Hebelwirkungen können gefährlich sein. Es mangelt nicht an Hedgefonds, die wegen des übertriebenen Einsatzes von Schuldenhebeln zusammengebrochen sind. Das klassische Beispiel ist der in Kapitel 13 beschriebene Kollaps von Long-Term Capital Management. Allerdings haben die Anleger eher die Lektion gelernt, dass Hebel gefährlich sind, und nicht, dass sie gefährlich sein können. In diesem Sinne haben sie Ähnlichkeiten mit der Katze auf dem Herd. Mark Twain hat einmal geschrieben: „Sie setzt sich nie wieder auf einen heißen Herd – was ja gut und schön ist. Aber sie setzt sich auch nie wieder auf einen kalten Herd.“
Anleger stellen Hedgefonds immer wieder die gleiche Frage: „Wie viel Leverage setzen Sie ein?“ Aber diese Frage ist aus zwei fundamentalen Gründen falsch gestellt. Erstens ist sie sinnlos, weil sie die Maßeinheit nicht berücksichtigt, nämlich das zugrunde liegende Investment (also das, was gehebelt wird). Zweitens geht sie stillschweigend davon aus, es bestehe ein direkter Zusammenhang zwischen Hebelwirkung und Risiko. Jedoch ist diese Annahme nicht nur falsch, sondern es ist sogar möglich – und eigentlich durchaus üblich –, dass ein Investment mit größerem Hebel weniger riskant ist.
Vergleichen wir einmal zwei Fonds, die in festverzinsliche Wertpapiere investieren und in Bezug auf das Kreditrisiko, die Liquidität und sonstige relevante Risikofaktoren etwa gleichwertig sind – nur dass sie unterschiedlich stark auf Zinsänderungen reagieren. Angenommen, Fonds A ist nicht gehebelt und hat eine Netto-Duration von zehn Jahren, während Fonds B im Verhältnis 5:1 gehebelt ist und eine Netto-Duration von einem Jahr hat. (Die Duration gibt an, wie sehr sich der Preis einer Anleihe bei einer geringen Zinsänderung prozentual ändert. Eine Anleihe mit einer Duration von sieben Jahren fällt um circa 0,07 Prozent, wenn die Zinsen um 0,01 Prozent steigen.) Ein Anleger, der diese beiden Fonds anhand des Hebels miteinander vergleicht, kommt zu dem Schluss, dass Portfolio A fünfmal so riskant ist wie Portfolio B. Doch in Wirklichkeit ist Portfolio B trotz des 5:1-Hebels nur etwa halb so riskant wie Portfolio A, weil seine Positionen (bei gleichem investierten Geldbetrag) nur ein Zehntel so riskant sind wie die Positionen von Portfolio A.
Man kann Schuldenhebel sogar einsetzen, um Risiken zu senken. Nehmen wir als Beispiel einen Long-only-Fonds, der einen zweifachen Hebel einführt und ihn nur für die Finanzierung von Short-Positionen einsetzt. In diesem Fall ist der Hebeleinsatz des Fonds zwar von null auf 2:1 gestiegen, aber dadurch hat sich sein Portfolio von 100 Prozent long auf eine marktneutrale Position verschoben, was das Risiko eindeutig vermindert.
In beiden Fällen führt die ausschließliche Betrachtung des Hebels zu völlig falschen Risikowahrnehmungen, weil sich die Positionen der verglichenen Fonds hinsichtlich ihrer Risiken enorm voneinander unterscheiden. Das Risiko hängt nämlich sowohl vom Risiko des zugrunde liegenden Investments als auch von der Hebelwirkung ab. Wenn man Investments nur anhand ihrer Leverage vergleicht, ohne die zugrunde liegenden Investments zu betrachten, ergeben sich unsinnige Schlussfolgerungen bezüglich der Risiken. Im Prinzip ist ein Vergleich der Hebelwirkungen nur dann sinnvoll, wenn die zugrunde liegenden Investments ungefähr gleich sind. Die zugrunde liegende Anlage stellt im Endeffekt die Maßeinheit dar.
Als ich bei einem Dachfonds-Anbieter arbeitete, hatten wir im Rahmen unserer Portfolioprozeduren für die einzelnen Fonds Warnmeldungen aufgrund von Faktoren wie dem Brutto- und dem Netto-Exposure, der Größe des Monatsverlusts, wesentlicher Veränderungen des verwalteten Vermögens und der Hebelwirkung eingerichtet. Diese Warnsignale zeigten uns an, dass wir uns den betreffenden Fonds genauer anschauen sollten. In einem Monat wurde die Hebel-Warnmeldung für einen Kreditfonds in unserem Portfolio ausgelöst. Der Schwellwert für die Hebelwarnung war für diesen Fonds auf 5:1 eingestellt. Als wir die Situation nachprüften, fanden wir heraus, dass zwar der Hebelfaktor auf 5,2:1 gestiegen war – so hoch wie noch nie –, dass dieser Anstieg jedoch ausschließlich daher rührte, dass der Fonds seine Short-Hedge beträchtlich vergrößert hatte. Sein Brutto-Short-Exposure betrug 1,7:1 und sein Brutto-Long-Exposure 3,5:1, sodass sich ein Netto-Long-Exposure von nur 1,8:1 ergab und das war der niedrigste Stand seit zwei Jahren. Überdies belief sich das Beta des Fonds bezogen auf den Index der hochverzinslichen Wertpapiere nur auf 0,6, sodass damit zu rechnen war, dass der Fonds nur etwas mehr als die Hälfte des Rückgangs eines Portfolios aus hochverzinslichen Anleihen ohne Hebelwirkung (laut Index) verzeichnen würde.
Dieses Beispiel aus dem richtigen Leben, das eine gängige Situation darstellt, illustriert zwei bemerkenswerte Tatsachen:
1.Obwohl die Brutto-Hebelwirkung des Fonds auf ihren bislang höchsten Stand geklettert war, ging sein Netto-Exposure, das ja das Risiko viel besser wiedergibt, gleichzeitig auf den niedrigsten Stand seit zwei Jahren zurück.
2.Obwohl die Brutto-Leverage des Fonds über 5:1 lag, entsprach seine Volatilität nur dem 0,6-Fachen der Volatilität eines ungehebelten Portfolios, das dem Index entsprach.
Dieses Beispiel veranschaulicht ein wichtiges Prinzip: Wenn die Hebelwirkung eingesetzt wird, um das Risiko zu senken, erhöht sie das Risiko nicht, sondern vermindert es sogar – genau das Gegenteil der Wirkung, die die herrschende Meinung von einem Hebel erwartet.
Stellen Sie sich vor, ein Schalterbeamter in einer Bank bekäme von seinem Vorgesetzten die Anweisung, am Ende jedes Tages das Geld in der Kasse zu zählen, allerdings nur die Anzahl der Scheine, ohne die Wertangabe zu berücksichtigen. Das hört sich lächerlich an? Nun, genau das machen Anleger, wenn sie versuchen, das Risiko anhand der Leverage einzuschätzen, ohne das Risiko des zugrunde liegenden Portfolios zu berücksichtigen.
Manche Anleger haben eine Checkliste mit Investmentkriterien. Häufig gehört zu den Punkten auf der Liste die höchste zulässige Hebelwirkung. Beispielsweise kann es bei einem Pensionsfonds die Regel geben, dass er nur in Hedgefonds investiert, die höchstens einen zweifachen Hebel einsetzen. Eine solche Regel mag sich wie eine rationale Beschränkung des Risikos anhören, die zu einer risikoaversen Institution wie einem Hedgefonds besonders gut passt. In Wirklichkeit ist eine solche Einheitsregel jedoch der Gipfel der Dummheit, denn dadurch ist die Institution für hochriskante Fonds offen, die weniger als die zulässige Hebelwirkung oder gar keine Hebelwirkung einsetzen (zum Beispiel Long-only-Fonds auf Emerging Markets oder Technologie-Aktien), schließt aber viele Fonds mit geringem Risiko aus (zum Beispiel marktneutrale Fonds). Eine generelle Beschränkung der Hebelwirkung, die auf alle Investmentkandidaten angewendet wird, ist wie eine Straßenverkehrsordnung, die auf allen Straßen unabhängig von den Umständen eine Höchstgeschwindigkeit von 60 Stundenkilometern vorschreibt. Auf der Autobahn bei schönem Wetter wäre ein solches Tempolimit absurd niedrig und auf einer eisbedeckten, kurvenreichen Bergstraße wäre es gefährlich hoch. Im ersten Fall wäre es mit Sicherheit ungefährlicher, 100 Stundenkilometer zu fahren, und im zweiten Fall höchstens 30 – die 60 wären in beiden Fällen gefährlicher.
Im Prinzip sollte man Leverage-Vergleiche nur zwischen gleichwertigen Portfolios anstellen. Daraus ergibt sich auch, dass es unsinnig ist, nach der durchschnittlichen Leverage der einem diversifizierten Dachfonds-Portfolio zugrunde liegenden Investments zu fragen. Wie soll man den Durchschnitt aus vollkommen unterschiedlichen Anlagen bilden? Nehmen wir als vereinfachtes Beispiel einen Dachfonds mit drei Positionen: ein Fonds mit festverzinslichen Wertpapieren und einem Hebel von 6:1, ein marktneutraler Fonds mit einem Hebel von 2:1 und ein Long-only-Fonds ohne Hebel – und alle sind gleich stark gewichtet. Wie hoch ist die Leverage eines solchen Portfolios? Die Frage ist sinnlos und man kann sie genauso wenig beantworten wie die Frage: „Wie viel ist zwei Äpfel plus fünf Tennisbälle?“
Stellen Sie sich vor, Sie bekommen von einem reichen Gönner einen Scheck über eine Million Dollar (wie in der amerikanischen Fernsehsendung „The Millionaire“ Ende der 1950er-Jahre), allerdings mit dem Haken, dass Sie das Geschenk nur unter der Bedingung bekommen, dass Sie es genau ein Jahr lang in einem der beiden folgenden Investments anlegen. Welches würden Sie wählen?
Investment A
Durchschnittliche Jahresrendite: 25 Prozent
Schlechteste bisherige 12-Monats-Performance: -25 Prozent
Investment B
Durchschnittliche Jahresrendite: 50 Prozent
Schlechteste bisherige 12-Monats-Performance: -50 Prozent
Vergleichen Sie die beiden Alternativen und suchen Sie sich ein Investment aus, bevor Sie weiterlesen.
Und dann gehen wir vom gleichen Szenario aus, nur dass Sie diesmal die Wahl zwischen den beiden folgenden Investments haben. Welches würden Sie wählen?
Investment A
Durchschnittliche Jahresrendite: 10 Prozent
Schlechteste bisherige 12-Monats-Performance: -2 Prozent
Investment B
Durchschnittliche Jahresrendite: 20 Prozent
Schlechteste bisherige 12-Monats-Performance: -4 Prozent.
Vergleichen Sie wieder die Alternativen und suchen Sie sich ein Investment aus, bevor Sie weiterlesen.
Wenn Sie so sind wie die meisten Menschen, haben Sie sich im ersten Fall Portfolio A ausgesucht und im zweiten Fall Portfolio B. Aber jetzt kommt das Merkwürdige: In beiden Fällen sind sowohl die Rendite als auch der schwerste Verlust von Investment B doppelt so hoch wie bei Investment A oder, was auf das Gleiche hinausläuft, Investment B ist doppelt so stark gehebelt wie Investment A. Und warum bevorzugen dann die meisten Menschen im ersten Fall eindeutig Investment A (also die Kombination 25/-25 gegenüber der Kombination 50/-50) und im zweiten Fall die stärker gehebelte Alternative B (also die Kombination 10/-2) gegenüber der Kombination 20/-4), obwohl der Hebel beide Male gleich (2:1) ist?
Die Erklärung dieses scheinbaren Paradoxons lautet, dass der Wunsch der Menschen nach einer mehr oder weniger stark gehebelten Version einer existierenden Strategie von folgenden beiden Faktoren beeinflusst wird:
1.Rendite-Risiko-Verhältnis
2.Höhe des Risikos
Je höher das Rendite-Risiko-Verhältnis und je geringer das Risiko, umso mehr Anleger bevorzugen wahrscheinlich den größeren Hebel.
Es gibt gewisse Umstände, unter denen Hebelwirkungen besonders gefährlich sein können. Sie können hohe Risiken mit sich bringen, wenn eine der drei folgenden Bedingungen erfüllt ist:
1.Die gehebelten Anlagen sind illiquide.
2.Die Kreditlinie, die den Hebel trägt, wird zurückgezogen. Die Kombination der Bedingungen 1 und 2 ist besonders tödlich. Viele Fonds, die 2008 schwere Verluste erlitten, waren dieser Kombination ausgesetzt, als ihre Kreditlinien gekürzt wurden und sie ihre relativ illiquiden Positionen nur mit großen Abschlägen liquidieren konnten.
3.Der Hebel wird eingesetzt, um das Exposure eines Portfolios zu erhöhen, das schon ohne Hebel ein mäßiges bis hohes Risiko beinhaltet (zum Beispiel um ein Long-only-Portfolio aus Schwellenland-Aktien zu hebeln).
Investment-Missverständnis 39: Die Hebelwirkung ist ein Maß für das Risiko.
In Wirklichkeit: Das Risiko hängt sowohl von dem zugrunde liegenden Portfolio als auch von der Hebelwirkung ab. Der Hebel allein sagt nichts über das Portfoliorisiko aus. Tatsächlich haben gehebelte Portfolios häufig geringere Risiken als ungehebelte – das hängt von den Anlagen im Portfolio ab.
Investment-Missverständnis 40: Ein längerer Hebel erhöht das Risiko.
In Wirklichkeit: Das hängt davon ab, wofür der Hebel eingesetzt wird. Die Verstärkung des Hebels kann das Risiko erhöhen, wenn der Hebel eingesetzt wird, um das Netto-Exposure auf den Markt zu erhöhen. Wenn er hingegen als Hedge eingesetzt wird, um das Netto-Exposure des Portfolios zu senken, senkt er in Wirklichkeit das Risiko.
Investment-Missverständnis 41: Anleger sollten niemals ein Investment hebeln.
In Wirklichkeit: Wenn ein Investment ein hohes Rendite-Risiko-Verhältnis und ein geringes Risiko hat, würden es die meisten Anleger vorziehen, Rendite und Risiko gleichermaßen zu erhöhen. In solchen Fällen kann die Hebelwirkung ein kluges und nützliches Instrument sein, um das Investment besser an die Risikopräferenz des Anlegers anzupassen.
Hebelwirkungen können zwar gefährlich sein, aber die reflexartige Reaktion vieler Anleger auf Hebelwirkungen kann zu unsinnigen Investment-Verzerrungen führen. Man muss als Anleger auf das Risiko achten, nicht auf den Hebel. Manchmal kann eine Hebelwirkung zwar wirklich ein Risikofaktor sein, aber in anderen Fällen kann sie das Risiko sogar senken, zum Beispiel wenn sie zum Hedgen eingesetzt wird. In diesem Sinne sind pauschale Hebelverbote genauso kurzsichtig und fehlgeleitet wie die Verwendung von Leverage als Risikomaß – also die Annahme, eine hohe Hebelwirkung bringe ein hohes Risiko mit sich.
Die Hebelwirkung ist ein Werkzeug, das zur effizienteren Geldanlage beitragen kann. Man kann damit gehedgte Portfolios mit höheren Rendite-Risiko-Verhältnissen als ungehedgte Portfolios erstellen und man kann damit das Renditeniveau risikoarmer Investments dahingehend anpassen, dass es besser zu den Anlegerpräferenzen passt. Doch wie alle Werkzeuge kann auch die Hebelwirkung Schaden anrichten, wenn man sie falsch benutzt. Die Lösung ist nicht das Verbot ihrer Verwendung – genauso wie es sinnlos wäre, elektrische Werkzeuge zu verbieten, weil sie in den Händen Betrunkener gefährlich sind –, sondern vielmehr, dass man für den angemessenen Einsatz von Hebelwirkungen sorgt. Das Leitprinzip sollte eine Risikobeurteilung sein, die das Risiko umfassend als Funktion der zugrunde liegenden Investments und der Hebelwirkung betrachtet und nicht naiv ausschließlich als Funktion der Hebelwirkung.