Taulers Weg zur Einheit mit Gott ist ein Weg der Gelassenheit.1445 Alle Haltungen geistlichen Lebens1446, alle Tugenden1447, dienen der Gelassenheit bzw. sind Ausdrucksformen der verschiedenen Perspektiven gelassenen Lebens. Der deutsche Begriff „gelâzen“ bzw. „gelâzenheit“ ist eine Wortschöpfung Meister Eckharts1448 und wurde von Heinrich Seuse und Johannes Tauler weiter vermittelt.1449 Über den Weg der Gelassenheit heißt es bei Eckhart:
„Der mensche, der gelâzen hât und gelâzen ist und der niemermê gesihet einen ougenblik ûf daz, daz er gelâzen hât, und blîbet staete, unbeweget in im selber und unwandelîche, der mensche ist aleine gelâzen.“1450
„Der Mensch, der gelassen hat und gelassen ist und der niemals mehr nur einen Augenblick auf das sieht, was er gelassen hat, und beständig bleibt, unbewegt in sich selbst und unwandelbar, – der Mensch allein ist gelassen.“
Meister Eckhart beschreibt verschiedene Momente bzw. Stadien der Gelassenheit. Den Zustand höchster Gelassenheit erlangt nur der, der gelassen hat („gelâzen hât“), vor allen Dingen sich selbst, und gelassen sein kann („gelâzen ist“).1451 Mit Gelassenheit verbindet Eckhart also nichts Statisches, sondern eine Dynamik. Hierin folgt ihm auch Tauler. Während Eckhart diese Dynamik mit den Begriffen Gelassenheit, Abgeschiedenheit und Armut des Geistes gleichermaßen zu umschreiben sucht1452, bleibt für Tauler die Gelassenheit („gelossenheit“) bzw. Lassen („lossen“) der zentrale Begriff.1453 Nicht die Werke sind wichtig, sondern die Gelassenheit:
„Und darumb hette ich vil lieber einen gerechten gelossen menschen mit minre wercken und minre schine, denne ein vil hohen menschen in wercken und in schine mit vil grossen bilden, und wer minre gelossen.“1454
„Und darum hätte ich viel lieber einen gerechten, gelassenen Menschen mit geringen Werken und geringem Anschein als ein Mensch mit gar großen Werken und dem äußeren Anschein nach mit gar großen Vorstellungen, der aber weniger gelassen wäre.“
Bevor wir den Weg der Gelassenheit ausführlicher beschreiben, sollen zunächst ihre einzelnen Momente zusammengefasst werden. Mit Zekorn können wir zwei Bedeutungen hervorheben1455: Zunächst meint Tauler mit Gelassenheit das Loslassen bzw. die Abkehr von allen Dingen, die nicht zu Gott gehören bzw. die den Weg zu Gott behindern.1456 Er folgt hierbei Eckharts Vorstellung, dass der Mensch nur gelassen sein kann, wenn er zuvor losgelassen hat („gelâzen hât“). Zekorn bringt diese Bedeutung von Gelassenheit richtigerweise mit Taulers Begriff der „lidikeit“1457 (des „Leerseins“) in Verbindung.1458 Gelassenheit bedeutet von dorther, dass der Mensch sich selbst, alle Neigungen und Wünsche loslässt, ja sogar das Lassen-Wollen, um für Gott leer („lidig“), d.h. frei zu werden:
„Also muos sich der mensche lossen vahen und italen und bereiten und al lossen und des selben lossendes also gar und ze mole usgan und lossen.“1459
„Also muss sich der Mensch fassen, sich leeren und bereiten lassen und alles lassen und dieses Lassens selbst also ganz und gar ledig werden und es lassen.“
Dem Loslassen als Gelassenheit folgt sodann – als zweite Bedeutung – die Gelassenheit im Sinne des sich Gott Überlassens: „Dabei geht es vor allem darum, dass der Mensch sich und alles, was ihn bewegt, an Gottes Willen überantwortet.“1460 Während das Loslassen noch eine aktive Betätigung des Menschen beinhaltet, handelt sich hier nun um eine Passivität, die Tauler jedoch nicht als Apathie versteht, sondern als einen Gleichmut: „Got suocht und wil haben einen ... einen gelossenen menschen der gelich ste“1461 („Gott sucht und will einen gelassenen Menschen haben, der in Gleichmut steht“).1462 „Gelassenheit meint ‚erleiden‘ des Gottüberlassen-Seins, ‚ertragen‘ des Willens Gottes.“1463 Entsprechend spricht Tauler vom „sich Gott lassen“1464 bzw. vom „innewendig got liden“1465 („innerlichen Gott leiden“). Durch das Leiden aber erreicht der Mensch die Gelassenheit als Ziel des geistlichen Lebens, die bedingungslose Offenheit gegenüber Gott: „Dar umbe lot Got dicke den menschen in not komen, das er in lere gelossenheit“1466 („Darum lässt Gott den Menschen oft in Not geraten, damit er ihn Gelassenheit lehre“). Halten wir fest:
„Die Dimension von ‚verlassen‘ und ‚überlassen‘, die das Bedeutungsspektrum von ‚Gelassenheit‘ bestimmen, ergänzen sich gegenseitig. Präzise gesagt: das ‚Verlassen‘ ist die Möglichkeitsbedingung des ‚Sich-Überlassens‘.“1467
Damit können wir drei Bedeutungen der Gelassenheit festhalten: In Anlehnung an Meister Eckhart muss der Mensch Tauler zufolge loslassen (Eckharts „gelâzen hân“), damit er in Gleichmut gelassen sein kann (Eckharts „gelâzen ist“), um die bedingungslose Freiheit und Offenheit zu erlangen, damit Gott in ihm wirken kann (die Gelassenheit als Ziel des geistlichen Lebens).
Um in Gelassenheit mit Gott eins zu werden, soll sich der Mensch Gott überlassen. Die notwendige Voraussetzung dafür ist jedoch, alle Hindernisse loszulassen:
„Der mensche, als er alle ding gelies und sich selber in allen dingen, so sol er Gotte volgen úber alle ding mit dem usseren menschen, mit aller uebunge der tugende und mit der gemeinen minne, und mit dem inwendigen menschen in rechter gelossenheit sin selbs in allen wisen, wie die vallent und wie es Got uf in wirffet von innen und von ussen.“1468
„Wenn der Mensch alle Dinge und sich selber in allen Dingen verlässt, so soll er Gott folgen über alle Dinge hinaus mit dem äußeren Menschen, mit allen Tugendübungen und mit der allgemeinen Liebe, und mit dem inneren Menschen in rechter Gelassenheit seines Selbst in jeder Weise, wie es (auf ihn) fällt und wie es Gott ihm schickt, von innen oder von außen.“
Der Mensch soll in der äußeren Gelassenheit mit Hilfe der Tugenden alle äußeren Dinge loslassen, das ist „alles des do duo dich und das dine anehast, das si was das si“1469 („alles, womit du dich verbunden hast und was du besitzt, was das auch immer sei“). Dabei verzichtet er auf alles Haben, Nehmen – z.B. auf Besitz- und Sicherheitsstreben, auf die Tätigkeit der Seelenkräfte1470 – und vor allem auf den eigenen Willen.1471 Gelassenheit ist hier als ein Loslassen und Verlassen zu verstehen.1472 Ziel ist die völlige Übereinstimmung mit Gottes Willen1473; das aber ist für Tauler vollkommener Gehorsam1474:
„Nu heb aber wider an und gib dich ime aber uf! Gib dich dem goetlichen willen gevangen in rechter gelossenheit und getrúwe der vetterlichen kraft die alle ding vermag und der du so dicke und dicke oeffenlich gewar bist worden und alle stunde und tage gewar wirst.“1475
„Nun beginn von neuem und übergib dich ihm wieder! Gib dich dem göttlichen Willen gefangen in rechter Gelassenheit und vertraue der väterlichen Kraft, die alle Dinge vermag und deren du so oft in aller Öffentlichkeit gewahr worden bist und (noch) zu jeder Stunde und täglich gewahr werden wirst.“
Hierzu ist eine Gelassenheit notwendig, die Tauler als ein Ausgeglichen- und Gleichmütigsein gegenüber allen äußeren Dingen, Geschehnissen und sich selbst versteht – als einen wahren, inneren Frieden:
„So setze dich in einen woren gelichen friden alles des das uf dich vallen mag, in weler wise das si. Als du getuost das din, so bis ane vorchte aller dinge, wie sie koment, in friden, und bevilhe alle ding Gotte, und losse du dich ime zemole och an dinen gebresten nach sinnelicher wise, nút in vernúnftiger wise, das ist in einem abker und in eime missvallende; do enmag es nút ze vil sin; aber in sinnelicher wise so were es eime ein grosse hindernisse. Alsus halt dich aller dinge in friden, och an den goben Gotz. Er git dir, er nint dir: alles blibe gelich. Alsus wirst du ein gelossen mensche, das du alle ding gelich von Gotte nimest: liep und leit, sur und sues, in eime woren volkomenen friden.“1476
„So stelle dich in einen wahren, gleichmäßigen Frieden in allem, was auf dich fallen mag, in welcher Weise das (auch) sei. Wenn du tust das Deine, so sei in allen Dingen ohne Furcht, wie sie (auch) kommen, und in Frieden, und befiehl Gott alle Dinge, und (über)lasse dich ihm auch völlig mit deinen Gebrechen (d.h. Fehlern), nicht nach sinnlicher Art, sondern in vernünftiger Weise, das heißt, durch Abkehr und Missfallen1477; davon mag es nie zu viel geben; aber in sinnlicher Weise wäre es ein großes Hindernis. Also halte dich in allen Dingen in Frieden, auch was die Gaben Gottes betrifft. Er gebe oder nehme dir: Alles bleibe (in dir) gleichmütig. So wirst du ein gelassener Mensch, wenn du alle Dinge von Gott auf gleiche Weise entgegennimmst: Lieb und Leid, Saures und Süßes, in einem wahren, vollkommenen Frieden.“
Dieser gelassene Mensch verhält sich gegenüber allen Dingen, die ihm Freude und Genuss versprechen, „als ein slaffent mensche“1478 (wie ein Schlafender)1479: „Und darumbe alles das er uns hat gegeben, das sol man im in rechter gelossenheit alles lossen als ob mans nie gewunnen enhette“1480 („Und darum soll man alles, was er uns gegeben hat, ihm in rechter Gelassenheit lassen, so als ob man´s nie empfangen hätte“). Wer ganz gelassen wird – im sich Loslassen und sich Gott Überlassen – gerät in Bedrängnis, weil der Verlust von den fassbaren Dingen und den sinnlichen Erfahrungen, auch in Bezug auf Gott, Angst macht.1481 Auch diese Bedrängnis nennt Tauler Gelassenheit; hier erlebt der Mensch die höchste Form des sich Loslassens überhaupt:
„Lieben kint, also múgent ir verre lieber liden die uffelle in den dich Got suochet, umbe das der grunt zemole gesunt und heil werde eweklichen. So sprich, wenne unversehen liden uf dich velt, es si von innan oder von ussen: ‚bis wilkomen, min lieber einiger getrúwer frúnt; hie enhatte ich mich din nút versehen noch din gewartet‘, und nige vil demuetklichen dar engegen. Also wissest, Got der suochet dich in allen dingen.“1482
„Liebe Kinder, genauso möget ihr viel lieber leiden unter dem, was auf euch fällt, womit Gott euch sucht, damit der Grund völlig gesund und heil werde in alle Ewigkeit. So sprich, wenn unversehens Leiden auf dich fällt, es sei von innen oder von außen: ‚Sei willkommen, mein lieber, einziger, getreuer Freund; hier hatte ich mich deiner nicht versehen noch deiner erwartet‘, und neige dich ihm sehr demütig entgegen. Also wisse, Gott sucht dich in allen Dingen.“
Deshalb soll sich der Mensch nicht nur Gott, sondern auch den Mitmenschen unterwerfen.1483 Gerade im Verhältnis zu den Mitmenschen zeigt sich die wahre Gelassenheit1484 – d.h. die Unabhängigkeit und Freiheit gegenüber all dem, was z.B. Menschen einander antun können:
„Nu verstent: was ich spriche von mir, do mit meine ich alle menschen. Ich han enphangen von Gotz gnaden minen orden und von der heiligen kilchen, und dise kappe und dise kleider und min priesterschaft und ein lerer ze sinde und bichte ze hoerende. Kemes nu also das mir dis der babst nemen wolte und die heilige kilche von der ich es han, ich solte es in alles lossen mit einander und ensolte nút frogen war umbe si mir es nemen, wer ich gelossen mensche, und solt einen grawen rok antun, moecht ich in haben, und ich ensolte númme in minem kloster bi den bruoderen sin, so gieng ich dar us, noch númme priester sin noch bichte ze hoeren noch bredien, alles in Gotz namen, so si nit me, wan si hant es mir gegeben und múgent mirs och nemen; des enhan ich si nút ze frogende war umbe.“1485
„Nun versteht: Was ich sage von mir, damit meine ich alle Menschen. Ich habe durch Gottes Gnade und von der heiligen Kirche meinen Orden empfangen, diese Kutte, dieses Gewand, mein Priestertum und ein Lehrer zu sein und Beichte zu hören. Käme es nun also, dass der Papst mir dies nehmen wollte und die heilige Kirche, von der ich es habe, sollte ich ihnen, wäre ich ein gelassener Mensch, alles miteinander lassen und nicht fragen, warum sie es mir nehmen; und sollte ich einen grauen Rock antun, sollte ich einen haben, und sollte ich niemals mehr in meinem Kloster bei den Mitbrüdern sein, so ging ich daraus, niemals mehr Priester sein noch Beichte hören noch Predigen, alles in Gottes Namen, nichts mehr von alldem, denn sie haben es mir gegeben und mögen mir es nun nehmen; ich habe sie nicht zu fragen, warum.“
Gelassenheit gegenüber Gott und Mensch in diesem Sinne ist Freiheit und Unabhängigkeit zum Gehorsam gegenüber Gott, der Obrigkeit und der Kirche.1486 Letztes Ziel ist jedoch die vollkommene Freiheit für Gottes Willen.
Tauler geht es nicht nur um die Gelassenheit von äußeren Dingen. Die äußere Gelassenheit bereitet den Menschen auf die innere Gelassenheit vor, auf die Bedrängnis infolge des Mangels an göttlichem Trost, d.h. an Gott selbst – denn auch hier zeigt sich die Glaubwürdigkeit in der Gelassenheit, in der Offenheit gegenüber Gott, wenn der Mensch von sinnlichen und emotionalen Erfahrungen im geistlichen Leben unabhängig bleibt und dafür offen wird für das Wirken des einen Gottes in seinem reinen, dem Sinnlichen und Vernünftigen entzogenen Sein:
„Kinder, dar úber wirt dem geiste fúr gehalten alsolicher truk das im alle die suessikeit und wollust wirt als gar ze mole benomen als es nie nút engewunne, und wirt im do ein als in getrukte und zesamen gejagte mosse, und wirt ze grunde in sich selber geslagen, das im die wollust al zemole wirt benomen.“1487
„Kinder, darüber hinaus wird dem (menschlichen) Geist ein solcher Druck zuteil, dass ihm alle Süßigkeit und Lust (im geistlichen Leben) ganz und gar genommen wird, als ob er sie niemals gewonnen hätte, und ihm wird dabei ein eingedrücktes und gerütteltes Maß zuteil, und er wird in sich selber zugrunde geschlagen, dass ihm jegliche Lust völlig genommen wird.“
Der Mensch gerät in eine derart radikale Gelassenheit, dass er von Gott, von all seinen Gnaden, von Trost noch von all dem, was ihm oder anderen Gutes zuteil wurde, nichts mehr „weiß“: „das wurt ime hie zuomole verborgen und benomen“1488 („Das alles wird ihm hier völlig verborgen und genommen“).
