Viertes Kapitel

Heinrich Seuse – Meister Eckharts theologisch-mystische Positionen im „Büchlein der Wahrheit“

Eine große Hilfe zum Verständnis von Meister Eckharts Denken finden wir bei Heinrich Seuse (ca. 1295 – 1366).819 Seuse, ebenfalls ein Dominikaner, ist ein Zeitgenosse Taulers. Beide pflegten u.a. Kontakte zu den „Gottesfreunden“ am Oberrhein. Und beide folgten in ihrem Denken Meister Eckhart.

Heinrich Seuse reagiert in seinem Werk „das Büchlein der Wahrheit“820 auf die Verurteilung Meister Eckharts durch die päpstliche Bulle „In agro dominico“821 (1329) und verteidigt darin die theologischen und mystischen Positionen des Meisters gegen den Vorwurf der Freigeistigkeit.822 Das „Büchlein der Wahrheit“ bietet in erster Linie

„eine Interpretation gerade der schwierigen, verurteilten Sätze Eckharts mit dem Ziel, Missinterpretationen auszuschließen ... und in zweiter Linie (gewissermaßen als Nebenfolge) auch die der Sekte der ´Brüder des freien Geistes.“823

Wir müssen Heinrich Seuse also im Kontext der religiösen Bewegungen als auch der philosophisch-theologischen Debatten der 1330er Jahre in Deutschland sehen. Seuse hat in seinem Werk das Gedankengut Meister Eckharts präzisiert, darüber hinaus aber auch in den eigenen Kontext seines Denkens eingepasst und transformiert.824 Entscheidend ist für uns, dass wir über Seuse nicht nur Meister Eckharts Denken besser verstehen können, sondern auch Tauler, der wie Seuse von Eckharts Theologie und Philosophie beeinflusst worden ist und der dessen Denken in einen „konkreten Alltagskontext hinein gedeutet“825 hat.826

Über das Leben des Seligen Heinrich Seuse wissen wir besser Bescheid als über Meister Eckhart oder Johannes Tauler, denn Seuses geistliche Tochter Elisabeth Stagel827 bearbeitete eine geistliche Biographie – die „Vita“.828 Heinrich Seuse wurde ca. 1295 am Bodensee geboren. Mit ungefähr 13 Jahren trat er in Konstanz in das Dominikanerkloster ein. Frühe Ekstasen weckten in ihm die Sehnsucht, „Diener der ewigen Weisheit“ zu werden nach dem Vorbild ritterlicher Minne. Um immer mehr mit der göttlichen Weisheit, Christus, eins zu werden, führte Seuse viele Jahrzehnte ein hartes und strenges aszetisches Leben. Er studierte in Konstanz, Straßburg und Köln Philosophie und Theologie. In Köln lernte er Meister Eckhart kennen, der ihn auch geistlich begleitete. In Konstanz wurde Seuse schließlich Lektor der Theologie. Nach Eckharts Verurteilung (1329) stellte sich Seuse auf dessen Seite und verteidigte Eckhart im „Buch der Wahrheit“. Dies blieb nicht ohne Folgen für Seuse. 1330 musste er sich gegen den Vorwurf der Ketzerei verteidigen.829 Er wurde gemaßregelt, was zur Folge hatte, dass er nicht mehr als Lektor der Theologie wirken durfte. Von nun an widmete sich Seuse der Seelsorge in der Schweiz und am Oberrhein in Süddeutschland. Er pflegte mit Johannes Tauler Kontakt zu den Gottesfreunden am Oberrhein, einer an Mystik interessierten Gruppe aus Laien und Klerikern. Er wurde Beichtvater und Spiritual für viele Dominikanerinnenklöster. In Dießenhofen war Seuse einige Jahre Prior, bis er dort Opfer einer Verleumdungskampagne wurde, die sich später als haltlos erwies.830 Dennoch versetzte ihn sein Oberer nach Ulm (1348), wo er bis zu seinem Tod als Seelsorger und Prediger seinen Dienst tat.

Anders als Meister Eckhart und Johannes Tauler war Heinrich Seuse als Schriftsteller tätig, weshalb sein Werk weniger aus Predigten als aus seinen verfassten Schriften besteht. Nach seinem „Buch der Wahrheit“ schrieb Seuse das „Buch der Ewigen Weisheit“, ein Zwiegespräch zwischen Christus und seinem Diener, in welchem das Leiden Christi im Mittelpunkt steht. Die Betrachtung des Leidens soll zu einer tieferen Andacht anleiten. In seinen letzten Lebensjahren stellte Seuse aus seinen vier Hauptschriften (Vita, Buch der ewigen Weisheit, Buch der ewigen Wahrheit und Briefbuch), das Exemplar831, d.h. eine Gesamtausgabe zusammen.

Das „Büchlein der Wahrheit“ ist Seuses erstes bekanntes Werk.832 In diesem Buch

„verteidigte Seuse nicht nur Eckhart gegen die 1329 verhängte Verurteilung, sondern stellte auch seine eigene philosophische Lehre über Gott, über die Welt und über den Sinn des menschlichen Lebens (d.h. seine Anthropologie) dar.“833

Grundthema des Buches ist Meister Eckharts Begriff der Gelassenheit, durch welche die „nehste warheit“834 („höchste Wahrheit“) erlangt werden kann.835 Die Gelassenheit ist im „Büchlein“ eng mit der Vernunft verknüpft836:

„Die entscheidenden Merkmale der rechten Gelassenheit sind guetú vernúnftigú bilde und vernunftig sinne (327,16-18), das heißt Bilder und Gedanken, die der Sphäre der Vernunft angehören und gerade aufgrund des richtigen Gebrauchs der Vernunft mit der Wahrheit (Wort Gottes und Lehre der Kirche) in Einklang sind.“837

Das „Büchlein der Wahrheit“ möchte lehren, was unter der wahren Gelassenheit zu verstehen ist, um diese zugleich von der falschen Gelassenheit zu unterscheiden und von der Häresie – etwa der der „freien Geister“ – abzugrenzen.

Seuses „Büchlein der Wahrheit“ beginnt mit einer Erzählung: Ein frommer Christ – Seuse selbst? – hatte seit seiner Jugend ein spirituellgeistliches Leben geführt und sich äußeren Frömmigkeitsübungen gewidmet. Jetzt aber war er mit diesem Leben unzufrieden, ohne recht zu wissen warum. Eines Tages schließlich kam ihm in einer „inker“838 („inneren Einkehr [Versenkung]“)839, in der er „wart getriben zuo im selber“840 („zu sich selbst geführt wurde“), zu Bewusstsein:

„ ‚Du solt wissen, daz inrlichú gelazenheit bringet den menschen zu der nehsten warheit‘.“841

„ ‚Du sollst wissen, dass innere Gelassenheit den Menschen zur höchsten Wahrheit führt‘.“

Dieser Begriff der „inneren Gelassenheit“ ließ ihn nicht mehr los, obwohl er ihn nicht verstand.842 Da aber wurde ihm vorgeworfen, „in dem schine des selben bildes verborgen legi valscher grunt ungeordenter friheit“843 („unter der Gestalt eben dieses Bildes verberge sich der falsche Grund ungezügelter Freiheit“), das Gedankengut der „freien Geister“.844 Darüber erschrak der fromme Christ derart, dass er längere Zeit nicht mehr darüber nachdachte. Schließlich aber leuchtete ihm ein – „ein kreftiger inschlag“845 („eine tiefe Entrückung“) wurde ihm zuteil und die „luhte in im von gotlicher warheit“846 („göttliche Wahrheit erleuchtete ihn)“ –, dass er sich von jenen Reden nicht verunsichern lassen solle.847 Denn das Böse verbirgt sich immer auch hinter dem Guten. So dachte er in sich: „gutú vernúnftigú bilde“848 („gute verständige Vorstellungen“) bzw. „vernunftig sinne“849 („vernünftige Gedanken“) darf man nicht einfach verwerfen, bloß weil sie Anlass zu Missbräuchen gegeben haben, denn sie können zur Vervollkommnung eines christlichen Lebens, d.h. zur Anerkennung des göttlichen Wesens und zur Erkenntnis von der Nichtigkeit der Dinge beitragen, sofern sie sich „underwúrfliche haltent nach meinunge der heiligen kristenheit“850 („der Auffassung des heiligen Glaubens der Christenheit unterwürfen“).851 Deshalb bat der fromme Christ die ewige Wahrheit, d.h. Gott, „daz sú im guten underscheid gebi, als verre es muglich were, enzwúschent dien menschen, die da zilent uf ordenlicher einvaltikeit, und etlichen, die da zilent, als man seit, uf ungeordenter friheit, und in dar inne bewisti, weles weri ein rechtú gelazenheit, mit der er kemi, da er hin solte.“852

„sie möge ihm, soweit möglich, gut unterscheiden helfen zwischen den Menschen, die nach wirklicher Einfalt strebten, und solchen, die, wie man sagt, einer ordnungswidrigen Freiheit nachgehen; auch möge sie ihn belehren, worin rechte Gelassenheit bestehe, mit der er dahin kommen könne, wohin er solle.“853

Und plötzlich wurde ihm klar, dass ihm die Antwort „nach der wise einer usgeleiten bischaft“854 („unter der Form einer ausgedeutenden Belehrung“) gegeben wurde, in einem Dialog zwischen einem fragenden Jünger und der antwortenden „ewigen Wahrheit“. Dabei wird er sich an die Botschaft der Heiligen Schrift halten, „us der dú ewig warheit redet“855 („aus der die ewige Wahrheit redet“). In der Heiligen Schrift856 finde er darüber hinaus alles, was die allergelehrtesten und im geistlichen Leben erfahrensten Menschen über die Gelassenheit gesagt haben und „waz dú heilig kristenheit dur von hielti“857 („was der heilige Christenglaube darunter versteht“). Auf diese Weise ist gewährleistet, dass er nicht von der sicheren Wahrheit abweiche. Seuse erkannte,

„dass es auf ein Doppeltes ankam: 1. Eckharts Lehre vom vollkommenen Leben in unangreifbarer Weise darzulegen und 2. sie gegen die Irrlehren der Zeit, besonders gegen das häretische Begardentum der ‚Brüder des freien Geistes‘, ‚mit guter Unterscheidung‘ deutlich abzugrenzen.“858

Die ersten vier Kapitel des Buches bilden das theologische Fundament der Lehre von der Gelassenheit859, Kapitel fünf und sieben stellen sodann die eigentliche Lehre dar, während das dazwischengeschobene sechste Kapitel der Abgrenzung vom freigeistigen Gedankengut dient.860

I. Vom „namenlosen“ Gott

Im ersten Kapitel – „Wie ein gelazener mensche beginnet und endet in einikeite“861 („Wie ein gelassener Mensch beginnt und endet in Einheit“) – geht es nicht, wie man aufgrund der Kapitelüberschrift vielleicht erwarten würde, um die geschaffene Welt und um den Menschen, sondern um Gottes Einheit. Denn der Ursprung und die Bestimmung des Menschen gipfelt in der Erkenntnis vom „grundlosen und namenlosen Gott“, von Gottes Nichts-Sein: Unter den gelehrten Meistern herrsche Einverständnis darin,

„daz neiswaz ist, daz úberal daz erste ist und daz einveltigest und vor dem nút enist. ... Dar umb so ist kund allen wolgelerten pfaffen, daz daz wiselos wesen och namelos ist. ... wan waz man ime des in solicher wise zu leit, daz ist alles in etlicher wise falsch, und ire loggenunge ist war. Und us dem so mohte man ime sprechen ein ewiges niht.“862

„dass es etwas gibt, das über allem das Erste und Einfachste ist und vor dem nichts ist. ... Darum sind alle gelehrten Geistlichen darin einig, dass eben dieses Wesen, das keine genauere Weise hat, ohne Namen ist. ... Denn, was man von ihm in solcher Weise aussagt, ist alles in gewisser Weise falsch, und seine Verneinung ist wahr. Und so gesehen, möchte man ihn ein ewiges Nichts nennen.“

Zur Absicherung zitiert Seuse Pseudo-Dionysius Areopagita, dessen negative Theologie, derzufolge Gott ein „Nichts“ sei, da man nichts über ihn sagen könne, was zum christlichen Traditionsgut gehört:

„Nu hat dis grundelos wesen Dionysius in siner blozheit an gesehen und sprichet daz und och ander lerer, daz daz einveltig, von dem geseit ist, mit allen namen blibet alzemale ungenemmet; und wan als da stat an der kunst Loyca, der name solti us sprechen die nature und redelicheit des genemten dinges. Nu ist daz kuntlich, daz des vor genanten einveltigen wesennes natur endelos und ungemessen ist und unbegriffen aller kreatúrlicher vernúnftikeit. ... Und dar umb sprichet Dionysius in dem buoche von den goetlichen namen, daz got si nitwesen oder ein niht, und daz ist ze verstenne nach allem deme wesenne und ihte, daz wir ime mugen nahc kreaturlicher wise zuo gelegen.“863

„Nun hat Dionysius dieses ursprungslose Wesen unverhüllt angeschaut und sagt dazu – ebenso wie andere Lehrer –, dass das Einfache, von dem die Rede ist, mit allen Namen letztlich ungenannt bleibt. Denn wie man aus der Logik weiß, muss der Name die Natur und die Definition des benannten Dinges ausdrücken. Es ist nun aber bekannt, dass die Natur des genannten einfachen Seins endlos, unermesslich und unbegreiflich für alles kreatürliche Denken ist. ... Und darum sagt Dionysius in dem Buch ‚Von den göttlichen Namen‘, Gott sei ein ‚Nichtsein‘ oder ein ‚Nichts‘, und das ist in Bezug auf alles Sein und jedes bestimmte Etwas zu verstehen, das wir ihm nach kreatürlicher Weise zulegen können.“

Wer in dieses „Nichts“ einkehrt, d.h. in die „ewigen ungeschaffen warheit“864 („ewige ungeschaffene Wahrheit“), der wird ein gelassener Mensch, denn „hie beginnet und endet ein gelazener mensche“865 („hier beginnt und endet ein gelassener Mensch“).

Seuse bleibt jedoch nicht bei dieser „negativen Theologie“, sondern wechselt zu einer positiven:

„Aber doch, so man von eime dinge reden sol, wie úbertreffenlich ald úbermerklich es ist, so muoz man im etwas namen schepfen.“866

„Andererseits, will man von etwas sprechen, wie erhaben und über alles Verstehen es ist, so muss man ihm irgendeinen Namen geben.“

Den „Namen“ dieser „stiller einveltikeit“867 („stillen Einfachheit“) bestimmt Seuse sodann mit Zitaten aus Eckharts Predigten868:

„Es ist ein lebendú, wesendú, istigú vernúnftikeit, daz sich selber verstat und ist und lebt selber in im selber und ist daz selb.“869

„Es ist eine lebende, wesende, seiende Vernunft, die sich selbst begreift und selbst in sich selbst lebt und ist und dasselbe ist.“

II. Vom dreieinigen Gott

Das zweite Kapitel870 – in welchem das Gespräch zwischen dem „Jünger“ und der „Wahrheit“ beginnt – handelt über den Unterschied zwischen Gott und Gottheit; es geht dabei um die Einheit, Einfachheit und gleichzeitige Verschiedenheit in Gott.

Der „Jünger“ wundert sich, dass man Gott Weisheit, Güte und Gerechtigkeit zuschreibt, so wie es der Glaube an die Dreifaltigkeit Gottes ja lehrt, was jedoch der Einheit Gottes und dessen Namenlosigkeit widerspricht871: „Wie mag es als gar ein blozes ein sin, da so vil menigkeit ist“872 („Wie aber kann es nichts als ein Eins sein, da es solche Vielfalt besitzt“)?

Die „Wahrheit“ antwortet: Alle „menigheit“873 („Vielheit“) ist im „grunde und in dem bodme“874 („Grund und Boden“) der Gottheit eine „einveltigú einikeit“875 („einfache Einheit“):

„Und in disem grundelosen abgrúnde siget dú driheit der personen in ire einikeit, und ellú mengi wirt da ir selbs entsetzet in etlicher wise. Da ist och nach dieser wise ze nemenne nút froemdes werkes, denne ein stillú inswebende dúnsterheit.“876

„Und in diesem Grund, dem abgründigen, sinkt die Dreiheit der Personen in ihre Einheit, und jede Mannigfaltigkeit geht da ihres Selbst in gewisser Weise verlustig. Da findet, wenn man es so versteht, nicht fremdes Wirken statt, sondern es ist eine stille, in sich ruhende Dunkelheit.“

Mit dieser in sich ruhenden Dunkelheit begründen die „freien Geister“, warum sie jegliches Wirken in der Welt ablehnen. Seuse aber will zeigen, dass zu Gottes Wesen auch das Wirken gehört. So fragt der „Jünger“ weiter, indem er auf die „Anderheit“ Gottes zu sprechen kommt, was nun in Gott den „ersten usblik“877 („ersten Antrieb“) gibt, „ze werke“878 (“zu wirken), das ein „geberen“879 („Gebären“) ist. Die Antwort lautet: Es ist die „vermugendú kraft“880 („vermögende Kraft“) des Vaters, die „goetlich natur in dem vatter“881 („göttliche Natur im Vater“), die wirkt und gebiert. Die beiden anderen trinitarischen Personen erwähnt die „Wahrheit“ nicht, besser: „sie sind im Wirken des Vaters mit ausgesagt.“882

Zur „Anderheit“ gehört auch der Unterschied zwischen Gott und Gottheit, was allerdings eine „bezeichnunge nach nemlicheit der vernunft“883 („Bezeichnung gemäß unserer Vernunft“) ist und „nicht einem Seinsgesetz in Gott selbst entspricht.“884

„Ja, gotheit und got ist eins, und doch so wúrket noch gebirt gotheit nit, aber got gebirt und wúrket. ... Aber es ist eins in dem grunde.“885

„Ja, Gottheit und Gott sind eins, aber dennoch wirkt und gebiert die Gottheit nicht, wohl aber Gott. ... Aber im Grunde ist es eins.“

Die „göttliche Natur“ besteht nur aus dem „Wesen“ und aus den göttlichen Personen bzw. Relationen, den „widertragenden eigenschefte“886 („zurückbeziehenden Eigenschaften“).887 Diese jedoch fügen „zu dem wesenne“888 („dem Wesen“) nichts hinzu, haben aber „underscheid“889 („Unterschiedenheit“) von dem, worauf sie sich beziehen. Es gilt also: „Die göttlichen Personen sind eins im Wesen, voneinander aber unterschieden durch ihre Beziehungen.“890

Am Ende des Kapitels sichert sich Seuse gegen mögliche Missverständnisse ab, indem er betont:

„Wan goetlichú nature nach dem selben grunde ze nemenne ist nihteznit einveltiger an ir selb, denne der vatter in der selben nature genomen, ald kein andrú persone. Du bist allein in der inbildunge betrogen, dú daz an bliket nach der wise, als es in der kreature ist in getragen.“891

„Die göttliche Natur, nach ihrem eigenen Grund betrachtet, ist in sich in keiner Weise einfacher als der Vater, in seiner Natur betrachtet, oder eine andere Person. Du bist nur durch die Art deines Denkens getäuscht, die das in der Weise betrachtet, wie es kreatürlich wahrgenommen wird.“

III. Vom Schöpfergott und vom Dasein der Geschöpfe in Gott

Kapitel drei892 – „Wie sich der mensche und alle kreaturen ewklich haben gehalten, und von irem gewordenlichen usbruche“893 („Wie der Mensch und alle Geschöpfe von Ewigkeit her in Gott waren und wie sie von da ihren Ausgang genommen“) – behandelt die Beziehung zwischen Gott und der Schöpfung:

„Auch hier geht es wieder um eine Frage der ‚Mannigfaltigkeit‘ in Gott. Und auch hier betrifft sie wieder ein der ganzen Tradition geläufiges Thema, zudem ein Lieblingsthema Meister Eckharts: Die Lehre vom doppelten Sein der Dinge, die sogenannte christliche Ideenlehre, derzufolge man seit Augustinus die platonischen Ideen als Urbilder der geschaffenen Welt im Geiste Gottes verstand.“894

Mensch und Schöpfung haben ihre Heimat in Gott: „Sú sint da gesin als in irem ewigen exemplar.“895 („Sie sind dort gewesen wie in ihrem ewigen Vorbild“), das ist Gottes „ewiges wesen“896 („ewiges Wesen“). Gott ist also Ursprung und Ziel der Schöpfung:

„Und merke, daz alle kreaturen ewklich in gotte sint got und hein da enkeinengruntlichen underscheid gehebt, denn als gesprochen ist. Sú sint daz selb leben, wesen und vermúgen, als verre sú gotte sint, und sint daz selb ein und nit minnre.“897

„Und merke: Alle Geschöpfe sind von aller Ewigkeit her Gott in Gott und besaßen dort von Grund auf keinen anderen Unterschied als den, von dem gesprochen wurde. Sie sind dasselbe Leben, Wesen und Vermögen, insofern sie in Gott sind und sind dasselbe Eine und nicht weniger.“

Vor ihrer Erschaffung sind die Geschöpfe in Gott; sie sind eins mit ihm.898 Diesem unerschaffenen ursprünglichen Sein steht infolge der Schöpfung die nach Gott gestaltete äußere Welt der Kreaturen gegenüber mit einem individuell „eigen wesen“899 („eigenen Wesen“), „da hat ein ieklichs sein sunder wesen usgescheidenlich mit siner eigenen forme“900 („da hat ein jedes sein besonderes Wesen, unterschiedlich mit seiner eigenen Form“). In diesem individuellen Sein schafft sich der Mensch aus seinem Verstehen und seinen Erfahrungen heraus ein eigenes (irdisches) Gottesbild, jenseits seines präexistenten Einsseins mit Gott901:

„Da hant alle kreaturen iren got gewunnen, wan da kreature sich kreature vindet, da ist si vergichtig irs schephers und ir gottes.“902

„Da haben alle Kreaturen ihren Gott gewonnen, denn wo ein Geschöpf sich als Geschöpf findet, bekennt es seinen Schöpfer und seinen Gott.“

Auch an dieser Stelle kann Seuse die „freien Geister“ im Blick gehabt haben, die den Unterschied zwischen Gott und dem Menschen leugnen.903

Der „Jünger“ fragt, ob das Wesen des Geschöpfs in seinem idealen ursprunghaften Sein in Gott edler ist als in seinem geschaffenen kreatürlichen Sein. Im Gegensatz zu Meister Eckhart, für den alle Geschöpfe in Gott edler sind904, erklärt die „Wahrheit“ bei Seuse aus der Perspektive des Geschöpfes: Da das Wesen des Geschöpfes, wie es in Gott ist, nichts Geschöpfliches an sich hat, ist für das Geschöpf die Geschöpflichkeit „edler und gebruchlicher, denne daz wesen, daz si in gotte hat“905 („edler und nützlicher als das Wesen, das es in Gott besitzt“). Seuse vermeidet es hier nicht nur, das Wesen des Geschöpfs im Sinne Eckharts als ein Nichtsein zu benennen, sondern er hebt das Geschaffensein besonders hervor.906 Denn, so argumentiert er, das Geschöpf in seinem geschöpflichen Sein – sei es ein Stein oder ein Mensch – hat nichts davon, wenn es einmal „ewklich in gotte got“907 („ewig in Gott“) gewesen ist, denn im Einssein mit Gott ist das Geschöpf ja kein Geschöpf mehr.908 Als Geschöpf aber hat Gott ihm einen natürlichen Bezug zu seinem göttlichen Ursprung geschenkt: „Got hat dú ding wol und recht geordent, wan ein ieklichs ding hat ein widerkaphen zuo sime ersten ursprunge“909 („Gott hat die Dinge wohl und recht geordnet, denn ein Jedes hat einen Bezug zu seinem ersten Ursprung“910). In diesen göttlichen Ursprung soll das Geschöpf innerhalb seiner ihm von Gott geschenkten erschaffenen Ordnung, der Schöpfung, zurückkehren. Indem Seuse in diesem Kontext vom „widerkaphen“911 („Hineinschauen“) bzw. „widerinjehen“912 („Rückorientierung“) spricht, verbindet er seine Gedanken mit der Vorstellung vom „Ausfluss“ und „Rückfluss“ der Geschöpfe aus Gott und in Gott, ein zweites Thema der Lehre vom doppelten Sein.913

Zunächst wird hier also zum Ausdruck gebracht, dass die Schöpfung auf Gott hin ausgerichtet ist. Seuse sieht die Schöpfung positiv. Darüber hinaus gilt jedoch, dass die Schöpfung dazu bestimmt ist, in diesen Ursprung – bereits zu Lebzeiten – zurückzukehren, d.h. zu enden in Einheit.914

„Dieser Gedanke, von Ewigkeit her der idealen Existenz nach in Gott gewesen und dazu berufen zu sein, auch als geschaffenes Wesen dahin zurückzukommen, bedeutete der ganzen deutschen Mystik, mit Meister Eckhart an der Spitze, sehr viel.“915

Seuse setzt die Gedanken des wieder Hinschauens bzw. Rückschauens im vierten Kapitel fort.

IV. Wahre Gelassenheit durch die Inkarnation Christi

Ab dem 4. Kapitel richtet Seuse die Aufmerksamkeit auf den „gelassenen Menschen“, der zur Vollkommenheit findet.916

Der Jünger möchte nun mehr über das „widerkaphen nach seinem ersten Ursprung“ wissen, vom Durchbruch zum Ursprung. Dieser Durchbruch erfolgt über Jesus Christus:

„Ich horti nu gerne von dem durchbruche, wie der mensch durch Cristum sol wider in komen in sin selikeit erlangen.“917

„Gerne hörte ich jetzt etwas von dem Durchbruch, durch den der Mensch über Christus wieder in Gott kommen und seine Seligkeit erlangen soll.“

Die Christologie, die Seuse nun entfaltet, gliedert sich in drei Teile: Inkarnation, hypostatische Union und Vorrangstellung Christi als Haupt des Corpus Christi mysticum.918

Voraussetzung für den Durchbruch ist die Menschwerdung, die Inkarnation Christi. Seuse ist wie Meister Eckhart der Auffassung, Inkarnation bedeute, dass Christus mit den Menschen die allgemeine menschliche Natur gemein habe, nicht aber das Personsein919:

„Es ist ze wissene, daz Cristus, gottes sun, etwas gemein hatte mit allen menschen, und hatte etwas sunders vor andren menschen. Daz, daz im gemein ist mit allen menschen, daz ist menschlichú nature, daz er och ein ware mensch waz. Er nam an sich menschlich nature und nit persone.“920

„Man muss bedenken, dass Christus, der Gottessohn, etwas mit allen Menschen gemein hatte und vor allen Menschen seine Sonderheit. Gemein mit allen Menschen ist ihm die menschliche Natur, so dass er auch wahrer Mensch war. Er nahm menschliche Natur an, nicht Person.“

Christus unterscheidet sich vom Menschen durch die Sündlosigkeit.921 Aber auch die hypostatische Union, die Vereinigung von Gott und Mensch in Christus, stellt für den erschaffenen Menschen eine unerreichbare „Besonderheit“ dar. In der „infleischunge Cristi“922 („Fleischwerdung Christi“) war die hypostatische Union von Anfang an vollendet:

„Wan von dem ersten beginne, do er enphangen wart der mensch, do waz er werliche gottes sun, also daz er enkein ander selbstandunge hatten, denne gottes sun.“923

„Denn vom ersten Augenblick an, als er als Mensch empfangen ward, war er gewisslich Gottes Sohn, so dass er keine andere Persönlichkeit besaß als die des Gottessohnes.“

Deshalb steht die Einheit von Mensch und Gott im Sohn höher als die Einung des Gemüts der Seligen in Gott.924 Denn

„aber ellú andrú menschen dú hant ir naturlich understandunge in irem natúrlichen wesenne, und wie genzklich sú in selber iemer entgant ald wie luterlich sú sich iemer gelazsent in der warheit, so geschihet daz nit, daz sú in der gotlichen persone understandunge iemer úbersetzet werden und die iren verlieren.“925

„alle anderen Menschen haben ihre natürliche Persönlichkeit in ihrem natürlichen Wesen. Mögen sie sich noch sehr ihres eigenen Selbst entäußern oder sich in die Wahrheit noch so sehr versenken, zu diesem einen kommt es nicht, dass sie jemals in die Persönlichkeit der göttlichen Person versetzt werden und die ihre verlieren.“

Schießlich hat Christus als Mensch den übrigen Menschen das voraus, dass er das Haupt der Christenheit ist.926 Die Einheit von Gott und Mensch erweist sich in der Zugehörigkeit zum Haupt, zu Christus, durch welche die Menschen „mitfoermig mit dem bilde des sunes gottes“927 („mit dem Bilde des Sohnes gleichförmig“) werden.

Der „Durchbruch“ zum göttlichen Ursprung, den „rehten wideringang“928 (die „rechte Rückkehr“) zu Gott, macht also den Menschen zum Gottessohn und wird durch die Inkarnation Christi erst möglich. Daraus folgt: Wer „Sohn“ werden will, „der kere sich mit rehter gelazsenheit ze im von im selb, so kumet er, dar er sol“929 („der kehre sich in rechter Gelassenheit von sich selbst weg hin zu ihm; dann kommt er dahin, wohin er kommen soll“). Das konkrete Ziel des Menschen, von dem bisher nur allgemein u.a. als „Rückkehr zu Gott“ die Rede war, wird damit als ein „Sohn werden in Christus“ bestimmt.930

Diese Feststellung ist – nachdem die christologische Grundlage gelegt ist – Anlass zur Frage: Was bedeutet rechte Gelassenheit? Die „Wahrheit“ spricht nun im Folgenden nicht vom Loslassen aller Dinge, sondern nur vom Sich-Loslassen, genau genommen zunächst vom „sich“ (und daraufhin vom „lassen“).931 Das „sich“ bzw. „mich“ hat dabei im Bezug auf den Menschen fünf Bedeutungen:

„Daz eine sich ist im gemein mit dem steine, und daz ist wesen; ein anders mit dem krute, und daz ist wahsen; daz dritte mit den tieren, und daz ist enphinden; das vierde mit allen menschen, daz ist, daz er ein gemeine menschliche natur an im hat, in dem dú andern ellú eins sint; das fúnfte, daz im eigenlich zu gehoert, daz ist sin persoenlicher mensch, beidú nach dem adel und och nach dem zuval.“932

„Das erste hat er gemein mit dem Steine, nämlich das ‚Wesen‘ (Sein); das zweite mit der Pflanze, das ist das ‚Wachsen‘; mit den Tieren hat er das ‚Empfinden‘ gemein; das ist das dritte; seine allgemeine menschliche Natur an vierter Stelle mit allen Menschen; ihm im Besonderen gehört sein ‚persönlicher Mensch‘ zu, das letzte und fünfte, und das gilt sowohl hinsichtlich seines Adels wie auch nach der Zufälligkeit.“

Vom „Sein“, „Wachsen“, „Empfinden“ und von der „menschlichen Natur“ soll sich der Mensch lösen. Doch am meisten führt das „persönliche Ich“ den Menschen auf falsche Wege,

„da der mensch den usker nimet von gotte uf sich selb, da er wider in solte keren, und im selb nach zuval ein eigen sich stiftet, daz ist, daz er von blintheit im selber eigent, daz gottes ist, und zilet da und verflússet mit der zit in gebresten.“933

„da kehrt sich der Mensch, von Gott kommend, zu sich selbst, während er doch in Gott zurückkehren sollte; er stiftet sich ein eigenes ‚Ich‘ auf Grund seines eigenen persönlichen Selbst; er schreibt sich zu, in seiner Verblendung, was Gott zukommt; danach strebt er, und so gerät er nach und nach in Schuld.“

Wer das „Ich“ (bzw. „sich“ oder „mich“) in rechter Weise „lassen“ möchte, soll drei innere Betrachtungen über das eigene Selbst vollziehen934: Er soll – erstens – die „nihtekeit sins eigenen siches“935 („Nichtigkeit seines eigenen Ich“) anschauen und verstehen, dass das „Ich“ und das „Wesen aller Dinge“ nicht dasselbe Sein haben wie das, welches die einzig wirkende Kraft ist.936 Dabei soll er – zweitens – nicht vergessen, dass in allem menschlichen Tun das eigene Selbst „alwegent blilbet uf siner eigen gezoewlicher istikeit“937 („stets seinem eigenen wirkenden Sein gleich bleibt“), d.h. seiner Kreatürlichkeit. Das bedeutet, dass „die geschaffene Substantialität des menschlichen ‚Sich‘ als solche nicht vernichtet wird.“938 Drittens fordert die „Wahrheit“ dazu auf, das eigene „Ich“ vollkommen loszulassen: Es geht darum, dass der Mensch

„entwerdenne und friem ufgebenne sin selbs in allem dem, da er sich ie gefuorte in eigener angesehner kreatúrlichkeit, in unlediger manigvaltikeit wider die goetlichen warheit, in lieb ald in leide, in tuenne oder in lazenne, also daz er mit richem vermúgenne sich wiseloseklich vergange, und im selb unwidernemklich entwerde und mit Cristo in einikeit eins werde, daz er us disem nach einem injehenne allú zit wúrke, ellú ding enphahe, und in dieser einvaltikeit ellú ding an sehe.“939

„sich entäußere und freien Willens verzichte auf sein Ich in allem, worin er sich je betätigte im Hinblick auf seine eigene Geschöpflichkeit, in unfreier Vielfalt entgegen der göttlichen Weisheit, in Lieb oder Leid, im Tun oder Lassen, so dass er, ohne nach etwas anderem zu schauen, mit aller Kraft sich in Gott verliere, sich in unwiderruflicher Weise entäußere seines Selbst, auf solche Weise mit Christus eins werde, nach dessen Einsprechen aus ihm heraus allezeit wirke, alles entgegenehme und alle Dinge in solcher Einfachheit betrachte.“

Auf diese Weise wird das „Ich“ des Menschen im Sinne von Gal 2,20940 „kristfoermig“941 („christusförmig“), ein Ich, das im Wirken eins mit Christi Wirken in der Welt ist. Beim „Lassen“ handelt es sich um ein „ufgeben“942 („Aufgeben“) oder „verahten“943 („Verachten“), nicht aber in dem Sinne, „daz es zemal ze nihti werde, denn allein in der verahtunge“944 („des [eigenen] Zunichtewerdens, sondern nur in dem des ‚Sich-selbst-Verachtens‘ “).

Wenn der gelassene Mensch in Christus vollkommen christusförmig geworden ist, stellt sich die Frage: „Blibet eime seligen gelazenen menschen útzet“945 („Bleibt einem seligen gelassenen Menschen irgendetwas“)? Die „Wahrheit“ antwortet: Der Mensch, der sich gänzlich selbst verachtet und sein „Ich“ loslässt, bekommt sehr viel geschenkt. Denn

„es geschihet ane zwifel, wenne der guot und getrúw kneht wirt in gefueret in die froede sins herren, so wirt er trunken von dem unmessigen úberflusse des goetlichen huses; wan ime geschihet in unsprechelicher wise als einem trunken menschen, der sin selb vergisset, daz er sin selbes nit ist, daz er im selb zemal entworden ist und sich zemal in got vergangen hat und ein geist mit im worden ist in alelr wise, als ein kleines wassers troephlin in vil wines gegozsen. Wan als daz im selber entwirdet, so es den smak und die varwe an sich und in sich zúhet, also geschiht dien, die in voller besitzunge sint der selikeit, daz dien in unsprechelicher wise ellú menschlichú begirde entwichet, und in selber entsinkent und ze male in dem goetlichen willen versinkent.“946

„es geschieht ohne Zweifel, wenn der gute und getreue Knecht in die Freude seines Herrn eingeführt wird, so wird er trunken von dem unermesslichen Überfluß des göttlichen Hauses. Denn ihm geschieht in unaussprechlicher Weise wie einem trunkenen Menschen, der sein Selbst vergisst, so dass er nicht mehr sein Selbst ist; (jenem geschieht), dass er sich ganz seines Selbst entäußert und sich ganz in Gott verloren hat und ein Geist mit ihm geworden ist in jeder Weise947, wie ein kleines Tröpflein Wasser seine Eigenschaften verliert, so dass es Farbe und Geruch des Weines annimmt und in sich zieht, so geschieht denen, die im Vollbesitz der Seligkeit sind: Ihnen gehen alle menschlichen Begierden verloren, sie gehen sich selbst verloren und tauchen ganz in den göttlichen Willen ein.“

In dieser Seligkeit bleibt das geschaffene (substantielle) Sein des Menschen erhalten, jedoch in einer „andern forme, in einer andern glorie und in eime andern vermugenne“948 („anderen Form, in einer anderen Herrlichkeit und in einem anderen Vermögen“).949 Die Gelassenheit des „edelen menschen“950 („edlen Menschen“) in „dieser Zeit“ entspricht nicht der Gelassenheit des Seligen; sie ist dieser vollkommenen Gelassenheit „nach gebildet“951 („nachgebildet“).

Zuletzt fragt der „Jünger“, ob eine solche Seligkeit wirklich schon in der Erdenzeit möglich sei.952 In allervollkommenster Weise wird die Seligkeit nur den in Gott Seligen zuteil; sie ist in der Zeit nicht zu erreichen, da dieser die menschliche Natur entgegensteht.953 In irdischer Zeit ist nur eine Seligkeit im Sinne „teilhaftiger gemeinsamkeit“954 („teilhabender Gemeinschaft“) möglich. Allerdings erscheine dies vielen Menschen auch als unmöglich, „wan hie her enmag kein sin noch vernunft gelangen“955 („denn dahin vermag weder Sinnesnoch Vernunfterkenntnis gelangen“). Dennoch gäbe es – wie es in einer Schrift956 heiße – „usgesúndert und geleptú menschen“957 („ausgewählte und im geistlichen Leben erfahrene Menschen“), die „entbildet und úberbildet in des ersten exemplars einikeit“958 („entbildet und überbildet in der Einheit des ersten Urbildes“) sind.

V. Wie wird der Mensch gelassen und kommt zur Seligkeit?

In Kapitel 5 – „die spirituelle Mitte“959 des BdW – geht es um die Frage, wie der Mensch zu seiner Seligkeit kommt.960 Der „Jünger“ sucht nach konkreten und praktischen Hilfen für diesen Weg.961 Er fragt nach einem Vorbild, dem er folgen kann, um ein wahrhaft gelassener Mensch zu werden. Das „Wort“, jetzt an der Stelle der „Wahrheit“, verweist den „Jünger“ auf Jesus Christus, auf Kreuz und Leiden:

„Daz krúze betútet, daz ein warer gelazsener mensche nach dem ussern und inren menschen alle zit sol stan in sin selbs ufergebenlichi in alles daz, daz got will von im gelitten han, wannen daz kumt, daz er geneiget si in sterbender wise daz ze enphahenne dem himelschen vatter ze lobe. Und solichú menschen stant adelich von innen und gewerlich von ussen.“962

„Das Kreuz bedeutet, dass ein wahrer gelassener Mensch nach seinem Äußeren und Inneren allzeit sich ergeben in all das fügen soll, was Gott von ihm gelitten haben will, woher das auch komme, dass er bereit sei, all das geduldig ertragend unter Preisgabe seines eigenen Selbst anzunehmen, dem himmlischen Vater zum Lobe. Und solche Menschen sind ihrem Inneren nach edel, ihrem äußeren Menschen nach voller Sorgfalt.“

Nun folgen viele Menschen dem Kreuz auf zweierlei Weise, entweder nur äußerlich oder nur innerlich:

„Die einerley menschen, dú in von innen an sahen und nút von ussen, bezeichnent dú menschen, die Cristi leben an sehent núwan in der vernunft nach schoewelicher wise und nút in abwúrkender wise, da sú ir eigen nature soeltin durbrechen in nachvolgklicher uebunge des selben bildes.“963

„Die eine Gruppe von Menschen nun, die sein Inneres betrachtet und sein Äußeres nicht beachtet, das sind die, welche Christi Leben nur nach dem Gesichtspunkt der Vernunft in betrachtender Weise ansehen und nicht in einer vom Irdischen losgelösten (wirkenden) Art, wo sie doch ihre eigene Natur bekämpfen sollten in tätiger Nachfolge eben jenes Bildes.“

Durch diese zu einseitige Betrachtung bzw. Meditation des Lebens Christi fördern sie nur ihr natürliches Wohlbefinden, d.h. ihre „ledige Freiheit“964 („ungebundene Freiheit“).

Andere Menschen betrachten das Bild des Kreuzes nur nach dem Äußeren, aber nicht nach dem Inneren:

„Und dú schein herte und strenge; und us dem uebent sú sich strengklich und lebent behuetklich und tragent den lúten vor einen erberen heiligen wandel, und úbersehent aber Cristum von innen.“965

„Und sie erscheinen hart und streng; und so führen sie ein strenges Leben, verhalten sich vorsichtig und zeigen den Leuten ein ehrbares heiliges Verhalten, vergessen darüber aber Christus von innen.“

Christi inneres Leben war nämlich erfüllt von Sanftmut und Milde. Diese strengen Menschen aber verurteilen andere und greifen sie an, wenn diese in deren Augen ein Unrecht begangen haben.966 Die „äußeren Menschen“ haben ihren Eigenwillen nicht losgelassen:

„Der sú suochet, sú stant nút in eime lazsenne ir selbz noch entsinkenne ir nature und nach verlust der dingen, dú da schirment den willen, als gern und ungern und des glich. Und hie mit wirt der wille behalten und beschirme.“967

„Wer sie betrachtet, findet, dass sie sich ihres eigenen Selbst nicht entäußert haben, ihrer Natur nicht entsunken sind, sich von den Dingen nicht gelöst haben, die den Eigenwillen verteidigen, wie ‚lieb‘ oder ‚unlieb‘ und dergleichen. Und auf diese Weise wird der Eigenwille behauptet.“

Der Mensch muss sich jedoch in den Tugenden Christi üben, denn diese führen ihn „in daz bilde Cristi“968 („in das Bild Christi“). Seuse nennt diese Tugenden sodann die „goetlichen tugenden“969 („göttlichen Tugenden“), da sie auf Christi Vorbild bezogen sind: „gehorsami, lidberi, unbehabenlichi und dero glich“970 („Gehorsam, Leidtragen, Nachgiebigkeit und dergleichen“).

Nach dieser aszetischen Ergänzung fragt der Jünger: „In weler benenten wise kumet ein mensch zuo sinder selikeit“971 („Wie nennt man die Weise, mit der der Mensch seine Seligkeit erlangt“)? Zur Seligkeit gelangt der Mensch auf eine „geberlich wis“972 („gebärende Weise“). Nach Joh 1,12 hat Gott dem Menschen nämlich „macht und múgen“973 („Macht und Vermögen“) gegeben, Gottes Sohn zu werden: Der Mensch, der in Gott neu geboren wird, erhält „glichheit sins wesens und wúrkunge“974 („gleiches Wesen und gleiches Wirken“) mit dem gebärenden Gott.

„Und dar umbe, in einem gelazsenen menschen, da got allein vatter ist, in dem sich nút zitliches gebirt nach eigenschaft, dem werdent sinú ogen uf getan, daz er sich da verstat, und nimet da sin selig wesen und leben und ist eins mit im, wan ellú dinge sint hie eins in eime.“975

„Und darum werden einem gelassenen Menschen, dessen Vater Gott allein ist und in dem nichts Zeitliches geboren wird, nach seinem Eigenwillen die Augen aufgetan, dass er sich selbst erkennt, sein seliges Leben beginnt und eins mit Gott ist, denn da sind alle Dinge eines in dem Einen.“

Was Seuse hier beschreibt, ist

„das beherrschende Grundmotiv des ganzen 5. Kapitels und darüber hinaus des BdW. ... Indem Seuse es als ‚geberlich wis‘ bezeichnet und als Unterlage dafür denselben Johannestext (Joh 1,12) anführt, aus dem auch Meister Eckhart im Johanneskommentar (LW III, S. 90,7ff.) seine ‚Gottesgeburtslehre‘ entwickelt hat, übernimmt er diese deutlich an entscheidender Stelle, wenn auch wieder, ähnlich wie im Fall der ‚Abgeschiedenheit‘, ohne den allzu typischen Titel.“976

Wie aber, so gibt der „Jünger“ zu bedenken, kann vom Einssein die Rede sein, da doch die Welt aus Gegensätzen und Vielfalt besteht?977 Das „Wort“ geht auf diesen Einwand nicht ein. Es betont sogar: Der Mensch muss sich, um auf dem Weg vorwärts zu kommen, zweierlei Gegensätze („contraria“) bewusst werden.978 Diese Gegensätze sind: „Ein ewiges niht und sin zitlichú gewordenheit“979 („Ein ewiges Nichts und des Menschen zeitliche Gewordenheit“). Auf den erneuten Einwand des „Jüngers“, dieser Gegensatz widerspreche jeglicher Wissenschaft, entgegnet das „Wort“:

„Dine fragen gand us menschlichen sinnen, und ich antwúrt us den sinnen, die da sint úber aller menschen gemerke. Du must sinnelos werden, wilt du hin zuo komen, wan mit unbekennen wirt dú warheit bekant.“980

„Deine Fragen entstammen menschlichem Verständnis, und ich antworte aus einem Denken, das menschliche Beobachtungsweise übertrifft. Menschliche Art zu sehen musst du aufgeben, willst du in jenen Bereich kommen, denn aus Nichterkennen entspringt die Wahrheit.“

In einem weiteren Abschnitt innerhalb des Kapitels wird erzählt, dass dem „Jünger“ eine mystische Einheitserfahrung zuteil wird, die sich in der Weise zeigt, dass ihm eine neue Art von Wissen zuteil wird981, in welchem all die Gegensätze („Contraria“) wegfallen und daher alle Mannigfaltigkeit als Einheit erfahren wird. Der „Jünger“ befand sich dabei in einer außergewöhnlichen Wachheit, in der ihm

„sin sinne also entgiengen nach eigener wurklicher wise, daz im úberal in allen dingen núwen eins antwurte und ellú ding in eime ane alle manigvaltigkeit disses und jenes.“982

„seine Sinne nach eigener wirkender Weise derart vergingen, dass ihm überall in allen Dingen nur Eins antwortete und alle Dinge in einem erschienen ohne alle Mannigfaltigkeit von dem und jenem.“

Allerdings ist diese Erfahrung nicht von Dauer gewesen.983 Das „Wort“ macht daraufhin deutlich, dass der „Jünger“ erst am Anfang des Weges steht und noch nicht das Ziel erreicht hat: Das „Wissen“ ist „noch nit gesunken uf sinen weselichen grunt“984 („noch nicht auf seinen wesentlichen Grund gesunken“). Deshalb fragt der „Jünger“: „Wa lendet eins gelazsenen menschen verstandenheit“985 („Wohin führt eines gelassenen Menschen Erkenntnis“)? Das „Wort“ hebt mit seiner Antwort hervor, dass diese Art der Einung zu Lebzeiten nicht mit der natürlichen Verstandeskraft begriffen werden kann. Der Mensch könne verstehen, dass sich das, womit er sich vereinigt, von dem abhebt, was er in Worten aussprechen kann:

„Daz da niht ist aller der dingen, die man besinnen alder gewoerten mag; und daz niht nemmet man verhengter wise got, und ist an im selber ein alle weslichostes iht. Und hie erkennet sich der mensch eins mit disem nihte, und dis niht erkennet sich selb ane werk der erkanntisse.“986

„Das da ist ein Nicht aller Dinge, die man verstehen oder in Worten aussprechen kann. Und dieses Nicht nennt man nach allgemeiner Übereinstimmung Gott, und das ist an sich selber ein allerwesenhaftes Sein. Und hier begreift sich der Mensch als eins mit diesem Nicht, und dieses Nicht erkennt sich selbst ohne Erkenntnistätigkeit.“

Seuse beruft sich wieder auf Pseudo-Dionysius, der über das Eine, Namenlose geschrieben hat987:

„Wan der im sprichet gotheit oder wesen, oder waz namen man git, die sint im nit eigen nach dem, als die namen sich bildent in der kreature.“988

„Denn der es ‚Gottheit‘ oder ‚Sein‘ oder wie auch immer nennt, gibt ihm die Namen, die ihm nicht zugehören, nach der Art, wie solche Benennungen sich im Verstand der Geschöpfe bilden.“

Über dieses „Nichts“ könne man zu Recht behaupten, es sei selbst die Vernunft, das Sein oder das Verkosten, nach dem, was man darüber sagen könne; aber dieses sei immer noch weit vom wahren Wesen des „Nichts“ entfernt.989 Wenn nun der Mensch mit diesem Nichts eins wird, „so weis der mensche sin und des keinen underscheid“990 („dann kennt der Mensch keinen Unterschied mehr zwischen sich und jenem (göttlichen Nichts)“. Gemeint ist nicht, dass der Mensch sein individuelles Wesen verliert. Doch im Bezug auf Gott geht das Unterscheiden zwischen Gott in seiner trinitarischen Entfaltung und dem einzelnen Menschen verloren991:

„So wissen wir und och es unser halb von disen dingen nút. ... Verstast du nit, daz der kreftiger entwordenliche inschlag in daz niht enschleht in dem grunde allen underscheid, nút nach weseunge, mer nach nemunge únser halb.“992

„So wissen wir und auch es (das göttliche Nicht) mit Bezug auf uns davon nichts. ... Verstehst du nicht, dass die kräftige entäußernde Entrückung in das Nicht im Grunde von aller Unterscheidung befreit, nicht dem Wesen nach, sondern so wie wir das auffassen.“

Der Mensch ist eins geworden im „mitwúrken ... mit gotte“993 („Mitwirken ... mit Gott“):

„Da der mensch im selber nút ist bliben und sich in daz eine hat vergangen und eins ist worden; und da wúrket der mensch nút als mensch.“994

„Da der Mensch nicht mehr bei sich selber, sondern in das Eine eingegangen und mit ihm eins geworden ist; da handelt der Mensch nicht als Mensch.“

Denn der Wille des Menschen „ist vereint mit goetlichen willen und ist nút wellende, denne daz er selber ist, als vil daz wellen in gotte ist“995 („ist mit dem göttlichen Willen vereint und will nichts, als was er selber ist und soviel Gottes Wille ist“). Die Einung – „daz er sich verstande eins in dem, daz ie ist gewesen“996 („dass er sich versteht als eins mit dem, was von je gewesen ist“) – ist allerdings nicht mehr als ein „vorversuochenne“997 („Vorkosten“) der vollkommenen Vereinigung, die der Mensch erst nach seinem Tode erlangt. Möglich ist das, da die Ewigkeit Gottes „ein leben, daz úber zit ist und alles zit in sich beschlúzset“998 („ein Leben über die Zeit hinaus und alles Zeitliche in sich schließt“), d.h. die Ewigkeit ist zeitlos, „ane vor und ane nach“999 („ohne ´Vor´ und ohne ´Nach´“).1000 Dennoch haben die Aussagen über dieses „mystische Leben noch vorläufigen Charakter.“1001 Denn

„dú sele blibet iemer kreature, aber in dem nihte, so si da ist verlorn, wie si denne kreature si oder daz niht si, oder ob sie kreatur si oder nit, des wirt da nútznút gedaht, oder ob si sie vereinet oder nit. Aber dam man noch vernunft hat, da nimet man es wol, und dis blibet dem menschen mit einander.“1002

„die Seele bleibt immer Geschöpf, aber in dem Nicht, in das sie sich verloren hat, wird nicht darüber nachgedacht, in welchem Sinne sie Geschöpf oder Nicht sei, oder: ob sie Geschöpf sei oder nicht und ob sie (mit Gott) vereint sei oder nicht: Aber wo man noch seiner Vernunft mächtig ist, da nimmt man es wohl wahr, und die Wahrnehmung behält der Mensch auch.“

Die „Seligkeit“ ist nur dann erreicht, wenn der Unterschied zwischen dem Schauen Gottes und dem Wissen darum, dass man schaut, fällt.1003 Wenn die Seele in die Seligkeit des göttlichen Nichts eingegangen ist, „so si schowet got bloz“1004 („da schaut sie Gott in Lauterkeit“). Doch im Hinblick auf diese „Schau“ kann man nicht mehr von einem rationalen Wissen sprechen, „noch von minne, noch von núte alzemale“1005 („noch von Liebe, noch von irgendetwas“). Es gibt keine rationale Erkenntnis darüber, dass Gott Nichts ist, dass Gott das höchste Sein oder die Liebe ist, weil die Seele des Menschen eins geworden ist mit Gott selbst, eins geworden mit dessen Wirken. In diesem Zustand höchster Beschauung (Kontemplation) besitzt der Mensch keine Erkenntnis irgendwelcher Tätigkeiten mehr: „Der mensch wirt nit entsetzet siner eigenen wúrkunge, mer si blibet da unangesehen nach der wise“1006 („Der Mensch wird auch seiner eigenen Wirkung nicht beraubt, sie bleibt ihm, jedoch ohne dass er sich ihrer bewusst sei“). Wird sich der Mensch dessen wieder bewusst, „weiß“ er wieder, dass Gott „Nichts“ ist, dann ist das „ein usschlag und ein widerschlag us disem ersten uf sich nach naturlicher ordennunge“1007 („eine Rückkehr aus der Versunkenheit und ein Nachsinnen von diesem her auf sich selbst nach der natürlichen Ordnung [der Dinge]“).1008

Das Eins-Sein mit Gott versteht Seuse als ein in Gottes Sein Umgestaltet- und Überformtwerden. Eckhart folgend erklärt das „Wort“:

„Das oge verlúret sich in sinem gegenwírtigen sehenne, wan es wirt eins an dem werke der gesihte mit sinem gegenwurfe, und blibet doch ietweders, daz es ist.“1009

„Das Auge verliert sich, indem es sieht, denn es wird in der Sehtätigkeit eins mit seinem Gegenstand, und doch bleiben beide, was sie sind.“

Die Selbstverlorenheit, die durch reflexives natürliches Wissen beeinträchtigt würde, ist die Voraussetzung, Gottes Sein zu empfangen. Doch bleibt in dieser Einung, wie oben gesehen, das substantielle Sein des Menschen erhalten, „jedes bleibt, was es ist“1010. Mit anderen Worten bei der Einung der menschlichen Seele mit Gott handelt es sich nicht um eine vollkommene Wesensverwandlung, eine Transsubstantiation, sondern immer nur um eine Transformation, um eine Überformung und Umgestaltung des menschlichen Lebens durch Gott.

Bezüglich der Erkenntnis, in der man Gott und die Geschöpfe als solche „in bilden etlicher underscheide“1011 („in Bildern und Formen und mancherlei Unterschieden“) erkennt, folgt Seuse Augustinus und Meister Eckhart1012, indem er von einer „abentbekentisse“1013 („Abenderkenntnis“) spricht; schaut man dagegen die Geschöpfe in Einheit mit Gott ohne allen Unterschied, dann ist dies eine „morgenbekentnisse“1014 („Morgenerkenntnis“). In dieser Morgenerkenntnis, in der Teilhabe am Wissen Gottes, wird der Mensch „Sohn Gottes“. Allerdings spricht Seuse nicht vom „Sohn-Sein“.1015 Wohl aber nennt er die Rückkehr des Menschen in das göttliche Nicht eine „widerburt“1016 („Wiedergeburt“) des Menschen in Gott1017, die jedoch – wie er betont – „so froemde“1018 („so fremd“) ist und in ihrem Vollzug „so wenig me zu tune mit dem libe“1019 („mit dem Leibe so wenig zu tun [hat]“). In der Wiedergeburt „hat der mensch neiswie nút me zu tunne, ja in wúrkender wise“1020 („hat der Mensch nichts mehr zu tun in wirkender Weise“). Von der Wiedergeburt des Menschen unterscheidet sich die ewige Geburt Gottes, denn die „ewigen Geburt heiss ich die einigen kraft, in der ellú ding und aller dingen sachen hein, daz sú sint und daz sú sachen sint“1021 („ewige Geburt nenne ich die einzige Kraft, in der alle Dinge und aller Dinge Ursachen es haben, dass sie sind und dass sie Ursachen sind“). Von der „Wiedergeburt“ des Menschen in Gott gilt dagegen:

„Aber die widergeburt, dú deme menschen allein zuo gehoeret, heis ich ein widerlenken eins ieklichen dinges, daz gevellet, wider in den ursprung, ze nemenne nach dez ursprunges wise, ane alles eigen ansehen.“1022

„Aber die ´Wiedergeburt´, die nur dem Menschen zu Eigen ist, bezeichne ich das Rückkehren eines jeden Dinges, das es gibt, in seinen Ursprung, begriffen in der Weise des Ursprungs und ohne Rücksicht auf das ihm Eigene.“

„Nach der Weise des Ursprungs“ bedeutet, dass der Mensch nun eins mit dem Erkennen und Willen Gottes ist:

„Dirre wille ist vereint mit dem goetlichem willen und ist nút wellende, denne daz er selber ist, als vil daz wellen in gotte ist.“1023

Dieser Wille ist vereint mit dem göttlichen Willen und will nichts als das, was er selber ist, insofern dieses Wollen in Gott ist.“

Und auf diese Weise wird der Wille des Menschen frei zu wahrhaft göttlicher Freiheit, weil der menschliche Wille nicht mehr wollen muss.1024 Die Themen dieses Kapitels („Gottesgeburt“, „Wiedergeburt“ usw.) lassen erahnen, wohin es führt, wenn diese falsch verstanden werden, wie von den „freien Geistern“. Aus diesem Grund geht Seuse im sechsten Kapitel auf Irrtümer ein, die von freigeistigen Irrlehren behauptet werden.1025

VI. Falsche Gelassenheit und ungeordnete Freiheit

Interessant ist, dass Seuse als Gesprächspartner keinen konkreten Vertreter dieser Gruppe wählt, sondern ein Neutrum: „daz namenlos wilde“ („das namenlose Wilde“)1026. Durch Neutralisierung, so Ruh, wolle Seuse diese Häresie von vornherein ins Abseits stellen.1027 Das Wilde „führt Sätze aus dem Werk Eckharts an, die in der päpstlichen [Verurteilungs] Bulle verworfen wurden, und interpretiert sie falsch.“1028

Dem „Jünger“ begegnet am Anfang des Kapitels in einer Vision eine vernunftbegabte Gestalt, die feinsinnig in Worten, aber in guten Werken ungeübt ist.1029 Das fremde Wesen stellt sich dem Jünger als jemand vor, das von „nirgendwoher“ kommt und „nichts“ ist und „nichts“ will.1030 Auf die Frage, wie denn sein Name lautet, antwortet das Wesen, es sei „das namenlose Wilde.“1031 Das „namenlose Wilde“ erklärt sodann, wiederum auf Nachfrage, dass es nach „lediger friheit“1032 („ungebundener Freiheit“) strebe, d.h.

„da der mensch nach allem sinem mutwillen lebet sunder anderheit, ane allen anblilk in vor und in nach.“1033

„dass der Mensch ganz nach seinem Antrieb lebe, ohne Gott und die Welt zu unterscheiden, ohne nach vorwärts oder rückwärts zu schauen.“

Im „sunder anderheit“ („ohne Unterschied“) steckt das Leugnen jeglichen Unterschieds zwischen Gott und Mensch, das in den Reden des „Wilden“ immer wiederkehren wird.1034 Deshalb entgegnet der Jünger dem „Wilden“, es sei nicht auf dem richtigen Wege. Sodann stellt er der „falschen ledigen friheite“1035 („falschen ungebundenen Freiheit“) des „Wilden“ die „wahre“ und „rechte Freiheit“1036 gegenüber, die an eine rehte ordenunge („rechte Ordnung“) Gottes gebunden ist.1037 Zu dieser Ordnung gehört zum einen, dass es einen Unterschied zwischen Gott und den Dingen, zwischen Mensch und Gott gibt1038, und zum anderen das praktische „Wirken“ in der Welt.1039 Diese „verruchtekeit“1040 („Sorglosigkeit“) des „Wilden“ jedoch, d.h. das Ablehnen jeglichen Tuns in der Welt ist „wider alle warheit ..., wan si ist wider die ordenunge“1041 (wider alle Wahrheit ..., denn sie steht gegen die Ordnung“).

„Das Wilde“ entgegnet nun ganz offen, dass derjenige, der im „ewigen Nicht“ (gemeint ist der göttliche Ursprung allen Seins) zunichte geworden sei, von einem Unterschied zwischen Gott und Mensch nichts mehr wisse.1042 Der Jünger geht nicht sofort auf diese These ein. Zunächst macht er die grundlegende Feststellung, „Nicht-Sein“ bedeute nicht, dass etwas nicht mehr bestünde. Von „Nichts“ sei deswegen die Rede, weil alles Seiende von einem „übertreffender ihtekeit“1043 („überwesenhaften Sein“) abstamme. Das „ewige Nichts“ aber habe in sich selbst die Unterschiedenheit – der Unterschied in den drei göttlichen Personen: „Und von im, als es berhaft ist, kumet aller ordenlicher underscheit aller dingen“1044 („Und von ihm, von seiner Zeugungskraft kommt alle geordnete Unterscheidung in allen Dingen“). Daraus ergibt sich nun die eigentliche Antwort: Der Mensch wird „niemer so gar vernihtet“1045 („niemals völlig vernichtet“), wenn er eins wird mit dem „ewigen Nicht“, dem Ursprung allen Seins:

„Sinen sinnen blibe dennoch underscheit ir eigennes ursprunges und der vernunft dez selben ir eigen kiesen, wie daz alles in sinem ersten grunde unangesehen blibet.“1046

„Seinen Sinnen bleibt immer der Unterschied ihres eigenen Ursprungs und seiner Vernunft ihre eigene Wahrnehmung, obwohl alles das in seinem Urgrund außer Betracht bleibt.“

Dieses „Nicht-Sein“, in das der Mensch einkehrt, löscht das Kreatürlichsein niemals aus. Der Mensch bleibt ein individuelles Geschöpf. Deshalb besteht immer ein Unterschied zwischen dem „Nicht-Sein“ des Menschen und dem „Nicht-Sein“ Gottes.1047

Doch „das Wilde“ gibt sich nicht zufrieden und behauptet, ein Lehrmeister – gemeint ist Meister Eckhart1048 – leugne jeden Unterschied.1049 Darauf antwortet der Jünger – mit Gedanken aus Eckharts Johannes- und Weisheitskommentar1050 –, dass es durchaus in der Einheit der Gottheit eine Ununterschiedenheit gäbe, allerdings bei einer zugleich klaren Unterschiedenheit in den göttlichen Personen.1051 Die Einheit zwischen Gott und Mensch ist jedoch von anderer Art. Der Jünger betont, man müsse dabei zwischen „Trennung und Unterscheidung“ differenzieren:

„Als kuntlich ist, daz lib und sel hant nit underschidunge, wan eins ist in dem andern, und kein lid mag leben, daz usgeschidet ist. Aber underscheiden ist dú sele von dem libe, wan dú sele von dem libe, wan dú sele ist nit der lib, noch der lib dú sele.“1052

„Das sieht man daran, dass zwischen Leib und Seele keine Trennung statthat, denn das eine ist in dem anderen, und kein abgetrenntes Glied kann für sich allein leben. Aber unterschieden ist die Seele vom Leibe, denn die Seele ist nicht der Leib, und der Leib ist nicht die Seele.“

Daraus folgert Seuse:

„Also verstan ich, daz in der warheit nút ist, daz underschidunge muge han von deme einveltigen wesenne, wan es allen wesenne wesen git, aber nach underscheidenheit, also daz daz gotlich wesen nit ist des steines wesen, noch des steines wesen daz gotlich wesen, noch kein kreature der andern.“1053

„So ist denn meine Meinung, dass es in Wahrheit nichts gibt, was von dem einfachsten Sein getrennt sei; es gibt nämlich allen Wesen ihr Sein, aber mit Unterscheidung, so dass göttliches Sein nicht das des Steines ist und auch nicht umgekehrt, und kein Geschöpf das Sein des anderen besitzt.“

Wie aber steht es um den Unterschied zwischen dem Sohn Christus und einem „kristmessigen menschen“1054 („christusgleichen Menschen“)? Das „Wilde“ behauptet, wiederum mit Bezug auf Meister Eckhart1055, dieser „wúrke alles, daz Cristus wurkte“1056 (wirke alles wie Christus selbst“). Wieder erfolgt die Richtigstellung durch Gedanken Meister Eckharts.1057 In einem ersten Schritt erklärt Seuse den Unterschied zwischen der Sohnschaft Christi und der Sohnschaft des Menschen:

„Cristus ist der eingeborne sun und wir nit, er ist der natúrlich sun, wan sin geburt zilet in der natur, aber wir sien nit der naturlich sun.“1058

„Christus ist der eingeborene Sohn, wir jedoch nicht; er ist Sohn der Natur nach, denn seine Geburt entspricht der Natur; für uns gilt das nicht.“

Hinsichtlich des Menschen spricht Seuse von „ein widergeburt“1059 („einer Wiedergeburt“), „wan si zilet in einformikeit siner nature“1060 („denn sie zielt dahin, sich der Einfachheit der göttlichen Natur anzugleichen“). Der Sohn sei „ein bilde des vatters, wir sien gebildet nach dem bilde der heiligen drivaltikeit“1061 („ein [Ab]Bild des Vaters, wir sind gebildet nach dem [Vor]Bild der Heiligen Dreifaltigkeit“). Das bedeutet: Der Mensch entspricht im Wirken dem Wesen Gottes, er ist jedoch nicht mit dem Wesen Gottes identisch. Das Wirken aber lehnen die Freigeistigen ab. In einem zweiten Schritt – hier wird nun die Ausgangsfrage beantwortet – erklärt Seuse: Da nur Christus „daz wesen des vatters“1062 („das Wesen des Vaters“) und er auch keinen anderen „geberer denne den himmelschen vatter“1063 („Gebärer als den himmlischen Vater“) hat, wirkt Christus „alles, daz der vatter wurket“1064 („alles, was der Vater selbst wirkt“). Sohn und Vater sind trotz Verschiedenheit in den „Personen“ identisch. Für das Verhältnis zwischen Mensch und Christus gilt dagegen, dass die mit Gott vereinigten Menschen „minr und me mit im wúrken nach dem, als wir minr und me von im sien geborn.“1065 („mehr oder weniger mit ihm wirken, je nachdem wir mehr oder weniger aus ihm geboren sind“). Auch hier ist das Wirken mit Christus signifikant für die mit Gott vereinigten Menschen.

Es folgt ein weiterer Einwand des „Wilden“ – hier wird wiederum ein Artikel der Verurteilungsbulle wörtlich zitiert1066 –, jener Meister habe gesagt, „alles, daz Cristo si gegeben, daz si och mir gegeben“1067 („alles, was Christus gegeben ward, sei auch mir gegeben“). Der „Jünger“ antwortet: Der Vater habe dem Menschen „alles“1068 gegeben, was er Christus gegeben habe, aber „in unglicher wise“1069 („in ungleicher Weise“).1070 Damit will Seuse sagen: Das „Alles“ von Gott wird dem Menschen auf übernatürliche Weise, d.h. gnadenhaft, zuteil. Hier liegt der Unterschied zwischen der Sohnschaft Christi und der Sohnschaft des Menschen.