In dieser Vorlesung werde ich einige Fälle behandeln, in denen wir uns veranlasst sehen, Fiktion und Realität zu vermengen, die Realität zu lesen, als wäre sie Fiktion, und die Fiktion, als wäre sie Realität. Einige dieser Vermengungen sind vergnüglich und harmlos, andere sind absolut notwendig, und einige sind zutiefst erschreckend.
1934 veröffentlichte Carlo Emilio Gadda einen Zeitungsartikel, in dem er eine Beschreibung des Mailänder Schlachthofs gab. Da Gadda ein großer Schriftsteller war, war der Artikel auch ein schönes Stück Prosa. Kürzlich hat nun Andrea Bonomi ein interessantes Experiment vorgeschlagen.1 Stellen wir uns vor, in jenem Artikel wäre nirgends der Name Mailand genannt worden, es hätte immer nur »diese Stadt« geheißen, der Artikel wäre unveröffentlicht geblieben, und nun findet ein Forscher das Manuskript unter Gaddas nachgelassenen Papieren. Er liest es und weiß nicht, ob es sich um die Beschreibung eines Ausschnitts unserer wirklichen Welt oder um Fiktion handelt. Er fragt sich also nicht, ob die im Text enthaltenen Aussagen wahr sind, sondern genießt die Rekonstruktion einer Welt, der Welt des Schlachthofs einer nicht näher bestimmten und vielleicht imaginären Stadt. Später entdeckt der Forscher eine Kopie des Manuskripts im Archiv des Mailänder Schlachthofs und auf dieser Kopie eine Randnotiz des Schlachthofdirektors, der vor Jahrzehnten geschrieben hat: »minutiöse und absolut exakte Beschreibung«. Mithin war in Gaddas Text von einem real existierenden Schlachthof die Rede, es handelte sich um eine Zeitungsreportage, die nach ihrem Wahrheitsgehalt zu beurteilen war, nach ihrer Übereinstimmung mit einem Sachverhalt, den es in unserer realen Welt gibt oder gegeben hat. Bonomis Argument ist nun, dass der Forscher, obwohl er seine Ansicht über die Natur des Textes ändern muss, den Text nicht neu zu lesen braucht. Die beschriebene Welt, ihre Bewohner und deren Eigenschaften bleiben dieselben, sie werden jetzt einfach vom Leser auf die Wirklichkeit »projiziert«. Bonomis Fazit: »Um den Inhalt eines Berichts zu erfassen, der einen bestimmten Sachverhalt be-schreibt, ist es nicht nötig, dass auf diesen Inhalt die Kategorien wahr und falsch anwendbar sind.«
Dies ist nicht nur eine Behauptung des puren Common Sense. In Wirklichkeit neigen wir zu der Meinung, dass wir uns, wenn uns erzählt wird, dass bestimmte Dinge geschehen seien, instinktiv in eine Art Alarmbereitschaft versetzen, da wir annehmen, dass der Sprecher oder Schreiber uns etwas erzählen will, was wir für wahr halten sollen, weshalb wir uns darauf einstellen, das Gehörte oder Gelesene als wahr oder falsch zu beurteilen. Desgleichen meinen wir, dass wir nur in besonderen Fällen, wenn ein Fiktionssignal erscheint, unsere Ungläubigkeit suspendieren und uns darauf einstellen, in eine andere Welt einzutreten. Bonomis Gedankenexperiment mit Gadda beweist nun jedoch, dass wir, wenn wir eine Folge von Sätzen vor uns haben, in denen erzählt wird, was jemandem an einem so und so beschaffenen Ort zugestoßen ist, zunächst einmal mit dem Text kooperieren und mithelfen, eine Welt zu errichten, die eine innere Kohärenz hat, und erst dann entscheiden, ob wir die betreffenden Sätze als Beschreibung der realen Welt oder einer imaginären Welt verstehen sollen.
Dies zwingt uns, eine unter einschlägigen Theoretikern sehr gebräuchliche Unterscheidung neu zu bedenken, nämlich die zwischen natürlichem und künstlichem Erzählen.2 Natürliches Erzählen beschreibt Ereignisse, die wirklich geschehen sind, die der Sprecher für wirklich geschehen hält oder von denen er uns (lügnerisch) weismachen will, dass sie wirklich geschehen seien. Beispiele für natürliches Erzählen sind sowohl der Bericht, in dem ich erzähle, was mir gestern passiert ist, wie auch eine Zeitungsmeldung oder sogar die gesamte Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches von Edward Gibbon. Künstliches Erzählen wäre dagegen repräsentiert durch die erzählerische Fiktion, die nur so tut, als ob sie die Wahrheit sagt, oder die die Wahrheit nur im Bezugsrahmen eines fiktionalen Diskursuniversums zu sagen beansprucht.
Gewöhnlich erkennen wir das künstliche Erzählen am »Paratext«, das heißt an den Informationen, die den Text umgeben, vom Titel bis zur Gattungsangabe »Roman« auf dem Schutzumschlag. Manchmal fungiert sogar der Name des Autors als paratextliches Element; so waren zum Beispiel im vorigen Jahrhundert die Leser sicher, dass ein Buch, dessen Verfasser auf dem Umschlag als »der Autor von Waverley« bezeichnet wurde, ohne jeden Zweifel eine fiktive Geschichte enthielt. Das evidenteste Fiktionssignal innerhalb des Textes ist die Einleitungsformel »Es war einmal …«.
Dennoch ist die Lage nicht so klar, wie sie aus theoretischer Sicht erscheinen mag. Man denke zum Beispiel an die berühmte Panik, die Orson Welles 1938 mit seiner Radiosendung über die Invasion vom Mars ausgelöst hatte. Das Missverständnis und die Panik kamen daher, dass ein Teil der Hörer meinte, Meldungen im Radio seien immer Beispiele für natürliches Erzählen, während Welles meinte, er habe den Hörern genügend Fiktionssignale gegeben. Viele Hörer hatten sich aber auch erst bei laufender Sendung eingeschaltet, andere hatten die Fiktionssignale nicht verstanden und projizierten den Inhalt der Sendung auf die reale Welt.
Mein Freund Giorgio Celli, Schriftsteller und Professor der Entomologie, hat einmal eine Geschichte über ein perfektes Verbrechen geschrieben, in der er und ich die Protagonisten waren. Der Protagonist Celli hatte in die Zahnpastatube des Protagonisten Eco eine chemische Substanz injiziert, die eine sexuelle Anziehungskraft auf Wespen ausübte. Eco hatte sich vor dem Schlafengehen die Zähne geputzt, und die Substanz, von der eine ausreichende Menge auf seinen Lippen zurückgeblieben war, hatte während der Nacht Scharen von Wespen angelockt, die sich erregt auf ihn stürzten, mit tödlichen Folgen für ihn. Die Erzählung wurde auf der dritten Seite der Bologneser Tageszeitung Il Resto del Carlino veröffentlicht. Wie Sie vielleicht wissen, war die dritte Seite italienischer Tageszeitungen bis vor wenigen Jahren regelmäßig der Kultur gewidmet, und der Artikel in der linken Spalte, elzeviro genannt, konnte eine Besprechung, eine Glosse oder auch eine kurze Erzählung sein. Die Erzählung von Celli erschien als elzeviro unter dem Titel »Wie ich Umberto Eco umgebracht habe«.3 Die Redakteure waren offenbar der Meinung, die Leser wüssten, dass alles, was in einer Zeitung steht, ernst zu nehmen ist, bis auf den elzeviro, der als ein Beispiel für künstliches Erzählen aufgefasst werden muss.
Doch als ich an jenem Morgen in die Bar trat, in der ich gewöhnlich meinen Morgenkaffee zu mir nehme, wurde ich von den Angestellten mit Bekundungen der Freude und der Erleichterung begrüßt, da sie geglaubt hatten, Celli habe mich wirklich ermordet. Ich schrieb das Missverständnis dem Umstand zu, dass diesen Leuten der nötige kulturelle Hintergrund fehlte, um die journalistischen Konventionen zu kennen. Aber etwas später begegnete ich dem Dekan meiner Fakultät, einem hochgebildeten Mann, dem diese Konventionen sehr wohl vertraut sind, und er gestand mir, dass er an jenem Morgen, als er die Zeitung aufschlug, zusammengezuckt sei. Es war nur ein kurzes Zusammenzucken, aber einen Moment lang hatte er jenen Titel in einer Tageszeitung, die per definitionem über real geschehene Dinge berichtet, für die Überschrift einer realen Meldung gehalten.
Wir könnten sagen — und so hat man gesagt —, dass künstliches Erzählen strukturell komplexer sei als das natürliche, aber jeder Versuch, strukturelle Differenzen zwischen natürlichem und künstlichem Erzählen zu definieren, kann gewöhnlich durch eine Reihe von Gegenbeispielen vereitelt werden. Wenn man sagt, in der erzählerischen Fiktion gibt es Personen, die im Lauf des Geschehens Handlungen vollführen oder erleiden, und diese Handlungen verändern die Lage einer Person von einem Anfangs- zu einem Endzustand, so trifft diese Definition auch auf die folgende ernsthafte und wahrheitsgemäße Erzählung zu: »Gestern Abend hatte ich einen Mordshunger. Ich bin essen gegangen, habe mir Steak and Lobster gegönnt, und danach war ich sehr zufrieden.«4 Fügt man hinzu, dass die Handlungen schwierig sein und eine unerwartete dramatische Entscheidung enthalten müssen, so bin ich sicher, dass W. C. Fields in hochdramatischer Weise zu erzählen gewusst hätte, welche Angst ihn angesichts der schwierigen Wahl zwischen Steak und Hummer befiel und wie genial er sein Dilemma gelöst hat. Ebenso wenig kann man sagen, dass die Entscheidungen, vor denen die Personen in Ulysses stehen, dramatischer seien als diejenigen, die wir in unserem Alltagsleben treffen müssen. Und nicht einmal die aristotelischen Vorschriften (dass die Helden nicht schlechter und nicht besser sein dürfen als wir gewöhnlichen Menschen, dass sie unerwartete Wendungen, Schicksalsschläge und Agnitionen erleiden müssen und dass die Handlung auf eine Katastrophe zutreiben muss, nach welcher die Katharsis eintritt) genügen, um eine erzählerische Fiktion zu definieren, denn auch viele Lebensbeschreibungen in Plutarchs Vitae erfüllen diese Anforderungen.
Fiktionalität könnte durch ein Insistieren auf nicht verifizierbaren Einzelheiten signalisiert werden, auch durch Erkundungen der Geistes- und Gefühlslagen einer Person, da kein historischer Bericht derlei »Realitätseffekte« ertrüge. Allerdings hat Roland Barthes, gerade als er seine Theorie der beim Erzählen benutzten »Realitätseffekte« darlegte, eine Stelle aus Michelets Histoire de France zitiert (aus Bd. 5, La Révolution, 1869), in welcher der Autor, während er Charlotte Cordays Gefängnisleben beschreibt, durch Insistenz auf nicht nachprüfbaren Details einen typischen narrativen Effekt einfügt: »Au bout d’une heure et demie, on frappe doucement à une petite porte qui était derriere elle« (»Nach anderthalb Stunden klopft es leise an eine kleine Tür, die hinter ihr war«).5
Wahr ist zweifellos, dass eine natürliche Erzählung kaum mit ausdrücklichen Fiktionssignalen beginnt. Daher hält man die Wahre Geschichte des Lukian von Samosata trotz ihres Titels für eine fiktive, da gleich im zweiten Absatz klargestellt wird: »Ich habe Lügen aller Art unter dem Anschein der Wahrheit und Glaubwürdigkeit präsentiert …« Ähnlich beginnt Fielding seinen Tom Jones mit der Warnung, es handle sich um einen Roman. Aber häufig beginnt die erzählerische Fiktion auch mit einem falschen Wahrhaftigkeitssignal. Vergleichen Sie einmal die folgenden Buchanfangspaare:
Angeregt hat mich die sehr berechtigte und oft wiederholte Klage der gelehrten Mitbrüder […], dass es in unseren Tagen niemanden gebe, der es auf sich nehme, in welcher Form auch immer unseren Nachkommen von den vielfältigen Ereignissen zu berichten, die sich sowohl in den Kirchen Gottes wie unter den Völkern zutragen und durchaus des Erinnerns wert sind.
Niemals haben sich Größe und Galanterie in Frankreich so glanzvoll gezeigt wie in den letzten Jahren der Herrschaft Heinrichs II.
Das erste ist der Anfang von Radulf Glabers Historia suorum temporum, das zweite der Anfang von Madame de Lafayettes Prinzessin von Clèves, und man beachte, dass Letztere über Seiten und Seiten so weitergeht, bevor deutlich wird, dass es sich um einen Roman und nicht um eine Chronik handelt.
Als Cäsar in Rom gewisse reiche Fremdlinge sah, die junge Hunde oder Äffchen auf den Armen trugen und sie liebkosten, fragte er — so heißt es —, ob ihnen ihre Frauen keine Kinder gebaren.
Am 16. August 1968 fiel mir ein Buch aus der Feder eines gewissen Abbé Vallet in die Hände […] Das Buch, versehen mit ein paar historischen Angaben, die in Wahrheit recht dürftig waren, präsentierte sich als die getreue Wiedergabe einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert …
Der erste, der wie der Auftakt zu einer phantastischen Erzählung klingt, ist der Anfang von Plutarchs Perikles-Biographie, der zweite der Anfang meines Romans Der Name der Rose.
Wenn jemals die Geschichte der Abenteuer eines Privatmannes in der Welt es verlohnt hat, öffentlich bekannt gemacht zu werden, […] so wird es, glaubt der Herausgeber dieses Berichts, hier der Fall sein. Die Wunder im Leben dieses Mannes übertreffen alles (glaubt er), was es bisher gegeben hat. […] Der Herausgeber hält dies für einen reinen Tatsachenbericht; es gibt darin keinerlei Anzeichen einer Fiktion.
Vielleicht ist es für unsere Leser nicht unannehmbar, wenn wir diese Gelegenheit ergreifen, um ihnen eine knappe Skizze des größten Königs vorzulegen, der je in modernen Zeiten durch Erbrecht auf einen Thron gelangt ist. Wir fürchten nur, dass es unmöglich sein wird, eine so lange und ereignisreiche Geschichte in den Grenzen, die wir uns setzen müssen, zu komprimieren.
Der erste ist der Anfang von Robinson Crusoe, der zweite der von Macaulays Essay über Friedrich den Großen.
Ich darf nicht beginnen, von meinem Leben zu erzählen, ohne meiner guten Eltern Erwähnung zu tun, deren Charakter und Liebenswürdigkeit so großen Einfluss auf meine Erziehung und auf die Anlage meiner Natur hatten.
Es ist schon ein wenig merkwürdig, dass — obwohl ich nicht dazu neige, allzu viel von mir und meinen Angelegenheiten am Kamin und zu meinen persönlichen Freunden zu sprechen — zweimal im Leben von einem autobiographischen Impuls erfasst worden bin, während ich an die Öffentlichkeit trat.
Das erste ist der Anfang von Garibaldis Memorie, das zweite der von Nathaniel Hawthornes The Scarlet Letter.
Natürlich gibt es auch sehr explizite Fiktionssignale, so zum Beispiel den Anfang durch einen Einstieg in medias res, die Eröffnung durch einen Dialog, das Insistieren auf einer individuellen Geschichte anstelle einer allgemeinverbindlichen und vor allem unmittelbare Ironiesignale wie beispielsweise bei Musil, der seinen Mann ohne Eigenschaften mit einem langen Wetterbericht beginnt, in dem es von Fachausdrücken wimmelt:
Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldig-keit.
Was über eine halbe Seite so weitergeht, um dann in den Satz einzumünden:
Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.
Es genügt jedoch, ein einziges fiktionales Werk zu finden, das keines dieser Merkmale aufweist (und wir könnten Dutzende und Aberdutzende anführen), um zu sagen, dass es keine unumkehrbaren Fiktionssignale gibt — außer wenn Elemente des Paratextes ins Spiel kommen.
Aus alledem geht hervor: Oft ist es gar nicht so, dass man in eine fiktive Welt einzutreten beschließt, sondern dass man sich unversehens in ihr befindet und dann beschließt, alles, was einem dort widerfährt, als einen Traum zu nehmen. Gewiss sind wir, wie Novalis sagte, dem Aufwachen nahe, wenn wir träumen, dass wir träumen. Aber dieser Zustand des Halbschlafs — in dem sich der Erzähler von Sylvie befand — wirft viele Probleme auf.
In der erzählerischen Fiktion sind präzise Verweise auf die reale Welt so eng miteinander verknüpft, dass der Leser, wenn er eine Weile in einem Roman verbracht und dessen fiktive Elemente gebührend mit den Verweisen auf die Realität vermischt hat, nicht mehr genau weiß, wo er sich eigentlich befindet.
So kommt es zu einigen wohlbekannten Phänomenen. Das erste haben wir, wenn der Leser das fiktionale Modell auf die Realität projiziert, oder einfacher gesagt, wenn er an die reale Existenz fiktiver Personen und Ereignisse glaubt. Dass viele Menschen glaubten und immer noch glauben, Sherlock Holmes habe wirklich gelebt, ist nur das berühmteste von sehr vielen möglichen Beispielen. Wenn Sie jemals mit einer Gruppe von Joyce-Fans nach Dublin fahren, werden Sie merken, wie schwierig es nach einer Weile wird — für die Fans sowieso, aber auch für unsereinen —, die von Joyce beschriebene Stadt von der realen zu unterscheiden, auch weil die Forscher inzwischen reale Individuen gefunden haben, die Joyce porträtiert hatte. Früher oder später, während Sie an den Kanälen entlanggehen oder auf den Martello Tower steigen, fangen Sie plötzlich an, Gogarty mit Lynch oder Cranly zu verwechseln oder den jungen Joyce mit Stephen Dedalus.
Proust schreibt in seinem Aufsatz über Nerval: »Wenn man in einem Eisenbahnfahrplan den Namen Pontarmé liest, erschauert man.« Nachdem er in Sylvie den Traum eines Traumes erkannt hat, träumt er vom real existierenden Valois in der absurden Hoffnung, darin das Mädchen wiederzufinden, das inzwischen auch ein Teil seiner Träume geworden war.
Das Ernstnehmen der fiktiven Personen kann auch eine besondere Art von Intertextualität produzieren, nämlich wenn der Auftritt — in einem Roman oder Drama — einer Person aus einem anderen Roman geradezu als Signal der Wahrhaftigkeit dient; so zum Beispiel am Ende des zweiten Aktes von Rostands Cyrano de Bergerac, wenn dem Helden ein Musketier gratuliert, der bewundernd als »d’Artagnan« vorgestellt wird. Die Präsenz des d’Artagnan aus der Fiktion von Dumas wird zur Beglaubigung der Wahrhaftigkeit der Geschichte von Cyrano — obwohl uns der historische d’Artagnan nur durch phantasievolle Zeugenaussagen bekannt ist (hauptsächlich durch Dumas), während wir über den historischen Cyrano sehr viel wissen.
Wenn fiktive Personen von einem Text zum anderen wandern können, heißt das, dass sie Bürgerrecht in der realen Welt erworben und sich von der Fiktion, in der sie entstanden sind, emanzipiert haben. Vor kurzem habe ich folgende Geschichte erfunden — im Vertrauen darauf, dass die Leser durch die Postmoderne inzwischen auf jede mögliche Art von metafiktionaler Depravation gefasst sind:
Wien, 1950. Zwanzig Jahre sind vergangen, doch Sam Spade hat seine Suche nach dem Malteser Falken nicht aufgegeben. Sein Kontaktmann ist jetzt Harry Lime, und die beiden treffen sich zu einem Gespräch im Riesenrad über dem Prater. Danach begeben sie sich ins Café Mozart, wo Sam in einer Ecke »As Time Goes By« auf der Zither spielt. Am hintersten Tisch, eine Zigarette im Mundwinkel, die Lippen zu einer bitteren Miene verzogen, sitzt Rick. Er hat einen Hinweis in den Papieren gefunden, die ihm Ugarte gezeigt hatte, und hält nun Sam Spade ein Foto von Ugarte hin. »Cairo!«, murmelt der Detektiv. Rick fährt fort: In Paris, als er mit Capitain Renault triumphalen Einzug im Gefolge von de Gaulle hielt, habe er von der Existenz einer gewissen Dragon Lady erfahren (der mutmaßlichen Mörderin von Robert Jordan im spanischen Bürgerkrieg), die vom Geheimdienst auf die Spur des Falken gesetzt worden sei. Sie müsse jeden Moment eintreffen. Die Tür geht auf, und es erscheint die Gestalt einer Frau. »Ilsa!«, ruft Rick. »Brigid!«, ruft Spade. »Anna Schmidt!«, ruft Lime. »Miss Scarlett!«, ruft Sam. »Sie sind zurückgekommen. Tun Sie meinem Boss nicht wieder weh!«
Aus dem Halbdunkel der Bar löst sich die Gestalt eines Mannes mit einem sarkastischen Lächeln auf den Lippen. Es ist Philip Marlowe. »Gehen wir, Miss Marple«, sagt er zu der Frau. »Pater Brown erwartet uns in der Baker Street.«
Wann wird es leicht, einer fiktiven Person reale Existenz zuzuschreiben? Beachten wir, dass dies ja durchaus nicht bei allen fiktiven Personen geschieht. Weder bei Gargantua noch bei Don Quijote, weder bei Madame Bovary noch bei Long John Silver, weder bei Lord Jim noch bei Popeye (weder dem von Faulkner noch dem der Comics) ist es geschehen. Stattdessen bei Sherlock Holmes und Siddharta und Rick Blaine. Ich glaube, dieses extra- und intertextuelle Leben fiktiver Personen fällt mit dem Phänomen des Kultes zusammen. Wann wird ein Film zu einem Kultfilm, wann wird ein Roman oder eine Dichtung ein Kultbuch?
Vor Jahren, als ich einmal zu erklären versuchte, warum Casablanca ein Kultfilm geworden ist,6 habe ich die Hypothese erwogen, eine Bedingung des Erfolgs und der Kultbildung sei die »Zusammengestückeltheit« eines Werkes. Aber Zusammengestückeltheit heißt auch Zerstückelbarkeit. Ich erkläre Ihnen gleich, was ich meine. Wie man inzwischen weiß, ist die Story von Casablanca erst während der Dreharbeiten entwickelt worden, ohne dass der Ausgang schon feststand. Und Ingrid Bergman wirkt deswegen so faszinierend geheimnisvoll, weil sie beim Spielen noch nicht wusste, für welchen Mann sie sich am Ende entschieden haben würde, weshalb sie beide mit gleicher Zärtlichkeit und Vieldeutigkeit anlächelte. Und man weiß auch, dass der Regisseur und die Drehbuchautoren, als sie mit der noch ungewissen Story in Zeitnot kamen, einfach alle Klischees der ganzen Film- und Literaturgeschichte hineinverrührt haben, sodass der Film eine Art Museum für Kinofans geworden ist. Gerade deswegen aber kann er auch sozusagen stückweise benutzt werden, nach demontierbaren Einzelteilen, von denen jedes dann ein Zitat und ein Archetyp wird. Etwas Ähnliches ist mit The Rocky Horror Picture Show geschehen, einem Kultfilm par excellence, gerade weil er keinerlei Form hat und daher ad infinitum zerlegbar und deformierbar ist. Doch wie T. S. Eliot in einem berühmten Essay erwogen hat, könnte das auch der Grund für den Erfolg von Hamlet gewesen sein.
Eliot zufolge ist Hamlet eine nicht ganz gelungene Fusion aus drei verschiedenen älteren Quellen, in denen das vorherrschende Motiv das der Rache war, die Verzögerungen sich lediglich aus der Schwierigkeit ergaben, einen von Wächtern umgebenen König zu ermorden, und Hamlets »Verrücktheit« vorgetäuscht war, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Shakespeare wollte jedoch das Motiv der schuldigen Mutter und der Wirkung ihrer Schuld auf den Sohn entfalten, aber er war nicht imstande, es dem »widerspenstigen« Stoff seiner Quellen aufzuprägen. Ergebnis: »Die Verzögerung der Rache ist nicht durch Gründe der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit erklärbar; und die Wirkung der ›Verrücktheit‹ geht dahin, den Verdacht des Königs nicht zu beschwichtigen, sondern zu erregen […] Und wahrscheinlich ist es öfter geschehen, dass Leute in Hamlet ein Kunstwerk sahen, weil sie es interessant fanden, als dass sie es interessant fanden, weil es ein Kunstwerk ist. Es ist die Mona Lisa der Literatur.«7
Der immense, jahrtausendealte Erfolg der Bibel verdankt sich ihrer Zerstückelbarkeit, bedenkt man, dass sie ein Werk verschiedener Autoren ist. Dantes Divina Commedia ist zwar durchaus nicht zusammengestückelt, aber wegen ihrer Komplexität, wegen der Vielzahl der in ihr vorkommenden Personen und der in ihr erzählten Ereignisse (was Himmel und Erde enthalten, um Dantes eigene Worte zu gebrauchen), erweist sie sich als derart zerlegbar, dass ihre Fans sie sogar als Reserve für Rätselspiele benutzen, so wie man im Mittelalter Vergil als Handbuch für Prophezeiungen und Wahrsagungen benutzte und wie man später Nostradamus benutzen sollte (ein weiteres schönes Beispiel für einen Erfolg aufgrund radikaler, unheilbarer Zusammengestückeltheit, bedenkt man, dass seine Centuriae gemischt werden können, wie man gerade will). Doch im Gegensatz zur Göttlichen Komödie ist Boccaccios Decamerone nicht zerstückelbar, denn jede Novelle muss als ganze genommen werden. Woran man sieht, dass der Grad an Zerstückelbarkeit nicht vom ästhetischen Wert eines Werkes abhängt. Hamlet bleibt ein faszinierendes Werk, und auch Eliot hat uns nicht überzeugen können, es weniger zu lieben, während sich wahrscheinlich nur wenige bereitfinden werden, der Rocky Horror Picture Show shakespearesche Größe zu attestieren. Dennoch sind beides Kultobjekte, das eine, weil es zerstückelbar ist, das andere, weil es so zusammengestückelt ist, dass es jedes mögliche Spiel der Interaktion erlaubt. Ein Wald muss, um ein heiliger Wald zu werden, wirr und verschlungen wie die Wälder der Druiden sein, nicht wohlgeordnet wie ein französischer Park.
Zahlreich sind also die Gründe, aus denen ein fiktionales Werk ins reale Leben umgefüllt werden kann. Aber wir müssen uns auch noch mit einem anderen, sehr viel wichtigeren Phänomen befassen: mit unserer Tendenz, das Leben wie einen Roman zu erfinden.
Nach dem jüdisch-christlichen Ursprungsmythos hat Adam den Tieren Namen gegeben. Auf der uralten Suche nach einer vollkommenen Sprache8 hat man versucht, die Sprache Adams zu rekonstruieren, von dem es heißt, er habe die Tiere und Dinge ihrem Wesen gemäß zu benennen vermocht, aber jahrhundertelang war man der Ansicht, Adam habe eine Nomenklatur erfunden, das heißt eine Liste von starren Designatoren, bestehend aus Namen »natürlicher Gattungen«, um den Pferden, den Äpfeln oder den Eichen jeweils ihren »wahren« Namen zu geben. Erst im 17. Jahrhundert hat der englische Kaufmann Francis Lodwick die Idee vorgetragen, dass die ursprünglichen Namen nicht Namen von Substanzen, sondern von Handlungen gewesen sein müssten, dass es also nicht einen ursprünglichen Namen für den Trinker oder für das Getränk gab, sondern einen für die Handlung des Trinkens (to drink), und aus diesem Grundmuster hätten sich dann die Namen dessen, der die Handlung vollführt (the drinker), des Gegenstandes der Handlung (the drink), des Ortes (the drinkhouse) und so weiter abgeleitet. Damit hat Lodwick vorweggenommen, was man heute die »Theorie der Case Grammar« nennt (zu deren Wegbereitern Kenneth Burke gehörte), nach welcher unser Verständnis eines gegebenen Ausdrucks in einem gegebenen Kontext die Form eines Instruktionsmusters annimmt, das Fragen nach einem Agenten, einem Gegenagenten, einem Ziel und so weiter stellt. Kurz gesagt, wir verstehen einen Satz, weil wir gewohnt sind, uns eine kleine Geschichte auszudenken, auf die sich der Satz bezieht, auch wenn er von natürlichen Individuen oder Gattungen spricht.
Eine ähnliche Idee können wir in Platons Kratylos finden: Ihm zufolge repräsentieren die Wörter nicht die Dinge an sich, sondern den Ursprung oder das Ergebnis einer Handlung. Der Genitiv von Zeus sei deswegen Diós, weil dieser Name ursprünglich die Grundtätigkeit des Königs der Götter ausgedrückt habe, nämlich di’ hoòn zen zu sein, »der, durch welchen das Leben gegeben wird«. Ähnlich sei das Wort anthropos (Mensch) die Verstümmelung eines früheren Satzes mit der Bedeutung »der, welcher wiederbetrachten kann, was er gesehen hat«.
Somit könnten wir sagen, dass Adam beispielsweise die Tiger nicht als einzelne Exemplare einer natürlichen Gattung sah. Er sah bestimmte Tiere, die bestimmte morphologische Eigenschaften aufwiesen und in bestimmte Tätigkeiten verwickelt waren, wenn und solange sie mit anderen Tieren oder mit ihrer natürlichen Umwelt interagierten. Nur dann konnte Adam erkennen, dass ein bestimmtes Subjekt — das gewöhnlich gegen bestimmte andere Subjekte agierte, um bestimmte Ziele zu erreichen, und das sich unter so und so gearteten Umständen zeigte — nur Teil einer Geschichte war, einer Geschichte, die sich nicht von ihm abtrennen ließ und in der es eine unverzichtbare Rolle spielte. Und erst in diesem Stadium der Welterkenntnis konnte jenes Subjekt »X-in-Aktion« schließlich Tiger genannt werden.
Heute spricht man auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz von frames als Handlungsmustern (wie etwa ein Restaurant betreten, zum Bahnhof gehen, um einen Zug zu nehmen, einen Regenschirm öffnen), deren Kenntnis einen Computer befähigt, verschiedene Situationen zu verstehen. Aber ein Psychologe wie Jerome Bruner ist der Ansicht, dass auch unsere normale Art und Weise, uns über Alltagserfahrungen Rechenschaft abzulegen, die Form einer Geschichte annimmt,9 und das Gleiche geschieht mit der Geschichte als historia rerum gestarum. Arthur Danto hat gesagt, »die Geschichte erzählt Geschichten«, und Hayden White hat von Geschichtsschreibung als »literarischem Artefakt« gesprochen.10 Algirdas Greimas hat seine ganze semiotische Theorie auf ein »aktantiales Modell« gegründet, eine Art narratives Skelett, das die Tiefenstruktur jedes semiotischen Prozesses darstellt, sodass er geradezu sagen kann, das Narrative sei »das Organisationsprinzip aller Diskurse«.11
Unsere perzeptiven Beziehungen mit der Außenwelt funktionieren, weil wir uns auf früher gehörte Geschichten verlassen. Wir würden einen Baum nicht vollständig wahrnehmen, wenn wir nicht wüssten (weil andere es uns erzählt haben), dass er ein langes Wachstum hinter sich hat und nicht über Nacht aus dem Boden geschossen ist. Auch diese Gewissheit gehört zu unserem »Verstehen«, dass ein Baum ein Baum ist und nicht eine Blume. Wir glauben einer Erzählung, die unsere Vorfahren uns überliefert haben, auch wenn wir diese Vorfahren heute Wissenschaftler nennen.
Niemand lebt nur in der unmittelbaren Gegenwart, wir verknüpfen Dinge und Ereignisse mit dem Bindemittel der Erinnerung, der privaten und der kollektiven (sei sie Geschichte oder Mythos). Wir verlassen uns auf eine historische Erzählung, wenn wir »ich« sagen, ohne in Frage zu stellen, dass wir die natürliche Fortsetzung dessen sind, der — nach Aussage unserer Eltern oder Auskunft des Einwohnermeldeamts — um die und die Uhrzeit an dem und dem Tag in dem und dem Jahr an dem und dem Ort geboren ist. Und da wir mit zwei Erinnerungen leben — mit der individuellen, die uns zu erzählen erlaubt, was wir gestern getan haben, und mit der kollektiven, die uns erzählt, wann und wo unsere Mutter geboren wurde —, neigen wir oft dazu, die beiden Erinnerungen zu vermengen, als hätten wir die Geburt unserer Mutter (aber letztlich auch die von Julius Cäsar) in der gleichen Weise als Augenzeugen erlebt wie unsere letzte Reise.
Diese Vermengung von individueller und kollektiver Erinnerung verlängert unser Leben, wenn auch nur nach hinten, und erscheint uns wie ein Versprechen der Unsterblichkeit. Die Teilhabe an der kollektiven Erinnerung (durch die Erzählungen der Älteren oder durch Bücher) versetzt uns ein wenig in die Lage von Borges vor dem magischen Aleph, jenem Punkt, der das ganze Universum enthält. In gewisser Weise können wir im Laufe unseres Lebens mit Napoleon frösteln, wenn plötzlich ein kühler Wind vom Atlantik her über Sankt Helena weht, uns mit Heinrich V. über den Sieg von Azincourt freuen und mit Cäsar am Verrat des Brutus leiden.
Daher ist es leicht zu verstehen, warum uns die narrative Fiktion so fasziniert. Sie bietet uns die Möglichkeit, unbegrenzt jene Fähigkeit auszuüben, die wir sowohl zur Wahrnehmung der Außenwelt wie zur Rekonstruktion der Vergangenheit brauchen. Die Fiktion hat die gleiche Funktion wie das Spiel. Spielend lernt das Kind zu leben, denn es simuliert Situationen, in denen es sich als Erwachsener befinden könnte. Und durch die narrative Fiktion üben wir Erwachsene unsere Fähigkeit, in die Erfahrung der Gegenwart wie der Vergangenheit eine Ordnung zu bringen.
Doch wenn die erzählerische Aktivität so eng mit unserem Alltagsleben verbunden ist, könnte es dann nicht auch vorkommen, dass wir das Leben als Fiktion interpretieren und beim Interpretieren der Realität fiktive Elemente in sie einführen?
Es gibt dafür ein erschreckendes Beispiel, eine schlimme Geschichte, bei der alle hätten bemerken können, dass es sich um Fiktion handelte, denn die Zitate aus romanhaften Quellen waren nicht zu übersehen, und doch haben viele sie unseligerweise als eine wahre Geschichte genommen.
Der Anfang liegt weit zurück, am Beginn des 14. Jahrhunderts, als der französische König Philipp der Schöne den Orden der Templer zerstörte. Seit damals hat man nicht aufgehört, von einem heimlichen Weiterleben des Ordens zu fabulieren, und noch heute können Sie über dieses Thema Dutzende von Büchern in den mit »Esoterik« oder »New Age« beschrifteten Abteilungen der Buchläden finden. Im 17. Jahrhundert kam eine andere Geschichte hinzu, die der Rosenkreuzer, einer Bruderschaft, die ihren ersten Auftritt auf der historischen Bühne in Gestalt der Beschreibungen hatte, welche die sogenannten Rosenkreuzer-Manifeste von ihr gaben (die Fama Fraternitatis von 1614, und die Confessio Fraternitatis Rosae-Crucis von 1615). Der oder die Autoren dieser Manifeste blieben offiziell unbekannt, auch weil diejenigen, denen sie zugeschrieben wurden, ihre Vaterschaft leugneten. Die Manifeste riefen etliche Aktivitäten aufseiten derer hervor, die an die Existenz der Bruderschaft glaubten und beteuerten, ihr auf der Stelle beitreten zu wollen. Doch von einigen Andeutungen abgesehen behauptete niemand ernstlich, ihr anzugehören, denn sie war eine geheime Bruderschaft, und es war kennzeichnend für die Rosenkreuzer, dass sie behaupteten, keine zu sein. Was umgekehrt implizierte, dass ipso facto alle diejenigen, die irgendwann später behaupteten, Rosenkreuzer zu sein, mit Sicherheit keine waren. Infolgedessen gibt es nicht nur keine Beweise für die Existenz der Rosenkreuzer, sondern ihre Existenz ist per definitionem unmöglich, weshalb Heinrich Neuhaus, als er im Jahre 1618 die Existenz der Rosenkreuzer beweisen wollte, auf das folgende außergewöhnliche Argument rekurrieren musste: »Gerade dass sie ihre Namen wechseln und verbergen, dass sie ihr Alter verschleiern, dass sie nach eigenem Bekunden daherkommen, ohne sich kenntlich zu machen, erlaubt keinem Logiker zu verneinen, dass sie notwendig in natura existieren müssen.«12 Dessen ungeachtet wimmelt es in den folgenden Jahrhunderten von esoterischen Gruppen, die sich in gegenseitiger Polemik als die einzigen wahren Erben der Rosenkreuzer bezeichnen und dafür unwiderlegliche Beweise zu haben behaupten, die sie jedoch niemandem zeigen können, da es sich um Geheimdokumente handelt.
In diese romanhafte Konstruktion fügt sich im 18. Jahrhundert die »Schottische« oder »Templerische« Freimaurerei ein, die ihren Ursprung nicht nur auf die Erbauer des Salomonischen Tempels zurückführt, sondern auch eine Verwandtschaft mit den Erbauern des Tempels der Templer reklamiert, deren geheimes Wissen durch Vermittlung der Rosenkreuzer auf das moderne Freimaurertum überkommen sei.
Über diese Geheimgesellschaften sowie über die Frage, ob es »Unbekannte Obere« gebe, die die Geschicke der Welt lenkten, wird dann ausgiebig am Vorabend der Französischen Revolution diskutiert. 1789 warnt ein angeblicher Marquis de Luchet, es habe sich »inmitten der dichtesten Finsternis eine Gesellschaft von neuen Wesen gebildet, die sich kennen, ohne sich je gesehen zu haben«, und: »Diese Gesellschaft übernimmt vom Jesuitenregime den blinden Gehorsam, von der Freimaurerei die Prüfungen und die äußeren Zeremonien, von den Templern die Evokationen der Untergründe und die unglaubliche Kühnheit […].«13
In den Jahren 1797—98 schrieb dann, als Antwort auf die Französische Revolution, der Abbé Barruel seine Mémoires pour servir à l’histoire du jacobinisme, ein dem Anschein nach historisches Werk, das sich jedoch wie ein Schauerroman liest. Es beginnt natürlich mit den Templern. Nach dem Feuertod ihres Großmeisters Jacques de Molay verwandeln sie sich in eine Geheimgesellschaft mit dem Ziel, die Monarchie und das Papsttum zu stürzen und eine Weltrepublik zu errichten. Im 18. Jahrhundert bemächtigen sie sich der Freimaurerei und gründen eine Art Akademie, deren teuflische Mitglieder Voltaire, Turgot, Condorcet, Diderot und d’Alembert sind, und aus diesem Zirkel gehen die Jakobiner hervor. Doch auch die Jakobiner werden von einer noch geheimeren Gesellschaft kontrolliert, nämlich den Bayerischen Illuminaten, die Tag und Nacht nur auf Königsmord sinnen. Die Französische Revolution war das Ergebnis dieses Komplotts.
Sogar Napoleon interessierte sich für diesen Geheimbund und verlangte einen Bericht von Charles de Berkheim, der, wie es Spione und Geheimagenten zu tun pflegen, auf öffentliche Quellen zurückgriff und dem Kaiser als unerhörte Enthüllung alles das mitteilte, was dieser in den Büchern des Marquis de Luchet und des Abbé Barruel hätte lesen können. Napoleon war, wie es scheint, so beeindruckt von diesen außergewöhnlichen Beschreibungen der ungeahnten Macht eines Direktoriums Unbekannter Oberer mit der Fähigkeit, die Welt zu regieren, dass er alles Mögliche unternahm, um mit ihnen in Kontakt zu treten.
Das Buch von Barruel enthielt noch keinerlei Anspielung auf die Juden. Aber 1806 bekam Barruel einen Brief von einem gewissen Hauptmann Simonini, der ihn mit Nachdruck an die jüdische Omnipräsenz erinnerte: Auch Mani (der Begründer des Manichäismus) und der Alte vom Berge (Großmeister des Geheimordens der Assassinen und angeblich ein notorischer Alliierter der ursprünglichen Templer) seien Juden gewesen, die Freimaurerei sei von Juden gegründet worden, und sämtliche existierenden Geheimgesellschaften seien von Juden infiltriert. Es scheint, dass der Brief von Simonini in Wirklichkeit von Agenten des Polizeiministers Fouché stammte, der sich Sorgen über Napoleons Kontakte mit den französischen Juden machte.
Barruel war erschrocken über die Enthüllungen Simoninis und soll privat gesagt haben, wenn man sie veröffentliche, riskiere man ein Massaker. Dessen ungeachtet schrieb er einen Essay, in dem er Simoninis Ideen übernahm, und obwohl er den Text dann vernichtete, hatte sich das Gerücht schon verbreitet. Es produzierte jedoch keine interessanten Ergebnisse bis zur Mitte des Jahrhunderts, als die Jesuiten anfingen, sich über die antiklerikalen Väter des italienischen Risorgimento Sorgen zu machen, über Leute wie Garibaldi, die Verbindungen zu den Freimaurern hatten. Die Idee, den Geheimbund der Carbonari als Handlanger einer jüdisch-freimaurerischen Verschwörung hinzustellen, schien ihnen vielversprechend.
Zur selben Zeit versuchten jedoch die antiklerikalen Liberalen ihrerseits, die Jesuiten zu diffamieren und zu zeigen, dass sie nichts anderes täten als Komplotte gegen das Wohl der Menschheit zu schmieden. Mehr noch als durch einige »seriöse« Autoren (von Michelet und Quinet bis Garibaldi und Gioberti) wurde dieses Motiv durch einen Romanautor populär gemacht, nämlich durch Eugène Sue. In seinem Roman Der Ewige Jude erscheint der böse Rodin, Inbegriff der jesuitischen Weltverschwörung, unverkennbar als eine Neuauflage der Unbekannten Oberen klerikalen Gedenkens. Und er taucht von neuem in Sues letztem Roman Die Geheimnisse des Volkes auf, in dem der teuflische Plan der Jesuiten bis ins letzte verbrecherische Detail in einem Schreiben dargelegt wird, das Rodin (eine Romanfigur) von Jesuitengeneral Pater Roothaan (einer historischen Figur) erhält. Und hier begegnen wir schließlich auch noch einer anderen Romanperson wieder, dem edlen Rudolf von Gerolstein, dem Helden aus den Geheimnissen von Paris (einem echten Kultbuch, dessen Kult so weit ging, dass Tausende von Lesern Briefe an die Romanfiguren schrieben). Rudolf gelangt in den Besitz des Schreibens von Pater Roothaan und enthüllt seinen Inhalt den anderen glühenden Demokraten: »Sehen Sie nur, lieber Lebrenn, wie schlau dieser höllische Plan erdacht worden ist, welch furchtbare Leiden, welch grauenhafte Beherrschung, welch schrecklichen Despotismus er für Europa und die Welt bereithält, falls er je gelingen sollte […].«
1864, als Sues Romane erschienen sind, schreibt ein gewisser Maurice Joly eine liberal inspirierte Satire gegen Napoleon III., worin Machiavelli, der den Zynismus des Diktators repräsentiert, in der Hölle mit Montesquieu debattiert. Dabei legt der Autor das von Sue beschriebene Jesuitenkomplott (mitsamt der klassischen Formel »Der Zweck heiligt die Mittel«) fast wörtlich seinem Machiavelli — also Napoleon III. — in den Mund. Ich habe mindestens sieben Seiten wenn nicht regelrechten Plagiats, so doch ausgiebiger und nicht gekennzeichneter Zitate gefunden. Joly wird verhaftet, sitzt fünfzehn Monate im Gefängnis und begeht schließlich Selbstmord. Exit Joly, aber wir werden ihm gleich wiederbegegnen.
1868 veröffentlicht Hermann Goedsche, ein deutscher Postbeamter, der bereits andere offenkundig verleumderische Broschüren geschrieben hatte, unter dem Pseudonym »Sir John Retcliffe« einen Schauerroman mit dem Titel Biarritz, in dem eine okkulte Zeremonie auf dem Prager Judenfriedhof beschrieben wird. Goedsche hatte einfach eine Szene aus Dumas’ 1849 veröffentlichtem Roman Joseph Balsamo kopiert, in der jenes Treffen zwischen Cagliostro als Chef der Unbekannten Oberen und anderen Erleuchteten geschildert wird, bei dem dann alle das Komplott mit dem Halsband der Königin planen. Doch anstelle von Cagliostro und Co. lässt Goedsche die Vertreter der zwölf Stämme Israels auftreten, die sich auf dem Prager Friedhof versammeln, um die Eroberung der Welt vorzubereiten, wie der Großrabbiner ohne Umschweife enthüllt. Acht Jahre später, 1876, steht dieselbe Geschichte in einer russischen Hetzschrift namens Die Juden, Herren der Welt, aber nun so, als wäre sie wirklich geschehen. 1881 bringt sie auch die französische Zeitung Le Contemporain, die behauptet, sie aus sicherer Quelle zu haben, nämlich von dem englischen Diplomaten Sir John Readcliff. 1896 wird die Rede des Großrabbiners (der jetzt John Readclif heißt) erneut in dem Buch Les Juifs, nos contemporains von François Bournand abgedruckt. Und von nun an wird das von Dumas erfundene Freimaurertreffen, verschmolzen mit dem von Sue erfundenen Weltverschwörungsplan der Jesuiten, den Joly dann Napoleon III. in den Mund gelegt hat, zur »wahren« Rede des Großrabbiners und erscheint in diversen Formen an verschiedenen Orten.
Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Um die Jahrhundertwende tritt eine Figur auf den Plan, die keine Romanfigur ist, aber eine zu sein verdiente: Pjotr Iwanowitsch Ratschkowski, ein Russe, der Probleme mit der zaristischen Polizei gehabt hatte, weil er mit linksextremen Gruppen verkehrt haben sollte, dann Polizeispitzel geworden war, sich der rechtsextremen Terrororganisation »Schwarze Hundertschaften« genähert hatte und schließlich zum in Paris residierenden Auslandschef der zaristischen Geheimpolizei, der gefürchteten Ochrana ernannt worden war. Dieser Ratschkowski nun lässt, um seinem Beschützer, dem Minister Sergej Witte, gegen einen politischen Widersacher namens Ilja Zion oder Elie de Cyon zu helfen, dessen Landhaus am Genfer See durchsuchen und findet darin einen Text, in dem Cyon das Pamphlet von Joly gegen Napoleon III. abgeschrieben, aber die Ideen Machiavellis nun Witte untergeschoben hat. Ratschkowski, der wie alle Angehörigen der Schwarzen Hundertschaften ein glühender Antisemit ist — und vergessen wir nicht, das alles geschah zur Zeit der Affäre Dreyfus —, hat sofort die Idee, diesen Text zu nehmen, jeden Hinweis auf Witte zu streichen und die ihm untergeschobenen Weltverschwörungsideen den Juden unterzuschieben. Der Name Cyon erinnert, zumal in seiner russischen Form, an Zion, und durch die Idee, die Enthüllung eines jüdischen Komplotts einem Juden zuzuschreiben, wird die Glaubwürdigkeit der Operation noch erhöht.
Dieser von Ratschkowski hergerichtete Text war vermutlich die erste Quelle der berüchtigten Protokolle der Weisen von Zion. Dass diese »Protokolle« fiktiv waren, lag auf der Hand, da es außer in einem Roman von Sue wenig glaubhaft ist, dass die »Bösen« ihre ruchlosen Pläne so offen und schamlos ausbreiten. Erklären die »Weisen von Zion« doch unverhüllt, sie hätten »einen grenzenlosen Ehrgeiz, eine verzehrende Habgier, einen erbarmungslosen Rachedurst und einen glühenden Hass«.14 Doch wie im Falle des Hamlet nach der Auffassung Eliots lässt die Unterschiedlichkeit der romanhaften Quellen diesen Text eher inkongruent erscheinen.
Die »Weisen« wollen die Pressefreiheit abschaffen, aber sie ermuntern das Freidenkertum. Sie kritisieren den Liberalismus, unterstützen jedoch den Gedanken der multinationalen Konzerne. Sie propagieren die Revolution in allen Ländern, aber um zur Rebellion anzustacheln, wollen sie die Ungleichheit verschärfen. Sie sind für den Bau von U-Bahnen, um die Großstädte unterminieren zu können. Sie erklären, der Zweck heilige die Mittel, und schüren den Antisemitismus, um einerseits die mittellosen Juden unter ihre Kontrolle zu bringen und andererseits in den Nichtjuden Mitleid über das jüdische Unglück zu wecken. Sie wollen das Studium der Klassiker und der antiken Geschichte abschaffen, sie wollen den Sport und die visuelle Kommunikation fördern, um die Arbeiterklasse zu verdummen, und so weiter.
Viele haben bemerkt, dass es leicht war, in den »Protokollen« einen Text zu erkennen, der im Frankreich des Fin de Siècle entstanden sein musste, denn es wimmelt darin von Bezugnahmen auf Probleme der französischen Gesellschaft jener Zeit (zum Beispiel auf den Skandal um den Panamakanal oder auf damals von der konservativen Presse geschürte Gerüchte über eine angebliche Dominanz von jüdischen Aktionären in der Pariser Metro-AG). Aber es war auch leicht, unter den Quellen viele sehr populäre Romane zu erkennen. Unglücklicherweise war jedoch die Geschichte — auch hier wieder — erzählerisch so überzeugend, dass es den Leuten nicht schwerfiel, sie ernst zu nehmen.
Der Rest dieser Geschichte ist Geschichte. Ein wandernder russischer Mönch namens Sergej Nilus — eine Figur auf halbem Weg zwischen Intrigant und Prophet —, der »rasputinsche« Ambitionen hatte (er wollte Beichtvater des Zaren werden) und von der fixen Idee des Antichrist besessen war, veröffentlichte und kommentierte die »Protokolle«. Wonach sie durch Europa wanderten, bis sie in die Hände von Adolf Hitler fielen … Die Folgen sind bekannt.15
Hatte wirklich niemand gemerkt, dass diese Collage unterschiedlicher Texte (die ich in der Abbildung rekonstruiere) nichts als eine Fiktion war? Doch, 1921 hatte die Londoner Times das Pamphlet von Maurice Joly entdeckt und es als die Quelle der »Protokolle« angegeben. Doch die Evidenz der Fakten genügt nicht, wenn die Leute um jeden Preis einen Horrorroman haben wollen. Die Engländerin Nesta Webster, die ihr Leben damit verbrachte, die Story von den Unbekannten Oberen und der jüdischen Weltverschwörung zu untermauern, schrieb 1924 ein Buch mit dem Titel Secret Societies and Subversive Movements. Sie zeigte sich wohlinformiert, kannte die Enthüllungen der Times wie auch die ganze Geschichte von Nilus, Ratschkowski, Goedsche und so weiter (bis auf die Zusammenhänge mit Dumas und Sue, die, glaube ich, eine Entdeckung von mir sind), und dennoch zog sie folgenden Schluss:
Die einzige Meinung, für die ich mich engagieren kann, ist, dass die Protokolle, seien sie echt oder nicht, das Programm einer Weltrevolution darstellen und dass sie, bedenkt man ihre prophetische Natur und ihre außergewöhnliche Ähnlichkeit mit den Programmen anderer Geheimgesellschaften der Vergangenheit, entweder das Werk irgendeiner Geheimgesellschaft sind oder von jemandem stammen, der die Traditionen der Geheimgesellschaften bestens kannte und fähig war, ihre Ideen und ihren Stil zu reproduzieren.16
Der Syllogismus ist makellos: »Da die Protokolle besagen, was ich in meiner Geschichte gesagt habe, bestätigen sie sie.« Oder auch: »Die Protokolle bestätigen die Geschichte, die ich ihnen entnommen habe, und daher sind sie echt.« In gleicher Weise bestätigt Rudolf von Gerolstein, wenn er als Figur aus den Geheimnissen von Paris in den Geheimnissen des Volkes auftaucht, durch die Autorität des ersten Romans die Glaubwürdigkeit des zweiten.
Wie begegnen wir solchen Einbrüchen des Romans ins Leben, nachdem wir gesehen haben, welche historische Tragweite das Phänomen haben kann? Ich bin nicht hier, um Ihnen meine kleinen Streifzüge durch den Wald der Fiktionen als Heilmittel gegen die großen Tragödien unserer Zeit anzubieten. Gleichwohl haben wir gerade bei Streifzügen durch die Welt des Erzählens auch die Mechanismen verstehen können, die den Einbruch der Fiktion ins Leben ermöglichen — der manchmal harmlos und vergnüglich ist, wie wenn man in die Baker Street pilgert, und der in anderen Fällen das Leben nicht in einen Traum, sondern in einen Alptraum verwandelt. Das Nachdenken über die komplexen Beziehungen zwischen Leser und Geschichte, Fiktion und Realität kann eine Form der Therapie sein gegen den Schlaf der Vernunft, der Ungeheuer gebiert.
In jedem Fall werden wir nicht darauf verzichten, literarische Fiktionen zu lesen, denn sie sind es, in denen wir nach einer Formel suchen, die unserem Leben einen Sinn gibt. Im Grunde suchen wir unser Leben lang nach einer Geschichte unseres Ursprungs, die uns sagt, warum wir geboren sind und warum wir leben. Manchmal suchen wir nach einer kosmischen Geschichte, der Geschichte des Universums, manchmal nach unserer persönlichen Geschichte (die wir unserem Beichtvater oder unserem Analytiker erzählen oder einem Tagebuch anvertrauen). Manchmal hoffen wir, unsere persönliche Geschichte mit der des Universums in eins zu bringen.