Drittes Kapitel

Meister Eckhart – aus der Ewigkeit in die Zeit

Die Dominikanerin Suzanne Eck empfiehlt in ihrem Buch über Meister Eckhart, Tauler und Eckhart parallel zu lesen. Das sei lehrreich und erleuchtend. Denn: „Sehr oft erklärt Tauler Eckhart und macht ihn verständlich und illustriert konkret seine Lehre. In gleicher Weise ermöglicht Eckhart, die Strenge des Denkens von Tauler besser zu verstehen.“407 Um also den Prediger Tauler verstehen zu können, dessen theologisch-philosophische Grundlage, ist es ratsam, auf Meister Eckhart zurückzugreifen.408

Meister Eckhart von Hochheim409 (ca. 1260 – ca. 1328) hatte ein bewegtes und erfolgreiches Leben: als Magister (Professor) der Theologie an der Universität in Paris, als Ordensoberer, als Seelsorger und Volksprediger. 1326 beschuldigten ihn eifersüchtige Mitbrüder in Köln, wo er am Generalstudium der Dominikaner lehrte, der Häresie. Eckhart appellierte an den Papst in Avignon und reiste an dessen Hof. Noch während des Verfahrens (1328) starb er dort. 1329 wurden in einem päpstlichen Dokument 28 Sätze aus Eckharts Werk verurteilt.410 Inzwischen aber hat die Forschung Meister Eckhart längst als orthodox-christlich rehabilitiert. Von Eckharts geplantem theologischen Werk („Opus Tripartitum“) ist nur ein Bruchteil überliefert. Darüber hinaus existieren drei Traktate und mehr als hundert echte Predigten.411

Tauler profitierte vom Denken Meister Eckharts, weil er – wie auch sein Mitbruder Heinrich Seuse – dessen Denken verstanden hatte. Er war vom gleichen Ideal erfüllt, nämlich von der Möglichkeit der umgestaltenden Vereinigung mit Gott – der Gottesgeburt. Er wusste aber auch, dass nicht alle den hohen Gedanken des Meisters folgen konnten und dass dies deswegen zu Missverständnissen und Missbräuchen führte. Tauler beklagt in einer Predigt, dass die Vereinigung des Menschen mit Gott vielfach falsch verstanden werde – er hat dabei die „Brüder und Schwestern des freien Geistes“412 vor Augen – und verweist in diesem Zusammenhang auf Meister Eckhart:

„Usser diseme lert úch und seit úch ein minnenclich meister, und des enverstot ir nút; er sprach uss der ewikeit, und ir vernement es noch der zit.“413

„So lehrt euch und sagt euch ein liebenswerter Meister, doch das versteht ihr nicht; er sprach aus der Ewigkeit, ihr aber fasst es der Zeitlichkeit nach auf.“

Tauler zufolge deuten manche von Eckharts Zuhörern dessen mystischtheologische Aussagen mit ihren äußeren Sinnen auf zeitlich-irdische Weise:

„Ein hoch meister der sprach von diseme sinne sunder wise und sunder wege, das begeisten vil lúte mit dem ussern sinne und werdent vergiftige menschen.“414

„Ein hoher (edler) Meister sprach (von übersinnlicher Erkenntnis) ohne Weise (d.h. auf nicht menschliche Weise) und ohne (vorgezeichneten) Weg. Das verstehen viele Leute mit den äußeren Sinnen (d.h. mit der Sinnestätigkeit) und werden vergiftete Menschen.“

Die „vergifteten Menschen“ übersehen, dass Eckhart nicht aus der menschlichen Perspektive heraus spricht, sondern aus der Perspektive des einen, allem irdischen Sein entzogenen Gottes.415 Im gleichen Zuge weist Tauler die Meinung zurück, durch die Vereinigung des Menschen mit Gott, werde dem göttlichen Wesen etwas hinzugefügt, Gottes Wesen werde reicher, weil sich der Mensch mit ihm vereinige: „Diz wurt dicke valschlichen verstanden, wan gotliche nature enpfohet keinen zuval“416 („Das wird oft falsch verstanden, denn die göttliche Natur erfährt keine Bereicherung“).

Für Tauler ist Meister Eckhart der „liebenswerte“ und „hohe Meister“ der Theologie und des geistlichen Lebens,

„dessen Worte beseligend in die Herzen fallen, ohne doch in der eigentlichen Aussage verstanden zu werden, und er ist zugleich der ´hohe Meister´, in dessen Spiritualität man den Anlass zu Ketzertum und Kirchenfeindlichkeit sah, wenn nicht schon die Häresie selbst.“417

Eckhart selbst hat sich auch eindeutig gegen die Irrlehre der „Freien Geister“ gewandt:

„Nû sprechent etlîche menschen: ‚hân ich got und gotes minne, sô mac ich wol tuon allez, daz ich will‘. Diz wort verstânt sie unrehte. Die wîle dû dehein dinc vermaht, daz wider got ist und wider siniu gebot, sô enhast dû gotes minne niht; du maht die werlt wol betriegen, als habest dû sie.“418

„Nun sagen gewisse Leute: ‚Habe ich Gott und die Gottesliebe, so kann ich recht wohl alles tun, was ich will‘. Die verstehen das Wort nicht recht. Solange du irgendetwas vermagst, das wider Gott und wider seine Gebote ist, solange hast du die Gottesliebe nicht; du magst die Welt wohl betrügen, als habest du sie.“

Der Vers einer Nonne spiegelt das Verhältnis Eckharts zu vielen seiner Zuhörer treffend wider:

„Ich wil iu sagen maere, sprach eine nonne guot,

uns kumment predigaere, des fröwet sich min muot.

Der wise meister Eckhart wil uns von nihte sagen,

der daz niht enverstat der mac ez gote klagen;

in den hat niht geliuhtet der göteliche schin.

Ich kann iu niht berihten waz man uns hat geseit.

Ir sult iuch gar vernihten in der geschaffenheit.

Geit in daz ungeschaffen, verliesent iuch selber gar,

alda hat sich ein kaffen al in daz wesen gar.“419

„Ich will euch berichten, sprach eine Nonne gut,

zu uns kommen Prediger, dessen freut sich mein gemuet (Herz).

Der weise Meister Eckhart will uns vom Nichtse sagen,

wer das nicht versteht, der mag es Gotte klagen;

in ihm hat nicht geleuchtet das göttliche Licht.

Ich kann euch nicht berichten, was man uns hat gesagt.

Ihr sollt euch ganz vernichten in der Geschaffenheit.

Geht in das Ungeschaffene, verliert euch selber gar,

sodann ereignet sich ein Schauen in das (göttliche) Wesen ganz und gar.“

Im Folgenden wollen wir Eckharts grundlegende Gedanken darstellen, die auch für Tauler wichtig sind420: die Lehre von der Gottesgeburt, Eckharts Gottesverständnis, sein Menschenbild mit der dazugehörenden Seelenfunken-Spekulation und zuletzt die Gelassenheit, im Zusammenhang mit der Abgeschiedenheit und der Armut des Geistes.

I. Gottesgeburt - trinitarische Entfaltung

Die Lehre von der Gottesgeburt421 bildet den „Kernpunkt im Denken Eckharts“422. In der sechsten Predigt423 entwickelt er – ausgehend vom Begriff „bî gote“ („bei Gott“) sein424 – seine Lehre von der Gottesgeburt in der Seele des Menschen.

Bî gote bedeutet, dass die Seele des Menschen mit Gott „glîch“ („gleich“) ist.425 Das Verhältnis von Gott und Mensch ist nicht hierarchisch, nicht wie zwischen Herr und Knecht426, sondern univok: „Alsô sol diu gerehte sêle bî gote sîn und bî neben gote, rehte glîch, noch unden noch oben“427 („So auch soll die gerechte Seele bei Gott sein und neben Gott, ganz gleich, weder darunter noch darüber“). Um bî gote sein zu können, muss die Seele gereht sein. Der Mensch ist dann vor Gott gerecht, wenn er seinen eigenen Willen völlig gelassen hat, um einzig und allein die Gerechtigkeit Gottes zu empfangen.428 Der Mensch ist für Eckhart mit Gott gleich in einem univoken Sinn.429 Aber ebenso behauptet Eckhart, dass der Mensch auf analoge Weise mit Gott gleich ist. Wie kann das sein? Und in welchem Sinn spricht er von einer univoken Gleichheit mit Gott? Man kann sich gut vorstellen, dass solche Gedanken bei den einfachen Gläubigen zu Verwirrung geführt haben und dass die Inquisition auch deshalb zu dem Ergebnis kommen konnte, Eckhart verkünde einen Irrglauben bzw. freigeistiges Gedankengut. Bei Meister Eckhart kommt es jedoch auf die Perspektive an, aus der er die Seinsgemeinschaft zwischen Gott und den Geschöpfen, zwischen Gott und Mensch betrachtet430: Schaut man auf den Menschen – bzw. auf das Geschöpf – aufgrund seiner Zugehörigkeit und Verbundenheit zu seinem göttlichen Ursprung, dann ist er mit Gott identisch, univok; blickt man auf den Menschen in seiner Geschaffenheit, in seinem individuellen, kreatürlichen Sein, dann ist er von Gott verschieden bzw. er ist Gottgleich in einem analogen Sinn. Mit anderen Worten Gott und Mensch stehen in einer ursprunghaften Beziehung einander und bilden deshalb eine Einheit, doch bleibt zugleich eine Differenz aufgrund der Kreatürlichkeit des Menschen.

Einheit mit Gott meint nicht Gleichheit im ontologischen, sondern in einem noologischen, geistigen Sinne. Weil der Mensch „Geist“ ist, ist er mit Gott gleich:

„Ein ieglich vaz hât zwei dinc an im: ez enpfaehet und entheltet. Geistlîchiu vaz und lîplîchiu vaz hânt underscheit. Der wîn ist in dem vazze; das vaz enist niht in dem wîne, noch der wîn enist niht in dem vazze als in den breten; wan waere er in dem vazze als in den breten, sô enmöhte man in niht getrinken. Anders ist ez umbe daz geistliche vaz. Allez, daz dar în enpfangen wirt, daz ist in dem vazze und daz vaz in im und ist daz vaz selbe. Allez, daz daz geistlich vaz enpfaehet, daz ist sîn natûre. Gottes natûre ist daz, daz er sich gibet einer ieglîchen guoten sêle, und der sêle natûre ist daz, daz si got enpfaehet; und diz mac man sprechen von dem edelsten daz diu sêle geleisten mac.“431

„Ein jegliches Gefäß hat zweierlei (Kennzeichen) an sich: es nimmt auf und enthält. Geistige Gefäße und körperliche Gefäße sind verschieden. Der Wein ist in dem Fasse, das Fass aber ist nicht im Wein noch ist der Wein in dem Fasse, will sagen: in den Dauben; denn wäre er im Fasse, will sagen: in den Dauben, so könnte man ihn nicht trinken. Anders steht es um das geistige Gefäß! Alles, was darin aufgenommen wird, das ist in dem Gefäß und das Gefäß in ihm und ist das Gefäß selbst. Alles, was das geistige Gefäß aufnimmt, das ist von seiner Natur. Gottes Natur ist es, dass er sich einer jeglichen guten Seele gibt, und der Seele Natur ist es, dass sie Gott aufnimmt; und dies kann man in bezug auf das Edelste sagen, das die Seele aufzuweisen vermag.“

Der Mensch ist ein körperliches, geschaffenes und zugleich ein geistiges „Gefäß“: Von seiner Kreatürlichkeit her ist der Mensch Gott nicht gleich, sondern ähnlich im analogen Verständnis: Das „Fass“ ist nur ein Zeichen für den Wein, aber es ist nicht der Wein selbst.432 Wenn der Mensch gut ist, dann ist sein Gut-sein nur ein Zeichen für das Gute, d.h. für Gott, aber der Mensch ist selbst nicht das Gute, also Gott.433 Doch als „geistiges Gefäß“ ist der Mensch für Eckhart mit Gott gleich, da er Gott ganz aufzunehmen vermag und auf diese Weise eins wird mit der „Natur“ Gottes. Aufgrund der Geistigkeit ist der Mensch mit Gott gleich, denn „in univocis autem semper est aequale“434 („bei gleichartigen Dingen ist es aber immer gleich“). Das bedeutet, dass der Mensch nicht nur an der göttlichen Natur partizipiert, sondern diese „totam simpliciter, integraliter et ex aequo a suo prinicipio accipiens“435 („schlechthin ganz, ohne Abzug und in derselben Vollkommenheit von seinem Ursprung empfängt“). Aber auch in dieser Gleichheit kann nicht von einer vollkommenen Identität die Rede sein. Denn die Gleichheit ist abhängig von der Bereitschaft des Menschen, Gott in sich aufzunehmen. Deshalb betont Eckhart im „Buch der göttlichen Tröstung“, dass Gott als das reine Gute den Guten gebiert, „als verre sô er guot ist“436 („insoweit er ‚der Mensch‘ gut ist“). Der Mensch muss das Gute, das Gott schenkt, vollkommen empfangen können. Der Unterschied zwischen der Geistigkeit Gottes und des Menschen besteht darin, dass es Gottes Natur ist, zu geben bzw., wie Eckhart im „Buch der göttlichen Tröstung“ sagt, zu gebären, während der Mensch dazu da ist, von Gott zu empfangen bzw. geboren zu werden. Das Gute (Gott) gebiert, der Gute (der Mensch) wird geboren.437 Der Mensch ist geborenes Gutsein, Gott aber ungeborenes, gebärendes Gutsein.438 In diesem Zusammenhang spricht Eckhart auch vom göttlichen Bild, das der Mensch in seiner Seele trägt.439 Der Begriff Bild ist ebenfalls einer der zentralen Begriffe Meister Eckharts.440

Die Bedeutung von „bilde“ ist umfassender als der unseres heutigen Wortes „Bild“: „Bilde hat eine innige Nähe zu dem griechischen Wort Eidos. Eidos ist sowohl die Idee Platons als auch die zur Erkenntnis führende Form des Aristoteles. Eidos stammt von Eidon, ich sah; auch von der gleichen Wurzel oida, ich weiß. Derart verleugnet der Begriff Eidos, auch wenn er im Falle der Idee Platons dem anscheinend Unanschaulichen, dem Nicht-Phänomenalen vorbehalten ist, nicht die Abkunft vom Sehen: Eidos ist, was im Sehen gewusst, im Wissen gesehen wird. Die Genauigkeit der lateinischen Sprache hat den einen Begriff Eidos, in die Unterscheidung von ratio (Idee) und species (Erkenntnisform) überführt. Dabei hat sie der species das im Aristotelischen Eidos nachhallende überschwängliche Moment der Idee Platons und der Idee als ratio das Moment der Anschaulichkeit genommen. Beide Momente des Eidos kehren in Eckharts Begriff des Bildes wieder (insofern es sowohl zur Übersetzung von ratio als zur Übersetzung von species dient) und werden zusammengebracht mit dem Sinngehalt von imago, wie er vor allem für das Neue Testament wichtig ist. Wer bilde bei Eckhart verstehen will, muss über die Bedeutung Eidos hinaus ein Moment der Gestaltung, der ‚Bildung‘, ein produktives Moment darin denken. Dieses Moment kommt vor allem in den verschiedenen Komposita von bilden zum Ausdruck. Derart treten Anschaulichkeit, Wissbarkeit und dynamische Gestaltung zusammen in Eckharts Begriff des bildes.“441

Der Mensch ist für Eckhart deshalb Bild Gottes, weil er sein Bildsein unmittelbar vom Urbild, Gott, erhält. Deshalb ist das göttliche Bild in der Seele Gott gleich, aber nur solange, wie die Verbindung zum Urbild besteht. Verliert der Mensch die Beziehung zum Urbild, ist er nicht mehr Bild Gottes.442

„Bilde enist sîn selbes niht, noch enist im selber niht; ez ist aleine des, des bilde ez ist, und ist im alzemâle allez, daz ez ist. Daz dem vremde ist, des bilde ez ist, dem enist ez niht, noch enist sîn niht. Bilde nimet aleine sîn wesen âne mittel an dem, des bilde ez ist, und hât éin wesen mit im und ist daz selbe wesen.“443

„Ein Bild ist nicht aus sich selbst, noch ist es für sich selbst; es stammt vielmehr von dem, dessen Bild es ist, und gehört ihm mit allem, was es ist, zu. Was dem, dessen Bild es ist, fremd ist, dem gehört es nicht zu, noch stammt es von ihm. Ein Bild nimmt sein Sein unmittelbar allein von dem, dessen Bild es ist, und hat ein Sein mit ihm und ist dasselbe Sein.“

Das Bild-Sein des Menschen – bzw. die Gleichheit des Menschen mit Gott – hängt also einzig und allein von der Gegenwart Gottes im Menschen ab, d.h. von der Beziehung des Bildes zum Urbild: „Dâ treget diu sêle daz götliche bilde und ist gote glîch“444 („Darin trägt die Seele das göttliche Bild und ist Gott gleich“). Denn es kann – wie Eckhart weiter erläutert – kein Bild ohne Gleichheit geben, wohl gibt es aber Gleichheit ohne Bild445:

„Zwei eier sint glîche wîz, und einez enist doch des andern bilde niht; wan daz des andern bilde sol sîn, daz muoz von sîner nattûre komen sîn und muoz von im geborn sîn und muoz im glîch sîn“446

„Zwei Eier sind gleich weiß, und doch ist eines nicht des andern Bild; denn, was des andern Bild sein soll, das muss aus dessen Natur und muss von ihm geboren und muss ihm gleich sein.“

Alles Sein kommt also dem Menschen nur vom Urbild her zu; er ist im Sein Gottes; er ist ein Sein mit Gott. Ohne Gott, das Urbild, hat der Mensch demnach kein eigenständiges Sein.447 Das Bild ist also nur Bild, solange das Urbild gegenwärtig ist. Dies stellt sich Eckhart wie ein Spiegelbild vor:

„Swenne daz antlite geworfen wirt vür den spiegel, sô muoz daz antlite dar inne erbildet werden, ez welle oder enwelle. Aber diu natûre erbildet sich niht in daz bilde des spiegels, mêr: der munt und diu nase und diu ougen und alliu diu gestaltnisse des antlites daz erbildet sich in dem spiegel.“448

„Wenn das Antlitz vor den Spiegel gerückt wird, so muss das Antlitz darin abgebildet werden, ob es wolle oder nicht. Aber die Natur erbildet sich nicht in das Bild des Spiegels; vielmehr der Mund und die Nase und die Augen und die ganze Bildung des Antlitzes – dies bildet sich in dem Spiegel ab.“

Doch im Gegensatz zum normalen Spiegelbild bildet sich Gott in der Seele ganz ab, teilt ihr sein ganzes Sein mit:

„Aber daz hât got im aleine behalten, swâ er sich inne erbildet, daz er dâ sîne natûre und allez, daz er ist und geleisten mac, zemâle dar inne erbildet obe dem willen.“449

„Aber dies hat Gott sich allein vorbehalten, dass, worein immer er sich erbildet, er seine Natur und alles, was er ist und aufzubieten vermag, gänzlich darein oberhalb des (menschlichen) Willens abbildet.“

Das Bild, das die göttliche Natur der Seele des Menschen mitteilt, ist der Sohn, „wan der sun hât den êrsten ûzbruch ûz der natûre; dar umbe heizet er eigenlîche ein bilde des vaters“450 („weil der Sohn den ersten Ausbruch aus der Natur hat; darum heißt er im eigentlichen Sinne ein Bild des Vaters“).451 Der Ausbruch aus der Natur Gottes aber ist die Geburt des Sohnes aus dem Vater. Von diesem Geborenwerden lässt sich nun auch das Bild-Sein erklären: „In der Geburt entsteht eine andere Person, doch bleibt sich die Natur des Gebärenden und des Geborenen gleich.“452 In diesem Sinne ist eben der Sohn das Bild Gottes, nicht der Heilige Geist, der die Liebe (bzw. der Wille)453 ist, der aus Vater und Sohn ausfließt.454 Der Sohn wiederum ist die Weisheit des Vaters, sein ausgesprochenes Wort.455 Als solches Wort bildet sich Gott in der Seele unmittelbar ab, nicht als der Schöpfergott, sondern als ein „vernünftig wesen“456: „Daz edelste der natûre erbildet sich alle eigenlichlîchest in daz bilde“457 („Das edelste der [göttlichen] Natur erbildet sich ganz eigentlich in das Bild“).458 Weil das Sein des Bildes von dem des Urbildes abhängt, besitzt das (Ab)Bild kein eigenständiges Sein459:

„Imago enim, in quantum imaga est, nihil sui accipit a subiecto in quo est, sed totum suum esse accipit ab obiecto, cuius imago. Iterum secundo accipit esse suum al solo illo. Adhuc terbio accipit totum esse illius sucundum omne sui, quo exemplar est. Nam si ab aliquo alio quidquam acciperet imago vel quidquam exemplaris sui non acciperet, iam non esset imago illius, sed cuiusdam alterius.“460

„Denn das Abbild als Abbild empfängt nichts, was ihm zugehört, von dem Träger, an dem es ist; vielmehr empfängt er sein ganzes Sein von dem Gegenstand, dessen Abbild es ist. Ferner zweitens: es empfängt sein Sein von ihm allein. Zudem drittens: es empfängt dessen ganzes Sein nach dem, wodurch er Vorbild ist. Denn empfinge das Abbild von etwas andern oder erhielte es etwas von seinem Vorbilde nicht, so wäre es nicht dessen Abbild, sondern das Abbild eines andern.“

Die Seele schaut also Gott, insofern sie Gottes Bild ist, nicht durch etwas Vermittelndes, sondern durch das Urbild selbst:

„Daz êwic wort ist daz mittel und daz bilde selbe, daz dâ ist âne mittel und âne bilde, ûf daz diu sêle daz diu sêle in dem êwigen worte got begrîfet und bekennet âne mittel und âne bilde.“461

„Das ewige Wort ist das Vermittelnde und das Bild selbst, das da ohne Vermittelndes und ohne Bild ist, auf dass die Seele im ewigen Worte Gott begreife und erkenne, unmittelbar und ohne Bild.“

Mit anderen Worten die Seele des Menschen ist nicht Bild Gottes, „insofern sie sich reflexiv als Bild Gottes erkennt, sondern insofern sie real Bild Gottes ist.“462 Die Natur Gottes „teilt sich in ihrem ‚bilde‘ ohne Rest mit.“463

Wenn nun der Mensch aufgrund seiner ursprunghaften Einung mit dem Urbild mit Gott gleich ist, nicht aber von seiner Kreatürlichkeit her, dann gleicht für Eckhart der Mensch von seinem Ursprung her Gott darin, dass er ebenfalls mit nichts Geschaffenem gleich ist:

„Wer sint die also glîch sint? Die nihte glîch sint, die sint aleine gote glîch.Götlich wesen enist niht glîch, in im enist noch bilde noch forme.“464

„Wer sind die, die in solcher Weise gleich sind? Die nichts gleich sind, die allein sind Gott gleich. Göttliches Wesen ist nichts gleich, in ihm gibt es weder Bild noch Form.“

Denn in der gnadenhaften Einung des (Ab)Bildes mit dem Urbild, d.h. in der Einung des Menschen mit Christus, erlangt der Mensch das Bild-Sein der einen Gottheit, die jedoch namenlos, bildlos und formlos ist, aus der sich jedoch das trinitarische Leben Gottes entfaltet:

„Der sun ist ein bilde gotes obe bilde; er ist ein bilde sîner verborgenen gotheit. Dâ der sun ein bilde gotes ist und dâ der sun îngebildet ist, dâr nâch ist diu sêle gebildet. In dem selben, dâ der sun ûzvliezsende ist von dem vater, dâ enbehanget diu sêle niht: si ist obe bilde.“465

„Der Sohn ist ein überbildliches ‚Bild‘ Gottes; er ist ein ‚Bild‘ seiner verborgenen Gottheit. Nach eben dem nun, worin der Sohn ein ‚Bild‘ Gottes ist und worin der Sohn ‚eingebildet‘ ist, danach ist (auch) die Seele gebildet. Aus demselben, aus dem der Sohn empfängt, daraus empfängt auch die Seele. Selbst da, wo der Sohn aus dem Vater ausfließt, bleibt die Seele nicht hängen: sie ist über (jedes) ‚Bild‘ erhaben.“

In der Einheit mit dem inkarnierten Christus wird die nur analoge Abbildhaftigkeit der Schöpfung überholt, in der die Seele des Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, während sie nun – in überbildlicher und nicht-reflexiver Weise – Bild Gottes ist.466 Hieraus resultiert die Forderung Eckharts nach Gelassenheit, Abgeschiedenheit und Armut des Geistes467, also eines Leer- und Offenseins für Gott468:

„Der vater gebirt sînen sun in der êwicheit im selber glîch. «Daz wort was bî gote, und got was daz wort»: ez was daz selbe in der selben natûre. Noch spriche ich mêr: er hât in geborn in mîner sêle. Niht aleine ist si bî im noch er bî ir glîch, sunder er ist in ir, und gebirt der vater sînen sun in der sêle in der selben wise, als er in in der êwicheit gebirt, und niht anders.“469

„Der Vater gebiert seinen Sohn in der Ewigkeit sich selbst gleich. ‚Das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort‘ (Joh. 1,1): es war dasselbe in derselben Natur. Noch sage ich überdies: Er hat ihn geboren in meiner Seele. Nicht allein ist sie bei ihm und er bei ihr gleich, sondern er ist in ihr; und es gebiert der Vater seinen Sohn in der Seele in derselben Weise, wie er ihn in der Ewigkeit gebiert und nicht anders.“

Ausgangspunkt für die Gottesgeburt ist das innertrinitarische Geschehen, die Geburt des Sohnes aus dem Vater.470

„Und wan glîchnisse vliuzet von dem einen und ziuhet, noch dem, daz dâ gezogen wirt, bis daz sie in ein vereinet werdent. Dar umbe sprach unser herre in dem wîssagen Isaias und meinte, daz kein hôch glîchnisse und kein vride der minne engenüeget mir, biz daz ich selbe in mînem sune erschîne und ich selbe in der minne des heiligen geistes enbrant und enzündet wirde. Und unser herre bat sînen vater, daz wir mit im und in im ein würden, niht aleine vereinet.“471

„Und da Gleichheit aus dem Einen fließt und durch die Kraft und in der Kraft des Einen zieht und lockt, drum wird Ruhe noch Genüge weder dem, das zieht, noch dem, das gezogen wird, bis dass sie in Eins vereint werden. Darum sagt unser Herr im Propheten Jesaja dem Sinne nach: dass keine hohe Gleichheit und kein Friede der Liebe mir genügt, bis dass ich selbst in meinem Sohne offenbar werde und ich selbst in der Liebe des Heiligen Geistes entbrannt und entzündet werde (vgl. Is. 62,1). Und unser Herr bat seinen Vater, dass wir mit ihm und in ihm Eins würden, nicht nur vereint.“

Die Geburt des Sohnes aus dem Vater ist für Meister Eckhart ein dauerhaftes Geschehen, etwas Zeitloses in einem „gegenwertic nû“472 („gegenwärtigen Nun“), also eine incarnatio continua. Als solche schließt sie auch die menschliche Seele mit ein:

„Dâ got geborn sol werden in der sêle, dâ muoz alliu zît abegvallen sin, oder sie muoz der zît entvallen sîn mit willen oder mit begerunge. ... Daz ist das nû der êwicheit, dâ diu sêle in gote alliu dinc niuwe und vrisch und gegenwertic bekennet ... . Ich las niuwelîche in einem buoche – der ez gegründen künde! -, daz got die werlt iezuo machet als an dem êrsten tage, dô er die werlt geschuof. Hie ist got rîche, und daz ist gotes rîche.“473

„Wo Gott in der Seele geboren werden soll, da muss alle Zeit abgefallen oder sie muss der Zeit entfallen sein mit Willen oder mit Begehren. ... Das ist das Nun der Ewigkeit, in dem die Seele alle Dinge in Gott neu und frisch und gegenwärtig erkennt ... . Ich las neulich in einem Buch – wer´s doch ergründen könnte! -, dass Gott die Welt jetzt mache wie am ersten Tage, da er die Welt erschuf. Hierin ist Gott reich, und das ist Gottes Reich.“

Die Gleichheit des Menschen mit Gott ist durch Jesus Christus gegeben. Er ist das „Wort“, durch das der Vater in die Seele „spricht“. Dieses „Sprechen“ ist zunächst einmal als die dauerhafte Möglichkeit der Einung mit Gott zu verstehen. Die Geburt des Sohnes in der Seele – die Geburt Gottes – kann nur durch die Bereitschaft des Menschen, sich völlig Gott zu öffnen, zu einem Aufschwung und zu einem Verharren in der vollkommenen Gegenwart Gottes werden, die Meister Eckhart die „vüllede der zit“474 („Fülle der Zeit“) nennt.475 Doch die Grundvoraussetzung ist allein im Wesen Gottes zu sehen, sich mitzuteilen: Gott „muoz ez tuon, ez sî im liep oder leit“476 („muss es tun, es sei ihm lieb oder leid“). Gottes Selbstmitteilung verleiht aller Schöpfung und dem Menschen Leben und Sein in dem einen Vorgang, in dem einen Augenblick – in dem „einen Nun“ – der Geburt des Sohnes: „Hinc est quod generatio, cuius terminus est esse, non est motus, sed est in instanti sine tempore“477 („Deshalb ist die Erzeugung, deren Ziel das Sein ist, keine Bewegung, sondern erfolgt im Augenblick, zeitlos“).478 Eckhart bindet den Menschen mit der gesamten Schöpfung an die ursprüngliche Geburt des Sohnes im trinitarischen Geschehen.

Christus „enpfaehet sich alle zit niuwe âne underlâz und âne ziet von sînem himelischen vater und ist sich in dem selben nû âne underlâz wider îngebernde volkomenlîche mit dankbaerem lobe in die veterliche hôcheit in einer glîcher wirdicheit. Also sollte der mensche stân, der der aller hoesten wârheit wollte enpfenclich werden und dar inne lebende.“479

Christus „empfängt sich allzeit und ohne Unterlass und zeitlos neu von seinem himmlischen Vater und gebiert sich im selben Augenblick vollkommen wieder mit dankerfülltem Lob in die väterliche Hoheit, in gleicher Würde. Ganz so sollte der Mensch dastehen, der für die allerhöchste Wahrheit empfänglich werden und darin leben möchte.“

In diesem ursprunghaften Geschehen wird der Mensch aus Gnade das, was Gott von Natur ist, Sohn Gottes:

„Der vater gebirt sînen sun âne underlâz, und ich spreche mêr: er gebirt mich sinen sun und den selben sun.“480

„Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Unterlass, und ich sage mehr noch: Er gebiert mich als seinen Sohn und als denselben Sohn.“

Für Meister Eckhart ist also die Erzeugung des Sohnes „nicht ein einmaliges Ereignis, dem anderes folgt, sondern sie ist ein ewig neues, sich in jedem Augenblick vollziehendes Ereignis.“481 Die in diesem einmaligen, zeitlosen Augenblick dem Menschen geschenkte Gottessohnschaft konstituiert das Verhältnis der Gleichheit:

„Und ich spriche mêr: er gebirt mich niht aleine sînen sun, mêr: er gebirt mich sich und sich mich und mich sîn wesen und sîne natûre.“482

„Und ich sage noch mehr: Er gebiert mich nicht allein als seinen Sohn; mehr: er gebiert mich als sich und sich als mich und mich als sein Sein und als seine Natur.“

Die Geburt Gottes im Menschen ist ohne die Menschwerdung Christi nicht zu denken. Allerdings ist in Eckharts Inkarnationslehre der Gedanke entscheidend, dass Christus eine allgemeine Menschennatur angenommen hat483, nicht aber das menschlich individuelle Personsein:

„Swenne man sprichet mensche, sô verstet man eine persône; swenne man sprichet menscheit, sô verstêt man aller menschen natúre.“484

„Wenn man sagt ‚Mensch‘, so versteht man darunter eine (einzelne) Person; wenn man (aber) von Menschheit spricht, so versteht man darunter aller Menschen (allgemeine) Natur.“

Eckhart bestreitet dabei keinesfalls das historische Ereignis der Inkarnation, doch es kommt für ihn entscheidend auf den in der Inkarnation sich bezeugenden allgemeinen göttlichen Heilswillen an.485

„Das êwige wort ennam niht an sich dísen menschen noch dén menschen, sunder ez nam an sich eine vrîe, ungeteilte menschlîche natûre, diu dâ blôz was sunder bilde; wan diu einfaltige forme der menscheit diu ist sunder bilde.“486

„Das ewige Wort nahm nicht diesen oder jenen Menschen an, sondern es nahm eine freie, ungeteilte menschliche Natur an, die da rein war, ohne Individualzüge; denn die einfaltige Form der Menschheit ist ohne Individualzüge.“

Eckhart bestreitet also nicht das Personsein Christi als solches. Allerdings definiert sich nach Eckhart das Personsein Christi – dieses gilt für den Menschen gleichermaßen – nicht von einem innerweltlichen Personverständnis her, das auf die Individuation des Menschen zielt, sondern von der trinitarischen Personen-Entfaltung Gottes her.487 Von dorther ist Christus eben Person, die als solche Gott-Sein und Mensch-Sein umfasst488:

„Ein wesen ist nâch der gotheit das blôz substanzlich wesen, daz ander daz persônlich (wesen), und ist doch éin understôz.“489

„Das eine Sein ist der Gottheit nach das reine Substanz-Sein [das substanzielle Sein Christi], das andere ist das personhafte Sein (Christi), und ist doch (beides) eine (und dieselbe) Substanz [= Personhaftigkeit].“

Dieselbe Substanz der Personhaftigkeit Christi ist als Trägerin der Menschheit auch Substanz der Seele, und deshalb kann der Mensch gnadenhaft auch eins mit Christus werden490:

„Wan der selbe understôz Kristi persônlicheit der sêle understôz ist, understandicheit der êwigen menscheit, und ist éin Kristus an understandicheit, beidiu weselich und persônlich; also müesten wir ouch de selbe Kristus sîn, wir nâchvolgende in den werken alsô, als er in dem wesene éin Kristus ist nâch menschlîcher art; wan dâ ich diu selbe art bin nâch menscheit, sô bin ich alsô vereiniget dem persônlichen wesene, daz ich von gnâden in dem persônlichen wesene bin ein und ouch daz persônlich wesen.“491

„Da nun dieselbe Substanz der Personhaftigkeit Christi als Trägerin der ewigen Menschheit Christi auch der Seele Substanz ist und da ein Christus in seinsmäßiger und in personhaftiger Substanz ist, so müssen auch wir derselbe Christus sein, ihm nachfolgend in den Werken, wie er im Sein ein Christus ist in Menschenart; denn da ich in der Menschheit nach derselben Art bin (wie Christus), so bin ich dem personhaften Sein (Christi) so vereint, dass ich von Gnaden in dem personhaften Sein (Christi) eins (mit Christus) und auch das personhafte Sein (selbst) bin.“

Da nun Christus bei der Inkarnation die allgemeine menschliche Natur angenommen und menschliche und göttliche Natur hypostatisch, in Einheit, verbunden hat, muss der Mensch, um eins mit Gott zu werden, das preisgeben, „was Christus bei seiner Menschwerdung nicht annahm, die menschliche Person.“492 Mit anderen Worten der Mensch, der sich von seinem individuell-kreatürlichen Personsein abgeschieden, d.h. gelöst hat, wird eins mit dem personhaften (göttlichen) Sein Christi.

„Und dar umbe nam got menschlîche natûre an sich und einigete sie sîner persônen. Dâ wart menschlich natûre got, wan er menschlîche natûre blôz und keinen menschen an sich nam. Dar umbe, wilt dû der selbe Krist sîn und got sîn, sô gane alles des abe, daz daz êwige wort an sich niht ennam. Daz êwige wort nam keinen menschen an sich; dar umbe gane abe, swaz menschen an dir sî und swaz dû sîst, und nim dich nâch menschlîcher natûre blôz, sô bist dû daz selbe an dem êwigen worte, daz menschlich natûre an im ist. Wan dîn menschlîche natûre und diu sîne enhât keinen underscheit: si ist ein, wan, swaz si ist in Kristô, daz ist si in dir.“493

„Und deshalb nahm Gott die menschliche Natur an und vereinte sie mit seiner Person. Da ward die menschliche Natur Gott, denn er nahm die reine menschliche Natur und nicht einen Menschen an. Darum: Willst du derselbe Christus sein und Gott sein, so entäußere dich alles dessen, was das ewige Wort nicht annahm. Das ewige Wort nahm keinen Menschen an; darum entäußere dich dessen, was von einem Menschen an dir sei und was du seist, und nimm dich rein (nur) nach der menschlichen Natur, so bist du dasselbe im ewigen Wort, was die menschliche Natur in ihm ist. Denn deine menschliche Natur und die seine haben keinen Unterschied: es ist eine (und dieselbe); denn, was sie in Christo ist, das ist sie in dir.“

Daraus folgt: Die ursprüngliche innertrinitarische Geburt Christi, des Sohnes, ist ein Geschehen, das auch die Menschwerdung – die Inkarnation – umfasst und (immer) jeden Menschen und die ganze Schöpfung mit einbezieht. Die Gottesgeburt ist also ein von Raum und Zeit unabhängiges, aber immer stattfindendes Geschehen, ist eine incarnatio continua, die – weil sie eben immer auch auf den Menschen und auf die Schöpfung bezogen ist – zugleich eine creatio continua ist.494

Wenn der Sohn aus dem Vater in der Seele des Menschen geboren wird, wird der Mensch auch eins mit dem Wirken des Heiligen Geistes:

„In dem innersten quelle dâ quille ich ûz in dem heiligen geiste, dâ ist éin leben und éin wesen und éin werk.“495

„In dem innersten Quell, da quelle ich aus im Heiligen Geist; da ist ein Leben und ein Sein und ein Werk.“

Eckhart fasst das Herausgehen des Heiligen Geistes auch oft als „Ausblühen“, „Erblühen“ oder „Überfließen“ aus der Gottheit auf – d.h. aus Gott, insofern er eins ist496 –, in der Weise, dass Gott den Menschen mit derselben Liebe liebt wie sich selbst.497 Der Heilige Geist ist also der Aspekt in der Trinität, der die Liebe Gottes, die Liebe, in der sich Vater und Sohn lieben, ohne dabei eine Zweiheit zu bilden498, zum Ausdruck bringt, während der Vater im Allgemeinen mit der Macht und der Sohn mit der Weisheit der Gottheit identifiziert wird.499

„Der vater suochet ruowe an sînem sune, daz er alle crêaturen an im entgozzen und gebildet hât, und sie beide suochent ruowe an dem heiligen geiste, daz er von in beiden ûzgegangen ist als ein êwigiu unmaezigiu minne.“500

„Der Vater sucht Ruhe in seinem Sohne (darin), dass er alle Kreaturen in ihm ausgegossen und gebildet hat, und sie beide suchen Ruhe im Heiligen Geiste (darin), dass er von ihnen beiden als eine ewige unermessliche Liebe ausgegangen ist.“

Die aus Vater und Sohn ausgehende Liebe ist Kennzeichen für die Gleichheit, die im trinitarischen Leben Gottes herrscht. Und es ist dieselbe Liebe, die auf den Menschen überfließt. Das bedeutet: Gott liebt im Menschen den Menschen mit derselben Liebe, mit der er sich (innertrinitarisch) selbst liebt. Der Mensch wird somit eins mit der göttlichen Liebe.

„Nû sprichet ein meister, daz der sêle werde gegeben ein gâbe von gote, dâ von diu sêle beweget wirt ze innern dingen. Ez sprichet ein meister, daz diu sêle berüeret wirt âne mittel von dem heiligen geiste, wan in der minne, dâ sich got selben inne minnet, in der minne minnet er mich, und diu sêle minnet got in der selben minne, dâ er sich selben inne minnet, und enwaere disiu minne niht, dar inne got die sêle minnet, der heilige geist enwaere niht.“501

„Nun sagt ein Meister, dass der Seele von Gott eine Gabe gegeben werde, durch die die Seele bewegt wird zu inneren Dingen. Es sagt ein Meister, dass die Seele unmittelbar vom Heiligen Geist berührt wird, denn in der Liebe, darin sich Gott selbst liebt, in dieser Liebe liebt er mich, und die Seele liebt Gott in derselben Liebe, darin Gott die Seele liebt; wäre aber diese Liebe nicht, so wäre (auch) der Heilige Geist nicht.“

Der Heilige Geist erhält sein Sein sowohl vom gebärenden Gott – hier ist der Heilige Geist die Voraussetzung für die Gottesgeburt im Menschen – als auch vom geborenen Menschen, der Gott in seiner Geburt mit derselben Liebe liebt, mit der Gott sich liebt, und auf diese Weise in den einen Gott zurückfließt.

„Nieman enhât den heiligen geist, er ensi denne der eingeborne sun. Der vater und der sun die geistent den heiligen geist, dâ der heilige geist gegeistet wirt, wan daz ist wesenlich und geistlich.“502

„Niemand hat den Heiligen Geist, er sei denn der eingeborene Sohn. (Denn) da, wo der Heilige Geist gegeistet wird, da geisten ihn der Vater und der Sohn, denn dies ist wesentlich und geistig.“

Und weiter:

„Swenne der wille alsô vereinet wirt, daz ez wirt ein einic ein, sô gebirt der vater von himelrîche sînen eingebornen sun in sich in mich. War umbe in sich in mich? Dâ bin ich ein mit im, er enmac mich ûzgesliezen niht, und in dem werke dâ enpfaehet der heilige geist sîn wesen und sîn werden von mir als von gote. War umbe? Dâ bin ich in gote. Ennimet er ez von mir niht, sô ennimet er ez ouch von gote niht; er enmac mich ûzgesliezen niht, in keiner wise niht.“503

„Wenn der Wille so (mit Gottes Willen) eins wird, dass ein einziges Eins daraus wird, dann gebiert der Vater vom Himmelreich seinen eingeborenen Sohn in sich (zugleich) in mich. Warum in sich (zugleich)? Weil ich ja eins mit ihm bin, er kann mich nicht ausschließen, und in diesem Werke empfängt der Heilige Geist sein Sein und sein Werden von mir ebenso wie von Gott! Warum? Weil ich (ja doch) in Gott bin. Empfängt er (d.h. der Heilige Geist) es nicht von mir, so empfängt er es auch von Gott nicht; er kann mich nicht ausschließen, in gar keiner Weise.“

Der Heilige Geist fließt also als Liebe aus Vater und Sohn durch die Geburt Christi in die Seele des Menschen, wodurch die gnadenhafte Gleichheit zwischen Gott und Mensch Wirklichkeit bleibt, doch gleichzeitig fließt sie wieder in den göttlichen Ursprung zurück. Auf diese Art liebt der Mensch mit der Liebe, mit der Gott sich selbst liebt, und er gibt sie Gott zurück und an die Schöpfung weiter. Der Mensch partizipiert somit an der göttlichen Liebe, die mit der Liebe im herkömmlichen Sinne – d.h. der Liebe als Seelenvermögen – nicht gleichgesetzt werden darf, denn diese Liebe übersteigt jede natürliche Liebe und auch die Vernunft als Seelenvermögen.504

In der Gottesgeburt, durch den Einfluss und Rückfluss der göttlichen Liebe, wird der Mensch eins mit dem einen Gott, der sich trinitarisch entfaltet.

„Dâ ist ûzvluz und ursprunc des heiligen geistes, von dem aleine, alsam er gotes geist und geist got selber ist, enpfangen wirt der sun in uns, und ist ûzfluz von allen den, die gotes süne sint, nâch gote und in gote überbildet und entriuwet aller menge, der man doch und noch vindet in den obersten engeln natiurliche, noch, der ez wol bekennen wil, entriuwet der güete, der wârheit und allem dem, daz, joch in einem gedanke und in einem namen aleine, einen wân oder einen schaten keines underscheides lîdet, und getriuwet dem einen, blôz allerleie menge und underscheides, in dem ouch verliuset und wirt entbloezet aller underscheide und eigenschaft und ist ein und sint ouch ein got-vater-sun-und-heiliger-geist. Und daz ein machet uns saelic.“505

„Da (d.h. in dem Einen) ist der Ausfluss und Ursprung des Heiligen Geistes, von dem allein, sofern er Gottes Geist und Gott selbst Geist ist, der Sohn in uns empfangen wird, und da ist auch dieser Ausfluss (des Heiligen Geistes) aus allen denen, die Gottes Söhne sind, je nachdem sie minder oder mehr rein nur von Gott allein geboren sind, nach Gott und in Gott überbildet und aller Menge entrückt, die man doch und selbst noch in den obersten Engeln ihrer Natur nach findet, ja selbst noch, will man´s recht erkennen, entrückt der Gutheit, der Wahrheit und allem dem, was, und, sei´s nur in Gedanken und in der Benennung, eine Ahnung oder einen Schatten irgendeines Unterschieds leidet, und anvertraut nur dem Einen, das frei ist von jederart Menge und Unterschied, in dem auch Gott-Vater-Sohn-und-Heiliger-Geist alle Unterschiede und Eigenschaften verliert und ihrer entblößt wird und Eins ist und sind. Und dieses Eine macht uns selig.“

Entscheidend bleibt dabei von Seiten des Menschen seine tatsächliche Beziehung zu Gott. Denn

„ie wir dem einen verrer sîn, ie minner wir süne und sun sîn und der heilge geist minner volkomenlîche in uns entspringet und von uns vliuzet; und dar nâch wir naeher sîn dem einen, dar nâch sîn wir waerlîcher gotes süne und sun und ouch vliuzet von uns got-der-heilige geist. ... Der sun in der gotheit nâch siner eigenschaft engibet niht anders dan sun-wesen, dan got-geborn-wesen, brunnen, ursprunc und ûzvluz des heiligen geistes, der minne gotes, und vollen, rehten, ganzen smak des einen, des himelschen vaters.“506

„je ferner wir dem Einen sind, um so weniger sind wir Söhne und Sohn, und um so weniger vollkommen entspringt in uns und fließt von uns aus der Heilige Geist; hingegen, je nachdem wir dem Einen näher sind, um so wahrhaftiger sind wir Gottes Söhne und Sohn und fließt auch Gott, der Heilige Geist von uns aus. ... Der Sohn in der Gottheit gibt seiner Eigenschaft gemäß nichts anderes als Sohn-Sein, als Gottgeboren-Sein, Quell, Ursprung und Ausfluss des Heiligen Geistes, der Liebe Gottes, und vollen, rechten, ganzen Geschmack des Einen, des himmlischen Vaters.“

Die Gottesgeburt ist als ein einziges dynamisches, immerwährendes Geschehen zu verstehen – „das ist ein Prozess und eine Dynamik, bis die Ruhe sich aus dem Einswerden ergibt“507 –, das seinen Ursprung in der innertrinitarischen Geburt des Sohnes aus dem Vater hat und im Wesen Gottes begründet liegt, sich trinitarisch an Mensch und Schöpfung mitzuteilen.508 Der Mensch ist Gott gleich, insofern er die Einladung zur Verbindung mit dem sich durch sein Wort (Christus) mitteilenden Gott annimmt, und Jesus Christus in der Seele des Menschen (dauernd) geboren wird und der Heilige Geist (die göttliche Liebe) in ihn einfließt, aber gleichzeitig zu Gott zurückfließt und dabei auch die übrige Schöpfung mit einbezieht. Das Werden und Wirken Gottes ist somit eins im Menschen.509 Der Mensch lebt nun in und aus der Liebe, mit der Gott sich selbst liebt, und in diesem Sinne ist der Mensch Gott; er ist eins mit dem Sein Gottes, ohne Unterschied:

„Dar umbe ist der himelische vater waerlîche mîn vater, wan ich sîn sun bin und allez daz von im hân, und ich der selbe sun bin und niht ein ander. Wan der vater éin werk würket, dar umbe würket er mich sinen eingebornen sun âne allen underscheit.“510

„Darum ist der himmlische Vater in Wahrheit mein Vater, denn ich bin sein Sohn und habe alles das von ihm, was ich habe, und bin derselbe Sohn und nicht ein anderer. Weil der Vater (nur) ein Werk wirkt, darum wirkt er mich als seinen eingeborenen Sohn ohne jeden Unterschied.“

Gottesgeburt – Einheit mit Gott – bedeutet von dorther „Einheit als Wirkeinheit“511:

„Aber zwischen dem menschen und gote enist (niht) aleine niht underscheit, sunder da enist ouch kein menige; dâ enist niht wan ein. ... Daz er ein wizzen hât mit gotes wizzenne und ein würken hât mit gotes würkenne und ein bekennen mit gotes bekennenn.“512

„Zwischem jenem Menschen und Gott jedoch gibt es nicht nur keinen Unterschied, sondern da gibt es auch keine Menge, da gibt es nichts als Eines. ... Dass er ein Wissen hat mit Gottes Wissen und ein Wirken hat mit Gottes Wirken und ein Erkennen Gottes mit Gottes Erkennen.“

Die Wirkeinheit mit Gott jedoch setzt eine positive Weltzugewandtheit voraus und keine Weltflucht513: „Diz enmac der mensche niht gelernen mit vliehenne, daz er diu dinc vliuhet“514 („Dies kann der Mensch nicht durch Fliehen lernen, indem er vor den Dingen flüchtet“), sondern er soll lernen, „diu dinc durchbrechen und sînen got dar inne nehmen und den krefticlîche in sich künnen erbilden in einer wesenlîchen wîse“515 („die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen und den kraftvoll in einer wesenhaften Weise in sich hineinbilden zu können“).

Wenn der Mensch eins mit Gott ist, ist er in die Einheit des einen und dreifaltigen Gottes eingegangen, wobei der Eine, der allem Irdischen entzogene Gott als Gottheit bezeichnet wird, während der sich dreifaltig mitteilende Gott Gott genannt wird. In dieser Vereinigung aber sind Gott und Gottheit eins, so dass die Einung mit dem Sohn, in der sich die Gleichheit mit Gott ausdrückt, durch die Einung mit der Gottheit überschritten wird. Somit hat die Seele die Form der Gleichheit überschritten und ist eins geworden mit dem einen Gott, der als solcher nichts gleich ist.516

Was versteht nun Meister Eckhart konkret unter dem einen Gott? Und wie ist das Verhältnis zwischen Einheit und Trinität zu verstehen?

II. Esse est Deus517Sein und Denken im einen und dreifaltigen Gott

Meister Eckhart orientiert sich an der negativen Theologie Dionysius´ des Areopagiten: Gott ist ein ewiges Nichts, über das nichts gesagt werden und dem kein Namen gegeben werden kann.518 Diese von Proklos geprägte Theologie dürfen wir nicht außer Acht lassen, wenn wir Eckharts Gottesverständnis betrachten. Dieses lässt sich in drei Phasen einteilen, die jedoch als eine Entwicklungslinie aufgefasst werden müssen.519

In der ersten Phase fasst Eckhart Gott als das Sein auf.520 Davon zeugt z.B. die Spiritualität seiner „Rede der underscheidunge“521 („Reden der Unterweisung“), die zwischen 1294 und 1298 in Erfurt entstanden ist und der Unterweisung des Ordensnachwuchses diente.522 Damals war Eckhart Prior des Erfurter Klosters. Als solcher fordert Eckhart seine Novizen auf, die eigene Kreatürlichkeit und alle Dinge zu durchbrechen, um vom wahren Sein Gottes erfüllt zu werden:

„Er muoz lernen diuz dinc durchbrechen und sînen got dar inne nemen und den krefticlîche in sich künnen erbilden in einer wesenlîchen wîse.“523

„Er muss lernen, die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen und den kraftvoll in einer wesenhaften Weise in sich hineinbilden zu können.“

Denn wer Gott „in wesene hât, der nimet got götlîchen“524 („im Wesen [d.h. im Sein] hat, der nimmt Gott göttlich“). Wer Gott dagegen nur in der Kreatur oder in den Gedanken der Menschen sucht, der „enhât got niht“525 („hat Gott nicht“):

„Der mensche ensol niht haben noch im lâzen genüegen mit einem gedâhten gote, wan, swenne der gedank vergât, sô vergât ouch got. Mêr: man sol haben einen gewesenden got, der verre ist obe den gedenken des menschen und aller crêature. Dér got envergât niht.“526

“Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur. Der Gott vergeht nicht.“

Eckhart unterscheidet zwischen Gott, den der Mensch mittels seiner natürlichen Vernunft erkennen kann, und Gott in seinem reinen Sein. Doch auf die „Erkenntnis“ Gottes in seinem Sein kommt es an. Denn alles Seiende erhält sein Sein von Gott, auch der Mensch. Deshalb soll sich der Mensch mit Gott in seinem Sein verbinden. Auch die Werke des Menschen sind nur, insofern sie in Gott gründen und somit Gott sind:

„Swie heilic diu werk iemer sîn, sô enheiligent sie uns zemâle niht, als verre sie werk sint, mêr: als verre als wir heilic sîn und wesen hân, als verre heiligen wir alliu unsriu werk, ez sî slâfen, wachen oder swaz daz sî. ... Hie merke, daz man allen vlîz sol dar ûf legen, daz man guot sî, niht als vil, waz man getuo oder welherleie geslehte diu werk sîn, sunder, wie der grunt der werke sî.“527

„Nicht gedenke man Heiligkeit zu gründen auf ein Tun; man soll Heiligkeit vielmehr gründen auf ein Sein, denn die Werke heiligen nicht uns, sondern wir sollen die Werke heiligen. Wie heilig die Werke immer sein mögen, so heiligen sie uns ganz und gar nicht, soweit sie Werke sind, sondern: soweit wir heilig sind und Sein besitzen, soweit heiligen wir alle unsere Werke, es sei Essen, Schlafen, Wachen oder was immer es sei. ... Erkenne hieraus, dass man allen Fleiß darauf verwenden soll, gut zu sein, - nicht aber so sehr darauf, was man tue oder welcher Art die Werke seien, sondern wie der Grund der Werke sei.“

Der Grund aller Werke aber ist Gott – ist sein Sein.528 Wer gut sein will, der muss sich zuallererst Gott anhaften, denn „sô henket er dir alle güete ane“529 („so hängt er dir alles Gutsein an“). „Der gote anehaftet, dem haftet got ane und alliu tugent“530 („Wer Gott anhaftet, dem haftet Gott an und alle Tugend“). Über das Verhältnis zwischen dem Guten zum Gutsein531, das Gott ist, schreibt Eckhart im „Buoch der goetlîchen troestunge“532 („Buch der göttlichen Tröstungen“):

„Allez, daz es guoten ist, daz nimet er beidiu von der güete und in der güete. Dâ ist und lebet und wonet er ... . Sô wir sprechen ´guot´, sô vernimet man, daz sîn güete ist im gegeben, ingevlozzen und îngeborn von der ungebornen güete.“533

„Alles, was zum Guten gehört, empfängt er von der Gutheit in der Gutheit. Dort ist und lebt und wohnt er ... . Wenn wir vom ‚Guten‘ sprechen, so versteht man dabei, dass sein Gutsein ihm gegeben, eingeflossen und eingeboren ist von der ungeborenen Gutheit.“

Die ungeborene Gutheit aber ist das Sein Gottes. Das Sein Gottes entspricht der Beziehung zwischen Vater und Sohn534:

„Allez, daz ich nû hân gesprochen von dem guoten und von der güete, daz ist ouch glîche von dem wâren und der wârheit, von dem gerehten und der gerehticheit, von dem wîsen und der wîsheit, von gotes sone und von gote dem vater, von allem dem, daz von gote geborn ist und daz niht enhât vater ûf ertrîche, in daz sich niht gebirt allez, daz geschaffen ist, allez, daz niht got enist, in dem kein bilde enist dan got blôz lûter aleine.“535

„Alles, was ich nun von dem Guten und von der Gutheit gesagt habe, das ist gleich wahr auch für den Wahren und die Wahrheit, für den Gerechten und die Gerechtigkeit, für den Weisen und die Weisheit, für Gottes Sohn und Gott den Vater, für alles, was geschaffen ist, was nicht Gott ist, in dem kein Bild ist als der bloße, lautere Gott allein.“

In der zweiten Phase nun – die der Quaestio Parisiensis (1302/03) – führt Meister Eckhart aus, dass nicht mehr das Sein Gottes primär zu betrachten sei, sondern das Erkennen in Gott, denn der Intellekt begründe erst das Sein – Deus est intellctus536:

„Tertio ostendo quod non ita videtur mihi modo, ut quia sit, ideo intelligat, sed quia intelligit, ideo est, ita quod deus est intellectus et intellegere et est ipsum intelligere fundamentum ipsius esse.“537

„Drittens zeige ich, dass ich nicht mehr der Meinung bin, dass Gott erkennt, weil er ist; sondern weil er erkennt, deshalb ist er, in der Weise, dass Gott Intellekt und Erkennen ist und das Erkennen selbst die Grundlage seines Seins ist.“

In seiner Begründung bezieht Eckhart sich auf Joh 1:

„Quia dicitur Ioh. 1: ‚in principio erat verbum, et verbum erat apud deum, et deus erat verbum.‘ Non autem dixit evangelista: ‚in principio erat ens et deus erat ens.’ Verbum autem se toto est ad intellctum et est ibi dicens vel dictum et non esse vel ens commixtum. Item dicit salvator Ioh. 14: ‚ego sum veritas.‘ Veritas autem ad intellctum pertinet.“538

„Denn Joh. 1,1 heißt es: ‚im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.‘ Nicht aber hat der Evangelist gesagt: ‚im Anfang war das Sein, und Gott war das Sein.‘ Das Wort aber ist seinem ganzen Wesen nach auf den Intellekt bezogen, und es ist dort als sprechendes oder als gesprochenes (Wort) und nicht als ein (aus Sein und Intellekt) gemischtes Sein oder Seiendes. Ferner sagt der Heiland: ´ich bin die Wahrheit´ (Joh. 14,6). Die Wahrheit aber gehört zum Intellekt.“

„ ‚In principio‘ enim ‚erat verbum‘, quod ad intellectum omnino pertinet, ut sic ipsum intelligere teneat primum gradum in perfectionibus, deinde ens vel esse.“539

„ ‚Im Anfang‘ nämlich ‚war das Wort‘, das ganz und gar zum Intellekt gehört, so dass eben das Erkennen die erste Stufe in der Rangordnung der Vollkommenheiten einnimmt, die nächste das Seiende oder das Sein.“

Der Intellekt – das Erkennen – ist höher als das Sein540:

„Sapientia autem, quae pertinet ad intellctum, hon habet rationem creabilis. ... Et ad ostendendum hoc assumo primo quod intelligere est altius quam esse et est alterius condicionis. Dicimus enim omnes quod opus naturae est opus intelligentiae. Et ideo omne movens est intelligens aut reducitur ad intelligentem, a quo in suo motu dirigitur. Et ideo habentia intellectum sunt perfectiora non habentibus, sicut in ipso fieri imperfecta tenent primum gradum, ita quod intellctu et intelligente stat resolutio sicut in summo et perfectissimo. Et ideo intelligere est altius quam esse.“541

„Die Weisheit aber, die zum Intellekt gehört, hat nicht die Wesensbestimmtheit des Erschaffbaren. ... Und um das zu zeigen, unterstelle ich erstens, dass das Erkennen höher ist als das Sein und einer anderen Schicht angehört. Wir sagen nämlich alle, dass das Werk der Natur das Werk eines intelligenten Wesens ist, und deshalb ist alles, was bewegt, intelligent oder lässt sich auf ein intelligentes Wesen zurückführen, von dem es in seiner Bewegung geleitet wird. Und deshalb sind die Wesen, die Intellekt haben, vollkommener als die, die keinen haben, wie in dem Werdeprozess das Unvollkommene die erste Stufe einnimmt, so dass die Untersuchung beim Intellekt und beim intelligenten Wesen als dem Höchsten und Vollkommensten haltmacht. Und deshalb ist das Erkennen höher als das Sein.“

Gott aber ist wesenhaft Intellekt, intellectus purus542: „Unitas sive unum videtur proprium et proprietas intellctus solius“543 („Die Einheit oder das Eine scheint das Eigentümliche und die Eigentümlichkeit des Intellekts alleine zu sein“). Deshalb ist Gott „purum intelligere“544 („reines Denken“), reines Erkennen545:

„Ubi signanter notandum est quod intellectus in deo maxime, et fortassis in ipso solo, utpote primo omnium principio, se toto intellectus est per essentiam, se toto purum intelligere. In ipso quidem idem est res et intellectus.“546

„Hier ist nun besonders hervorzuheben, dass der Verstand in Gott vor allem, und vielleicht in ihm allein, als dem ersten Ursprung von allem, ganz und gar wesenhaft Verstand ist, ganz und gar reines Denken. In ihm ist Wirklichkeit und Verstand dasselbe.“

Als intellectus purus unterscheidet sich Gott vom Intellekt des Menschen:

„Differt enim nostra scientia a scientia dei, quia scientia dei est causo rerum et scientia nostra est causata rebus. Et ideo cum scientia nostra cadat sub ente, a quo causatur, et ipsum ens paritatione cadit sub scientia dei; et ideo, quidquid est in deo, est super ipsum esse et est totum intelligere.“547

„Es unterscheidet sich nämlich unser Wissen vom Wissen Gottes, weil das Wissen Gottes Ursache der Dinge ist, während unser Wissen von den Dingen verursacht ist. Während deshalb unser Wissen ein Abfall vom Seienden ist, von dem es verursacht wird, ist das Seiende selbst aus dem gleichen Grunde ein Abfall vom Wissen Gottes, und deshalb liegt alles, was in Gott ist, über dem Sein selbst und ist ganz Erkennen.“

Als Intellectus schafft Gott Sein, doch steht er immer über dem Sein. Gott ist als Intellekt Ursprung und Prinzip des Seins bzw. Seienden – „puritas essendi“548 („Lauterkeit des Seins“)549. Als Prinzip des Seins ist Gott jedoch weder Sein noch Seiendes. Denn: „Quae ergo ad intellictum pertinet, in quantum huiusmodi, sunt non-entia“550 (“Was zum Intellekt gehört, ist als solches Nicht-seiendes“).551

„Ex his ostendo quod in deo non est ens nec esse, quia nihil est formaliter in causa et causato, si causa sit vera causa. Deus autem est causa omnis. Ergo esse formaliter est in deo. … Item: principium nunquam est principiatum, ut punctus nunquam est linea. Et ideo cum deus sit principium vel scilicet ipsius esse vel entis, deus non est ens vel esse creaturae; nihil quod est in creatura, est in deo nisi sicut in causa, et non est ibi formaliter“552

„Aus diesen Voraussetzungen zeige ich nun, dass in Gott kein Seiendes noch ein Sein ist. Denn nichts ist seinem Wesen nach in der Ursache und im Verursachten, vorausgesetzt, dass die Ursache eine wahre Ursache ist. Gott aber ist die Ursache alles Seins. Folglich ist das Sein seinem Wesen nach nicht in Gott. ... Ferner: das Prinzip ist niemals das aus dem Prinzip Abgeleitete, wie der Punkt niemals die Linie ist. Und deshalb, da Gott Prinzip ist, nämlich entweder des Seins oder des Seienden, so ist Gott nicht das Seiende oder das Sein des Geschöpfes. Alles, was im Geschöpf ist, ist in Gott nur wie in seiner Ursache und nicht seinem Wesen nach.“

In Gott ist also weder Seiendes noch ein Sein553: „Sic etiam dico quod deo non convenit esse nec est ens, sed est aliquid altius ente“554 („So sage ich denn auch, dass Gott das Sein nicht zukommt, und dass er kein Seiendes ist, sondern er ist etwas Höheres als das Seiende“). Diese Deutung gipfelt schließlich in Eckharts Aussage: „Got ist ein niht.“555 („Gott ist ein Nichts“).556 Aus dem Vorrang der Intellektualität Gottes ergibt sich auch die Priorität der Intellektualität für die Rückkehr des Menschen in Gott.557

Die Lehre von der Identität Gottes mit dem Intellekt führt Eckhart, der inhaltlich Dietrich folgt, im Kommentar zum Buch Genesis ausdrücklich, vermittelt durch Aristoteles´ De anima558, auf den Vorsokratiker Anaxagoras (+ 428 v. Chr.) zurück559:

„Principium omnium productorum naturalium est intellctus altior natura et omni creato, et hic deus, de quo proprie loquitur Anaxagoras ad litteram quod est separatus, immixtus, nulli nihil habens commune, ut discernat omnia.“560

„Der Ursprung alles in der Natur Hervorgebrachten ist der Intellekt, der höher ist als die Natur und alles Geschaffene. Das ist Gott, von dem Anaxagoras dem Wortlaut nach eigentlich spricht, wenn er sagt, er ist ‚abgeschieden‘, ‚unvermischt und hat mit nicht etwas gemein‘, um alles zu unterscheiden.“

In Anlehnung an Anaxagoras hebt Eckhart auch an anderer Stelle die „Unterschiedenheit des Intellekts von allem Seienden, seine Abgeschiedenheit und Reinheit“561 hervor:

„Intellectus in quantum intellctus, nihil est eorum quae intelligit, sed oportet quod sit ‚immixtus‘, ‚nulli nihil habens commune‘, ut omnia intelligat.“562

„Der Intellekt als Intellekt ist nichts von dem, was er erkennt, sondern er muss unvermischt sein, und darf mit nichts irgendetwas gemein haben, damit er alles erkennt.“

Anaxagoras und Aristoteles bestimmen den Intellekt negativ, indem sie sagen, was er nicht ist. Innerhalb einer Gotteslehre wie der Eckharts trägt diese Lehre Züge einer negativen Theologie (theologia negativa). Mit dieser negativen Bestimmung verweist Eckhart jedoch auf eine „Weite und Offenheit jenseits des Seienden und jenseits des Denkens.“563

Diese Offenheit und Weite wird von Eckhart im Begriff „nichts“ (nihil) zum Ausdruck gebracht564: „Intellectus, in quantum intellectus, nihil est, et per consequens nec intelligere est aliquod esse“565 („Der Intellekt, insofern er Intellekt ist, ist nichts, und folglich ist auch Erkennen nicht irgendein Sein“). Manstetten resümiert:

„Es ist die Größe der griechischen Denker, in ihrer Intellekttheorie diesen Zug ins Offene, der allem wahrhaften Erkennen eigen ist, gesehen zu haben. Wer diesem Zug konsequent folgt, wird am Ende in allem Erkennen dieses Nichts finden, das für Eckhart die Intention aller Intellekttheorien der Griechen war und doch von ihnen so nicht ausgesprochen wurde. Wer aber vom Intellekt her das Seiende in seinem Sein zu begreifen sucht, wird dasselbe Nichts, das die Unbegrenztheit des intellectus anzeigt, auch im Sein wiederfinden.“566

Meister Eckhart entwickelt die Intellekttheorie des Anaxagoras weiter. Einen neuen und eigenen Akzent setzt Eckhart, wenn er gegen Dietrich, für den der tätige Intellekt (intellectus agens) das höchste im Menschen ist567, den möglichen Intellekt (intellectus possibilis) als das Entscheidendste im Menschen hervorhebt:

„Ez ist diu wesentliche vernünfticheit gotes, der diu lûter blôz kraft ist intellectus, daz die meister heizent ein enpfenglîchez.“568

„Dies ist die wesenhafte (seiende) Vernunft Gottes, die die lautere, reine Kraft intellectus ist, die die Meister ein ‚Empfängliches‘ nennen.“

Das Tun des intellectus besteht darin, zu erkennen. Doch ist dieses Erkennen keine Tätigkeit im eigentlichen Sinne; der Intellekt ist nicht das Vermögen des diskursiven Denkens. Der Intellekt ist reine Empfänglichkeit. Darüber hinaus sieht Meister Eckhart den intellectus „als Ermöglichung der Vermittlung des Menschen mit seinem Grund. Dies geschieht in der personalen Dynamik der Begegnung von Gott und Mensch, die Judentum und Christentum hervorheben.“569 Mit den griechischen Philosophen teilt Eckhart den Gedanken, dass Gottes Leben das höchste ist und sich abgeschieden als Erkennen des Erkennens vollzieht:

„Als der ander meister sprach, daz got ist ein vernünfticheit, diu dâ lebet in sîn aleines bekantnisse, in im selber alein blîbende, dâ in nie niht engeruorte, wan der aleine dâ ist in sîner stilheit. Got in sîn selbes bekantnisse bekennet sich selben in im selben.“570

„Wie jener andere Meister sagte: Gott sei eine Vernunft, die da lebt im Erkennen einzig ihrer selbst, nur in sich selbst verharrend dort, wo ihn nie etwas berührt hat; denn da ist er allein in seiner Stille. Gott erkennt im Erkennen seiner selbst sich selbst in sich selbst.“

Das Wesen Gottes ist das Erkennen seiner selbst, denn Gott ist „ein lebende, wesende, istige vernünfticheit, diu sich selber verstât und ist und lebet selber in ir selber und ist daz selbe“571 („eine lebendige, wesenhafte, seiende Vernunft, die sich selbst begreift und selbst in sich lebt und dasselbe ist“). Diese Selbsterkenntnis nennt Eckhart die „Freude des Herrn“, d.h. sie ist von Freude und Lust geprägt.572 Die Freude der göttlichen Selbsterkenntnis haucht Gott dem Menschen ein und macht dadurch empfänglich, Gott zu erkennen:

„Sic ergo quia intellectus quem deus inspirat, est, quo deum vidimus et quo deus nos videt, apte dicitur deus inspirasse in faciem hominis.“573

„Weil also der Intellekt, den Gott einhaucht, es ist, womit wir Gott sehen und womit Gott uns sieht, heißt es treffend, Gott habe ihn den Menschen ins Antlitz geblasen.“

Wenn der Mensch also dazu in der Lage ist, Gott zu erkennen, dann ist es nicht der Mensch selbst, der aufgrund seiner ihm eigenen Fähigkeiten Gott zu erkennen vermag, sondern es ist Gott selbst, der sich „durch Einhauchung des Intellekts in den Menschen selber in der Empfänglichkeit des Menschen“574 erkennt. Die Erkenntnis Gottes in Gott teilt sich dem Menschen mit: „Das Erkennen des Erkennens nimmt also seinen Weg durch den Menschen.“575 Deshalb kann man sagen, dass sich Gott und Mensch durch einen identischen Intellekt erkennen. Meister Eckhart greift hier einen spezifisch christlichen Gedanken aus dem ersten Korintherbrief (1 Kor 13,12) auf: „Dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ 576 Fassen wir zusammen:

„Die Momente des Vermögens, wodurch ich erkenne und von Gott erkannt bin, des intellectus, hat Anaxagoras präzise bestimmt. Die Struktur dieses Vermögens, nämlich reine Tätigkeit als Erkennen des Erkennens zu sein, hat Aristoteles herausgearbeitet. Die Bedeutung dieses Vermögens aber blieb beiden verborgen. Sie besteht darin, dass Gott, der als reiner Intellekt genau die von Anaxagoras genannten Eigenschaften hat, als Ich, als Selbst-Sein, dem Menschen begegnet und ihn in sein eigenes Selbst-Sein aufnimmt bzw. ihn qua Intellekt immer schon aufgenommen hat.“577

Gott ist also erkennendes Erkennen seiner selbst, und er teilt, wie Eckhart lehrt, dieses Erkennenkönnen mit. Doch wie geschieht das konkret? Wie teilt sich Gott mit, da er ja nach Lehre des Anaxagoras und Aristoteles in sich selbst ruht?