Wenn sich der Mensch in dieser Gelassenheit aber Gott überlässt, ihm vertraut und durchhält, wird er von seiner Angst befreit.1489
„Und sol der mensche fride haben, in der worheit, so muos er dis armuotes und dis truckes also gelossen sin und also lidig ston, das er von allem disem wolluste nút enhalte, denne allein trucke sich in in einer gelossener wise in den einveltigen grunt des aller liebsten willen Gotz, das armuote von Gotte ze nemende und sich do inne ze lidende, ob es Got wolte han gelitten untz an den jungsten tag.“1490
„Und soll der Mensch wahrhaftigen Frieden haben, so muss er diese Armut und diesen Druck so gelassen und so frei (hinnehmen), dass er von all der Lust nichts halte; allein füge er sich in einer gelassenen Weise in den einfachen Grund des allerliebsten Willens Gottes ein, um die Armut von Gott (anzu)nehmen und sie zu ertragen, selbst wenn sie Gott bis zum jüngsten Tag ertragen haben wollte.“
Tauler vergleicht den Menschen in dieser Situationen mit den Gläubigen des Alten Bundes1491, die auf die Erlösung hoffen, aber „die porten worent beslossen“1492 („die Pforten [des Himmels] waren verschlossen“), so dass niemand zu sagen vermochte, wann die „loesunge beschehen solte“1493 („Erlösung geschehen werde“). Der Mensch, der gelassen allen Trostes und aller Freude entbehrt, lebt in einer „vinster hoffnunge“1494 („finsteren Hoffnung“), weil er die Erlösung weit entfernt wähnt. Wer sich aber dem göttlichen Willen vertrauensvoll in dieser finsteren Hoffnung überlässt, in „gebeitsamer gelossenheit“1495 („geduldsamer Gelassenheit“), der wird nicht nur von seiner Angst befreit, sondern Gott wird im Menschen geboren1496, d.h.
„so wurt in úch geborn Cristus, die nuwe e, fride in der worheit und froeude in dem heiligen geiste. ... Der geist machet lebende lebende ein wor goetlich leben sin selbes úber alle engelsch leben oder menschen verstentnisse, úber alle sinne und vernunft.“1497
„so wird in euch Christus geboren, der neue Bund, Friede in der Wahrheit und Freude im Heiligen Geist. ... Der Geist macht in euch ein wahres göttliches Leben seiner selbst lebendig, über alles Leben der Engel oder über alles menschliche Verständnis hinweg, über alle Sinne und Vernunft.“
Die Ursache dafür, dass der Mensch diesen Druck in Gelassenheit aushalten kann, ist jedoch Gott selbst, nämlich eine Gabe des Heiligen Geistes, der göttliche Rat: „So lert der mensche gelossenheit und sterben und sich ergeben den gruwelichen verborgen urteiln Gottes“1498 („So lernt der Mensch Gelassenheit und Sterben und Ergebenheit in die furchtbaren, verborgenen Urteile Gottes“).
„Do wurt der mensche berobet sin selbes in rechter worer gelossenheit und versincket in den grunt des goettelichen willen, nút in diseme armuote und blosheit zuo stande ein wochen oder ein manot, mere, obe Got wil, tusent jor oder eweklichen, oder obe in Got ein ewigen hellenbrant wolte haben in ewiger pinen, daz er sich darin zuo grunde gelossen kan: kinder, dis were gelossenheit.“1499
„Da wird der Mensch seiner selbst beraubt in rechter, wahrer Gelassenheit, und (er) versinkt in den Grund des göttlichen Willens, in dieser Armut und Bloßheit nicht nur eine Woche zu stehen oder einen Monat, sondern, wenn Gott will, tausend Jahre oder ewig; oder, wenn ihn Gott in einem ewigen Höllenbrand wollte haben, in ewiger Pein, dass er sich (selbst) darin gründlich lassen könnte: Kinder, das wäre Gelassenheit.“
Die einzelnen Phasen und Momente der äußeren und inneren Gelassenheit, das Loslassen, das Überlassen und die Gelassenheit als Ziel, beschreibt Tauler immer wieder auf verschiedene Weise. So erscheint z.B. in den Predigten, die von den Tugenden handeln, die Gelassenheit als eine Tugend unter anderen.1500 Im Folgenden wollen wir uns anschauen, wie Tauler die Dynamik der Gelassenheit, ihre einzelnen Phasen, beschreibt.
Wer Christus in den Himmel nachfolgen und mit Gott eins werden will, muss „Gottes gezúg in der worheit“1502 („Gottes wahrer Zeuge“) sein.1503 Im Kontext der Predigt über die Wahl des Matthias zum Nachfolger des Judas Iskariot1504 ist derjenige ein wahrer Zeuge, der klein vor Gott ist:
„Und wissest, wiltu kummen zuo dem hohen und allerhoehsten wesen, das du Gotz junger werdest und sin war gezúg in der hoehsten wisen, so muost du der allerminneste, der allerkleinste dich vor Gotte bekennen und achten.“1505
„Und wisse, willst du zum hohen und allerhöchsten Wesen kommen, dass du Gottes Jünger und sein wahrer Zeuge in der höchsten Weise wirst, so musst du der Allergeringste, dich als den Allerkleinsten vor Gott bekennen und achten.“
Wer also in Gott erhoben werden will, der muss sich selbst verkleinern, in der „underwurffe under Got und alle creaturen“1506 („Unterwerfung unter Gott und alle Geschöpfe“). Sich selbst verkleinern bedeutet aber, sich als ein Nichts zu erkennen gegenüber Gott.1507 Deshalb fordert Tauler den Christen auf:
„Val uf din nicht und nim din nicht sin und dar an halt dich und an anders nút.“1508
„Falle auf dein Nichts und nimm dein Nichtssein, und daran halte dich und an nichts anderes.“
Der Mensch lässt sich aufgrund der Erkenntnis des eigenen Nichts völlig los und überlässt sich ganz dem göttlichen Willen.1509 Dieses Loslassen bezeichnet Tauler als eine Form des Sterbens: „Du muost entrúwen, kint, dich lossen und ersterben din selbes ze grunde“1510 („Du musst wahrlich, Kind, dich lassen und deines Selbst ersterben von Grunde aus“). Wie der irdische Christus soll der Mensch das eigene Selbst loslassen können, um sich Gott ganz hinzugeben. Der Mensch muss sterben, um wieder aufzuerstehen1511, um in der Einheit mit Gott ein neuer Mensch zu werden. In diesem Zusammenhang spricht Tauler auch von Selbstverleugnung und Selbstvernichtung. Die Selbstverleugnung ist für den Prediger der kürzeste Weg zur wahren Seligkeit1512:
„Das ist ein war verloucken der mensche sin selbes und ein luter gruntlich blos meinen und minnen Got und nút daz sine in keinen dingen, dan alleine der ere und der glorie Gottes begeren unde suochen von Gotte sunder mittel, ouch wo es herkumme und ime wider uftrage alle ding, ouch sunder alle umbewege und mittel, das do si ein gantz unmittelliches usflus und widerflos.“1513
„Das ist, dass der Mensch wahrhaftig sein Selbst verleugnet und in lauterer, gründlicher (Weise) allein Gott im Sinn hat und liebt und in keiner Sache das Seine sucht, außer (dass er) allein die Ehre und den Ruhm Gottes begehrt und (alles) von Gott unmittelbar ersucht, wo es auch (immer) herkommt, und ihm alle Dinge wieder darbringt, auch ohne Umwege und (ganz) unmittelbar, so dass ein ganz unmittelbares Aus- und Zurückfließen entsteht.“
Die Selbstverleugnung ist also die Voraussetzung dafür, dass Gott ungehindert im Menschen wirken kann.
Der Selbstverleugnung geht aber die Erkenntnis des eigenen Nichts voraus1514, denn sie ermöglicht erst, dass der Mensch sich selbst verleugnen, d.h. sich Gott ganz überlassen kann.1515 Und der Mensch kann sich nur dann Gott völlig überlassen, wenn er zu einem Nichts wird, er sich also selbst vernichtet: Der Mensch soll seiner eigenen Tiefe begegnen,
„das ist ein grundelos abgrúnde eins vernichtendes irs selbes sunder grunt; das ist: moehtent si ze mole zuo eime luter nichte werden, das dúchte si billich und recht sin. Das kumet us der tieffi und bekentnissi irs nichtes.“1516
„das ist ein grundloser Abgrund unergründlicher Selbstvernichtung; das bedeutet: Könnten sie zu einem lauteren Nichts werden, das dünkte sie recht und billig. Das kommt aus der Tiefe und (aus) dem Bekenntnis ihres Nichts.“
Selbstvernichtung betrifft also die gesamte Person in ihrer Existenz, während die Selbstverleugnung vor allem die Eigenschaften und Handlungsweisen dieser Person berührt – wie z.B. Wille, Gemüt, Lebensführung1517 –, die jedoch verleugnet werden müssen, um ein Nichts zu werden, das allein durch Gott „Etwas“1518 werden kann. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist jedoch die Erkenntnis, dass der Mensch ein Nichts ist: Denn
„enwúrket die hocheit Gotz niergen als fruchtberlichen noch als goetlichen als in der tiefster niderheit des menschen.“1519
„es wirkt die Hoheit Gottes nirgends fruchtbringender und göttlicher als in der tiefsten Niedrigkeit des Menschen.“
Wer sich also selbst erniedrigt, indem er zum Nichts wird, der wird von Gott erhöht. Auf dem Weg der Selbsterniedrigung folgt der Mensch dem Vorbild des menschgewordenen Christus.1520
Wir müssen an dieser Stelle noch ausführlicher darauf eingehen, welche Bedeutung die Rede vom Nichts hat, denn wir haben zum einen von der Erkenntnis des Nichts gesprochen und zum anderen vom Nichts-werden. Vom Nichts-werden zu sprechen ist dabei nicht ganz korrekt, denn der Mensch muss kein Nichts werden, da er von Natur aus Nichts ist. Allerdings besteht ein Unterschied darin, ob er davon weiß oder nicht. In diesem Zusammenhang zeigt sich erst, wie wichtig die Erkenntnis des eigenen Nichts-seins ist. Der Mensch muss erst erkennen, dass er ein Nichts ist, um infolge dieser Erkenntnis erst wirklich ein Nichts zu werden, welches sich Gott nun ganz hingeben kann, um „Etwas“ zu werden.1521
Der Mensch ist deshalb ein Nichts, weil alles, was er besitzt, Gottes Eigentum ist und bleibt:
„Lieben kinder, nu enhat der mensche doch nichtes nicht von im selber; es ist alzemole luterlichen Gotz sunder mittel und von im, gros und klein.“1522
„Liebe Kinder, nun hat der Mensch doch gar nichts von sich selbst; es ist alles allein und ausschließlich Gottes (Eigentum) und von ihm, (ob) groß (oder) klein.“
Er ist des Weiteren ein Nichts, weil er ein Sünder, „ein verderbnisse alles guotes inwendig und ussewendig“1523 („ein Verderber alles Guten, innerlich und äußerlich“), ist. Entsprechend unterscheidet Tauler zwischen dem natürlichen Nichts und dem gebrechlichen und schuldigen Nichts1524:
„Das natúrlich nicht das ist das wir von naturen nicht ensint, und das gebrestlich nicht das ist das uns ze nichte gemacht hat.“1525
„Das natürliche Nichts ist, dass wir von Natur aus nichts sind; das gebrechliche Nichts ist das, was uns zu einem Nichts gemacht hat.“
Der Mensch aber ist ein gebrechliches, sündiges Nichts aufgrund des ersten Sündenfalls.1526 Um zur Erkenntnis des eigenen Nichts zu gelangen, ist es nützlich1527, sich selbst in „worheit in allem verstonde“1528 („in Wahrheit [und] in allem Verstehen“) zu beobachten:
„In allen dinen werken und usgengen nim din selbes flissecliche war und sich in din grundlos niht mit einem biblibende und nim war womitte du umbegost und waz dir inne si.“1529
„In allen deinen Werken und Schritten nimm‘ dein Selbst fleißig wahr, und sieh beharrlich in dein grundloses Nichts, und nimm wahr, womit du umgehst und was in dir ist.“
Der Mensch untersucht also mit Hilfe seines Verstandes seine Beziehungen zur äußeren Welt und zur eigenen äußeren und inneren Person. So erkennt der Mensch beispielsweise aus dem Guten in der Schöpfung, dass Gott das Sein alles Guten ist.1530 Aus dieser Erkenntnis können nun die Menschen Gottes Hoheit ableiten, aber „ie me si bekennent sin hocheit, ie me si erkennent ir kleinheit und vernútheit“1531 („je mehr sie seine Hoheit erkennen, je mehr erkennen sie ihre Kleinheit und ihr Nichtssein“). Denn es wird ihnen die Kontingenz allen Seins bewusst, dass nämlich nichts so sein muss, wie es geworden ist:
„Do Got alle ding schaffen und machen wollte, do en waz im nicht von wan nút. Er enmachte mit nút allein ein ding von úte: er machte alle ding von núte.“1532
„Als Gott alle Dinge erschaffen und machen wollte, da war vor ihm nichts als Nichts. Er machte aus Nichts allein Etwas: Er machte alle Dinge aus Nichts.“
Wenn aber Gott aus Nichts alles erschaffen hat, dann war auch der Mensch Nichts, und er bleibt ein Nichts, das nur durch Gott Etwas geworden ist und nur in Verbindung mit Gott Etwas bleibt.1533 Tauler nennt den Menschen deshalb auch ein geschaffenes Nichts.1534 Der Mensch ist aber auch aufgrund seiner Verwandtschaft mit Gott ein Nichts zu nennen, denn Gottes Sein kann mit irdischen Kategorien nicht begriffen werden: Gottes Einheit ist verborgen und unbekannt1535 – er ist ebenfalls Nichts.1536
Auch wenn der Mensch auf sein Äußeres – d.h. allein auf seine Körperlichkeit und die biologischen Funktionen – schaut, kann er davon sein Nichtssein ableiten: Denn nach Tauler ist der Mensch aus unsauberer und unreiner Materie entstanden und deshalb unsaubere und übelriechende Unreinheit.1537 Selbst im Vergleich mit dem vernunftlosen Vieh erweist sich, dass der Mensch nichts Besonderes vorzuweisen hat:
„Nun sich wie die tumben vich herlicher sint in ir nature, und wachsent ir kleider, do in mit genueget, ist warn, ist kalt; und du muost von in lehenen din kleit. ... Die tier, das vihe, den genuegt an spise, an tranke, an kleidern, an betten, als es Got gemachet hat. Nun sich, was gehoert wunders her zuo das din arme nature enthalten werden! Und do ab nimet man dar zuo grossen lust und uebet grosse gebresten an der nútzunge der toten vihe.“1538
„Nun siehe, wie das törichte Vieh herrlicher ist in seiner Natur, (denn) ihm wachsen seine Kleider, (und) daran genügt ihm, ist es warm, ist es kalt; du (aber) musst von ihm deine Kleidung leihen. ... Dem Tier, dem Vieh genügt das an Speise, an Trank, an Kleidern, an Lager, wie es Gott gemacht hat. Nun siehe, was Wunders alles dazu gehört, dass deine arme Natur erhalten werde! Und das bereitet auch noch große Lust und (man) begeht große Sünden in der Nutzung des toten Viehs.“
Auch das innere Leben sieht Tauler kritisch, vor allem wenn sich der Mensch einzig und allein auf seine natürliche Vernunft und Vorstellungskraft verlässt und auf diese Weise Gott zu finden glaubt.1539 Meistens geht es dem Menschen dabei nur um die zu empfindende Freude und Lust, aber nicht wirklich um Gott – solch ein inneres Leben aber ist wurmstichig.1540 Weil aber Gott Nichts ist, findet man ihn auch nicht wirklich in diesen Formen der Frömmigkeit. Deshalb fordert Tauler:
„Liebes kint, ich wil dich leren: du solt alsus dinen Got ansehen, nit als luteren menschen, sunder sich an den aller grosten gewaltigen ewigen Got, der himelrich und ertrich mit einem worte gemacht hat und ze núte machen mag und der úber weselich und úber bekentlich ist.“1541
„Liebes Kind, ich will dich lehren: du sollst also deinen Gott nicht als reinen Menschen ansehen1542, sondern sieh ihn an als den allergrößten, gewaltigen, ewigen Gott, der Himmelreich und Erde mit einem Worte geschaffen hat und zunichte machen kann und der alles Sein überragt und unerkennbar ist.“
Deswegen soll der Mensch auf jegliches intellektuelles und emotional gefärbtes Wissen und Wissen-wollen verzichten und sein Nichtwissenkönnen annehmen und darin versinken – d.h. er soll nicht nach Gott fragen bzw. über ihn forschen –; er soll sich einzig und allein an den unbekannten Gott halten und keine Erleuchtung oder Empfindung anstreben, sondern das eigene Nichts suchen.1543
Wenn der Mensch auf sich selber achtet, dann erkennt er sich auch als ein gebrechliches bzw. schuldiges Nichts: „Wan unser ichtikeit und annemlicheit die hindert Got sines edelen werkes in uns“1544 („Denn unsere Ich- und Selbstsucht behindern Gott an seinem edlen Werk in uns“). Der sündige Mensch hat sich mit seinem Fehlverhalten, indem er z.B. in äußeren Dingen sein Heil sucht, den Weg zu Gott versperrt.1545 Der Grund des Menschen ist mit einem Unkraut verwachsen, das Gottes Wirken im Menschen behindert. Um sich aber wieder dem Wirken Gottes ganz öffnen zu können, muss dieses Unkraut, d.h. die Hindernisse, erkannt werden: Der Mensch
„solt also grossen flis haben ze bekennent sich selber war uf sin grunt gienge, sin meinunge, sin minne und flis, ob ein unkrut do under gewachsen si; wan der grunt muos luterlichen und bloslichen uf Got gon und nút anders meinen denne in.“1546
„sollte also einen großen Fleiß aufbringen, sich selber zu erkennen, worauf sein Grund ziele, seine Gesinnung, seine Liebe und sein Fleiß (sein Streben), ob ein Unkraut darin gewachsen sei; denn der Grund muss lauter und bloß auf Gott zugehen und nichts anderes im Sinn haben als ihn.“
Und wenn er etwas findet, worin er sich schuldig macht, dann soll er dies Gott klagen, denn nur Gott kann alles wieder in Ordnung bringen: Wenn sich der Mensch mit seinen Sünden an Gott wendet, dann „entfallen“ sie ihm, so dass er nicht mehr von ihnen weiß.1547 Der Mensch soll nicht ununterbrochen nach den Ursachen der Schuld forschen – d.h. permanent um sie kreisen –, sondern in ihr das eigene Nichts entdecken, um sich immer mehr allein dem Willen Gottes hinzugeben bzw. zu überlassen.1548 Die Erkenntnis der Schuld und des eigenen Nichts wird so zu einem Weg zur vollkommenen Gelassenheit und damit zu einem Weg zu Gott:
„In disem nidersehende in sine gebresten sol sich der mensche sere demuetigen und legen fúr die fuesse Gotz, das er sich erbarme úber in. So sol er gantz hoffen das Got alle schult lat varn. Und do wirt alzehant Johannes (das ist die gnade) geborn usser disem grunde der demuetkeit; wan so ie niderre, so ie hoehere: das ist ein ding.“1549
„In diesem Niedersehen in seine Gebrechlichkeit soll sich der Mensch sehr demütigen und sich vor die Füße Gottes legen, so dass er sich seiner erbarme. So soll er ganz hoffen, dass Gott alle Schuld nachlässt. Und dort, aus diesem Grund der Demut, wird sogleich ‚Johannes‘ – das heißt die Gnade (Gottes) – geboren; denn je niedriger (die Demütigung), desto höher (die Erhebung): Das ist alles eine Sache.“
Die Bereitschaft zur Erkenntnis des sündigen Nichts und der damit verbundenen Demütigung hat ihre Ursache in Gott selbst: Denn der Geist des Menschen wird von Gott erleuchtet, wenn der Mensch in der Stille in sich selber einkehrt, wodurch die Aufmerksamkeit für die eigene Schuld zunimmt1550: „wan so im ie klerlicher und bloslicher in lúcht Gottes grosheit, so im ie bekentlicher wirt sin kleinheit und sin nichtkeit“1551 („Denn je klarer und reiner Gottes Größe [in den Menschen] hineinleuchtet, um so erkennbarer wird ihm seine Kleinheit und seine Nichtigkeit“). Das Bewusstsein der eigenen Schuldhaftigkeit löst die Selbsterniedrigung erst aus, die zu heftigen Selbstanklagen führen kann: Der Mensch hält sich womöglich für schlimmer als der „böse Feind“ oder Luzifer.1552 Ein Mitbruder Taulers z.B. – Bruder Wigman1553 – „bekante als verre sin nút das er sine stat niergent konde vinden denne in dem aller tiefsten grunde der helle“1554 („erkannte in solchem Maße sein Nichts, dass er seine Statt nirgends anders konnte finden als in dem tiefsten Grund der Hölle“). Einem anderen wird womöglich bewusst, dass ihn die Erde unverdientermaßen auf ihrem Rücken trage.1555 Und weiter gibt Tauler zu bedenken,
„das manig tusent menschen in der helle sint die liehte nie als vil unertikeit an in engewunnen; und het Got also vil liechtes gegeben und also manig gros guot getan als er dir geton, si weren dir ungelich worden. Und er hat din geschonet und gebeitet, und er hat si eweklichen verdamnet.“1556
„dass viele tausend Menschen in der Hölle sind, die vielleicht nicht so viel Bosheit in sich getragen haben (wie du); und hätte ihnen Gott genauso viel des Lichtes gegeben und genauso große Gaben verliehen wie dir, sie wären anders geworden als du. Und er hat dich geschont und (auf dich) gewartet, und er hat sie (aber) ewiglich verdammt.“
Auf Gottes Liebe, die in die Bereitschaft zur Selbsterniedrigung und Selbstvernichtung mündet – für Tauler folgt der Mensch dabei dem Leiden Christi1557 – „antwortet“ Gott mit der Erhöhung des sich selbst Erniedrigenden1558, was Tauler wiederum am Beispiel des Bruders Wigman anschaulich umschreibt:
„Do er do lag, da horte er ein stimme ruoffen von dem obersten himel, die sprach: ´Wigman, kum balde her uf in den obersten tron, in das vetterliche herze´.“1559
„Als er dort (in der Hölle) war, da hörte er eine Stimme aus dem oberen Himmel rufen: ´Wigman, komm schnell herauf zum obersten Thron, in das väterliche Herz´.“
In dieser Erhöhung – d.h. in der Einung mit Gott – gerät der Mensch
„al ze mole von im selber und im gebrist des geistes (das ist al enthalt), und alles das sin was, dem enpfelt er hie allem in allen wisen, und in allen dingen entsinkt er als gar in sin luter nút.“1560
„völlig außer sich und ihm gebricht der Geist (das ist alles, was ihn hält), und alles, was sein war, dem entsinkt er hier in allen Weisen, und in allen Dingen entsinkt er ganz und gar in sein lauteres Nichts.“
Wer also sein schuldiges (und auch geschaffenes) Nichts erkennt und in Selbsterniedrigung und Selbstvernichtung zu einem wahrhaftigen Nichts wird, indem er sich Gottes Wirken überlässt, versinkt noch tiefer in „das goetlich innerlich abgrúnde“1561 („den göttlichen innerlichen Abgrund“). Dabei wird aus seinem schuldigen und geschaffenen Nichts ein lauteres, reines Nichts. Der Mensch hat sich soweit Gott überlassen, dass er nicht mehr das ist, was äußerlich oder innerlich an ihm erkennbar ist – also sein schuldiges und geschaffenes Nichts. Tauler spricht davon, dass der Mensch sein Nichts „vergisst“1562. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Mensch kein Sünder mehr ist; er bleibt Sünder, aber die Sünden können das Wirken Gottes nicht mehr behindern, weil sich der Mensch Gott völlig überlässt1563:
„Disen lúten den ist himel und erde und alle creature als ein luter nút, wan si sint selber ein himel Gotz, wan Got hat raste in in.“1564
„Diesen Leuten sind Himmel und Erde und alle Geschöpfe wie ein lauteres Nichts, denn sie sind selber ein Himmel Gottes, denn Gott wohnt in ihnen.“
Der Mensch gleicht in seiner Offenheit gegenüber Gott nun dem Nichts Gottes, der ja all das nicht ist, was mit den menschlichen Sinnen erkannt werden kann.1565 Nun aber wird der Mensch von Gott in sein väterliches Herz – im göttlichen Nichts – erhöht: „do flússet das ein abgrúnde in das andere abgrúnde und wirt do ein einig ein, ein nicht in das ander nicht“1566 („Da fließt der eine Abgrund in den anderen Abgrund und wird ein einig Ein, ein Nichts in dem anderen Nichts“). Wer sich auf diesen „Weg des ‚Ich bin Nichts‘ “1567 begibt, der findet in Gott den wahren, wesentlichen und ewigen Frieden, der das sicherste und edelste ist, was diese Welt hat.1568 Halten wir mit Tauler fest:
„Wiltu kummen zuo dem hohen und allerhoehsten wesen ... so muost du der allerminneste, der allerkleinste dich vor Gott bekennen und achten.“1569
„Willst du kommen zu dem hohen und allerhöchsten Wesen ... so musst du dich als den Allergeringsten, als den Allerkleinsten vor Gott bekennen und achten.“
Der Mensch muss auf sich selber achten und
„entkleit werden, du muost uf din niht gewiset werden und sehen waz in dir verborgen und bedecket lit.“1570
„entkleidet werden; du musst auf dein Nichts gewiesen werden und sehen, was in dir verborgen und verdeckt liegt.“
Dabei aber findet der Mensch nicht nur seine eigene Tiefe, d.h. sich selbst, sondern auch Gott.
Anhand biblischer Beispiele1572 stellt Tauler Sünder und „Gerechte“ einander gegenüber, um die Bedeutung der Sündenerkenntnis für das Fortschreiten auf dem Weg zu Gott zu unterstreichen.1573 In einem Beispiel vergleicht Tauler das Gebet eines „Gerechten“ mit dem eines Sünders im Tempel1574:
„Nu dieser menschen eins was ein phariseus – wie es dem ergieng, dannan ab sprach das ewangelium – und der ander ein publicanus, und stuont verre und engetorste sin ogen nút uf heben in den himel und sprach: ‚herre, erbarme dich mins armen súnders.‘ Dem ergieng es seliklichen.“1575
„Nun, einer dieser Menschen war ein Pharisäer – wie es dem erging, davon sprach das Evangelium1576 – und der andere ein Zöllner, und (er) stand weit entfernt und wagte nicht seine Augen zu erheben in den Himmel und sprach: ‚Herr, erbarme dich mir armem Sünder.‘ Diesem erging es selig.“
Dieser Sünder ist für Tauler ein Vorbild für alle Christen, da er sein Nichts erkennt1577 und sich völlig der Barmherzigkeit Gottes hingibt:
„Wan diser weg der bringet dem menschen Got steklichen in ane alles mittel; wan war Got kumet mit siner barmherzikeit, dar kumet er mit allem sinem wesende und mit im selber.“1578
„Denn dieser Weg bringt den Menschen ohne Unterlass und unmittelbar zu Gott; denn wohin Gott kommt mit seiner Barmherzigkeit, dahin kommt er mit seinem ganzen Wesen und mit sich selbst.“
Durch die Erkenntnis seines Nichts, seiner Sündhaftigkeit, wird dem Zöllner bewusst, dass er von Gottes Hilfe abhängig ist. Dadurch öffnet er sich umfassend der Barmherzigkeit Gottes, und Gott kann ihn erneuern.1579
Wie aber drückt sich die Umkehr des Zöllners zu Gott, seine völlige Hingabe, konkret aus? Hier dienen als Beispiel der Zöllner Zachäus1580 und die große Sünderin1581, die das Festmahl eines frommen Pharisäers durch ihr Kommen stört: Wer – wie Zachäus – erneuert werden möchte, der soll auf den dürren Feigenbaum steigen. Auf den Feigenbaum steigen bedeutet in einem ersten, allgemeinen Sinn „sterben den sinnen und der nature und leben dem innewendigen menschen, do Got uf wandelt“1582 („Sterben der Sinne und der Natur [des Menschen] und leben im inneren Menschen, worin Gott wandelt“). In einem zweiten Sinn symbolisiert der Feigenbaum Haltungen, die tiefer zu Gott führen. Tauler bedient sich in seiner Erklärung zweier Frauenbildnisse, die von Hildegard von Bingen stammen1583: Das eine Bild zeigt eine in blau gekleidete Frau ohne Gesicht und Augen. Das Kleid dieser Frau ist dafür aber über und über mit Augen bedeckt. Dieses Bild symbolisiert die „heilige vorchte Gotz“1584 („heilige Gottesfurcht“): „Ein flissig war nemen der mensche sin selbes in allen stetten und wisen, in worten, in werken“1585 („Ein fleißiges Wahrnehmen des Menschen seiner selbst an allen Orten und Weisen, in Worten und Werken“). Die Gestalt ist deshalb ohne Antlitz und ohne Augen, da sie „vergisset ir selbes, ob man si minne oder hasse, lobe oder schelte“1586 („ihr Selbst vergisst, ob man sie liebe oder hasse, lobe oder schelte“). Die Gestalt hat auch keine Hände, da sie in rechter Gelassenheit steht, „lidig aller annemlicheit in aller wise“1587 („ledig gegenüber aller Selbstsucht in jeder Weise“). Neben dieser Frau steht eine andere, die ein blasses Kleid trägt und beide Hände erhoben hat. Diese Gestalt hat weder Haupt noch Gesicht. Stattdessen sieht man den goldenen Glanz der göttlichen Herrlichkeit:
„Und die gotheit die ist sin hobet, und meint das bilde das wore blosse armuote des geistes des des hobet ist Got eigen.“1588
„Und die Gottheit ist das Haupt, und das Bild meint (damit) die wahre, bloße Armut des Geistes, deren Haupt Gott selbst ist.“
Die Blässe des Kleides symbolisiert dabei die Schlichtheit im Wandel, das Fehlen jeglicher Anmaßung gegenüber allem, was Gott dem Menschen schenkt, d.h. die „lidige lutere gelossenheit“1589 („ledige, lautere Gelassenheit“). Beide Frauengestalten sind barfuß: „Das meint die blosse nachvolgunge des woren bildes unsers herren Jhesu Christi“1590 („Das bedeutet die uneingeschränkte Nachfolge des wahren Vorbildes unseres Herrn Jesus Christus“). Eine wichtige Haltung ist auch die Unwandelbarkeit – symbolisiert vom blauen Kleid der ersten Frau –, d.h. Festigkeit und Stetigkeit:
„Nút das man sich hútte uebe und morne sloffe lasse; aber es soll ein emzeklich unwandelber volle herten untz an das ende, mit uf gerichten henden gereit ze sinde in allen goettelichen willen, wúrkende und lidende.“1591
„Nicht, dass man sich heute übe und morgen schlafe; aber es soll sein eine emsige unwandelbare Festigkeit bis ans Ende, mit erhobenen Händen bereit zu sein, für den göttlichen Willen, wirkend und leidend.“
Wer Gott also in edelster Weise, d.h. in Zeit und Ewigkeit, sehen will1592, der muss, wie Zachäus, auf den Feigenbaum steigen. Er benötigt Gottesfurcht, um gegenüber sich selbst und allem, was geschieht gelassen – d.h. gleichmütig, indifferent – zu werden. Zu dieser Gelassenheit gegenüber dem Äußeren, gehört aber auch die ledige, reine Gelassenheit gegenüber dem inneren Leben, der Verzicht auf den Gebrauch der natürlichen Vernunft und auf die „Lust des Geistes“. Dieser Verzicht kann durch die Armut des Geistes erreicht werden.
Der Mensch soll also gegenüber allem Äußeren und Inneren arm und gelassen sein. Der Weg zur Gottesfurcht und zur geistigen Armut führt aber über die Nachfolge Christi. Wer wie Christus Gottes Willen zu folgen sucht, an dem geht dieser nicht achtlos vorbei. Er bleibt stehen, blickt hinauf und ruft den Menschen – vom Feigenbaum – zu sich herunter. Das Herabsteigen vom Feigenbaum bedeutet für den Menschen, in sein „luter nicht, nicht togen noch vermúgen“1593 („lauteres Nichts, in ein Nichtstaugen [und] Nichtsvermögen“) hinabzusteigen. Ohne Gott vermag der Mensch nichts. Die ersten beiden Formen der Gelassenheit genügen nicht – hier wirken „natur und die gnade ... noch mit einander“1594 („Natur [des Menschen] und Gnade ... noch miteinander“), der Mensch hat noch nicht völlig losgelassen. Gott aber ruft durch Jesus Christus den Menschen zu sich hinab in die tiefste Gemeinschaft, durch „ein gantz verloeigenen und ab gon der naturen“1595 („ein gänzliches Verleugnen und durch Loslösung von aller [menschlichen] Natur“). Auf diese Weise wird der Mensch zu einem lauteren Nichts, er steht in vollkommener Gelassenheit, und dann kann Gottes Heil ungehindert in den Menschen einströmen.1596
Tauler fordert – in Anlehnung an das Beispiel Johannes des Täufers –, den Weg des „Ich bin Nichts“ zu gehen: Der Mensch soll nichts von sich halten. Als positives Beispiel für solch eine Lebenshaltung verweist er wiederum auf ein anderes biblisches Beispiel, ohne dabei jedoch einem reinen „Schwarz-Weiß-Denken“ zu verfallen:
„Wir lesen yn Sant Lucas ewangelio, das eyn riche man, eyn phariseus, der hatte geladen unsern hern Cristum in syn husze. Das was eyn harte grosze gut wercke, Cristum spysen mit allen synen jungern. Und do was vil volckes. Diesz meynte er gar wol.“1597
„Wir lesen im Sankt Lukas Evangelium, dass ein reicher Mann, ein Pharisäer, unseren Herrn Christus in sein Haus eingeladen hatte. Das war ein sehr großes Werk, Christus zu speisen mit allen seinen Jüngern. Und da war (sogar) viel Volk. Dies meinte er gar gut.“
Aber in einer Sache geht der Pharisäer fehl: „yme gebrach des edelen Non sum“1598 („Ihm gebrach es am edlen ‚Ich bin nichts‘ “). Er war dem Gedanken verfallen, „er were der jener, zu dem man sich keren solde und horen und mit yme reden solde“1599 („er wäre jener, zu dem man sich kehren und auf den man hören und mit dem man reden sollte“). Anders dagegen die Sünderin, die ungeladen beim Festmahl erscheint:
„Die fiele dar nyder und sprach in yrme grunde: Non sum. Des ist sie erhaben uber alle hymmel, uber manichen kore der engele. Diese fiele yn das aller nyderste vor Cristus fusze, und usz gantzem ynnecklichem hertzen sprach sie: Non sum.“1600
„Die fiel darnieder und sprach in ihrem Grunde: ‚Ich bin nichts.‘ Deswegen wurde sie erhoben über alle Himmel (und) über manchen Engelchor. Diese fiel in das aller Niederste vor Christi Füße, und aus ganzem inniglichem Herzen sprach sie: ´Ich bin nichts´.“
Aus ihrer Selbsterniedrigung – dem „Non sum“ – wächst etwas Neues, ein „ewig, immer wernde Ego sum“1601 („ewiges, immerwährendes ‚Ich bin etwas‘ [in Gott]“). Im Gegensatz zum Pharisäer, der um sein „Ich bin etwas“ kreist, wurde die Sünderin gerade durch ihre Erkenntnis des „Ich bin nichts“ frei für das Heilswerk Christi. Die Sünderin vollzog drei wirksame Taten, als sie sich zu ihrem Nichtssein bekannte:
„Sie wiederkerte als sie abe gekert was ... . Das ander, das sie det: sie liesz sich an Cristum zuhant alzumale; das dritte: ir hertze was voll leydes.“1602
„Sie kehrte zurück (zu Gott), so wie sie sich (von ihm) abgekehrt hatte ... . Das andere, das sie tat: Sie überließ sich zugleich Christus; das dritte: Ihr Herz war voller Leiden.“
Das Leiden unter der Sündenerkenntnis führt zur Abkehr vom bisherigen sündigen Leben hin zu Gott. Ziel dieser Umkehr aber ist Christus, durch dessen Barmherzigkeit der Mensch befreit werden kann, um ganz in Gott einzukehren.
Dieser Weg des „Ich bin nichts“ ist für Tauler ein „sterben und eyn verwerden und eyn vernichten“1603 („Sterben und ein Entwerden und ein Vernichten“), bei dem es einzig und allein um die rechte Gelassenheit geht, d.h. sich mit Hilfe des irdischen Beispiels Jesu Christi Gott zu überlassen1604: „man sol sich laszen, wie isz got will gelaszen han“1605 („Man soll sich lassen, wie es Gott will gelassen haben will [wie es Gott haben will]“1606). Der einfachste und kürzeste Weg zu dieser Gelassenheit ist die Einkehr in den Grund – die Erkenntnis über die Hindernisse zu Gott im Vergleich mit dem Leben Jesu Christi:
„Gang in dynen grunt und prufe, was das sy, das dich aller meiste hyndert, das dich enthelt, dem lage und den steyn wirff in des Rhynes grunt; ... kerent uch yn uch selber und sehet, wie ferre und wie unglich das ir syt dem minneclichen bylde unsers herren Jesu Cristi.“1607
„Gehe in deinen Grund und prüfe, was das ist, was dich am meisten hindert, was dich festhält; darauf richte dein Augemerk und den Stein werfe in des Rheines Grund;... Kehrt ein in euch selbst und sehet, wie fern und wie ungleich ihr dem liebevollen (Vor)bild unseres Herrn Jesus Christus seid.“
Unter „liden“ („Leiden“)1608 versteht Tauler eine passiv-empfangende Haltung, durch welche es Gott ermöglicht werden soll, im Menschen ungehindert zu wirken. Diese Haltung übt der Mensch ein, indem er alles anzunehmen lernt, was ihm im Leben Gott und die Menschen zufügen. Es geht also nicht darum, aktiv das Leiden zu suchen, es sich selbst zuzufügen, sondern es geht um die Annahme all dessen, was dem Menschen geschieht. Im Leiden überlässt sich der Mensch dem göttlichen Wirken, um zur vollkommenen Gelassenheit zu gelangen.1609 In diesem Zusammenhang ist das Leiden für Tauler ein wertvolles Gut, über das man mit Worten nicht zu sprechen vermag.1610
Durch das Leiden soll jeder Mensch zunächst einmal wieder auf den Weg zu Gott zurückgeführt werden. Hinter dem Leiden verbirgt sich für Tauler somit ein Akt göttlicher Treue:
„Der getruwe got der sine frúnt hat erwelt zuo also grosser norheit sin selbes selikeit, und also er siht daz sú dem nút enlebent also darzuo gehöret, so let er sú daz ervolgen mit grossem swindem lidende. Und daz sú also die selikeit ervolgen, sú wellent oder enwellent, daz ist unmessige truwe von gotte.“1611
„Der getreue Gott, der seine Freunde zu so großer Teilnahme an seiner eigenen Seligkeit erwählt hat, lässt sie, wenn er sieht, dass sie nicht so leben, wie es sich dafür gehört, das erreichen über großes heftiges Leiden. Und dass sie nun die Seligkeit erreichen, ob sie wollen oder nicht, das ist die unermessliche Treue Gottes.“
Das „gesandte“ Leiden ist als ein „Angebot“ Gottes zu verstehen, ihn wieder zu finden. Tauler leugnet jedoch keinesfalls die Möglichkeit des Menschen zu einer freien Entscheidung auf dieses „Angebot“. Entscheidend ist, ob der Mensch sich auf das Leiden einlässt oder ob er es ablehnt und zu verdrängen sucht; auf diese Weise zeigt sich für ihn im Umgang mit dem Leiden die Glaubwürdigkeit eines christlichen Lebens1612:
„Aber dise valschen frúnt..., so uf die liden vellet, so wissent sú nút wo sú hin louffent, und sú loffent alles us und suchent helffe und rat und trost, und do vindent sú es nút, so wellent sú zerbrechen und verzwifeln.“1613
„Aber diese falschen Freunde (Gottes) ..., wenn Leiden auf sie fällt, so wissen sie nicht, wohin sie laufen sollen, und sie laufen herum und suchen Hilfe und Rat und Trost, und wenn sie ihn nicht finden, so wollen sie zerbrechen und verzweifeln.“
Sie suchen überall Hilfe, nur nicht in Gottes Gemeinschaft, „wanne sú nút Got in in vindent in dem grunde“1614 („denn sie finden in sich nicht Gott, nicht in ihrem Grund“). Fest steht für Tauler, ohne Leiden kommt der Mensch auf seinem Weg zu Gott nicht weiter vorwärts: „Wissent das, kinder, so wer sinen stat herin nút entsetzet, der verblibet, und us dem unwurt niemer nút“1615 („Wisset das, Kinder, wer seinen Platz nicht hierin einnimmt, der bleibt zurück und aus dem wird niemals etwas“). Immer wieder hebt Tauler in seinen Predigten die Bedeutung des Leidens hervor:
„So ensúllent alle die sine frúnt gern werent, mit noete liden so waz uf sú vellent zuo rehte oder zuo unrechte, sú frowent sich der eren und der selikeit billichen daz sú ime daran gelich mugent werden und ime also noch volgen múgen sin selbes weg, den er selber ging.“1616
„So sollen alle, die (Gottes) Freunde gerne wären, notwendigerweise leiden (an dem), was auf sie fällt, (ob) zu Recht oder Unrecht; sie sollen sich billig freuen über die Ehre und die Seligkeit, dass sie ihm (d.h. Christus) darin gleich mögen werden und ihm also nachfolgen auf dem selben Weg, den er selber ging.“
Das Leiden hat für Tauler nur in Verbindung mit dem Leben und Leiden Christi einen Sinn1617 und wird in der Nachfolge realisiert: „Mit dem crútze nimmet man pinlicheit“1618 („Mit dem Kreuz nimmt man die Pein“). Doch durch das Leiden – die Kreuzesnachfolge – wird Gottes Gnade im Menschen geboren.1619 Der Weg des Leidens ist daher für Tauler der „edelste und der kúrtzeste weg und der lichteste von allen den wegen“1620 („edelste und der kürzeste Weg und der leichteste von allen Wegen“), aber er ist und bleibt zugleich geheimnisvoll und unerforschbar.1621 Nachfolge im Leiden bedeutet nicht, dass sich der Mensch selbst Leiden zufügen bzw. nach Möglichkeiten zum Leiden Ausschau halten soll, sondern dass er Leiden als zur menschlichen Existenz gehörig annimmt, denn „der mensche der si wo er si, er mus ie liden“1622 („der Mensch sei wo er sei, er muss immer leiden“). Menschen aber, die sich selbst Leiden auferlegen, beharren oftmals auf ihren eigenen Willen, d.h. sie sind nicht wirklich bereit, sich Gott zu überlassen:
„Sunder etliche lúte ..., sú wellent ir ouch me uf sich laden und machent boese houbet und krancke fantasien und hant lange gelitten und vile tuont den dingen nit reht, und wurt wenig genaden darus und verblibent rechte, wanne sú buwent uf ir eigen ufsetze, es si in penitencien oder abstinencien oder si gebet oder andaht, iemer muos Got irre muosse beiten, bitze das sú daz ire getuont, do enwurt nút us.“1623
„Nun gibt es etliche Leute ..., die wollen sich noch mehr aufladen, und sie machen sich einen schmerzhaften Kopf und kranke Phantasien und haben lange und viel gelitten und tun die Dinge nicht richtig, und es wird wenig Gnade daraus, und sie kommen nicht weiter voran, denn sie bauen auf ihre eigenen Vorsätze, es sei in Bußübungen oder es sei im Gebet oder in der Andacht, immer muss Gott auf ihre Bereitwilligkeit warten, bis sie das Ihre tun; daraus wird aber nichts.“
Leiden gehört zum Leben, und keiner muss sich ein Leid selbst aufladen. Wer die alltäglichen Leiden auf sich nimmt und Christus auf diese Weise nachfolgt, der ist auf dem besten Weg zur Einheit mit Gott.
In einer Himmelfahrtspredigt1624 vergleicht Tauler die menschliche Seele mit einem Berg1625, den der Mensch erst ersteigen muss, indem er sich über die niederen und vergänglichen Dinge erhebt1626, damit der göttliche Glanz die Seele erleuchten kann1627 und der Mensch den wahren Frieden findet1628:
„Kinder, wer Cristus wil nachvolgen, der muos uf den berg klimmen... . Es ist kein berg so wunnesam noch so schoene, es si doch erbeitsam druf klimmen.“1629
„Kinder, wer Christus nachfolgen will, der muss auf den Berg steigen... . Es gibt keinen noch so wonnigen und schönen Berg; es ist jedoch mühevoll hinaufzusteigen.“
Diese Mühe aber „sprichet also vil alse ´ein pinlicheit, ein gehorsam und ein lidunge“1630 („bedeutet so viel wie eine Pein, Gehorsam und Leiden“). Der Mensch soll am „senenden jomer“1631 („sehnenden Verlangen“1632) nach Gott leiden, nach dem „geminneten“1633 („Geliebten“), der jedoch verborgen und uner- kannt ist.1634 Der Mensch leidet unter der Last seiner Sünden und unter dem „unflat“1635 („Schmutz“) der menschlichen Natur, durch die der Mensch auf seinem Weg zurück zu Gott behindert wird.1636 Wer die Hindernisse erkennt und darunter leidet, dessen Beziehung zu Gott kann sich vertiefen, und er findet dabei großen „trost und gesmack und gevallen“1637 („Trost und Geschmack und Gefallen“).
Dieser Trost soll den Menschen für seinen weiteren (Leidens) Weg stärken, nämlich für die totale Erfahrung der Gottverlassenheit1638, damit „er nút zuo krang in dem liden und dem ellende werde und nút erlige, also er von Gotte gelossen ist und ungetroestet ist und in grosser bitterkeit ist“1639 („er nicht zu krank im Leiden und im Elend werde und nicht erliege, wenn er von Gott [ver]lassen und ungetröstet und in großer Bitterkeit ist“). Der Mensch muss sich auf einen „Sterbeprozess“ einlassen – er lässt alles Besitzenwollen und sogar sich selbst los, d.h. er überlässt sich Gott und den Menschen1640 –, damit „der minnecliche Got din leben one mittel werden und din wesen werden ... und der wore friden ... geborn“1641 („der liebevolle Gott unmittelbar dein Leben und dein Wesen werden ... und der wahre Frieden ... geboren“) werden kann. Dieser Friede ist für Tauler ein Frieden im Unfrieden, der durch „gruwelichen sturmwinde“1642 („grauenhafte Sturmwinde“) hindurch, durch „liden und vinsternisse“1643 („Leiden und Finsternis“) erworben wird, so dass schließlich in einem „licham vol lidens“1644 („Leib voller Leid“) dennoch eine „sele vol Gotz“1645 („Seele voll Gott“) zu finden ist; bei äußerem Unfrieden bleibt der Mensch in einem wahren, innerlichen göttlichen Frieden.1646
Für Tauler gibt es zwei Arten der Gottesfreunde: die des Alten Bundes und diejenigen des Neuen Bundes.1647 Bis zu Christi Geburt wurden die gerettet, welche die Gesetze des Alten Bundes beachteten. Übertragen auf den Weg des Menschen in Gott: Wer will, dass Christus in ihm geboren wird und er Friede und Freude im Heiligen Geist erlangt, der muss zuvor den Weg des Alten Bundes gehen.1648 Der Alte Bund aber steht für das Leiden, für „vil untregenliche búrden“1649 („viele unerträgliche Bürden“), „gruwenliche urteile und strenge bewisunge der gerehtikeit Gottes, und ein vinstere verre hoffenunge einre erloesunge“1650 („furchtbare Urteile und strenge Offenbarungen der Gerechtigkeit Gottes und eine finstere, weite Hoffnung auf Erlösung“). Zum Leiden unter dem Alten Bund gehört, dass der Mensch alles als von Gott kommend annimmt und sich ihm beugt: