Kapitel 22
IN DIESEM KAPITEL
Screening bedeutet Krankheitsfrüherkennung
Tests und ihre Eigenschaften
Nutzen und Schaden des Screenings
»Graues« Screening oder Screening-Programme?
Gewinner und Verlierer beim Screening
Was würden Sie von einem Test halten, der Vorstufen einer Krankheit erkennen kann, noch bevor Sie sich krank fühlen? Der dadurch beiträgt, Ihre Heilungschancen zu verbessern? Ihr Arzt bietet Ihnen solche Tests unter der Bezeichnung »Screening« oder »Früherkennung« an: für Brustkrebs, für Darmkrebs oder für Krebs der Vorsteherdrüse (Prostata).
In diesem Kapitel zeigen wir Ihnen, dass nicht jedes Screening hält, was es verspricht. Auch sollten Sie Ihren Arzt zu Risiken und Nebenwirkungen des Screenings befragen. Denn beim Screening gibt es Gewinner und Verlierer. Und wir nehmen an, Sie möchten zu den Gewinnern zählen.
Sie fühlen sich topfit und gesund. Aber dann sehen Sie eine Anzeige in einer Zeitschrift: Ganzkörper-Check-up in vier Stunden. Ein seriös aussehender Professor warnt Sie, dass Sie durch Stress und andere extreme Herausforderungen jeden Tag aufs Neue beansprucht werden (und wem geht das nicht so?). Dieser Professor bietet Ihnen einen umfangreichen medizinischen Check-up mit Untersuchungen und Beratungen auf universitärem medizinischem Niveau an. Nun sind Sie neugierig, aber auch ein wenig beunruhigt. Sind Sie vielleicht krank und haben es noch gar nicht bemerkt? Kann eine solcher Ganzkörper-Check-up Schlimmeres verhindern?
Während Sie darüber grübeln, entdecken Sie zufällig in einer Apotheke ein Faltblatt zum Thema Darmkrebs. Schon auf der Titelseite werden Sie aufgefordert, umzudenken und dem Krebs aktiv vorzubeugen. Weiter lesen Sie, dass es eine Früherkennung für Darmkrebs gibt und dass Ihre Krankenkasse dafür bezahlt. Ab dem 50. Lebensjahr sollen Sie einmal im Jahr mit einem Testbriefchen nach verstecktem (okkultem) Blut im Stuhl fahnden. Als Alternative können Sie ab dem 56. Lebensjahr im Abstand von zehn Jahren zweimal eine Darmspiegelung über sich ergehen lassen. Falls Sie auf keinen Fall eine Darmspiegelung möchten, bleibt Ihnen ja immer noch der Test auf verstecktes Blut im Stuhl.
Die Anzeige in der Zeitschrift und das Faltblatt machen Sie nachdenklich. Die Idee, Krankheiten durch Screening früh zu erkennen, leuchtet Ihnen eigentlich ein. Aber dann beginnt der Epidemiologe in Ihnen zu fragen: Ist Screening tatsächlich wirksam? Wie könnte man die Wirksamkeit von Screening überhaupt messen? Kann Screening auch schaden? Beim Ganzkörper-Check-up zumindest Ihrem Portemonnaie, denn dafür bezahlt die Krankenkasse nicht. Was aber ist mit den Screening-Verfahren, deren Kosten Ihre Krankenkasse klaglos übernimmt? Dazu zählt das Screening auf bestimmte Krebserkrankungen. Tabelle 22.1 zeigt Ihnen, welche Krebserkrankungen in Deutschland besonders häufig auftreten und ob dafür Screening angeboten wird.
Tabelle 22.1: Häufige Krebserkrankungen in Deutschland 2012 (gerundet) und Stand des Screenings
Krebserkrankung |
Neue Fälle pro Jahr |
Todesfälle pro Jahr |
Screening etabliert? |
Brust (nur Frauen) |
69.550 |
17.748 |
ja |
Prostata |
63.710 |
12.957 |
ja |
Darm |
62.230 |
25.972 |
ja |
Lunge |
52.520 |
44.465 |
nein |
Bauchspeicheldrüse |
16.730 |
16.120 |
nein |
Magen |
15.640 |
9.978 |
nein |
Gebärmutterkörper |
10.930 |
2.515 |
nein |
Gebärmutterhals |
4.640 |
1.617 |
ja |
Sie sehen, dass es keineswegs für alle häufigen (und schon gar nicht für alle häufig tödlichen) Krebserkrankungen Angebote zur Früherkennung gibt. Und nicht alle verfügbaren Angebote des Krebs-Screenings sind unter Experten unumstritten. Das erläutern wir Ihnen in diesem Kapitel genauer.
Epidemiologen untersuchen die Wirksamkeit von Screening-Verfahren. Sie haben Methoden entwickelt, um herauszufinden, ob sich beim Screening Werbung von Wahrheit und Wunsch von Wirklichkeit unterscheiden. Das müssen sie für jedes Screening-Verfahren individuell beurteilen. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen sind für Sie wichtig, wenn Sie selbst über eine Teilnahme am Screening nachdenken oder andere Menschen dazu beraten wollen.
Die wichtigste Erkenntnis vorneweg: Screening kann nutzen, es kann in seltenen Fällen aber auch schaden. Sie müssen in jedem Fall sorgfältig abwägen, ob für Sie selbst oder Ihre Klienten der Nutzen größer ist als der mögliche Schaden.
Diese Definition besagt: Screening richtet sich an alle Menschen in der Bevölkerung, die sich gesund fühlen. Screening ist eine Filteruntersuchung, um diejenigen unter ihnen herauszufinden, die eine noch nicht entdeckte Frühform oder Vorstufe einer Erkrankung haben – beispielsweise eine Frühform von Darmkrebs. Ziel des Screenings ist es, diese Frühform zu entdecken, noch bevor sie Symptome macht und der Betroffene bemerkt, dass er krank ist.
An dieser Stelle endet zwar die Definition, aber noch lange nicht die Idee des Screenings: Findet sich im Screening etwas Verdächtiges, so müssen Betroffene weitergehende Untersuchungen über sich ergehen lassen. Meist müssen sie dazu ins Krankenhaus. Die Ärzte versuchen dann mit teilweise sehr aufwendigen diagnostischen Methoden herauszufinden, ob wirklich die Frühform einer schweren Erkrankung vorliegt. Ist das der Fall, beginnen sie mit der Behandlung – viel früher, als wenn der Betroffene erst nach dem Auftreten erster Symptome gekommen wäre.
Durch diese frühere Behandlung, so die Überlegung, werden schwere Krankheitsverläufe verhindert und die Überlebenschancen verbessert. Das ist also das Maß der Dinge für den Erfolg von Screening: eine gesenkte Sterblichkeit oder längeres Überleben bei einer potenziell schweren oder lebensbedrohlichen Krankheit.
Das sind die Voraussetzungen für funktionierendes Screening:
Um Screening auf eine bestimmte Krankheit in der ganzen Bevölkerung durchzuführen, benötigen Sie einen Test, der im Idealfall schnell, preisgünstig und akzeptabel ist. Es können ja nicht alle Gesunden ins Krankenhaus eingewiesen und dort mit komplizierten, möglicherweise unangenehmen und meist teuren diagnostischen Verfahren untersucht werden.
Sie erinnern sich an das Faltblatt zum Thema Darmkrebs: Darin wird Ihnen geraten, regelmäßig einen Test auf verstecktes Blut im Stuhl zu machen. Das dabei eingesetzte Testbriefchen ist ein typisches Beispiel für einen Schnelltest. Wenn dieser Schnelltest positiv ausfällt, also Blut im Stuhl anzeigt, besteht der Verdacht auf Darmkrebs. Bewiesen ist damit noch gar nichts. Es müssen dann umgehend diagnostische Untersuchungen durchgeführt werden, mit deren Hilfe der Arzt den Krebsverdacht ausräumt oder bestätigt. Das geschieht in der Regel mit einer Darmspiegelung (Koloskopie).
Wenn Sie sich also entschließen, am Screening teilzunehmen, müssen Sie damit rechnen, nach dem Schnelltest eine Darmspiegelung machen lassen zu müssen – allerdings tritt diese unangenehme Situation zum Glück nicht allzu häufig auf. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit unterziehen Sie sich der diagnostischen Untersuchung unnötigerweise, weil die Ärzte feststellen, dass gar keine Frühform der Erkrankung vorliegt.
Das ist also eine der Schwierigkeiten des Screenings: Kein Schnelltest ist perfekt. Vielmehr haben alle Schnelltests Schwächen, und deshalb funktioniert die so einleuchtend klingende Idee des Screenings in der Praxis auch nicht perfekt.
Wie gut ist ein Schnelltest? Um das herauszufinden, müssen Sie ihn mit dem besten vorhandenen diagnostischen Verfahren vergleichen. Das kann ein besserer (und meist teurerer) Test sein oder ein anderes, aufwendigeres Untersuchungsverfahren. Epidemiologen bezeichnen es als Goldstandard. Sie vergleichen beispielsweise das Testbriefchen zur Fahndung nach verstecktem Blut im Stuhl mit der viel aufwendigeren Darmspiegelung. Schlägt dieser Schnelltest tatsächlich bei allen Menschen an, bei denen während der Darmspiegelung Vorstufen der Erkrankung zu finden sind? Und: Wie häufig führt der Schnelltest zu falschem Alarm? Bei welchem Anteil der vollkommen gesunden Screening-Teilnehmer zeigt er also fälschlicherweise Blut im Stuhl und damit einen Verdacht auf Darmkrebs an?
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie haben eine große Gruppe von Menschen. Einige von ihnen haben eine Frühform von Darmkrebs. Sie wissen mit Sicherheit, wer die Frühform hat und wer nicht (Sie haben eine Darmspiegelung bei allen Personen vorgenommen). In dieser Bevölkerung führen Sie nun Darmkrebs-Screening mittels des Schnelltests (Testbriefchen für verstecktes Blut im Stuhl) durch. So können Sie ermitteln, wie gut der Schnelltest ist. Zur Erinnerung: Dies ist ein Gedankenexperiment. Sie würden in der Wirklichkeit natürlich keinen Schnelltest durchführen, wenn Sie bereits von der Erkrankung einzelner Personen aus der Gruppe wissen.
In unserem Gedankenexperiment können Sie die Bevölkerung also in zwei Gruppen einteilen: eine Gruppe, die eine Frühform von Darmkrebs hat, und eine Gruppe, die keine Frühform von Darmkrebs hat. Alle Personen in der Bevölkerung führen nun den Schnelltest durch. Die meisten von ihnen werden glücklicherweise ein negatives Ergebnis erhalten (die Epidemiologen sprechen von einem negativen Testergebnis, wenn der Test keine Erkrankung anzeigt, hier also kein Blut im Stuhl). Bei den meisten Menschen mit negativem Testergebnis ist auch keine Frühform von Darmkrebs vorhanden. Der Test zeigt bei diesen Menschen also richtigerweise ein negatives Ergebnis an: Er ist »richtig« negativ. Neben einem richtig negativen Testergebnis sind drei weitere Kombinationen aus Testergebnis und tatsächlichem Gesundheitszustand möglich.
In unserem Beispiel des Darmkrebs-Screenings sind die vier möglichen Kombinationen aus Testergebnis und tatsächlichem Gesundheitszustand:
Diese vier möglichen Kombinationen stellen Sie am besten in einer Vier-Felder-Tafel dar. Wir haben das für Sie getan und die Kästchen wie üblich (und wie in der oben stehenden Liste) mit a, b, c und d bezeichnet (siehe Tabelle 22.2).
Tabelle 22.2: Eigenschaften eines Schnelltests
In den Kästchen a und d finden Sie die Situationen, in denen der Schnelltest wie erwünscht funktioniert hat. In den Kästchen b und c finden Sie dagegen die unerwünschten Situationen, in denen der Schnelltest versagt hat. Wie üblich können Sie aus den Randfeldern die Gesamtzahl der von der Frühform des Darmkrebses Betroffenen berechnen (a+c) sowie die Gesamtzahl der nicht betroffenen Gesunden (b+d). Die Prävalenz (anteilige Häufigkeit) der Frühform in dieser Bevölkerung berechnen Sie als (a+c)/(a+b+c+d).
Epidemiologen fassen die Eigenschaften eines Tests in drei Maßen zusammen:
Das Testbriefchen für verstecktes Blut im Stuhl hat eine Sensitivität von 71,5 Prozent und eine Spezifität von 98,2 Prozent. Das bedeutet zum einen: Der Schnelltest identifiziert (nur) 71,5 Prozent derjenigen Getesteten, die tatsächlich Darmkrebs oder eine Frühform haben; die restlichen 28,5 Prozent der Betroffenen wiegen sich in falscher Sicherheit. Zum anderen: Unter den – vielen! – gesunden Getesteten erhalten nur 98,2 Prozent diese frohe Botschaft. Die restlichen 1,8 Prozent erhalten die Information, dass Krebsverdacht besteht. Tatsächlich aber haben sie zum Zeitpunkt des Tests weder Darmkrebs noch dessen Frühform.
Wir laden Sie nun zu einem kleinen Exkurs in die sonnige Karibik ein. Auf der Insel Kuba, zwischen Palmen, Zuckerrohr und alten amerikanischen Straßenkreuzern, regierte einst ein allmächtiger Präsident mit Namen Fidel Castro. Als nun in anderen Teilen der Welt zunehmend mehr Fälle von Aids auftraten, überlegte Fidel, wie er sein Volk vor dieser Epidemie schützen könne. »Ich werde«, so sagte er sich, »einfach das ganze kubanische Volk auf HIV testen. Alle HIV-Positiven sperre ich weg, dann können sie niemanden mehr anstecken und die Epidemie kommt zum Stillstand.« Für das Wegsperren hatte Fidel zwar einen etwas humaneren Ausdruck gewählt, die Idee als solche aber erschien ihm epidemiologisch solide und zielführend.
Hier aber irrte Fidel. Um sein ganzes Volk zu testen, damals rund 10 Millionen Menschen, hätte er natürlich einen Schnelltest einsetzen müssen. Nehmen Sie an, dass dieser Test eine Sensitivität von 99,5 Prozent und eine Spezifität von 99,0 Prozent hat. Beide Maße sind fixe Eigenschaften des Tests. Uns interessiert nun besonders der positive Vorhersagewert des Tests. Der aber hängt nicht nur von den fixen Eigenschaften des Tests ab, sondern er wird auch von der Prävalenz der Zielkrankheit in der Bevölkerung bestimmt.
Ist die Prävalenz hoch, so ist auch der positive Vorhersagewert hoch. Der gleiche Test, bei einer niedrigen Prävalenz eingesetzt, erzielt auch nur einen niedrigen positiven Vorhersagewert. Das bedeutet: Wenn der Schnelltest positiv ausfällt, ist die Wahrscheinlichkeit niedrig, dass die getestete Person tatsächlich die Zielkrankheit hat.
Nehmen wir ein extremes Beispiel: Angenommen, auf ganz Kuba sind nur 1.000 Menschen HIV-positiv (Prävalenz 0,001 Prozent), die gesamte Bevölkerung von 10 Millionen aber wird getestet. Dann gibt es viele richtig Negative, einige falsch Positive und falsch Negative sowie die richtig Positiven. Tabelle 22.3 zeigt das am Beispiel des oben genannten Tests in konkreten Zahlen.
Tabelle 22.3: Ergebnisse von Fidels hypothetischem HIV-Schnelltest
Fidel hätte also 100.985 Menschen (rund 1 Prozent der kubanischen Bevölkerung) aufgrund eines positiven HIV-Tests wegsperren müssen. Unter diesen Weggesperrten können Sie nun den positiven Vorhersagewert berechnen: Er beträgt rund 0,001 Prozent. Das bedeutet: 99,999 Prozent der Weggesperrten werden selbst nach der verqueren Logik Fidels fälschlich ihrer Bewegungsfreiheit beraubt. Gleichzeitig wiegen sich fünf HIV-Positive in falscher Sicherheit; möglicherweise infizieren sie unwissentlich andere Menschen.
Das Gleiche mag man trefflich auch von Fidel Castro sagen. Seine Idee (von der er schlussendlich Abstand genommen hat), ganz Kuba auf HIV zu testen, hätte den Sozialismus nicht befördert – Kondome sind da die bessere Lösung.
Mittlerweile haben Sie die Möglichkeiten und Grenzen von Schnelltests kennengelernt. Deren Einsatz als Instrument des Screenings bedeutet, dass auch Screening zwei Seiten hat: eine potenziell nützliche und eine potenziell schädliche, die man gegeneinander bilanzieren muss. Angela Raffle, eine englische Epidemiologin, hat den Nutzen und den Schaden des Darmkrebs-Screenings mit Testbriefchen für verstecktes Blut gegeneinander abgewogen. Sie hat das anhand von 100.000 Männern und Frauen im Alter von 50 bis 69 Jahren getan, die ein solches Testbriefchen zum Screening einsetzen.
Angela Raffle beschreibt, was sich in den zwei Jahren nach dem ersten Einsatz des Schnelltests in der Gruppe der 100.000 Männer und Frauen abspielt. Der eingesetzte Test hat, wie oben bereits berichtet, eine Sensitivität von knapp 72 Prozent und eine Spezifität von rund 98 Prozent. An den Zahlen im Kasten »Darmkrebs-Screening: Detaillierte Bilanz« können Sie erkennen, wie sich ein solcher, nicht perfekter Screening-Test praktisch auswirkt. Sie können die detaillierten Zahlen aber auch überspringen und gleich etwas über die Gesamtbilanz lesen.
Um Nutzen und Schaden des Screening gegeneinander aufzuwiegen, ziehen Epidemiologen eine Gesamtbilanz. Die fällt beim Darmkrebs-Screening auf verstecktes Blut wie folgt aus: Unter 100.000 Männern und Frauen im Alter von 50 bis 69 Jahren, die sich im Abstand von zwei Jahren einem Screening mittels Testbriefchen unterziehen, erzielen 35 Personen eine Lebensverlängerung. Das ist ein verlängertes Leben pro 2.900 Screening-Teilnehmer.
Bei bis zu 500 Personen werden Polypen abgetragen, die sich möglicherweise einmal zu Darmkrebs weiterentwickelt hätten (mit größerer Wahrscheinlichkeit allerdings nicht). Acht vorher vollkommen gesunde Personen müssen sich durch Komplikationen bei der Darmspiegelung einer Operation unterziehen. 61 Personen erhalten die scheinbar beruhigende Botschaft, dass der Screening-Test beziehungsweise die Darmspiegelung keine auffälligen Befunde erbracht haben. Sie erkranken dennoch im Verlauf der folgenden zwei Jahre an Darmkrebs.
Aus der von Angela Raffle entwickelten Rechnung lassen sich zwei Lehren ziehen:
Wenn Sie ein Medikament einnehmen, gehen Sie davon aus, dass der Anbieter es vor der Markteinführung sorgfältig testen lässt. Dazu prüfen Forscher in randomisierten kontrollierten Studien (RCTs, siehe Kapitel 12) die Wirksamkeit und ermitteln mögliche Nebenwirkungen. Vielleicht erstaunt es Sie daher, dass viele Screening-Programme eingeführt wurden, bevor ein Wirksamkeitsnachweis aus kontrollierten Studien vorlag. Die bei der Einführung angestellte Überlegung war häufig, dass Screening einfach gut sein muss. Ein bereits eingeführtes Screening-Programm lässt sich aber aus ethischen Gründen nicht abbrechen, um es in einer randomisierten kontrollierten Studie nachträglich zu erproben.
Nehmen Sie an, es handelt sich um Screening für eine potenziell tödliche Krebserkrankung: Für eine kontrollierte Studie müssten die Forscher ja einem Teil der Screening-Interessenten das – möglicherweise wirksame – Screening vorenthalten. Daher werden diese Programme weitergeführt, auch ohne dass ein Wirksamkeitsnachweis aus einer randomisierten kontrollierten Studie vorliegt. Stattdessen vergleichen die Forscher Überlebenszeiten für die betreffende Krebsart vor und nach der Einführung des Screenings.
Ein solches Untersuchungsdesign ist aber methodisch unbefriedigend, denn dabei können systematische Verzerrungen (Bias) auftreten, die eine viel größere Wirksamkeit vorspiegeln, als tatsächlich erzielt wird. Die wichtigsten dieser Verzerrungen werden mit englischen Begriffen bezeichnet:
Um die Auswirkungen dieser Verzerrungen zu demonstrieren, machen wir wieder ein Gedankenexperiment. Nehmen Sie dazu den schlechtesten Fall an: Das untersuchte Screening-Verfahren verlängert die Überlebenszeit überhaupt nicht. Wenn Sie ein solches wirkungsloses Screening durch einen Vergleich der Überlebenszeiten vor und nach seiner Einführung evaluieren, können Sie scheinbar längere Überlebenszeiten der Screening-Teilnehmer finden. Sie gelangen zum (hier falschen!) Schluss, das Screening-Verfahren sei wirksam. Die drei genannten Formen der Verzerrung wirken sich im Einzelnen folgendermaßen aus:
Wenn Sie eine Krankheit oder deren Vorstufe früher entdecken, führt dies je nach Art der Krankheit keineswegs immer zu längerem Überleben. Abbildung 22.1 zeigt das beispielhaft für eine Krebserkrankung, deren Verlauf durch Früherkennung gar nicht zu beeinflussen ist. In diesem Szenario müssen die Teilnehmer am Screening länger mit dem Wissen um die Krankheit leben als die Nichtteilnehmer; bei Letzteren fand der biologische Krankheitsbeginn (zum Beispiel erste bösartige Veränderungen von Körperzellen) zum gleichen Zeitpunkt statt wie bei den Teilnehmern. In diesem Gedankenexperiment täuscht das Screening eine längere Überlebenszeit also lediglich vor.
Abbildung 22.1: Ein Lead time bias täuscht längere Überlebenszeit vor
Screening wird, je nach Zielkrankheit, im Abstand von mehreren Jahren angeboten. Über viele Jahre langsam wachsende Krebsarten beziehungsweise Vorstufen werden im Screening daher mit größerer Wahrscheinlichkeit entdeckt als schnell wachsende. Langsam wachsend bedeutet in der Regel auch, dass die Tumoren vergleichsweise gutartig sind. Schnell wachsende Tumoren hingegen sind oft besonders aggressiv. Sie können innerhalb des Intervalls zwischen zwei Screening-Untersuchungen entstehen und schnell eine schwere Erkrankung hervorrufen.
Beim Vergleich der Überlebenszeiten entsteht ein falscher Eindruck. Die Menschen, die am Screening teilgenommen haben, überleben zwar länger. Dies liegt aber nicht am Screening, sondern daran, dass sie einen gutartigeren Tumor haben. Auch ohne Screening hätten sie länger überlebt als die Menschen mit dem bösartigen Tumor, die nicht am Screening teilgenommen haben.
Menschen mit größerem Gesundheitsbewusstsein (und höherem Sozialstatus) nehmen eher am Screening teil als ärmere und weniger gesundheitsbewusste. Sie haben aber auch ganz unabhängig vom Screening eine geringere Sterblichkeit und höhere Überlebenschancen. Auch dieser Bias gaukelt eine längere Überlebenszeit durch das Screening vor.
Denken Sie daran, dass es sich hier um ein Gedankenexperiment handelt. Selbstverständlich gibt es wirksames Screening. Aufgrund der genannten Verzerrungen besteht aber die Gefahr, die tatsächliche Wirksamkeit von Screening zu überschätzen.
Studien zur Wirksamkeit laufen derzeit für ganz neue Verfahren des Darmkrebs-Screenings. Dabei kommen beispielsweise Schnelltests zur Anwendung, die Tumorzellen im Stuhl aufspüren. Sie mögen eine höhere Sensitivität und Spezifität haben als die Testbriefchen auf verstecktes Blut – perfekt sind auch sie nicht.
Sind Sie der Ansicht, dass Ärzte Halbgötter in Weiß sind? Zumindest bis vor einigen Jahren haben sich einige Ärzte selbst dafür gehalten. Sie führten Screening-Untersuchungen ohne die notwendige Qualitätskontrolle durch. Das galt beispielsweise für das Brustkrebs-Screening mittels Mammografie (Durchleuchtung der Brust). Es ist nicht einfach, die dabei erstellten Röntgenaufnahmen fachgerecht zu beurteilen. Sind Ärzte darin nicht geübt, so unterlaufen ihnen immer wieder Fehler. Entweder erkennen sie Vorstufen des Brustkrebses nicht (Screening-Test falsch negativ) oder sie sehen harmlose Veränderungen als Krebsvorstufen an (Test falsch positiv). Die betroffenen Frauen müssen sich dann weiteren Untersuchungen wie einer Gewebeentnahme unterziehen.
Diese Art des Screenings ohne systematische Kontrolle bezeichnen Kritiker als »graues Screening«. In Deutschland wird derzeit eine systematische Qualitätskontrolle beim Brustkrebs-Screening eingeführt. Aus dem »grauen« Screening wird ein geordnetes Screening-Programm. Epidemiologen gehen davon aus, dass dadurch zukünftig bessere Ergebnisse erzielt werden.
Das wohl eindrücklichste Beispiel für umstrittenes Screening finden Sie beim Prostatakarzinom (Krebs der Vorsteherdrüse des Mannes). Diese Krebserkrankung ist häufig bei älteren Männern über 65 Jahre, bleibt aber oft in einem Frühstadium und für den Rest des Lebens ohne schwere Symptome. Viele der Betroffenen sterben Jahre später an anderen Erkrankungen. Als Screening wird ein Bluttest propagiert, bei dem das sogenannte »prostataspezifische Antigen« (PSA) gemessen wird.
Natürlich finden die Ärzte durch das PSA-Screening auch viel mehr Prostatakarzinome. In England haben die Prostata-Entfernungen zwischen 1991 und 1997 um den Faktor 14 zugenommen – eine wahre Epidemie! Viele dieser Krebse waren jedoch in einem Frühstadium und hätten vielleicht nie zu Symptomen geschweige denn zum Tode geführt. Denn eine Senkung der Sterblichkeit an Prostatakarzinom – das eigentliche Ziel des Screenings! – lässt sich in diesem Zeitraum in England nicht beobachten. Es wäre irreführend, nur auf die Überlebenszeiten zu schauen: Die haben in dieser Zeit scheinbar zugenommen. Kein Wunder, wenn beim Screening vorwiegend Frühstufen ohne klinische Bedeutung entdeckt werden – ein Beispiel für Lead time bias (siehe oben).
Nicht ganz überraschend ist das Thema Prostatakrebs sehr emotional belegt. Gavin Yamey und Michael Wilkes, zwei amerikanische Ärzte und Journalisten, bekamen das sehr deutlich zu spüren. Nachdem sie einen kritischen Artikel über das PSA-Screening veröffentlicht hatten, wurden sie von ihren Lesern mit Anschuldigungen und Beleidigungen überhäuft. Das reichte bis zu Beschuldigungen, am zukünftigen Tod von hunderttausenden älterer Männer Schuld zu tragen.
Die beiden Journalisten hatten offensichtlich politische und wirtschaftliche Interessen empfindlich gestört. Wenn ein Unternehmen einen neuen Screening-Test entwickelt und durchsetzt, dass er in der ganzen Bevölkerung angewandt wird, kann es damit viel Geld verdienen. Screening ist ein Thema, das große Emotionen auslöst und an dem viel Geld hängt.
Die Beispiele zeigen, dass Sie beim Screening nicht nur den Nutzen, sondern auch mögliche Schäden bedenken müssen – selbstverständlich vorausgesetzt, dass es eine wirksame Frühbehandlung gibt! Der Heidelberger Wissenschaftler Albrecht Jahn spricht von Gewinnern und Verlierern (siehe Tabelle 22.4). Zu den Gewinnern zählt Jahn diejenigen Menschen, die eine Vorstufe einer Erkrankung haben und bei denen der Screening-Test richtig positiv ausfällt. Durch frühzeitige Behandlung überleben sie länger oder der Ausbruch der Erkrankung wird verhindert. Auch Menschen mit einem richtig negativen Test sind beruhigt und gehören dadurch zu den Gewinnern. Allerdings ist der Gewinn bei ihnen verhältnismäßig klein.
Anders die Verlierer: Hier war der Einsatz hoch, der Schaden ist dementsprechend groß. Screening-Teilnehmer, deren Test falsch negativ ist, wiegen sich in falscher Sicherheit. Möglicherweise verzögern sie deshalb sogar eine Behandlung, wenn Symptome der Erkrankung auftreten. Die falsch positiv getesteten Menschen sind gesund. Durch das Ergebnis des Screenings sind sie nun verunsichert oder verängstigt. Sie müssen sich unangenehmen medizinischen Untersuchungen unterziehen, um den Verdacht auf eine Frühform einer schweren Erkrankung abzuklären. Durch die Diagnostik tragen einige wenige von ihnen sogar schwere Schäden davon. Ihnen geht es durch die Teilnahme am Screening schlechter als vorher, obwohl sie die Zielkrankheit gar nicht haben.
Tabelle 22.4: Gewinner und Verlierer beim Screening (nach Albrecht Jahn)
Zielkrankheit ja |
Zielkrankheit nein |
|
Test positiv |
Gewinner: richtig positiv |
Verlierer: falsch positiv |
Test negativ |
Verlierer: falsch negativ |
Gewinner (?): richtig negativ |
Eine Teilnahme am Screening kann also einerseits dazu beitragen, das Risiko zu senken, an einer Krebserkrankung zu versterben; andererseits birgt sie in sich ein Risiko. Der Biologe und Medizinjournalist Klaus Koch spricht daher treffend von einem »Tausch von Risiken« beim Screening.
Wenn es um Screening geht, sollten Sie also nicht die Katze im Sack kaufen oder verkaufen. Falls Sie andere Menschen beraten, tun Sie das ergebnisoffen. Ihr Gegenüber kann von einer Teilnahme sehr profitieren; er kann aber auch nachvollziehbare Gründe haben, an bestimmten Screening-Programmen nicht teilzunehmen. Wichtig ist, dass Sie Ihrem Gegenüber alle für die Entscheidung erforderlichen Informationen anbieten. Sie sollten nur solches Screening empfehlen, das in organisierten Programmen angeboten wird, keinesfalls aber »graues Screening«. Zu einem modernen Screening-Programm gehören folgende Elemente: