt. Die Gesamtseele verschafft also dem Intellekt seine Denkobjekte. Der Intellekt, welcher in Verbindung mit dem Leib solche Denkobjekte bekommt, ist der mögliche Intellekt (intellectus possibilis).151
„Und auch der Verstand, der aus ihr (der Seele) fließt, sofern sie selbst der ersten Ursache entspringt und durch sie im Sein Bestand hat, … ist in ihr wie das Licht und ist der tätige Verstand, der deswegen veränderlich ist und sich auf veränderliche Weise im Betrachten auswirkt, weil er selbst Abglanz einer ersten geistigen Natur ist, die zur ersten Ursache hingewendet ist durch Teilhabe an deren Licht; was aber aus ihr fließt, sofern sie selbst eine Substanz ist, durch welche die Natur des Körpers beständig, fest und sich beschränkend ist, ist der mögliche Verstand.“152
Albert kommt zu dem Ergebnis:
„Die Verstandesseele des Menschen ist eine substantiale Einheit; zu unterscheiden sind ihre Vermögen, und diese haben unterschiedliche Funktionen und Wirkweisen; so ist auch der Verstand eines von mehreren Vermögen, welche der Seele als Form des menschlichen Körpers zukommen.“153
Averroes hat nun dem menschliche Geist – der Verstandesseele – eine höhere Seinsweise zugeschrieben und von der menschlichen Seele, sofern sie den Organismus leben lässt, getrennt. Damit aber habe – laut Albert – Averroes die aristotelische Rede von der „Getrenntheit“ und „Ewigkeit“ des menschlichen Geistes missverstanden.154 „Getrennt“ sei der Verstand im Sinne einer unabhängigen Existenz keineswegs, sondern sofern er eine Seelenkraft sei, die unabhängig vom menschlichen Organismus funktioniere.155 „Ewig“ sei der Verstand auch nur in einem ganz bestimmten Sinne. Seine Veränderungen seien nicht mit denen der Natur vergleichbar, die in der Zeit ablaufen. Er entstehe nicht wie ein Naturding, sondern auf überzeitliche Weise. Der Verstand verändere sich „in der Weise der ‚Selbstverwirklichung‘, z.B. im Vollzug des betrachtenden Denkens, der Theorie.“156
„Wenn man aber [wie Averroes]) das ‚ewig‘ nennt, was auf keine Weise durch Möglichkeit und Verwirklichung ins Sein gekommen ist, weder in der Zeit noch außer der Zeit, dann ist in diesem Sinne ausschließlich die erste Ursache ‚ewig‘. Und die geistige Natur und überhaupt jede zweitrangige Substanz ist nicht ewig, denn eine solche ist von sich her Möglichkeit, und in Verwirklichung und Notwendigkeit ist sie durch das, was sie von der ersten Ursache hat.“157
Für Albertus Magnus ist also die Seele
„eine solche Substanz, aus der Vermögen fließen, die (teils) von der Materie getrennt sind und (teils) nicht getrennt sind, und gemäß ihrer selbst ist sie unvergänglich und dauerhaft, wenn sie auch hinsichtlich des Seins bestimmter Vermögen vergänglich ist. Und dies sagen wir über die menschliche Seele und über keine andere.“158
Die gesamte menschliche Verstandesseele überdauert den Tod, „weil sie eine substantiale Einheit ihrer Vermögen ist.“159
Im Einzelnen nimmt Albert in seinem Kommentar zu Aristoteles´ De anima Korrekturen an der averroistischen Deutung des Aristoteles vor.160 Zunächst stellt Albert fest, dass in allen Bereichen des Seienden ein tätiges, aktives Prinzip mit einem aufnehmenden, materieartigen passiven Prinzip korrespondiert. Das gelte auch für den Verstand. Der tätige Verstand (der intellectus agens) sei das produktive Prinzip, welches die erkennbaren Formen bilde. Der mögliche Verstand (der intellectus possibilis) nehme diese Formen auf.161
„Der tätige Verstand ist wie das Licht, das Farbiges sichtbar macht; er trennt das, was der Möglichkeit nach erkennbar ist, von den Bedingungen und Einschränkungen der Materialität und lässt somit das wirklich Erkennbare vom möglichen Verstand aufnehmen.“162
In beiden Hinsichten, so Albert, arbeite der Verstand in einer Weise, die über das Körperlich-Organische und Stoffliche hinausreiche.163 Daraus folgt: Der intellectus possibilis ist – im Sinne des Aristoteles – ebenso „getrennt“ und „unvermischt“ mit der Beschaffenheit der erkannten Dinge wie der intellectus agens.164 Der mögliche Verstand (intellectus possibilis) ist im Unterschied zum tätigen Verstand (intellectus agens) jedoch „leidensfähig“, d.h. er ist rezeptiv; er nimmt die erkennbaren Formen des tätigen Verstandes in sich auf.165 Darüber hinaus ist der intellectus agens das „Licht des Erkennens“. Das bedeutet: Sein Erkennen ist ein „Bei-sich-selbst sein“166; er ist in sich, von seinem ganzen Wesen seine Tätigkeit, sein Denken. Der intellectus possibilis dagegen erfasst die von ihm unterschiedenen Erkenntnisinhalte. Dennoch darf man den tätigen Verstand wegen seines selbstständigen und vom körperlich-organischen getrennten Intellekts nicht aus der menschlichen Seele aussondern: „Der mögliche Verstand gehört … notwendig zum tätigen Verstand, und beide wiederum gehören wesenhaft zur menschlichen Seele.“167 Albert begründet dies folgendermaßen:
„Da nämlich die Seele, ‚ein gewisser Widerschein des Lichtes einer getrennten Intelligenz‘ ist, sind in ihr beide notwendig. … Und von diesem Sein der Seele fließen zwei Kräfte, deren eine der tätige Verstand ist, der von dem aufgenommenen Licht selbst verursacht wird, in welchem das Licht aufgenommen wird. Und als eine in diesen beiden (Kräften) vollendete und getrennte Substanz existierend, ist die Seele eine Substanz, die immer dauert und durch den Tod des Körpers nicht zerstört wird.“168
Im Weiteren beschreibt Albert die Dynamik der verschiedenen Verstandeskräfte in der menschlichen Seele. Der tätige Verstand erzeugt die Denkinhalte nicht aus sich selbst. Das, was der Möglichkeit nach erkennbar ist, macht er im intellectus possibilis zu einem aktuellen Denkinhalt. Das aber geschieht, indem der tätige Intellekt auf die Einbildungskraft (intellctus passivus) einwirkt und deren Inhalte in Denkgehalte umwandelt. Die Einbildungskraft wiederum erhält ihre Inhalte ausschließlich aus der durch den menschlichen Organismus erfolgten Wahrnehmung. Das aber, was wahrgenommen wird, ist nun unabhängig von der Präsenz der wahrnehmbaren Dinge.169 „Was dem möglichen Verstand zugeführt wird, sind also die aus der Einbildungskraft herausgeholten Formen.“170 Sofern der mögliche Verstand von diesen Erkenntnisinhalten geprägt wird, heißt er „theoretischer Verstand“ (intellectus habitualis bzw. speculativus).171 Zu diesem „theoretischen Verstand“ bemerkt Albert:
„Aber auch der theoretische Verstand hat ein zweifaches Sein, das eine im Lichte des (tätigen Verstandes), wodurch er (überhaupt) betrachtend wird, das andere aber im Verhältnis zu den Dingen, deren Bild (species) er (jeweils) ist, und in dieser Hinsicht wird er gemäß Möglichkeit und Verwirklichung (also nach Art eines Naturprozesses) vervielfältigt und verändert. Aus dem ersten Sein heraus jedoch erfährt er keine Veränderung.“172
Der mögliche Verstand ist also, sofern er von den ständig wechselnden Denkinhalten der Einbildungskraft geprägt wird, als theoretischer Verstand, „leidensfähig“ und auch vergänglich. Für sich genommen aber, einzig und allein von seinem Sein als möglicher Verstand her, ist er jedoch unvergänglich.173
„Wenn es also einmal geschieht, dass er von den Tätigkeiten der Kräfte der Wahrnehmungsseele getrennt wird, dann wird (die Seele) sich weder erinnern noch Vorstellungsbilder haben; obgleich nämlich jene vernunfthafte Substanz als ganze vom Körper getrennt wird, so arbeitet sie doch hinsichtlich bestimmter Kräfte nur innerhalb eines Körpers; folglich hat sie, wenn sie nicht in einem Körper ist, keine Tätigkeit des Verstandes gemäß jener naturhaften Hinwendung auf diese (Kräfte).“174
Für die nach dem Tode vom Körper getrennte Seele bedeutet dies aber keine Verarmung:
„Wenn nämlich der mögliche Verstand aus der Möglichkeit in die Verwirklichung übergeht, dann macht er Gebrauch von Erinnerung, Wahrnehmungsfähigkeit, Vorstellung und Phantasie, denn aus der Wahrnehmung holt er die Erfahrung, aus der Erfahrung das Gedächtnis und aus dem Gedächtnis das (Wissen um das) Allgemeine. Wenn er aber das Wissen schon hat, heißt er ‚erworbener Verstand‘, und dann bedarf er nicht länger der Kräfte der sinnenhaften Seele, als er, wie Avicenna sagt, ein Fahrzeug suchte, um in die Heimat zu fahren, und wenn er in der Heimat angekommen ist, dieses Fahrzeug nicht länger braucht.“175
In Alberts Deutung kommen somit alle vier averroistischen Bedeutungen des Verstandes wieder vor. Er hat sie jedoch in der Weise modifiziert, dass er auf die Unsterblichkeit der gesamten Verstandesseele schließen kann:
„Im Unterschied zu Averroes versteht Albert die menschliche Seele nicht als ein System von verschiedenen ‚Schichten‘, über deren Seinsmodi jeweils gesondert verhandelt werden könnte, sondern als funktionale Ganzheit, als eine Substanz, die ‚mehrere Vermögen aus sich entlässt‘ und diese auf unterschiedliche Weise wirken lässt.“176
Alberts Deutung hat, wie Craemer-Ruegenberg betont, im Kontext der gesamten Seelenlehre des Aristoteles einen höchst beachtlichen Vorsprung vor der Auffassung des Averroes:
„Sie macht nämlich plausibel, wieso die Verstandesseele im Sinne der Aristotelischen Definition ‚Form des menschlichen Körpers‘ und Ermöglichungsgrund für dessen Lebenstätigkeiten ist und zugleich ‚getrenntes‘ und ‚trennbares‘ Geistwesen.“177
Für Albert ist die menschliche Verstandesseele eine substantiale Einheit, aus welcher
„Vermögen fließen, die (teils) von der Materie getrennt sind, und gemäß ihrer selbst ist sie unvergänglich und dauerhaft, wenn sie auch hinsichtlich des Seins bestimmter Vermögen vergänglich ist. Und dies sagen wir über die menschliche Seele und über keine andere.“178
Generell aber – und das ist wichtig im Vergleich zu Dietrich von Freiberg – versteht Albert den Intellekt als ein Seelenvermögen, als Gestaltungsprinzip des Körpers.
Für die Theologie und Philosophie des Mittelalters brachte Alberts „Begründung des mit der Unsterblichkeitsthese verknüpften ‚anima-forma-corporis‘-Theorems aus den Prämissen der arabisch-islamisch umgestalteten ‚peripatetischen‘ Metaphysik … unverhoffte und … neue anthropologische Einsichten: auch die materielle Seite des Menschen, der menschliche Organismus mit seinen spezifischen und individuellen Besonderheiten“179, konnte nun als etwas Bedeutendes angesehen werden. Die „Albert-Schule“ hat zwei intellektheoretische Konzepte hervorgebracht: die Auffassung des Thomas von Aquin einerseits180, die Lehre des Dietrich von Freiberg andererseits. Im deutschen Sprachraum war vor allem der Einfluss Dietrichs von Freiberg groß.
Über Dietrichs Leben ist nur sehr wenig bekannt182: 1271 ist er im Dominikanerkonvent in Freiberg als Lektor tätig. Sein Provinzial, Ulrich von Straßburg, ermöglicht ihm ein Stipendium des Ordens für ein Zusatzstudium an der Universität in Paris – eine besondere Auszeichnung für Hochbegabte (seit 1273/74). 1280/81 finden wir ihn als Lektor in Trier. Von 1293 – 1296 trägt er als Provinzial die Verantwortung für die gesamte deutsche Ordensprovinz „Teutonia“. Die „Teutonia“ erstreckte sich von den Alpen bis zur Nordsee und von den Niederlanden bis in die Mark Brandenburg, bestand aus 80 Männer- und 65 Frauenklöstern. Außerdem wurden während seines Provinzialates elf neue Niederlassungen gegründet. Auf dem Generalkapitel in Straßburg (1296/97) wird er als Magister actu regens an die Universität Paris berufen. Ab 1303 ist Dietrich wieder in Deutschland und wird dort mit verschiedenen Ämtern in der Provinzleitung betraut (1303 Provinzdefinitor, 1310 Provinzialvikar). Dietrich stirbt vermutlich im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts.
In Dietrichs „De visione beatifica“ geht es um das „Höchste im Menschen“, den Intellekt.183 Durch den Intellekt wird der Mensch ganz mit Gott eins und vermag Gott zu „erkennen“. Dietrich hat den Intellekt in der Seele des Menschen immer als eine Einheit gesehen, auch wenn er ihn in den intellectus agens und intellectus possibilis unterteilt hat. Diese beiden Intellekte waren für ihn nicht zwei verschiedene Intellekte, sondern bildeten eine Einheit, die aus einem aktiven und einem rezeptiven Prinzip besteht. Erst in „De intellectu et intelligibili“ geht Dietrich genauer auf die Unterschiede zwischen intellectus agens und intellectus possibilis ein. Doch hebt Dietrich von Anfang an die Herausgehobenheit des intellectus agens hervor.
Die Intellekttheorie Dietrichs von Freiberg184 stellt „einen originellen Ansatz“ dar, „der die Rolle der geistigen Tätigkeit des Menschen in den Vordergrund rücken sollte“185: Dietrich hebt die Ursächlichkeit des tätigen Intellekts hervor, indem er ihn als „begründenden Ursprung der Substanz der Seele“186 bestimmt.187
„Seit der Antike ist das Problem der Erkenntnis Gegenstand der philosophischen Reflexion gewesen. Erwähnt seien hier nur Platon und Aristoteles. Dietrich berücksichtigte die traditionellen Leistungen auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes, aber er ging über sie hinaus. Die alten Theorien über das Wesen der Erkenntnis konnten nach seiner Auffassung die Übereinstimmung zwischen Welt und Denken nicht ausreichend begründen. Auch in der Albertschule galt das Prinzip der adaequatio intellectus et rei. Dietrich lehnte dieses Prinzip nicht ab, doch kritisierte er seine Begründung.“188
Die philosophische Tradition vor Dietrich ging bei der Begründung der menschlichen Erkenntnis immer vom Vorrang der äußeren Entitäten aus; die menschliche Erkenntnis war demzufolge ein Abbild der äußeren Welt.189 Darüber hinaus wurde der menschliche Intellekt – die Einheit von intellectus agens und intellectus possibilis – als ein Seelenvermögen angesehen.
Dietrich dagegen hob die „besondere Aktivität des Geistes im Erkenntnisprozess“190 hervor191: „Sein philosophischer Ansatz stellte den Intellekt als tätiges Prinzip des menschlichen Seins in den Mittelpunkt der Weltbetrachtung.“192 Dietrich entzog damit den Intellekt allen dinghaftigen Kategorien der Natur. Er sah vielmehr den Intellekt „als das Prinzip seiner selbst und alles Seienden einschließlich der Kategorien.“193 Dietrich wollte zeigen, dass der (tätige) Intellekt – vor allem gegen Thomas von Aquin – kein Seelenvermögen ist, „sondern Substanz, dem Wesen nach seine Tätigkeit, eigenschaftslos und in keiner Weise eine passive Potenz.“194
Um die Tätigkeit des Intellekts von allem Naturhaften und Kategorialem zu trennen, unterscheidet Dietrich, der sich dabei ausdrücklich auf Averroes beruft195, zwischen dem Realsein (dem ens reale) und dem Erkenntnissein (dem ens conceptionale).196
„Ihm zufolge treten die Grundbestimmungen des Seienden als Seiendes, also die Stammbegriffe der Metaphysik, zweimal auf: einmal in der Reihe der Naturdinge, die beschrieben werden als Wesen, Substanz und als Reihe der neun Akzidentien, und zweitens in der Reihe des Erkanntseins, also in den Seienden, sofern es in den verschiedenen Erkenntnisweisen vorkommt.“197
Beim Intellekt als „ens conceptionale“ findet die Unterscheidung zwischen „Substanz und Akzidenz, wie sie in der Dingssphäre heimisch ist, … keine Anwendung: Seine operatio ist seine essentia.“198 Wesen und Akt sind in ihm identisch199, denn in ihm sind „alle Weisen des Auffassens und Erkennens“200, alle „Formen des Inseins der Sache im Erkennenden“201 vereinigt. Der tätige Intellekt (intellectus agens) ist Dietrich zufolge geistige Substanz: „Alles, was im Intellekt ist, ist da auf intellektuelle Weise, d.h. im Modus geistiger Tätigkeit.“202
Die Substanzialität des Intellekts unterscheidet sich vom Substanzsein der Naturdinge. „Man darf nicht an einen Baum oder sonst ein Ding … denken, wenn man den Intellekt ‚Substanz‘ nennt.“203 Denn
„Intellekte sind reine Wesen. Ihr Wesen bestimmt vollständig und allein ihr Dasein. … Das Wesen eines Intellekts ist reine Aktivität. ‚Rein‘ heißt hier: in begrifflicher Hinsicht nur durch sich selbst bestimmt.“204
Der Intellekt ist sein Wesen durch seine Tätigkeit, durch sich selbst:
„In tali igitur intellectu, qui est intellectus per essentiam, ut ex dictis colligitur, non est distinguere inter substantiam et operationem, qua in se ipsum recipit suam intellectionem. Omnia enim haec sunt idem, videlicet substantai intellectus et intellctualis operatio eius et ipsum obiectum intellectualis operationis intraneum.“205
„In einem solchen Intellekt, der, wie aus den Ausführungen zu schließen ist, ein durch sein Wesen seiender Intellekt ist, ist also zwischen seiner Substanz und seinem Wirken, wodurch er in sich selbst seine Erkenntnis empfängt, nicht zu unterscheiden. Denn all dies ist identisch, nämlich die Substanz (substantia) des Intellekts, sein intellektuelles Wirken (operatio) und eben der innere Gegenstand (obiectum) seines intellektuellen Wirkens.“
Die Identität von Akt und Wesen des Intellekts hat Dietrich der Philosophie des Neuplatonikers Proklos (410 – 485 n. Chr.)206 entnommen:
„Et hoc est, quod dicit Proclus propositione 171 sic: ‘Omnis intellectus in intelligendo instituit, quae sunt post ipsum, et factio intelligere et intelligentia facere.’ Commentum: ‘Etenim intellectus et ens, quod in ipso idem. Si igitur facit per esse, esse autem intelligere est, facit per intelligere’.”207
“Eben dies bringt Proklus im 171. Satz so zum Ausdruck: ‚Jeder Intellekt setzt im Erkennen das ein, was nach ihm ist, und sein Tun ist sein Erkennen, und sein Erkennen ist sein Tun.‘ Dazu der Kommentar: ‚Denn es gibt den Intellekt und das Seiende, das in ihm mit ihm identisch ist. Wenn er also durch das Sein sein Tun verrichtet, das Sein aber Erkennen ist, verrichtet er sein Tun durch Erkennen‘.“
Dietrich versteht den Intellekt als Substanz, sofern er das Prinzip und der Ursprung alles Seienden ist. Das bedeutet: „Der Intellekt erkennt sich selbst und andere Seiende durch sein Wesen.“208
„Hinc est, quod eius operatio intellectualis, quae non est quid extraneium ab essentia sua, ut dictum est, primo et per se intra suam essentiam terminatur et intellectualiter afficit, ut ita dicam, suam essentiam, quod non est nisi intelligere suam essentiam. Hoc enim intellectualiter afficere aliquid, id est intelligere illud, et intellectualiter affici ab aliquo, id est intelligi ab eo.“209
„Von daher kommt es, dass sich sein intellektuelles Wirken, das wie bemerkt seinem Wesen gegenüber nichts Äußerliches ist, erstlich und an sich innerhalb seines Weges begrenzt und sein Wesen auf intellektuelle Weise affiziert, wenn ich so sagen darf, was allein dies bedeutet, dass er sein Wesen erkennt. Auf intellektuelle Weise etwas affizieren meint nämlich: jenes erkennen, und auf intellektuelle Weise von etwas affiziert werden: von ihm erkannt werden.“
Dietrich zufolge ist der Intellekt als Substanz innerhalb der Welt eine dynamische Wirkmacht, welcher mit seinem Wesen in einem Universum agiert, das als fluxus (als Fließen) beschrieben wird; er begründet das Sein nicht durch zufällig beschlossene Aktivitäten, sondern seinem Wesen nach – er ist causa essentialis.210 Es gehört zu seiner Natur „andere Wesen zum Sein zu führen, die göttliche Erstverursachung voraussetzend.“211 Solch eine substantielle Aktivität im Menschen ist der tätige Intellekt. Dieser macht im möglichen Intellekt die Erkenntnisinhalte erst wirklich; er ist der „Ursprung und wesentliche Grund der Erkenntnisinhalte.“212
Der intellectus agens ist laut Dietrich auch „principium causale ipsius substantiae animae“213 („begründender Ursprung eben der Substanz der Seele“).214 Das ist so zu verstehen, dass der Intellekt nicht der Zeit nach „früher“ als die Substanz der Seele ist, sondern der Seinsordnung nach.215 Der intellectus agens ist nicht als ein Vermögen oder wie eine Eigenschaft der Seele „früher“ da, sondern als „immanent-tätiger Grund der gesamten Seele. Unser Intellekt ist substantielle Tätigkeit, ist eigenschaftslose Energie.“216
„Intellectus autem agens noster non est quiditas rei est aliquid secundum actum formaliter nec ab ipso accipitur definitio significans quiditatem, quae est forma rei compositae.“217
„Unser tätiger Intellekt aber ist nicht die Washeit eines Dings, und nicht ist durch ihn ein Ding ein etwas der Wirklichkeit nach im Sinne der Formbestimmtheit, und nicht lässt sich von ihm die Definition gewinnen, die die Washeit, welche die Form des zusammengesetzten Dinges ist, anzeigt.“
Der Intellekt ist, bevor er überhaupt Erkenntnisinhalte erzeugt, bereits eine Wesenseinheit mit der Seele, die er selbst begründet hat.218 Man kann ihn als Daseinsantrieb der Seele bezeichnen219, ein „auf bestimmte Weise innerlicher Ursprung, vergleichbar mit dem Herzen im Lebewesen“ (“principium, inquam, secundum substantiam aliquo modo intrinsecum sicut cor animali”).220 Dietrich argumentiert mit Augustinus221:
„Ex his advertere debemus, quod secundum Augustinum in anima invenimus quandam intraneitatem substantiae suae, secundum quam non coniungitur corpori, in qua intraneitate exercet istas operationes sensitivas sive exteriores seu interiores sine corpore tamquam subiecto istarum passionum, sed non sine corpore sicut instrumento. Eius autem ratio est, quia istae passiones, de quibus dictum est, sunt spirituales et per se conveniunt spiritui. Unde possunt secundum univocationem communicari corpori.”222
“Infolgedessen müssen wir dem Beachtung schenken, dass wir gemäß Augustin in der Seele eine gewisse Innerlichkeit ihrer Substanz antreffen, gemäß der sie sich nicht mit dem Körper verbindet, eine Innerlichkeit, in der sie diese sinnlichen Handlungen, sei es die äußeren, sei es die inneren, zwar ohne Körper als Werkzeug ausübt. Der Grund dafür liegt darin, dass diese Erleidensakte, von denen die Rede gewesen ist, geistige sind und an sich dem Geist zukommen. Von daher können sie dem Körper nicht gemäß univoker Bestimmtheit zuteil werden.“
Die Seele ohne Körper ist also das Zugrundeliegende der menschlichen Akte, doch bedient sich die Seele des Körpers als Instrument. Aufgrund dieser Innerlichkeit ihrer Substanz aber ist die menschliche Seele eine Einheit und hat ein einfaches Wesen. Sie bleibt ungeteilt und ist unzerstörbar. Der tätige Intellekt aber ist der Ursprung des Wesens der menschlichen Seele, „begründender Ursprung der Substanz der Verstandesseele, er bestimmt deren intellektuales Leben, so dass er wesentlich identisch mit dem Wesen der Seele ist.“223 Doch deswegen ist er noch lange nicht mir ihr identisch:
„Ergo intellectus agens est idem cum essentia animae nec per univocam essentiam, ut dictum est, nec est idem per participationem.“224
„Also ist der tätige Intellekt weder durch univok bestimmtes Wesen mit dem Wesen der Seele identisch, wie ausgeführt worden ist, noch ist er mit ihm durch Teilhabe identisch.“
Der intellectus agens existiert vielmehr als „begründender Ursprung nach der Weise eines Bewirkenden. Also ist der intellectus agens die Ursache der Seele, aber weder materiale noch formale noch finale, sondern wirkende Ursache (causa efficiens).“225
Der tätige Intellekt begründet also durch sein Wirken sein eigenes Sein und das der menschlichen Seele. Dieses Tätigsein aber ist „zugleich seine Gottesbeziehung“226:
„Sein Ins-Sein-Treten ist seine Religion; sie ist als seine Tätigkeit. Der tätige Intellekt ist zeitüberlegen das Sich-Fixieren in die Ewigkeit. Er ist Bild der drei-einen Gottheit, nicht nur – wie der mögliche Intellekt – ihre Ähnlichkeit. Er ist seinem Wesen nach – nicht durch zufällige Eingriffe – gottfähig, essentialiter capax die sua intellectione.“227
Denn Gott ist seinem Wesen nach ebenfalls Intellekt.228 Auf intellektuelle Weise ist der intellectus agens aus dem göttlichen Ursprung hervorgegangen.229 Der tätige Intellekt erkennt sein göttliches Prinzip, sich selbst und alles Seiende in der Erkenntnisweise Gottes230:
„Er stellt seinem Wesen nach die ausdrücklichste Gottförmigkeit in der Welt dar; er braucht nicht durch weitere Zusätze erst gottförmig zu werden. … Die Gottförmigkeit ist sein Wesen und seine substantielle Tätigkeit. Sie ist seine Natur, sie wird ihm nicht nachträglich verliehen.“231
Der tätige Intellekt ist von daher „illud deiforme, quo Deus insignificavit creaturam rationalem, ut ipsa sit ad imaginem suam“232 („jenes gottförmige, welches Gott in das rationale Geschöpf eingeprägt hat, damit dieser nach seinem Bild sei“). Gemäß Gen 1,26 ist dieser Intellekt Gottes Bild und repräsentiert „unmittelbar die ganze Seinsfülle Gottes, während alle anderen Geschöpfe nur ein spezifisch determiniertes Wesen darstellen.“233 Das Bild geht aus Gott anders hervor als die übrigen Geschöpfe:
„Es wird nicht passiv erschaffen. Das Empfangen seines Wesens ist seine Aktivität. Es ist nur, weil es sich aktiv entgegennimmt. Es tritt ins Dasein, indem es seinen Grund, sein göttliches Urbild, geistig erkennt.“234
Dietrich identifiziert den intellectus agens mit dem augustinischen „abditum mentis“ („dem Verborgenen des Geistes“)235, dem verborgenen Ort Gottes im Grund der Seele, wogegen er den intellectus possibilis das „exterius cogitativum“ (das „Äußere-Denkfähige“) nennt.236 An diesem Punkt hat Dietrich nach Flasch den „Extrempunkt“237 in seinem philosophischen Denken erreicht: „Der Intellekt als Urbild aller Seienden, erkennend wie Gott erkennt, bewirkender Grund der Menschenseele und also des Menschen.“238
Auch wenn der intellectus agens aufgrund der Ebenbildlichkeit mit Gott dessen Bild im Grund der Seele ist, er die Erkenntnisweise Gottes ist, so bedeutet das nicht, dass es eine völlige Identität zwischen dem göttlichen Intellekt und dem geschaffenen menschlichen Intellekt gibt. Denn:
„Das göttliche Wesen als solches ist wesentlich in Wirklichkeit seiender Intellekt; da dieses Wesen kein es verursachendes Prinzip voraussetzt, ist es von der Art, dass es als Natur in drei voneinander unterschiedenen Hypostasen oder Supposita subsistiert; der geschaffene wesentlich erkennende Intellekt besitzt hingegegen ein Prinzip, nämlich Gott, der die Einheit seines Wesens und seiner Hypostasen ist, ist darüber hinaus nicht von der Art, dass sein Wesen als Intellekt in drei Hypostasen subsistiert, sondern ist wesentlich eine Hypostase, ist die eine Substanz, die ihre Relationen, Erkenntnis und Liebe ist; selbst dann wenn im geschaffenen Intellekt eine Differenz zwischen seinem Wesen, seiner Form, und seiner Substanz angenommen wird, so ist diese Differenz die eine einfache Substanz des Intellekts.“239
Die Verbundenheit von geschaffenem und ungeschaffenem Intellekt denkt Dietrich dynamisch, indem er, neuplatonisches Denken aufgreifend240, von der Emanation und Konversion des Intellekts spricht241: Dietrich versteht Emanation und Konversion nicht als eine zeitliche Abfolge, dergestalt, dass sich die Substanz des Intellekts zuerst eines Urprinzips verdankt und dann, zeitlich später, wieder zu ihm – als Ziel – zurückkehrt. Emanation und Konversion sind für Dietrich vielmehr ein Erkenntnisvollzug des auf einfache Weise erkennenden Intellekts.242 Die Dynamik dieses einen Vollzugs stellt sich wie folgt dar: Der Intellekt tritt aus seinem Ursprung, seinem ersten Gegenstand, heraus,
„indem er ihn erkennt, zugleich sein Wesen, seinen der Wesensordnung gemäß zweiten Gegenstand, erkennt, somit sein Heraustreten erkennt, sich als dieses Heraustreten erkennt, überhaupt sich als das, was sich erkennt, erkennt, schließlich die Gesamtheit der Seienden, seinen dritten Gegenstand, erkennt, da sein Heraustreten und sein Sich-Erkennen diese Gesamtheit der Seienden ist, die zugleich sein Prinzip ist.“243
Der Intellekt erkennt also nicht nacheinander in drei Erkenntnisvollzügen, sondern in einem einzigen einfachen Erkenntnisakt, der eben der Intellekt in seinem Wesen ist. Und weiter:
„Wenn der Intellekt ... seinen Ursprung erkennt, erkennt er diesen seinen Ursprung, sein eigenes Wesen und die Gesamtheit der Seienden nicht mehr nur gemäß seinem eigenen intellektuellen Wesen, sondern auch im Ursprung selbst gemäß der Weise des Ursprungs.“244
Das bedeutet, der Mensch kann sich darin selbst als in Gott, als im Intellekt mit Gott gleich erkennen:
„Der Intellekt, dessen intellektuelle Anschauung darin besteht, in einer einzigen Anschauung seinen Ursprung ... zu erkennen, verdankt somit sein Sein ... nicht einem Ursprung, der auch ohne den Intellekt Ursprung wäre, erkennt auch nicht nur aus der Perspektive begrenzter Erkenntnis den unbegrenzten Ursprung, sondern ist die Dynamik seiner Erkenntnisvollzüge, die auch seine Gegenstände sind, als der eine Erkenntnisvollzug, der auch und gerade seinen Ursprung, Gott, als Gegenstand und diesen Gegenstand als sich selbst erkennt.“245
Die Kennzeichen des tätigen Intellekts können wir wie folgt zusammenfassen246: Der intellectus agens denkt als geistige Substanz immer: „Semper intelligit.“247
„Denn erkennte er nicht immer, wäre er zeitlicher Variabilität ausgesetzt, damit aber nicht wesentlich erkennender Intellekt.“248
Der tätige Intellekt ist wesentliche Selbsterkenntnis: Er konstituiert sich selbst, indem er in geistiger Weise ins Dasein tritt und sich selbst erkennt.249 Von dorther gilt:
„Die Substanz des Intellekts, sein intellektuelles Wirken, d.h. sein Wesen, und der innere Gegenstand seines intellektuellen Wirkens sind identisch.“250
Er ist das Urbild, exemplar, alles Seienden: „Est exemplar totius entis.“251 Der intellectus erkennt nicht nur Partikuläres, sondern Universelles, das Allgemeine. Da das Allgemeine erst durch die intellektuelle Tätigkeit Gegenstand der Erkenntnis wird, ist der tätige Intellekt selbst „Urbild, erkennendes Urbild, für das Seiende als Seiendes, das somit durch das Erkennen überhaupt erst es selbst ist.“252 Die Selbsterkenntnis des intellectus agens ist zugleich seine „Fremderkenntnis“253:
„Dieses Fremde, das Dietrich zunächst als das Seiende als solches gedacht hat, wird in komplettierender Präzisierung seiner Inhaltlichkeit auch als Ursprung des Intellekts gefasst, als Gott, der ebenfalls wesentlich Intellekt ist.“254
Wie unterscheidet sich nun konkret der intellectus possibilis vom intellectus agens? Ist der mögliche Intellekt eher ein Seelenvermögen, das eine völlig andere Seinsweise als der tätige Intellekt hat? Oder kann man ihn – wie den tätigen Intellekt – als eine geistige Substanz bezeichnen? Wenn ja, auf welche Weise geschieht das?255
Wie wir schon gezeigt haben, zeichnet sich für Dietrich der intellectus agens durch reine intellektuelle Erkenntnis aus. Alles, was zum intellectus agens gehört, ist reine Substanz.256 Er ist der Ursprung und wesentliche Grund der Erkenntnisinhalte; er macht Denkinhalte erst wirklich. Der intellectus agens ist für Dietrich ein permanent denkendes bzw. erkennendes Prinzip257:
„Primum istorum, videlicet quod abditum mentis semper stat in lumine suae actualis intelligentiae, patet, quoniam, cum ipsum in sua substantia sit intellectus per essentiam, quem philosophi intellectum agentem vocant, ... necesse est ipsum semper fixum esse in eodem modo suae substantiae. Igitur si intelligit, semper intelligit.“258
„Das erste, dass nämlich das Versteck des Geistes (abditum mentis) immer im Licht seiner wirklichen Erkenntnis steht, ist offenkundig, denn da es in seiner Substanz ein durch sein Wesen seiender Intellekt (intellectus per essentiam), den die Philosophen tätigen Intellekt (intellectus agens) nennen, ist ... hat es notwendig immer in derselben Weise seiner Substanz festen Bestand. Wenn es also erkennt, erkennt es immer (semper intelligit).“
Der tätige Intellekt benötigt, um erkennen zu können, kein Sein von außerhalb. Sein Wesen ist eine reine intellektuale Weise. Er ist der Ursprung (principium) und der wesentliche Grund (causa essentialis) der menschlichen Erkenntnisinhalte.259 Als das Aktive und alle Erkenntnisinhalte begründende Prinzip ist er für Dietrich, in Anlehnung an Aristoteles, vortrefflicher und hervorragender als der mögliche Intellekt.260 Während nun der intellectus agens von seinem Wesen her reine, d.h. nicht von äußeren Akzidenzien abhängige Intellektualität ist, wird der intellectus possibilis erst durch die Aktivität des tätigen Intellekts, seines begründeten Ursprungs, Wirklichkeit.261
„Der intellectus possibilis, der sich zuerst in reiner Möglichkeit befindet und keine positive Natur hat, wird vom tätigen Intellekt als seinem Prinzip geschaffen und ins Sein begründet.“262
Der mögliche Intellekt ist zuallererst die reine Möglichkeit, possibilitas, geistiger Erkenntnis.263 Er ist das passive, aufnehmende bzw. erleidende Prinzip des menschlichen Intellekts:
„Est aliud genus intellectum, quo sunt in potentia passiva, immo, quando sunt in acto, sunt ipsae passiones, secundum quod intelligere pati quoddam est sucundum Philosophum. Sed ante intelligere sunt purae possibilitates sub privatione non habentes aliquam naturam positivam.“264
„Es gibt eine andere Art von Intellekten, der sie in erleidender Möglichkeit zugehören, vielmehr sind sie, wenn sie in Wirklichkeit sind, die Erleidensakte selbst, da gemäß dem Philosophen [Aristoteles] das Erkennen eine Art Erleiden ist. Vor dem Erkennen aber sind sie reine Möglichkeiten, im Zustand der Beraubung, ohne eine positive Natur.“
Seinem Wesen nach bezieht sich der mögliche Intellekt auf sinnliche Vorstellungsbilder. Er ist nichts, bevor er durch den tätigen Intellekt zum Denken und Erkennen aktuiert wird.265
„Nur durch den tätigen Intellekt tritt der mögliche ins Sein; er geht durch ihn aus dem göttlichen Grund hervor und kehrt durch ihn dahin zurück.“266
Der intellectus possibilis ist keine Substanz wie der intellectus agens:
„Er ist die Form, in der der Mensch an der Intellektualität teilhat, denn nicht der mögliche Intellekt erkennt, sondern der Mensch durch ihn.“267
Der mögliche Intellekt wird also erst zum Intellekt durch species intelligibilis, durch geistige Erkenntnisbilder; „er wird dabei diese Erkenntnisbilder.“268
Dietrich weist mit seiner Konzeption die thomistische These zurück, der intellectus possibilis wäre – wie der intellectus agens – ein Seelenvermögen269; er wendet sich des weiteren gegen Averroes, für den tätige und mögliche Vernunft separate Geistwesen bzw. Substanzen seien.270 Für Dietrich ist der mögliche Intellekt „entweder nichts oder er wird erst in actu, wenn der tätige Intellekt ihn aktuiert.“271 Wenn er dann aber erkennt,
„hat er den ontologischen Status eines Akzidenz. Aber um das nicht misszuverstehen, brauchen wir, sagt Dietrich, die Unterscheidung von Natur-Sein und Erkenntnis-Sein, ens conceptionale. Als Erkenntnis-Sein ist der mögliche Intellekt Substanz. Denn konzeptionell konstituiert er die Sachen selbst ... . Die mögliche Vernunft als konzeptionale ist Substanz und ist allgemein; als psychischer Vorgang ist (die mögliche Vernunft) kein ‚Seelenvermögen‘, sondern ontologisch ein Akzidens.“272
Der intellectus possibilis ist somit sowohl Substanz als auch Akzidenz, aber kein Seelenvermögen. Von dorther kann Dietrich auch behaupten, der intellectus possibilis sei, obwohl mit einem rezeptiv-empfangenden Prinzip ausgestattet, gar keine „passive Potenz“273:
„Wenn er sich rezeptiv verhält, dann nicht gegenüber Körperdingen, sondern gegenüber dem tätigen Intellekt. Hat die wirkende Vernunft ihn aktuiert, dann wird er selbst das Prinzip intellektueller Operation; er prägt aus Eigenem die Wesenheiten der von ihm erkannten Dinge; er quidifiziert die Welt, sagt Dietrich.“274
Die gemeinsame Erkenntnisweise von tätigem und möglichem Intellekt in der Seele des Menschen wollen wir mit Flasch folgendermaßen zusammenfassen:
„Die rationes rerum, die Seins- und Erkenntnisgründe der Dinge, sind im Denken Gottes. Der tätige Intellekt, der sein Sein empfängt, indem er seinen Grund erkennt, erkennt in diesem sich selbst und die Wesensgründe der Dinge. Er strahlt sie in den möglichen Intellekt, der keine Seelenpotenz ist, bevor er erkennt, sondern erst im Erkennen sein Sein erhält, das als Naturbestand ein Akzidenz der Seele, aber als Bestimmender und Konstitutiver selbst Substanz ist in der Reihe des Erkenntnisseienden, des ens conceptionale. Als solcher ist auch er Urbild, exemplar, der Außendinge. Aber die unbestimmte Fülle der Einstrahlungen muss determiniert und appliziert werden. Deswegen braucht der mögliche Intellekt die phantasmata. Diese sind nicht zu verwechseln mit Phantasiebildern, sondern sind das Ergebnis eines Ablösungsprozesses, der die ratio particularis ist. Aus der Vereinigung der determinierenden Vorstellungsform mit dem noch offenen, aber bestimmbaren, konkretisierbaren Allgemeinen des möglichen Intellekts entsteht der Erkenntnisakt. Nur das Zusammen von intelligibler Erkenntnisform und Vorstellungsinhalt löst Einsicht aus.275 Die intelligible Erkenntnisform braucht die Vorstellungsform als ihren realen, determinierenden Anhalt, subiectum.276 Aber wenn der mögliche Intellekt erkennt, dann entsteht er als Akzidenz der Seele, zugleich konstituiert er die erkannte Sache von sich her aus deren Prinzipien, die ihre Gründe nicht nur des Erkennens, sondern des Seins sind277.“278
Dietrich von Freiberg ist ein Schlüssel zum Verständnis von Meister Eckhart und zur sog. „deutschen Mystik“ – und damit auch zu Johannes Tauler. Für Dietrich ist Gott Intellekt. Auf intellektuelle Weise – durch Emanation und Konversion – wird der menschliche Intellekt als abditum mentis der Seele (= grunt der Seele bei Tauler) geschaffen. Die geschaffenen Dinge sind ein Gleichnis Gottes; der Mensch im Verständnis von Genesis 1,26 – aufgrund seines tätigen Intellekts – (Eben)Bild.279 Die Dynamik von Ausgang und Rückkehr des Intellekts aus dem göttlichen Intellekt versteht der Freiberger als einen einzigen Erkenntnisvollzug, der keinen zeitlich determinierten Charakter aufweist.
Diese Denkansätze finden wir auch bei Meister Eckhart wieder280: Eckhart spricht in seiner Quaestio Parisiensis (1302/03) davon, dass Gott Intellekt ist: „Deus est intellectus.“281 Sein Intellekt, so Eckhart im Sinne Dietrichs, ist die Grundlage allen Seins.282 „Et ideo intelligere est altius quam esse“283 („Und deshalb ist das Erkennen höher als das Sein“). Auch bei Eckhart lesen wir: Die Schöpfung – und damit auch der Intellekt des Menschen – geschieht auf trinitarische Weise durch Emanation aus dem göttlichen Intellekt.284 Und auf intellektuelle Weise – durch eine Konversion – kann der Mensch am göttlichen Leben teilhaben.285 Aufgrund des Intellekt in der Seele ist der Mensch mit Gott gleich, verstanden als Bild des göttlichen Urbildes.286 Die Beziehung zwischen göttlichem und menschlichem Intellekt versteht Eckhart ebenfalls dynamisch als einen einzigen Erkenntnisvollzug Gottes. Eckhart spricht in diesem Zusammenhang u.a. vom „gegenwärtigen Nun“: „Daz ist das nû der êwicheit, dâ diu sêle in gote alliu dinc niuwe und vrisch und gegenwertic bekennet“287 („Das ist das Nun der Ewigkeit, in dem die Seele alle Dinge in Gott neu und frisch gegenwärtig erkennt“).
Über den Dominikaner Berthold von Moosburg ist nur sehr wenig bekannt. Lange Zeit wurde deswegen gerätselt, ob er im 14. oder 15. Jahrhundert gelebt habe. Er war niemals ein populärer Autor gewesen. Von seinem umfangreichen Prokloskommentar „Expositio super Elementationem theologicam“ sind nur zwei Handschriften überliefert; andere Werke sind verlorengegangen. Inzwischen aber weiß man, dass er 1316 in Oxford studierte, 1327 in Regensburg als Lektor lehrte und zwischen 1335 und 1361 am Kölner Studium generale der Dominikaner wirkte. Wie Meister Dietrich und Meister Eckhart war er zugleich als Lebemeister, als Seelsorger, in Beginenkreisen tätig; 1348 ist ein Besuch im Kloster der Dominikanerinnen in Engelthal nachgewiesen.289
Das Schicksal Bertholds im Dominikanerorden ist eng mit Meister Eckhart verwoben: Als Kenner der Philosophie Dietrichs von Freiberg bedeutete dies für Berthold zweierlei: „Widerstand gegen den Thomismus und Nähe zu Meister Eckhart.“290 Dietrich war mit Berthold befreundet, dieser hatte ihn sogar als seinen Stellvertreter gewählt und nahm entscheidenden Einfluss auf sein Denken.291
Im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts verbreiteten von Köln aus Dietrich und Eckhart ihre Lehre des Intellekts bis in Beginen- und Nonnenkreise hinein und provozierten damit heftigen Protest der gemäßigten und thomistisch orientierten Dominikaner.292 In Deutschland bestand, wie wir bereits gesagt haben, eine Alternative zur thomistischen Scholastik, die aus den neuplatonischen Motiven in den Werken des Albertus Magnus heraus entstanden war.293 Alberts Schüler Dietrich von Freiberg führte die Schriften des Proklos ein294, die schließlich von Berthold kommentiert wurden; die Diskussionen um die Intellekt- und die Visio beatifica-Lehre Dietrichs durchdrangen immer mehr das philosophische und theologische Denken in Deutschland.295 Dietrichs Thesen, antithomistisch konzipiert, lösten Widerspruch und Polemik der Thomisten in Deutschland aus.296 Dietrich und Eckhart hatten als ehemalige Pariser Professoren die Studienorganisation der deutschen Dominikanerprovinz jedoch zunächst fest in ihren Händen. Das änderte sich dann langsam: Zunächst wurde 1311 auf dem Konzil von Vienna ein Beschluss verabschiedet, der die Position der Thomisten stärken sollte.297 Sämtliche Intellekte seien und blieben Teil der Natur.298 Innerhalb und außerhalb des Ordens formierte sich eine immer größer werdende Opposition. 1326 schließlich – mehrere Jahre nach Dietrichs Tod – wurde Eckhart als prominentester Vertreter dieser „deutschen Richtung“ der Häresie angeklagt.299
Nach Eckharts Verurteilung (1329) durch die apostolische Konstitution In agro dominico, in welcher 17 Thesen Eckharts als häretisch verurteilt werden, wurden von der Generalleitung des Ordens diejenigen in der Leitung der deutschen Provinz, die Eckhart unterstützt hatten, abgesetzt.300 Im Rahmen dieser Maßnahmen wurde auch ein Verfahren gegen Heinrich Seuse eingeleitet, der in seinem „Büchlein der Wahrheit“ Thesen Meister Eckharts verteidigte.301 Das rigide Vorgehen gegen Eckhartanhänger rief jedoch auch heftige Reaktionen in der deutschen Provinz hervor. Anhänger Eckharts standen den orthodoxen Thomisten gegenüber. Mehrmals wurde der Heilige Stuhl angerufen. Aber erst die Neuwahl des Ordensgenerals (1333) führte zu einer gemäßigteren Gangart gegenüber Eckhartisten. Jetzt wurde Berthold von Moosburg nach Köln ans Studium generale berufen. Das war ein bedeutender Schritt. Denn „Köln war zu jenem Zeitpunkt nicht nur die kulturelle Metropole Deutschlands, es war auch der Ort, aus dem der ganze Dominikanerorden eine Antwort auf die vielen brennenden, durch die Verurteilung Eckharts aufgeworfenen Fragen erwartete.“302 Als Lektor musste Berthold auf diese Fragen Antworten geben: „Seine Antwort ist die Expositio super Elementationem theologicam Procli, der größte mittelalterliche Prokloskommentar, ein Versuch, die neueren Entwicklungen der Philosophie seines Ordens unter der Perspektive der ihr zugrundeliegenden spekulativen Tradition zu durchdenken.“303 Die Ordensleitung signalisierte der deutschen Ordensprovinz und den Eckhartisten mit der Berufung Bertholds nach Köln, „dass der Weg der provinzinternen Tradition erneut praktikabel war.“304 Bertholds Strategie bestand nun darin, „durch den Rückgriff auf die Philosophie Dietrichs von Freiberg und durch ihre Einbettung in den denkgeschichtlichen Kontext der platonischen Tradition die spekulativen Instanzen Eckharts weiterzuführen. Dies ist die historische Bedeutung seines großen Prokloskommentars.“305 Den Bemühungen Berthold von Moosburgs war jedoch kein Erfolg beschieden: