„Es gelang Berthold, Johannes Tauler für sich zu gewinnen. Dieser bekannte sich öffentlich zur Linie ‚Albert-Dietrich-Eckhart‘ und zur Proklos-Auslegung Bertholds. Wie der Kreis der ‚Eckhartisten‘ reagierte, ist nicht bekannt. Ein Bündnis zwischen ihnen und Berthold kam jedoch, soweit wir wissen, nicht zustande. Dem Schweigen der Quellen ist vielleicht eine Ablehnung zu entnehmen, was angesichts der Neigung der Eckhartisten, mit dem Meister und seinem Werk eine Art von Kult zu treiben, durchaus verständlich erscheint.“306

Berthold scheiterte letztlich an der Verweigerung der Eckhartisten zur Kooperation und an der Opposition der orthodoxen Thomisten: „Die intellektuelle Basis der deutschen Dominikaner ... war gespalten und verunsichert; ihr fehlte die Geschlossenheit, einen neuen Weg einzuschlagen.“307 Außerdem weigerte sich Berthold, Aussagen aus dem Werk Meister Eckharts einzig und allein „zu paränetischen Floskeln herabzusetzen“.308 Viele von Bertholds Zeitgenossen zitierten zwar wieder Meister Eckhart, jedoch sehr einseitig309: „Entweder greifen sie zu den morales expositiones, oder sie pflücken interessante und geistreiche Sätze heraus, um damit ihre langweiligen Traktate und Predigten zu schmücken.“310 Berthold aber sah Eckharts Lehre „als metaphysischtheologisches System an“311, doch „von dieser Ontologie ist bei den Nachfahren nichts mehr zu finden.“312 In dieser Verweigerungshaltung sieht Sturlese einen weiteren Grund, warum dem Werk Bertholds in der Folgezeit kaum Beachtung geschenkt wurde und seine Schriften in Vergessenheit gerieten.313

Bertholds Lehre des „Unum animae“ (des „Einen der Seele“) spielt bei der Interpretation von Taulers Seelengrundlehre eine zentrale Rolle. Denn Tauler hat das proklische Eine nicht von Proklos selbst, sondern von Berthold von Moosburg übernommen.314 Bertholds Absicht war,

„eine gottartige Philosophie (divinalis philosophia) bzw. eine auf das Göttliche zentrierte Theologie zu konzipieren. Sie sollte die wahrste Wissenschaft (scientia) und die höchste Erkenntnis sein. Nach seiner Ansicht eignete sich hierzu die Philosophie Platons (und der Platoniker) in besonderer Weise.“315

Nach Berthold haben Platon und seine Schüler die höchste Form der Erkenntnis, die „divina mania“ (den göttlichen Wahnsinn), in die Philosophie eingeführt.316 Da die aristotelische Philosophie diese höchste Form der Erkenntnis nicht kenne, begrenze diese die Möglichkeiten des Intellekts.317 Erst Neuplatoniker – wie Proklos und Pseudo-Dionysios – erkannten die Leistung Platons und hätten sie entsprechend gewürdigt.318 In der Philosophie des Proklos erhielten nach Berthold Platons Gedanken erst eine subtile und gut geordnete Form.319 Er habe in seiner Elementatio theologica die Lehren des Platon exakt, stringent und systematisch ausgelegt. Für Berthold war Proklos deshalb der beste Schüler Platons, der alle anderen übertraf.320 Proklos habe in seiner Darstellung des intellektuellen Aufstiegs zum „summum bonum“ („höchsten Guten“) alles erreicht, was der natürlichen Vernunft des Menschen möglich sei321; die Erkenntnis des „summum bonum“ in Vereinigung mit dem Unum (dem Einen) gehe über die natürliche Vernunft hinaus; denn diese Erkenntnis ist eine, „quae est supra intellectum“322. Das Eine aber, das erkannt wird, ist göttlicher Natur – ist Gott.323

In seinem Prokloskommentar interpretiert Berthold die Unum-Lehre in historischer und systematischer Weise:

„Die ‚philosophische Offenbarung‘ der vorplatonischen Theologen324, die um das Wissen des ‚unum‘ kreist, ist nach Berthold nie völlig in Vergessenheit geraten, und die Wiederauffindung ihrer Spuren in der Geschichte ist der Leitfaden, nach dem er seine Expositio aufbaut.“325

Bevor wir uns Berthold zuwenden, wollen wir jedoch bei Proklos selbst nachfragen, worum es sich überhaupt bei dem Unum („Einen“) handelt.

1. Das Unum in der neuplatonischen Philosophie des Proklos326

Proklos hat die von Plotin in der Philosophie grundgelegte negative Dialektik aufgegriffen und in seinem Denken weiter entfaltet.327 Beierwaltes sieht in der negativen Dialektik einen Vorreiter der negativen Theologie des Pseudo-Dionysios, die für Philosophie, Theologie und Mystik des Mittelalters bedeutsam geworden ist.328

„Die negative Dialektik entspringt der Aporie des Denkens, das Wesen einer Sache, wenn auch nur in der Weise der Ausgrenzung, zur Sprache bringen zu müssen, die von sich her weder zureichend gedacht noch ausgesagt werden kann.“329

Die Unmöglichkeit des Denkens ist Proklos zufolge zugleich der Anfang metaphysischen Fragens nach dem Sinn und Ursprung alles Seienden, ist der Beginn des Suchens nach dem Einen:

„Die ganze dialektische Methode, die in Negationen verfährt, führt uns nämlich gleichsam zu dem Vorhof des Einen, indem sie alles Niedrigere wegnimmt und durch diese Wegnahme die Hindernisse der Schau des Einen löst, wenn man dies sagen kann.“330

Indem durch das Denken über das „Eine“ all das ausgesagt wird, was es nicht ist, wird die negative Differenz des Einen offenbar, spricht es dem Einen alles denkbare und sagbare Seiende ab. Das Eine zeichnet sich nicht, wie das Seiende, durch Vielfalt aus, sondern durch Reinheit (puritas) und Einfalt (simplicitas).331 Das Eine ist über jeglichen Gegensatz, der sich aus der Vielfalt ergibt, und über jegliche Negation erhaben.332 Das Unum ist für Proklos das „überkategoriale Nichts des Seienden.“333

„Auf Grund seiner Einfalt und Erhabenheit ist das Eine weder den Sinnen (non sensibile), noch der Meinung (non opinabile), noch dem Wissen zugänglich (non scibile); es ist unerkennbar (incognoscibile) und deshalb auch unsagbar (indicibile) oder unnennbar (non nominabile). Es ist ‚über allem Namen‘ (ultra nomen omne), ja sogar ‚über dem Schweigen‘ (supra silentium).“334

Proklos versteht dieses Nichts des Einen jedoch nicht als ein absolutes Nicht des Seins im Einen335:

„Das Eine vor dem Sein ist nicht seiend, nicht jedoch Nichts; da es Eines ist, kann man es unmöglich Nichts nennen. Nichtseiend wollen wir es daher nennen und denken.“336

Das Eine ist also nicht seiend. Proklos versteht es als ein überkategoriales Nichts. D.h. das Eine steht über allem Seienden, über aller Vielfalt und Unterschiedenheit. Das Eine als das Unbestimmte und Unbegrenzte ist jedoch der Ursprung und die Ursache von allem begrenzten und bestimmbaren Seienden.337 Alles Seiende trägt in sich den Samen jenes Nicht-seienden, jenes Einen. Aufgrund dieser Verbundenheit besteht eine Einheit zwischen dem Einen und dem Seienden; diese Einheit ist ein Einssein in einer Weise der Ähnlichkeit.338

Die negativen Bestimmungen führen somit zu ganz neuen Aussagen, nämlich

„dass das Eine als das Nichts das Nicht-Sein des Etwas oder das Nichts des Seienden ist, das immer nur als dieses oder jenes bestimmte Etwas begriffen zu werden vermag.“339

Das Seiende bzw. das Etwas gründet im Anderen, im Einen als seiner Ur-Sache, wobei das Eine aus sich und in sich nur es selbst ist: „Fügte man dem Einen etwas hinzu, so würde seine reine Einheit zunichte.“340 Dieses Andere des Seienden ist also gemeint, wenn Proklos vom Übersein spricht. Das Eine ist auch das Prinzip des wahr Seienden und der Wahrheit: Jede Wahrheit ist im Einen. Aber das Eine ist immer noch besser als jegliche Wahrheit.341 Das bedeutet:

„Alles Wahre ist nur durch das Eine wahr, es selbst als Grund von Wahrheit ist nicht in der Weise wie alles seiende Wahre erkennbar und denkbar.“342

Es sind weder positive noch negative Aussagen über das Eine als das Über-Wahre möglich.343 Auf dem Gipfelpunkt der Negation, wenn die Unermesslichkeit des Einen gegenüber jedem menschlichen Denken einsichtig wird, hebt sich schließlich die Negation selbst auf im Bereich des ursprunghaft Über-Seienden, des Über-Denkenden und Unsagbaren.344 Das Eine verflüchtigt sich dabei nicht zu einem numinos-irrationalen Urgrund, sondern das Nichts des Einen zeigt sich dem Denken als seine „unhintergreifbare Grenze ... und als unsagbarer Ursprung des Seins in immer unähnlicher Entsprechung“345

Warum aber gelingt diese Einsicht dem Denken überhaupt? Der Grund liegt in der im Menschen verfassten Ähnlichkeit mit dem Einen:

„Das Eine in uns als das denkbare Eine verweist ... auf das Eine in sich als das vordenkliche Eine. Es ist die Spur des Einen in sich in unähnlicher Ähnlichkeit.“346

Es besteht also eine Verbundenheit, eine Gleichheit zwischen dem Menschen und dem „Einen“, wobei gleichzeitig der Unterschied bestehen bleibt, so dass man nur von einer unähnlichen Ähnlichkeit sprechen kann. Proklos unterscheidet deshalb zwischen dem „Einen in sich“ und dem „Einen in uns“ („Unum in nobis“) bzw. dem „Einen in der Seele“ („Unum in anima“). Der Mensch vermag das „Eine in uns“ zu erkennen. Dieses „Eine in uns“ ist der im Menschen seiende Begriff des nicht zu erkennenden Einen. Da das „Eine in uns“ jedoch in einer Weise der Ähnlichkeit mit dem „Einen in sich“ verbunden ist, kann der Mensch, sofern er das „Eine in uns“ als Begriff erkennt auf das „Eine in sich“ verwiesen werden.347 Das geschieht in einem Akt der Selbsterkenntnis bzw. Selbstvergewisserung.348 In einem „Rückgang in sich selbst“349

„wird sich das Denken seines Wesens und seines Grundes bewusst. Es weiß sich selbst als Identität seines Seins und Denkens; es erfährt selbst das Wissen dieses Wissens und wird so zur gewussten Gewissheit.“350

Der Mensch erkennt sein Selbst als eine relationale Einheit von Denken und Sein:

„Sein ist es als Denken, Denken aber ist es als das, was es ist: denkende Fülle der Ideen, der in sich einige Sinngrund des Seins.“351

Im Akt der Selbsterkenntnis gelangt also das Denken in den Ursprung der Einheit von Denken und Sein, in das „hohe Sein der Seele, durch das wir Eines sind und durch das die Vielfalt in uns geeint ist.“352 Das Einheit stiftende Prinzip des Denkens aber, sein Ursprung und sein Ziel, ist das „Unum in nobis“ bzw. das „Unum in anima“.353 Das Denken des Einen setzt sich in seinem Insich-Kehren nicht selbst absolut, gerät nicht in eine rein subjektive Innerlichkeit, sondern öffnet sich vielmehr dem Überkategorialen, „seinem vorreflexiven Ursprung und Grund, der selbst nicht gedacht zu werden vermag, so wie er in sich ist.“354 Die Erkenntnis des „Einen in uns“ ist die Spur des „Einen in sich“ als des „vordenklich Einen“. Das „Eine in uns“ offenbart sich als das Bild der unähnlichen Ähnlichkeit mit dem „Einen in sich“.

Das „Eine in sich“ ist für Proklos göttlicher Natur. D.h. wenn sich die Seele des Menschen in der Selbstvergewisserung als das Bild des „Einen in sich“ erkennt, erkennt sie ihr „Unum in nobis“ als einen Verweis auf das „Eine in sich“, und wenn sie ganz darin eins wird mit dem göttlichen Bild, dann „ist sie göttlich und lebt das göttliche Leben, soweit es ihr angemessen ist.“355

„Das Eine in uns ist in offenbarer Ähnlichkeit Bild des Einen oder Same des Ursprungs, der sich ihm denkend wieder zukehrt. So erweist sich das Eine in sich selbst als der Ur-Grund, die Ur-Sache und als der zeitlose Anfang des Denkens. Es ist der Anfang des Denkens als das Prinzip von Erkennen schlechthin, als der durchtragende Grund seines im Erkennen seienden Wesens.“356

Die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis ist also das „Eine in uns“, das den Geist und alle Erkenntnis im Menschen Zeugende.357

„So kann gesagt werden: Das Eine in uns ist die Vorläufigkeit des Einen selbst im Denken. Vorläufigkeit des Einen selbst meint die Gegründetheit und Entsprungenheit des in Zeit verflochtenen Denkens in und aus dem zeitlosen, vorreflexiven Grund und Ursprung seiner selbst.“358

Nur deshalb kann das Eine im Denken erfasst werden, weil das Sein des Denkens in dem „Einen in uns“ gegründet ist als seinem vor-seienden Ursprung, bevor überhaupt in der Selbsterkenntnis das Eine im Denken gedacht wird. „Das Eine in uns wird so zum Grund der Möglichkeit, dass das nicht unmittelbar zugängliche Eine sich dem Denken in Zeit vermittelt.“359

Das „Eine in uns“ ist das Prinzip, das den Menschen zur Reflexion bewegt; es ist der Grund und die Ursache im Menschen, nach Einheit mit dem Einen zu streben360:

„Vom Menschen her gedacht ist das allem Seienden eigene Streben ... nach dem Einen ... die unauslöschliche Liebe zum Einen, durch die zeitliches Denken immer mehr gereinigt ..., dem Ursprung verähnlicht ... und schließlich mit ihm geeint wird ... . So ist Liebe oder Sehnsucht nach Einung mit dem Einen ... die bewegende Macht im Denken, sich selbst in die unmittelbare Gegenwart und Einheit zu sich selbst zu bringen, Zeitliches zu übersteigen und schließlich sein eigenes Sein in Nicht-Sein und Nicht-Denken aufzuheben.“361

Den „Ort“ von Sehnsucht und Liebe, „der Grund, aus dem heraus beide ihre Wirkkraft entfalten“362 – das „Eine in uns“ – nennt Proklos auch „die Blüte der Seele oder des Geistes, Blüte unseres Wesens ... oder das Höchste von Seele oder Geist.“363

Der Weg in die Einung mit dem Einen ist für Proklos ein Erleuchtungs- und Erweckungsweg.364 Dies geschieht im „Akt des Philosophierens.“365

„Das Göttlichste von dem, was in uns ist, ist das Eine, das auch Sokrates die Erleuchtung (illustratio) der Seele nannte, wie er die Wahrheit selbst Licht nannte.“366

Das Eine ist für den erkennbar, der das Eine im Denken immer mehr auf das Licht des „Einen in der Seele“ ausrichtet, um auf diese Weise dem Ursprung immer ähnlicher zu werden. Durch das Denken seiner selbst und seines Grundes wird der Mensch selbst zum Licht, „um die Einung mit dem Ursprung als Ereignis der Einhelligkeit erfahren zu können.“367 Der menschliche Geist wird immer mehr gereinigt und „durchlichtet“368, wodurch die Ähnlichkeit mit der Einfachheit und dem Einssein des Einen zunimmt.369 Deshalb fordert Proklos:

„Wir müssen das Eine in uns erwecken, damit wir fähig werden gemäß unserer Dimension durch das Ähnliche das Ähnliche zu erkennen, wenn es erlaubt ist, dies zu sagen ... durch das Eine das Eine.“370

Aber erst „in der Befreiung von der negativen Dialektik“371, d.h. jenseits von allem Denkbaren und Gedachten, jenseits von Erkennen und Nichterkennen, kann die Seele eins mit dem Ursprung werden: „Das Wort des dialektischen Denkens hebt sich auf in das Schweigen der Einung.“372 Dann schließt sich die menschliche Seele „gänzlich ab und sammelt all ihre Wirkkraft und ist mit der Einung allein zufrieden.“373

„Stumm ist (die Seele) geworden und schweigend in einem inneren Schweigen. Und wie sollte sie sich dem Unsagbarsten von allem anders verbinden als dass sie die Rede in ihr zum Schweigen brächte? Eines werde sie also, damit sie das Eine sehe, vielmehr dass sie das Eine nicht sehe: sehend nämlich würde sie ein Denkbares sehen und nicht etwas über dem Denken, sie dächte Etwas Eines, und nicht das Eine selbst.“374

Das „Schweigen“ in der Seele versteht Proklos nicht im Sinne eines Agnostizismus oder Irrationalismus, sondern durch die Einung im Schweigen wird die Unvergleichbarkeit und Unbegreiflichkeit des Einen offenbar.375

„Menschlichem und göttlichem Denken nämlich ist das Eine selbst nicht deshalb nicht zugänglich, weil es alles aus ihm Seiende schlechterdings n i c h t i s t, sondern weil es in erhabener, weder in Negation noch Affirmation sagbarer Weise als Grund und Ursprung von allem all dies ist, dessen Nichts es ist.“376

Fassen wir zusammen:

„Dieses Ereignis der Einung des Entsprungenen mit dem Ursprung, des Denkenden und Nicht-mehr-Denkenden mit dem Nicht-Denkenden als seiender Grund und Substanz von Denken zu ermöglichen und zu erwirken, ist der Sinn des Einen in uns. Das Eine in uns zeigt die Anfänglichkeit und Entsprungenheit des Denkens im Einen selbst. Es ist der Grund der Möglichkeit, dass das Denken diese seine Anfänglichkeit und Entsprungenheit in der Rückkehr in Anfang und Ursprung seiner selbst wirksam werden lasse und zugleich aufhebe in die Einung.“377

2. Bertholds Lehre des „Unum in nobis“ – das „Eine in uns“

Berthold von Moosburg orientiert sich in seinem Prokloskommentar an der Philosophie Dietrichs von Freiberg378, doch ergänzt er seine Interpretation mit der proklischen Deutung des „Unum animae“, des „Einen in der Seele“. Berthold übernimmt in prop. 129 F379 wichtige Teile aus Dietrichs „De intellectu et intelligibili“ und folgt Dietrichs Deutung der visio beatifica als „informatio“ („Eingestaltung“) durch den tätigen Intellekt.380 Dann jedoch nimmt Berthold eine Korrektur vor:

„In dem Moment, in welchem der ‚intellectus agens‘ zur Form des ‚intellectus possibilis‘ wird, kann nach Berthold nicht mehr von Intellekt die Rede sein. Denn Intellekt setzt eine Andersheit zwischen Denken und Gedachtem voraus. Wo diese Andersheit durch die Koinzidenz des möglichen und tätigen Intellekts aufgehoben ist, ist die Blume des Intellekts (Taulers ‚dolden der selen‘) schon aufgebrochen: das ‚unum animae‘.“381

Diese Interpretation ist ein origineller, eigener Ansatz Bertholds382 und stellt im ganzen Mittelalter ein „Unikum“383 dar. Im Gegensatz zu Dietrich stand Berthold „neues, frappant wichtiges Material“384 zur Verfügung, nämlich die Schriften der Tria Opuscula („De providentia, libertate, malo“) des Proklos385, in welcher die Lehre des „Unum animae“ überliefert wird. Durch die Opuscula gewinnt Bertholds Proklosdeutung eine ganz neue spezifisch anthropologische Note.386 Die Opuscula

„überlieferten eine Lehre des ‚unum animae‘, die eine eindrucksvolle Nähe zur areopagitischen Theologie aufwies, die das ganze in der Elementatio bis dahin verborgen gebliebene ethisch-anthropologische Potential ans Licht brachte. Die Opuscula erlaubten eine neue, vollständigere Interpretation der neuplatonischen Philosophie.“387

Berthold betont, laut Proklos strebe die platonische Weisheit nach einer Art mystischer Vereinigung, die über der diskursiven ratio und über dem aristotelischen intellectus stehe. Dieses über dem intellectus Stehende werde schon von den „Theologen“ vor Platon das „Unum anime“, das „Eine der Seele“ genannt. Unter dieser Unio versteht Proklos die unmittelbare Schau Gottes („directa Dei visio“).388 Zur „Theologen“-Tradition, die das „Unum in der Seele“ lehrt, gehören laut Berthold neben Platon und Proklos Dionysios der Areopagit, Augustinus und auch Aristoteles.389 Dionysios nenne das Eine der Seele „deiformem unitatem“, Augustinus „abditum mentis“ und Aristoteles „intellectum agentem“.390 Die gesamte Theologie des Dionysios beruhe auf der Lehre des Unum.391

Proklos zufolge steigt die Seele des Menschen wie auf einer „scalaris ascensus“392 („[geistlichen] Leiter“) zur Visio dei empor.393 Dieser Ascensus („Aufstieg“), für Proklos ein philosophischer, beginnt auf der untersten Stufe mit dem Gebrauch der natürlichen Vernunft. Bei diesem Aufstieg enthüllt sich sodann nach und nach das geistliche Prinzip alles Seienden; die Seele gelangt zur Schau („contemplatione“) des höchsten Guten, das für Berthold Gott ist.394 Berthold betont, die proklische Theologie395 sei wie die aristotelische Metaphysik streng wissenschaftlich396, sie sei nicht nur als eine dialektische Übung zu verstehen, sondern als göttliche Weisheit397, deren Fülle nur von einem göttlichen Menschen verstanden werden könne.398 Die Theologie des Proklos „gewinnt hiermit eine ethisch-existentielle Valenz.“399

„Das ‚unum‘ Bertholds ist das begründende dynamische Prinzip jedes Wesens, es ist – im Falle des Menschen – die Bedingung seines Sein-Könnens und hiermit seines Seins, Lebens, Intellekt-Seins, Seele-Seins und seiner Materialität.“400

Das Unum aber, jenes innerlichste und höchste im Menschen, hat Gott in die menschliche Natur gesetzt.401 Durch die Verbundenheit mit diesem „Unum in nobis“ ist der Mensch göttlich.402

„Durch dieses Eine ... wird der Mensch nicht nur zum ‚speculum intellectuale‘, sondern er gewinnt die Einsicht in die überintellektuelle, überwesentliche, göttliche, begründende Funktion der an Gott teilnehmenden Einheit.“403

Damit aber hat Berthold den Akzent „von der reinen Intellektualität zu einer Art existenziellem und vitalem Grund“404 verschoben. Das „Unum in nobis“ ist für Berthold kein Seelenvermögen und keine privilegierte Kraft, die durch eine übernatürliche Verstärkung in die Lage gebracht wird, das Göttliche zu erfassen.405 Vielmehr handelt es sich beim „Unum in nobis“ um das

„begründende Prinzip der menschlichen Seele, des Intellekts und Willens, um das Prinzip unseres Seins und dessen Voraussetzung, nämlich unseres Sein-Könnens. Es zeigt sich einerseits als Fülle unserer totalen Existenz und Begründung ihrer Entfaltung, andererseits als Moment, in dem die begründende Funktion der überrationalen Einheit eine Erfassung des allbegründenden Einen ermöglicht, die zugleich Einung mit ihm ist. Dies ist die unio, die «visio beatifica» nach der Auffassung Bertholds von Moosburg.“406

Hier folgt Berthold Dietrich von Freiberg. Allerdings steht an der Stelle des intellectus agens das Unum.