Arne atmete noch einmal tief durch und stieß dann die Tür zur Praxis auf.
Die Rezeption war nicht besetzt, also half Kira gerade entweder einem der beiden Tierärzte in einem Behandlungszimmer oder sie war im Labor.
Im Wartezimmer, das durch eine Glasscheibe vom Eingangsbereich der Praxis getrennt war, saß Frau Neumann mit ihrem Schäferhund Jason.
»Moin Frau Neumann«, grüßte Arne und spinstete hinter den Rezeptionstresen.
Funny, der Pudelmischling seines Chefs Karl, schlief auf seinem rotkarierten Kissen.
»Moin Arne«, erwiderte Frau Neumann, seine ehemalige Grundschullehrerin. »Du bist doch hoffentlich nicht zu spät?« Sie zwinkerte ihm zu.
»Bin ich nie«, versetzte er und ging den Gang entlang zum Labor, wo Kira gerade dabei war, Etiketten auf Blutproben zu kleben.
»Moin Kira.« Arne betrat das Labor und umarmte sie kurz.
»Hey. Was war los?«
Er verdrehte die Augen. »Ich habe Käpt’n einfach nicht aus dem Wasser bekommen. Ich habe gerufen und gerufen, aber es war nichts zu machen. Also musste ich selbst ins Wasser, obwohl ich eigentlich schon auf dem Weg zur Arbeit war. Dann habe ich ihn zu meinem Dad gebracht, bin noch mal nach Hause, um aus den nassen Sachen rauszukommen … ach, die Freuden der Hundehaltung.«
Kira schnaubte. »Was hast du denn erwartet, als du einen Landseer adoptiert hast? Weiß doch jeder, was für Wasserratten das sind.«
Arne stellte seinen Rucksack in die Ecke und zog das Sweatshirt aus. Darunter trug er bereits eines der blauen Poloshirts mit der Aufschrift Tierarztpraxis Frederstadt auf der Brust.
»Vielleicht habe ich einfach gehofft, dass ich es irgendwann schaffe, dass er auf mich hört«, scherzte Arne.
Eigentlich war er sehr zufrieden mit den Fortschritten, die er mit Käpt’n gemacht hatte. Der fünfjährige Rüde war nun seit gut einem Jahr bei ihm und hatte schon viel gelernt. Nur aus dem Wasser kam er selten freiwillig.
»Aber mal im Ernst. Inzwischen ist Käpt’n viel verträglicher mit anderen Hunden. Demnächst würde ich gern mal ausprobieren, ob ich ihn nicht doch in die Praxis mitbringen kann. Dann müsste ich ihn morgens nicht immer noch zum Reiterhof bringen. Bist du damit einverstanden?«
»Natürlich. Aber mich musst du doch nicht fragen.«
»Finde ich schon. Schließlich bist du meistens vorn an der Rezeption und müsstest da auf ihn aufpassen.«
»Von mir aus ist es kein Problem. Ich mache das gern. Karl wird wohl kaum etwas dagegen haben. Schließlich bringt er Funny mit zur Arbeit. Und Max ist sicher auch einverstanden.«
»Wie geht’s ihm denn?«
Kira seufzte und sah ihn mitleidig an. »Ach, Arne.«
»Was denn?«
Kira legte die Blutproben zur Seite und streichelte ihm über den Rücken. »Gib es doch auf.«
»Was soll ich aufgeben?«, fragte er, obwohl er ihre Antwort bereits kannte.
»Das mit Max. Er ist ja echt ein lieber Kerl, aber deutlicher könnte er nicht machen, dass er nichts von dir will.«
Arne räusperte sich. »Ich wünsche mir ja auch nicht mehr von ihm als eine gute Zusammenarbeit.«
Kira schnaubte. »Und warum fragst du dann, wie es ihm geht? Weil du dir Sorgen machst, deshalb. Aber, Arne, Max ist …«
»… unser Chef, ich weiß. Wie geht’s ihm?«
Er wusste ja selbst, dass das bescheuert war. Kira hatte vollkommen recht. Max war freundlich zu ihm, aber distanziert. Arne hatte ein paarmal angedeutet, dass sie doch nach Feierabend mal etwas zusammen unternehmen konnten. Jedes Mal hatte Max abgelehnt. Nun fragte Arne nicht mehr. Aber das hieß nicht, dass er es sich nicht mehr wünschte.
Kira seufzte. »Ganz okay, schätze ich.«
Arne zog eine Grimasse.
Max hatte seit Wochen Liebeskummer und schien sich nicht gut davon zu erholen. Arne hätte ihm so gern geholfen. Wenn Max ihn schon nicht daten wollte, hätte er ihm doch zumindest als Freund beistehen können. Aber Max wollte das nicht. Das musste Arne akzeptieren. Egal, wie schwer es ihm fiel.
Maxʼ Exfreund war vor einigen Wochen nach Feierabend hier aufgetaucht und hatte so ein Theater veranstaltet, dass die Polizei hatte kommen müssen.
In dieser Kleinstadt kannten sich alle – und alle sprachen übereinander. Noch nie hatte Arne das so sehr gestört wie jetzt, da alle über Max und dessen Ex redeten. Inzwischen hatten sich einige Details herumgesprochen. Dass dieser Lars verheiratet war zum Beispiel. Oder dass er stockbesoffen aus dem dreißig Kilometer entfernten Lübeck mit dem Auto hergekommen war.
Max ignorierte das Gerede, so gut es ging. Aber ihm war anzusehen, dass ihm die Gerüchte zusetzen. Vor allem da es nicht bei den Tatsachen blieb. Die wildesten Geschichten machten die Runde. Geschichten, von denen Arne hoffte, dass Max sie nicht zu Ohren bekam.
»Morgen«, hörte er seine Lieblingsstimme hinter sich und fuhr herum.
Max stand im Türrahmen und lächelte ihn ein wenig zugeknöpft an.
Arne grinste zurück. Er war nun einmal nicht sonderlich gut darin, sich zu verstellen oder seine Gefühle zu verbergen.
»Moin«, erwiderte er und bemühte sich, seinen Chef nicht allzu auffällig zu mustern.
Max war ein ganzes Stück kleiner als Arne, so um die einssiebzig. Er hatte kurzes blondes Haar, das er heute anscheinend nicht frisiert hatte, denn es stand ein wenig wirr vom Kopf ab. Unter seinen grünen Augen waren dunkle Schatten zu sehen. Nichts davon änderte etwas daran, dass Max wunderschön war.
»Ich bräuchte bitte mal Hilfe. Jason will partout nicht auf den Tisch springen und allein möchte ich ihn nicht heben, weil er doch solche Rückenprobleme hat. Frau Neumann kann sich aber nicht so tief bücken.«
»Ich komme mit«, erwiderte Arne.
Max nickte ihm zu und verschwand wieder.
Kira warf Arne einen vielsagenden Blick zu.
»Ich mache nur meinen Job«, sagte er und folgte Max ins Behandlungszimmer.
***
Um ganz sicherzugehen, fühlte Max noch einmal über die Schwellung an Jasons Brust. »Nein, Frau Neumann, da müssen Sie sich wirklich keine Sorgen machen. Das ist nur ein Lipom, also ein gutartiger Fettknubbel.«
Frau Neumann drückte die Hand auf ihr Herz und seufzte. »Gott sei Dank. Da bin ich aber froh.«
»Ich auch«, erwiderte Max und kraulte Jason hinter den Ohren, wohl darauf bedacht, nicht versehentlich Arne zu berühren, der Jason festhielt.
Es war ja nicht so, dass Max Arne nicht mochte. Ganz im Gegenteil. Genau das war ja das Problem – und der Grund dafür, dass er sich besser von ihm fernhielt.
»Gerade Hunde, die etwas mehr Gewicht haben, können dazu neigen, solche Lipome zu entwickeln. Es ist gut möglich, dass noch welche dazukommen. Also bitte nicht erschrecken.«
Frau Neumann nickte. »Aber ich komme dann schon zu Ihnen, oder?«
»Ja, auf jeden Fall. Wir müssen uns das ansehen. Aber jetzt im Moment besteht überhaupt kein Anlass zur Sorge. So, dann schaue ich jetzt noch in seine Ohren. Sie haben ja gesagt, dass er die öfter schüttelt.«
»Genau. Vor allem wenn wir vorher draußen waren.«
»Das kann natürlich noch allergisch sein. Aber mal schauen. Arne, gibst du mir bitte das Otoskop?«
Arne, der bereits an der Schublade zugange war, drehte sich wieder um und reichte Max das Instrument, mit dem er in Jasons Ohren schauen wollte.
Natürlich. Arne wusste oft noch vor Max, was er brauchte. Kein Wunder, schließlich kannte er sich fast genauso gut aus wie Max selbst. Bis zum Pflichtpraktikum im Schlachthof, das er nach zwei Stunden abgebrochen hatte, hatte er selbst Tiermedizin studiert.
Max nahm ihm das Otoskop aus der Hand und achtete wieder darauf, Arne dabei nicht zu berühren. Er hatte sich fest vorgekommen, Karls und seinem Mitarbeiter keine falschen Hoffnungen zu machen. Ganz abgesehen davon wollte er aber auch selbst kein Risiko eingehen. Er konnte sich jetzt nicht auf etwas Neues einlassen – also hielt er besser direkt Abstand.
Arne hielt Jasons Kopf fest und flüsterte ihm beruhigend ins linke Ohr, während Max ins rechte schaute.
»Ein bisschen gerötet, aber entzündet ist es nicht. Ich sehe auch keinen Fremdkörper. Jetzt noch die andere Seite.« Max nickte Arne zu, der daraufhin mit ihm den Platz am Behandlungstisch tauschte. Dann schaute er in Jasons linkes Ohr. »Hier ist es genauso. Haben Sie noch etwas von den Ohrentropfen?«
»Ja, ein bisschen habe ich noch.«
»Okay. Einmal täglich für drei Tage. Wenn es danach nicht besser ist, rufen Sie bitte noch mal an, ja?«
»Das mache ich. Vielen Dank, Herr Dr. Jacob.«
»Nichts zu danken. Gute Besserung, Jason. Tschüss, Frau Neumann.«
Max setzte sich an den Schreibtisch, um ein paar Notizen zu Jasons heutigem Besuch in dessen Patientenakte einzugeben.
Währenddessen ließ Arne den Tisch ganz nach unten fahren. »Runter geht doch, oder? Habe ich’s mir doch gedacht.« Arne lachte sein ansteckendes Lachen, als Jason unerwartet behände vom Tisch sprang und laut bellte. »Kommen Sie mit nach vorne? Dann macht meine Kollegin die Rechnung fertig.«
Mit Frau Neumann und Jason im Schlepptau verließ Arne das Zimmer.
Max seufzte leise und wandte sich wieder der Akte zu.
Er sollte Arnes Gegenwart nicht so sehr genießen. Das wusste er ja selbst. Zu frisch waren seine Wunden. Und überhaupt – Arne hatte einen Mann verdient, der ihm mehr geben konnte als Max. Zu mehr als einem harmlosen Flirt war er im Moment nämlich nicht bereit und es war offensichtlich, dass Arne sich mehr wünschte.
Max speicherte die Daten und schloss die Akte. Als Nächstes war ein Chamäleon mit Blasenentzündung dran.
Max erhob sich, um ins Wartezimmer zu gehen, als Arne wieder in der Tür auftauchte.
»Tut mir leid, dass ich zu spät war. Käpt’n war … naja, Käpt’n eben.« Arnes breites Grinsen fühlte sich an, als ginge die Sonne auf. Dabei schien die doch schon durch die bodentiefen Fenster in den Behandlungsraum und spiegelte sich in den Fliesen am Boden und den weißen Schrankfronten.
Arne sprühte Desinfektionsmittel auf den Behandlungstisch und wischte ihn mit ein paar Papiertüchern ab.
»Ist doch nicht schlimm. Du warst ja noch rechtzeitig da, um Jason zu betreuen«, erwiderte Max und versuchte sich an einem Lächeln.
Er war sich ziemlich bescheuert dabei vorgekommen, um Hilfe zu bitten. Karl schaffte so etwas auch allein. Aber Jason war schwer und Max fühlte sich in letzter Zeit einfach nur ausgelaugt.
»Trotzdem. Sorry.« Arne warf die Papiertücher in den Müll und richtete sich auf. »Wer ist jetzt dran?«
»Fritzi. Die bekomme ich allein hin. Aber Karl braucht Hilfe, glaube ich. Herr Hagedorn kommt mit Yolanda zum Krallenschneiden.«
»Oh«, erwiderte Arne mit Grabesstimme. »Dann ist es jetzt wohl Zeit, dass wir uns verabschieden.«
Gegen seinen Willen musste Max lachen. »Ich bin mir sicher, du wirst es überleben. So, jetzt hole ich mal Fritzi.« Er verließ den Behandlungsraum und ging den Gang zum Wartezimmer entlang, vorbei an Regalen mit medizinischem Spezialfutter für Hunde und Katzen.
***
Arne griff in die Schale mit den Gummibärchen, die in der Mitte des Tischs stand, und steckte sich einige davon in den Mund.
»Ich glaube, für Arne ist das Schönste an unseren Besprechungen, dass es Gummibärchen gibt«, neckte Kira.
Arne schluckte und grinste. »Es sind eben die kleinen Dinge im Leben, die mir die größte Freude bereiten.«
Kira räusperte sich vielsagend. »Das lasse ich jetzt einfach mal so stehen.«
Arne schnaubte. »Sehr taktvoll.«
Karl schüttelte lachend den Kopf. »Vielleicht sollten wir doch wieder zu unserem eigentlichen Thema zurückkehren.«
Jeden Abend nach Praxisschluss setzten sie sich zusammen und besprachen Organisatorisches, wichtige Fälle und Operationen.
Das war neu. Frau Dr. Willert, die Vorgängerin der beiden Tierärzte, hatte alles allein entschieden und Kira und Arne nur Anweisungen gegeben. Arne hatte das okay gefunden, aber so wie jetzt machte ihm die Arbeit wesentlich mehr Spaß – und das hatte nicht einmal direkt mit Max zu tun, der ihm gegenüber am Tisch im Pausenraum saß. Er freute sich einfach, dass er jetzt mehr in die Behandlung der Tiere eingebunden wurde, die zu ihnen kamen.
»Enki war heute zur Kontrolle bei mir. Das Laborergebnis war ja in Ordnung. Bei den entnommenen Proben wurde kein Krebs gefunden. Die Fäden konnte ich aber noch nicht ziehen. Das mache ich dann nächsten Montag«, sagte Max und sah von seinen Unterlagen auf. »Karl, war heute nicht Lulu bei dir?«
»Doch. Da gibt es auch gute Nachrichten. Ich habe die Gebärmutter noch mal geschallt und es waren keine Entzündungsherde mehr zu sehen. Natürlich führen wir die Antibiose noch zu Ende und nächste Woche mache ich noch mal einen Ultraschall. Kira, hast du mit Herrn Yilmaz einen Kastrationstermin für Lulu ausgemacht?«
»Ja, für Anfang August.«
»Gut. Das ist noch lange genug vor dem Zeitpunkt, an dem sonst die nächste Läufigkeit beginnen würde.« Karl sah in die Runde. »Gibt es sonst noch etwas zu besprechen?«
»Ja, ich habe eine Frage. Oder eher eine Bitte«, sagte Arne. »Dürfte ich noch mal versuchen, Käpt’n mit in die Praxis zu bringen?«
Karl zuckte mit den Schultern. »Von mir aus gern.«
Max sah ihn fragend an. »Noch mal? Ich kann mich gar nicht erinnern … ach so. Vor unserer Zeit wahrscheinlich, oder?«
»Ja, genau. Er ist ja seit einem Jahr bei mir und ziemlich am Anfang habe ich das schon mal versucht. Um ehrlich zu sein, musste ich ihn nach einer Stunde wieder zu meinem Vater auf den Reiterhof bringen, weil er sich hier mit allen Hunden angelegt hat. Aber er hat seitdem wirklich Fortschritte gemacht. Inzwischen geht er sogar an anderen Rüden vorbei, ohne Krawall zu machen.«
»Ich bin natürlich auch einverstanden. Funny kennt er ja schon und mit ihm verträgt er sich gut«, sagte Max.
Arne lächelte ihn an und Max schaute weg.
»Mit den Pferden auf dem Reiterhof gab es nie Probleme?«, fragte Karl.
»Nee. Die sind ja auch eher in seiner Größenordnung«, scherzte Arne und zwang sich zu einem Grinsen.
Warum verhielt Max sich ihm gegenüber bloß so oft derart abweisend?
Es war nicht einmal so, dass Max ihn nicht leiden konnte. Das merkte Arne ja bei den wenigen Gelegenheiten, wenn mal ein Gespräch zwischen ihnen aufkam. Manchmal riss Max dann sogar Witze mit ihm. Arne kam es so vor, als ob Max in diesen Momenten vergaß, dass er ja eigentlich gar nicht mit ihm reden wollte. Aber warum?
Arne hatte ja Verständnis dafür, dass Max noch kein Interesse an einer neuen Beziehung hatte. Die Wunden waren bestimmt noch zu frisch. Doch das hieß schließlich nicht, dass sie nicht mal miteinander reden konnten.
»Wie geht es Käpt’n denn? Wächst die Kralle gut nach?«, fragte Max leise und so schnell, dass Arne ihn beinahe nicht verstanden hätte.
»Ja, sieht gut aus. Danke.«
Käpt’n hatte sich vor einigen Wochen im Wald eine Krallenverletzung zugezogen. Die Kralle war gerissen und Max hatte sie gezogen. Theoretisch hätte Arne das auch selbst tun können, aber es war schon einige Zeit her gewesen, dass er so etwas zum letzten Mal gemacht hatte. Sein Studium lag immerhin schon einige Jahre zurück.
Danach hatte er die Ausbildung zum tiermedizinsichen Fachangestellten bei Frau Dr. Willert gemacht, die er vor einem Jahr beendet hatte.
»Das freut mich.« Max fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. »Kira, hast du noch ein Anliegen?«
»Ja. Es geht um die Abrechnung. Die Gummibärchenkosten steigen in astronomische Höhen. Ich denke, wir sollten Arnes Zugriff darauf beschränken.«
Max lachte unbeschwert, was nur sehr selten vorkam. »Ich glaube, das ist nicht nötig«, sagte er, sah auf und lächelte ihn an.
Für einen kurzen Augenblick hatte Arne das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen.
»Wenn das so ist, möchte ich aber auch einen Bonus«, neckte Kira.
»Wie wäre es mit einem Kuss von Karl?«, schlug Max vor.
»Oder von dir«, erwiderte Kira, spitzte die Lippen und lehnte sich zu Max, der ihr lachend auswich.
Nicht dass er sonderlich viel Platz gehabt hätte. Der Pausenraum war zwar freundlich eingerichtet mit hellen Holzmöbeln, Bildern von ihren Patientinnen und Patienten an der Wand und einem Fenster zum Hof hin, doch er war winzig klein. Mehr als der quadratische Tisch, vier Stühle und eine kleine Küchenzeile mit zwei Herdplatten und einer Kaffeemaschine passten nicht hinein.
Arne hatte Mühe, unter dem Tisch nicht – wirklich aus Versehen! – Maxʼ Knie mit seinem zu berühren, um ihn nicht noch mehr zu verschrecken.
Maxʼ Ausweichmanöver führte jedoch dazu, dass er mit der Schulter gegen Arne stieß.
»Oh. Sorry«, murmelte er, machte aber entgegen Arnes Erwarten keine allzu eiligen Anstalten, wieder mehr Distanz zwischen sie zu bringen.
»Kein Problem«, erwiderte Arne lächelnd und spürte dem Kribbeln in seinem Oberarm an der Stelle nach, wo Max ihn berührt hatte.
***
Max zog die Praxistür hinter Karl, Funny und sich zu und schloss ab. Arne und Kira hatten sich bereits nach der Besprechung verabschiedet. Im Anschluss daran hatten Karl und er noch ein paar Tierhalterinnen und -halter zurückgerufen, etwa um Blutergebnisse zu besprechen und kurze Fragen zu beantworten.
Karl stieß die Luft aus. »Mist, ich muss noch mal rein. Ich habe das Notfallhandy auf dem Tisch liegen gelassen.«
Max zog es aus der Tasche seiner weißen Stoffhose. »Schon gut, ich hab’s.«
Karl streckte die Hand aus, aber Max schüttelte den Kopf.
»Ich bin dran«, beharrte Karl.
»Genieß du mal den Abend mit Hauke. Ich habe doch eh nichts vor. Da kann ich auch ans Handy gehen.«
Karl seufzte und schüttelte den Kopf. »Wir haben uns darauf geeinigt, dass eine Woche ich das Handy nehme und eine Woche du.«
»Ja, aber du hast ein Date. Wenn ihr romantisch essen geht, willst du doch sicher nicht über Durchfall reden.«
Karl schnaubte. »Mit Funny kann man überhaupt nicht romantisch essen gehen.«
»Wenigstens hat er keinen Durchfall.«
»Solange er nicht wieder irgendwas von meinem Teller klaut.«
Max lächelte. »Soll ich Funny mitnehmen?«
Karl und er wohnten gemeinsam in einer Dreizimmerwohnung. Aber seit Karl mit seinem Freund Hauke zusammen war, verbrachte er auch viel Zeit in dessen Wohnung. Wundersamerweise hatten sich sogar sein rotblonder Pudelmischling Funny und Haukes drei junge Katzen miteinander arrangiert. Nur von Karl wollten die Miezen nichts wissen – schließlich war er nicht nur ihr Stiefherrchen, sondern auch ihr Tierarzt und das nahmen sie ihm übel. Bannig übel, wie man hier in Frederstadt sagte.
»Nee, das wird schon gehen. Aber mit dem Handy …«
»Dafür nimmst du es mir auch mal ab, wenn ich etwas vorhabe. Was ja so häufig der Fall ist.« Max steckte das Handy wieder ein und zog eine Grimasse.
Die Wahrheit war, dass er seit Ewigkeiten nichts Tolles mehr vorgehabt hatte.
Karl legte ihm den Arm um die Schultern, als sie gemeinsam über den Innenhof gingen, in dem die Praxis lag. »Was hältst du davon, wenn wir am Sonntag klettern gehen?«
Max zuckte mit den Schultern und legte Karl den Arm um die Taille. »Wenn du meinst.«
» Du warst doch immer derjenige, der unbedingt mal klettern wollte. Außerdem hast du mir erzählt, dass der Inhaber des Kletterparks so gut aussieht.«
Ja, das stimmte. Max war vor einiger Zeit mal dort gewesen und hatte sich mit diesem Marcel unterhalten. Bei der Gelegenheit hatte er auch gleich in Erfahrung gebracht, dass Marcel eine Verlobte hatte.
Aber selbst wenn nicht – Max hatte keine Lust mehr auf Beziehungsstress. Oder Beziehungen. Oder Männer – jedenfalls abgesehen von solchen, denen er freundschaftlich verbunden war.
Karl war sein bester Freund seit Beginn ihres Studiums in München. Auch mit Hauke und einigen anderen aus Frederstadt war Max inzwischen befreundet. Aber das waren alles Pärchen. Wenn sie etwas gemeinsam machten, kam Max sich immer wie das fünfte Rad am Wagen vor.
»Nur wir beide. Komm schon«, drängte Karl.
Max nickte. »Okay. Ich freue mich«, behauptete er.
Karl hatte ja recht, Max hatte schon immer gern klettern lernen gewollt, aber es hatte sich nie ergeben. Vielleicht wäre es wirklich schön, das endlich in Angriff zu nehmen und bei der Gelegenheit auch gleich mal wieder ein bisschen Zeit nur mit seinem besten Freund zu verbringen.
Sie sahen sich natürlich oft, aber meistens redeten sie dann über die Praxis. Da wurde es wirklich Zeit, einfach nur Spaß miteinander zu haben. Das Problem war bloß: Max war sich gar nicht mehr sicher, ob er überhaupt noch Spaß haben konnte.
Er hatte geglaubt, wenn Lars aus seinem Leben verschwand, würde das Licht zurückkehren. Doch Lars hatte sich als schwarzes Loch herausgestellt. Auch jetzt, da sie schon einige Wochen keinen Kontakt mehr hatten, saugte er alles Licht an und verschluckte es .
»Das ist wahrscheinlich meine gerechte Strafe«, murmelte Max.
»Hm? Was meinst du?«
»Habe ich das gerade laut gesagt?«
»Hast du. Was ist los?«
Max blieb stehen und sah zu Karl auf. »Nichts. Schon gut.«
»Max.«
Er seufzte und erwiderte: »Ich denke bloß … Lars war … ist … er ist doch verheiratet.«
»Ja, und?«
»Dass ich mich jetzt so scheiße fühle, ist bestimmt meine gerechte Strafe dafür, dass ich etwas mit einem verheirateten Mann hatte.«
»So ein Blödsinn. Er hat doch die Scheiße gebaut. Er hat dir erst gesagt, dass er verheiratet ist, als du schon in ihn verliebt warst. Sonst hättest du h die Finger von ihm gelassen. Und er war derjenige, der fremdgegangen ist. Du hast ihm ja geglaubt, dass er sich bald trennt.«
»Wieder und wieder und wieder. Jahrelang. Wie blöd muss man sein, um …«
»Hey! Du bist nicht blöd, okay?«
»Sicher? In der Bäckerei erzählen sie was anderes. Und im Zeitschriftenladen. Und in der Metzgerei. Und …«
»Das kann dir scheißegal sein. Diejenigen, deren Meinung zählt, wissen, was wirklich passiert ist. Dann war es eben keine Glanzleistung, dass du mit einem verheirateten Mann zusammen warst. Na und? Deshalb bist du kein schlechter Mensch, Max.«
»Stell dir mal vor, Hauke würde dich betrügen. Was würdest du über den Mann oder die Frau denken, mit dem oder der er etwas hat?«
»Nichts. Die Person wäre mir egal. Ich wäre sauer auf Hauke. Schließlich wäre er derjenige, der zweigleisig fährt.«
»Die Unterstellung verbitte ich mir aber. Und für beste Freunde steht ihr auch viel zu nah beieinander.«
Noch ehe Karl sich zu seinem Freund umdrehen konnte, der gerade durch die Toreinfahrt kam, rannte Funny auf ihn zu und riss Karl, der die Leine in der Hand hielt, mit sich.
Karl drückte Hauke einen Kuss auf die Lippen. »Servus. Schön, dass du mich abholen kommst.«
»Moinsen. Hallo Funny. Hey Max.« Hauke kraulte Funny hinter den Ohren und schüttelte Max die Hand.
»Hallo Hauke. Keine Sorge, Karl denkt das nicht wirklich. Er wollte mich nur aufmuntern.«
Hauke runzelte die Stirn. »Indem er sich ausmalt, dass ich ihn betrüge? Hat’s denn funktioniert? Bist du jetzt fröhlich?«
Max zog seine Mundwinkel hoch. »Und wie.«
Hauke schnaubte.
Karl kniete sich hin, um Funny aus der Leine zu befreien, in der er sich verheddert hatte.
»Ich mache mir Vorwürfe. Weil Lars doch verheiratet ist. Karl wollte mich davon überzeugen, dass Lars der Böse ist, nicht ich.«
»Davon muss er dich erst überzeugen? Das ist doch logisch.«
»Hast du ihm gesagt, dass er das sagen soll?«
Karl richtete sich wieder auf und winkte ab. »Hauke hat seinen eigenen Kopf. Der hört noch schlechter als Funny.«
»Ich liebe dich auch, Schatz.«
Karl grinste. »Manchmal ist er aber doch brav.«
»Bekomme ich jetzt ein Leckerchen?«
»Wer ist denn hier der Besitzer des Süßigkeitenladens?«
Max hob die Hände. »Ehe dieses Gespräch eine schlüpfrige Wendung nimmt, verabschiede ich mich lieber.«
»Seit wann hast du etwas gegen schlüpfrige Wendungen?«, wunderte Hauke sich. »Und noch wichtiger: Weiß Arne das?«
»Arne ist unser Mitarbeiter. Mehr nicht.«
»Aber er guckt dich so an«, versetzte Hauke, legte den Kopf schief und plinkerte.
»Hast du eine Bindehautentzündung?«
»Nein, einen Zuckerschock. Ich bin nämlich vorhin Arne über den Weg gelaufen und er hat mir eine Viertelstunde lang vorgeschwärmt, wie einfühlsam du heute einem ehemaligen Straßenhund die Angst vor Berührungen von Fremden genommen hast.«
»Tja, ich bin eben ein guter Tierarzt.«
»Und so ein guter Mensch«, säuselte Hauke.
»Ich wünsche dir einen schönen Abend, Karl. Aber ich weiß nicht, ob das etwas wird, wenn du ihn mit dieser Dumpfbacke hier verbringst.«
»Die Dumpfbacke macht morgen extra für dich neue Nussschokolade«, versetzte Hauke.
»Für irgendetwas muss es ja gut sein, dass Karl dich datet.«
***
Kaum hatte Arne an die Tür zur Sattelkammer geklopft, hörte er Käpt’n drinnen bellen.
»Komm rein, min Jung«, rief sein Vater Aiko laut genug, um Käpt’n zu übertönen.
Arne öffnete die Tür. Käpt’n schoss ihm entgegen, legte ihm seine riesigen Pfoten auf die Schultern und leckte ihm durchs Gesicht.
Arne lachte und umarmte seinen Hund. »Moin, ihr zwei. Na, wie war euer Tag?«
»Nicht so schön wie deiner, wenn ich mir das Strahlen in deinen Augen so ansehe.« Aiko wuchtete einen Sattel auf eine der Befestigungen an der Wand und klopfte sich die Hände an der derben Hose ab.
Käpt’n stand inzwischen wieder auf allen vieren und trottete zu seinem Schlafplatz auf der blauen Decke.
»Wieso? Ist was passiert?«
»Nee, ein ganz normaler Tag. Aber bei dir offensichtlich nicht. Sag bloß, er war heute zur Abwechslung mal nett.«
Arne seufzte. »Max ist immer nett, Dad. Es steht einfach nicht auf mich, das ist alles.«
Aiko zog die Augenbrauen hoch und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
»Er ist gesetzlich dazu verpflichtet, mir genug Pausenzeiten zu erlauben und meinen Lohn zu bezahlen. Nicht dazu, sich in mich zu verlieben.«
»Hgrmpf.«
»Viktoria ist auch nicht in dich verliebt. Oder habe ich etwas verpasst?«
»Das ist etwas anderes.«
»Nee, Dad. Das ist genau das gleiche.«
Arne fand es wirklich lieb von seinem Vater, dass er so zu ihm hielt. Aber er hatte auch keine Lust mehr, Max jeden Abend in Schutz nehmen zu müssen. Schließlich tat Max nichts Verwerfliches oder gar Verbotenes. Er war immer freundlich zu ihm, wenn auch distanziert.
Aber Arne hatte kein Recht darauf, dass Max seine Gefühle erwiderte. Wenn er das akzeptierte, musste sein Vater das doch auch.
Außerdem fiel es Arne ja so schon schwer, damit zu leben, dass Max nichts von ihm wollte. Da konnte er wirklich darauf verzichten, das auch noch vor Aiko rechtfertigen zu müssen.
Wobei er zugeben musste, dass er das selbst schuld war. Er konnte sich einfach nicht gut verstellen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich das herumsprach, und dann wäre Max schon wieder Gesprächsthema.
Aus dem Grund hielt Arne sich, was das betraf, in den Unterhaltungen mit anderen sehr zurück. Die meisten glaubten jetzt, dass er Max nicht mochte, weil er nie über ihn reden wollte. Nur Kira und Aiko hatte er die Wahrheit gesagt. Und Max schien sie auch zu kennen – Arne war wirklich ein schlechter Schauspieler.
»Warum grinst du denn so, hm?«, bohrte sein Vater.
Arne grinste. »Nur so. Warum denn nicht? Ich habe Feierabend, die Sonne scheint …«
»Die geht gleich unter«, brummte Aiko und schob sich an ihm vorbei in den Gang zu den Boxen.
»Du bist eine echte Frohnatur.«
»Kommst du mit? Ich muss noch mal nach Ninette sehen. Dann kann ich auch Feierabend machen.«
»Klar. Was ist denn mit ihr? Komm, Käpt’n.«
Käpt’n sah ihn misstrauisch an.
Arne lachte. »Keine Sorge, wir gehen gleich noch mal an den Strand.«
Käpt’n stand auf und trottete zu ihm.
Arne streichelte ihm über den Kopf. »Fein bist du. Komm mit.« Er faltete noch schnell Käpt’ns Decke zusammen und nahm sie mit.
Normalerweise blieb die Decke dort liegen, doch morgen würde Käpt’n den Tag ja in der Praxis verbringen. Hoffentlich auch wirklich den ganzen Tag und nicht wieder nur eine Stunde.
Zusammen folgten sie Aiko zu den Pferdeboxen.
»Ich nehme Käpt’n morgen mit in die Praxis. Karl und Max sind einverstanden.«
Aiko schnaubte. »Wie großzügig.«
Arne blieb an der Box von Grischa stehen, einem Fuchswallach mit weißer Blesse. »Moin. Na?«
Karl und Max behandelten nur Kleintiere und bei Frau Dr. Willert war das genauso gewesen. Da er dank seinem Vater viel Zeit hier auf dem Reiterhof verbrachte, kannte Arne sich aber auch mit Pferden sehr gut aus. Aiko war Pferdewirt und Arnes Mutter Pia arbeitete als Tierärztin auf Fuerteventura, wo sie seit fünfzehn Jahren mit ihrem neuen Partner lebte. Pia behandelte alle Tiere, war aber auf Pferde spezialisiert – so hatten Aiko und sie sich auch damals kennengelernt: auf dem Reiterhof, auf dem er auch heute noch arbeitete.
Grischa schnaubte und drückte seine Nase gegen Arnes Hand.
Arne lachte und tätschelte ihm den Kopf. »Ich habe gerade leider keine Leckerchen für dich. Beim nächsten Mal, versprochen.«
Aiko war inzwischen an Ninettes Box angekommen. Die schwarze Araberstute stand in einer Ecke und döste vor sich hin.
»Alles in Ordnung mit ihr?«, fragte Arne.
»Ja, alles bestens. Beim Ausritt heute Morgen ist sie einem Wildkaninchen begegnet. Die Ärmste hat sich so erschrocken, dass sie den ganzen Weg zurück zum Stall galoppiert ist.«
»Kann ich verstehen. Mein letzter Kaninchenbiss ist drei Wochen lang nicht verheilt.«
»Erzähl das bitte nicht Ninette, sonst schmeißt sie mich das nächste Mal aus dem Sattel«, brummte Aiko und winkte ihm, ihm zu folgen. »Max ist also einverstanden, dass du Käpt’n mitbringst, ja?«
»Karl auch.«
»Hat das was zu sagen?«
»Wie meinst du das?« Sie traten durch den Seiteneingang nach draußen auf den Parkplatz des Reiterhofs.
»Na, er ist doch sonst immer so stieselig.«
»Ist er gar nicht. Max hat wirklich Humor. Und er …«
Aiko wedelte mit der Hand durch die Luft. »Jaja, schon gut. Max ist ganz toll.« Er sah Arne prüfend an. »Irgendwas ist doch.«
»Nichts. Das … also, das hat sicher nichts zu bedeuten.«
»Also ist doch was.«
Arne zuckte mit den Schultern. Es hatte offensichtlich keinen Zweck, das zu leugnen. »Er ist heute zum ersten Mal nicht zurückgezuckt, als wir uns berührt haben.«
»Wenn das schon ein Grund zur Freude sein soll, dann weiß ich auch nicht.«
»Falls du die ganze Fahrt über schlechte Laune haben willst, gehen Käpt’n und ich lieber zu Fuß.«
»Käpt’n geht lieber zu Fuß?« Aiko schnaubte. »Das glaubst du doch selbst nicht.«
***
Lächelnd beobachtete Max die beiden Hunde, die wild miteinander durchs Wasser tollten. Ein Labrador, dem er letzte Woche eine Zecke entfernt hatte, und ein Golden Retriever, den Max noch nicht kannte, jagten einander durch das seichte Wasser.
Er ging lieber am Hundestrand entlang, auch wenn er selbst keinen Hund hatte. Nach dem Tod seiner Katze letztes Jahr hatte Max noch kein Tier aufgenommen. Er hatte Wilmas Tod erst verarbeiten wollen und zu dem Zeitpunkt hatten Karl und er ja auch schon Umzugspläne gehabt, auch wenn die noch nicht sonderlich konkret gewesen waren. Nun hatte er das Gefühl, dass es wieder Zeit war, eine vierbeinige Mitbewohnerin oder einen Mitbewohner zu finden. Vorausgesetzt natürlich, dass sie oder er sich mit Funny verstand.
Max blieb am Meeressaum stehen. Er hatte seine Espadrilles ausgezogen und hielt sie in der Hand. Der nasse Sand unter seinen Füßen war angenehm kühl, ebenso wie der Wind, der an seinen Haaren und der Jeansjacke zog, die er über dem blauen Praxispoloshirt trug.
Er atmete tief ein und nahm den salzigen Geruch des Meeres wahr. Die Sonne war schon fast untergegangen, aber noch tauchte sie den Horizont in ein kräftiges Orange. Über ihm war der Himmel mattblau, einzelne Wolkenbänder zeichneten sich mit einem lilafarbenen Leuchten ab.
Ein lautes Bellen ließ ihn zusammenfahren. Das klang nach Bernhardiner, dachte er und sah sich nach einem entsprechend großen Hund um.
Ah. Kein Bernhardiner. Ein Landseer. Arnes Landseer Käpt’n schoss ins Wasser – für einen Hund seiner Größe sehr behände – und paddelte los.
»Nicht zu weit raus! Ich habe keine Lust, dir heute noch mal hinterherzuschwimmen«, hörte Max Arne rufen.
Vernünftig wäre es jetzt gewesen, sich aus dem Staub zu machen, bevor Arne ihn bemerkte. Aber war das denn wirklich nötig? Sie arbeiteten miteinander und verstanden sich gut. Da konnte es doch nicht so schlimm sein, wenn sie auch nach Feierabend ein bisschen miteinander redeten, oder?
Bislang hatten sie genau ein einziges Mal privat Zeit miteinander verbracht: An ihrem ersten Tag in der Praxis hatten Karl und Max ihren Einstand in einem italienischen Restaurant gegeben und Kira und Arne eingeladen.
Jetzt wären sie zwar nur zu zweit, aber dennoch war das hier ja kein Date. Und es wäre doch wirklich unhöflich, wenn Max sich nun einfach verdrückte. Was, wenn Arne ihn schon gesehen hatte?
Max atmete noch einmal tief durch und es fühlte sich fast an, als nehme er damit auch ein wenig von der letzten Wärme der Sonne in sich auf.
Dann drehte er sich um.
Arne hielt ebenfalls seine Schuhe in der Hand, als er über den Strand Richtung Wasser ging, Käpt’n fest im Blick.
Seine dunkelbraunen, fast schwarzen Haare waren windzerzaust. Arne hatte welliges Haar, das anscheinend nie machen wollte, was es sollte. Wenn Max ganz ehrlich war, gefiel ihm das.
Der Wind sorgte auch dafür, dass Arnes Sweatshirt gegen seine Brust gedrückt wurde. Seine ausgeprägten Muskeln waren deutlich als Konturen unter dem hellgrauen Stoff zu erkennen. Arne war noch größer als Hauke und Karl und somit fast einen ganzen Kopf größer als Max.
»Hallo Arne«, rief Max und hob die Hand, um ihm zuzuwinken.
Arnes Kopf fuhr herum und im nächsten Moment strahlte er ihn an. »Max. Moin. Das ist ja eine Überraschung.«
»Ja, ich bin hier, um mir einen Hund zu klauen«, scherzte Max.
Arne joggte auf ihn zu und blieb vor ihm stehen.
Sein Gesicht schimmerte warm in der Abendsonne. Er hatte ein paar vereinzelte Sommersprossen. Seine sonst dunkelbraunen Augen wirkten jetzt heller, fast bernsteinfarben.
»Aber bitte nicht Käpt’n«, erwiderte er und zwinkerte ihm zu.
»Warum denn nicht? Ich mag ihn sehr«, versetzte Max. »Aber er mich wahrscheinlich nicht, nach der Aktion mit der Kralle.«
»Quatsch. Er fragt jeden Tag nach dir.«
Max schüttelte lachend den Kopf. »Wenn du mich anlügst, muss ich dich leider abmahnen.«
»Ist aber so. Ehrlich. Jeden Morgan, wenn er mir seine Nase ins Gesicht drückt, fragt er zuallererst …«
Max verstellte seine Stimme. » Muss ich heute wieder in die schreckliche Praxis? «
»Falsch. Sehe ich heute den charmanten Tierarzt wieder? Oh.« Arne machte ein betont ernstes Gesicht. »Für ein Kompliment mahnst du mich doch nicht ab, oder?«
Max schluckte und riss seinen Blick von Arne los, schaute wieder über das Meer, dessen Schaumkronen unablässig auf sie zuzuschweben schienen. »Wenn es keine Lüge war.«
»War es nicht.« Arne räusperte sich. »Machst du noch einen Spaziergang oder bist du schon auf dem Heimweg?«
»Ich wollte noch ein Stück gehen. Hier am Wasser entlang kann ich mich wenigstens nicht verlaufen.«
»Notfalls würde ich dir sogar deinen Heimweg erklären. Wenn du uns begleitest, meine ich.«
»Gern«, antwortete Max, ohne dass er vorher darüber nachgedacht hatte.
Würde er Arne damit keinen falschen Eindruck vermitteln? Durfte er sich selbst das erlauben?
Arne konnte seinem Herzen gefährlich werden, das wusste er. Aber es fühlte sich einfach viel zu gut an, in diesem Moment hier mit ihm zusammen am Strand zu sein. Solange nichts zwischen ihnen passierte, war das doch okay. Oder?
***
Immer wieder sah Arne aus dem Augenwinkel zu Max in der Angst, dass er sich dessen Gegenwart nur eingebildet hatte.
Ging Max tatsächlich gerade neben ihm her?
Erleichtert stieß er die Luft aus. Ja. Max war da.
»Käpt’n ist echt kaum zu bremsen«, sagte Max leise und sah lächelnd ins Wasser, wo Arnes Landseer parallel zum Strand durch die Wellen paddelte.
»Kannst du dir vorstellen, was im Winter los ist, wenn er nicht schwimmen darf?«
»Bis wann lässt du ihn denn schwimmen?«
»Wenn die Lufttemperatur unter zehn Grad ist, darf er nur noch mit den Beinen ins Wasser. Das beleidigte Gesicht jedes Mal, wenn ich ihn zurückrufe.« Arne lachte.
»Sei froh, dass das klappt«, erwiderte Max grinsend.
»Ja, aber gerade so. Wenn er erst mal schwimmt, ist er selektiv schwerhörig bis taub.«
»Und ich dachte immer, Funny wäre verrückt.«
»Käpt’n ist definitiv verrückter. Bist du mit Hunden aufgewachsen? Du hast ja mal erzählt, dass du eine Katze hattest. Aber wenn ich dich mit Hunden sehe … das wirkt so, als hättest du einen besonderen Draht zu ihnen.«
Max lächelte verlegen. »Danke. Nee, meine Eltern wollten keine Tiere. Ich habe immer eines gewünscht, aber … das mit meiner Familie war nie so einfach. Auch abgesehen von einem Haustier. Seit meinem Outing haben wir gar keinen Kontakt mehr.«
»Oh. Verstehe. Das tut mir sehr leid.« Arne zögerte kurz, legte dann aber doch für einen Moment seine Hand auf Maxʼ Schulter.
Natürlich rechnete er damit, dass Max zurückzucken würde. Doch stattdessen streckte er seine Hand aus und legte sie für eine gefühlte Millisekunde auf Arnes Arm. »Danke. Kann man nichts machen.« Er zuckte mit den Schultern und ging weiter.
Arne holte zu ihm auf.
Max fragte: »Wie ist es mit deinen Eltern? Du hast mir ja erzählt, dass dein Dad auf dem Reiterhof arbeitet und auf Käpt’n aufpasst. Aber was ist mit deiner Mutter?«
»Meine Mom lebt in Spanien mit ihrem neuen Partner. Sie ist vor fünfzehn Jahren dorthin gezogen.«
»Verstehe. Ist das okay für dich?«
»Inzwischen ja. Mit zwölf war ich natürlich wenig begeistert.«
»Kann ich mir vorstellen. Waren deine Eltern da frisch getrennt?«
»Nein. Geschieden wurden sie, als ich sieben war. Ich habe immer bei meinem Dad gelebt. Trotzdem war es komisch, als sie dann plötzlich weg war. Sie hatte sich im Urlaub in einen spanischen Tierarzt verliebt. Dann ist sie dorthin gezogen und in seine Praxis mit eingestiegen. Ich habe aber schnell gemerkt, dass das auch seine Vorteile hat. Wer verbringt schon alle Schulferien komplett in Spanien?«
Max lachte. »Ich jedenfalls nicht. Seht ihr euch denn heute noch oft?«
»Nicht mehr ganz so häufig wie früher. Sie kommt jeden Sommer für eine Woche hierher in ihre alte Heimat. Diesen Sommer klappt das allerdings nicht, dafür fliege ich sie besuchen. Im Winter besuche ich sie auch immer. Meistens fliege ich am zweiten Weihnachtstag, damit mein Dad die Feiertage nicht ganz allein verbringt. Er hat außer mir keine Familie mehr.«
»Dann hat er also keine neue Partnerin?«
»Nee, er ist jetzt eingefleischter Junggeselle und so auch glücklich, glaube ich.«
»Man muss ja auch nicht unbedingt eine Partnerschaft haben. Beziehungen sind jedenfalls kein Glücksgarant«, murmelte Max und steckte die Hände in die Hosentaschen.
Arne schaute aufs Meer. Käpt’n schwamm immer noch fröhlich hin und her.
Die Sonne war inzwischen ganz untergegangen. Nur ein schmaler blassgelber Streifen am Horizont erinnerte daran, dass sie noch vor wenigen Minuten zu sehen gewesen war.
Das hatte er ja toll hinbekommen. Da hatte er die einmalige Gelegenheit, privat Zeit mit Max zu verbringen, und dann bestärkte er ihn ungewollt darin, erst mal Single zu bleiben.
»Was ist eigentlich dein Lieblingsessen?«, entfuhr es ihm.
Er musste unbedingt das Thema wechseln und diese Frage war ihm als Erstes eingefallen.
Max sah ihn überrascht an und antwortete: »Äh, Rumpsteak. Warum?«
»Nur so. Bist du kein Vegetarier?«
»Einmal pro Monat esse ich Fleisch, weil ich es einfach sehr gern mag. So fällt mir der Verzicht während der restlichen Zeit wesentlich leichter. Eigentlich fühlt es sich gar nicht als Verzicht an, wenn ich weiß, dass ich ganz selten mal ein Steak oder Schnitzel essen kann. Und du?«
»Ja, ich bin Vegetarier. Seit meinen zwei Stunden auf dem Schlachthof … aber ich will nicht die Stimmung verderben. Jedenfalls habe ich mich an den Verzicht gewöhnt. Solange es in dem indischen Restaurant im Nachbarort so köstliches vegetarisches Curry gibt, sehe ich keinen Grund, etwas an meiner Ernährungsweise zu ändern.«
»Vegetarisches Curry? Klingt gut.«
»Isst du gern Indisch?«
»Ehrlich gesagt weiß ich das gar nicht. Ich habe noch nie Indisch gegessen.«
»Noch nie? Da verpasst du aber was. Das geht so nicht.«
Max sah lachend zu ihm auf. Im Halbdunkel konnte Arne seine Augenfarbe nicht erkennen. Aber er wusste ja, dass Max tiefgrüne Augen hatte. Wie das Meer an einem wolkigen Tag.
»Vielleicht … vielleicht gehe ich da ja mal hin. Und probiere das Curry«, erwiderte Max und biss sich auf die Unterlippe.
»Wir könnten ja auch zusammen hingehen«, erwiderte Arne.
Max würde nicht direkt ablehnen, sondern eine Ausrede erfinden, wie jedes Mal. Oder ihn mit einer diffusen Antwort abspeisen. Ja, können wir irgendwann mal machen oder etwas Ähnliches sagen.
»Am Samstag?«
Arne stellte den Karton mit der Medikamentenlieferung auf die Arbeitsfläche im Labor.
»Sicher, dass du das richtig verstanden hast?« Kira nahm ein paar Schachteln aus der Kiste und verteilte sie in den Schränken.
»Na, besten Dank auch.«
Sie lachte. »Komm schon. Du warst doch bestimmt selbst überrascht, oder etwa nicht?«, fragte sie leise.
Max und Karl waren beide in ihrem jeweiligen Behandlungszimmer und somit eigentlich nicht in Hörweite. Aber es konnte ja immer mal vorkommen, dass einer ihrer Chefs herkam, weil er etwas holen wollte oder Arne im Behandlungszimmer brauchte.
Kira war meistens am Empfang oder im Labor, Arne hingegen bei den Untersuchungen und Behandlungen dabei.
Anfangs war es ein wenig chaotisch gewesen. Vorher hatte schließlich nur eine Tierärztin hier gearbeitet, jetzt waren es zwei Ärzte. Inzwischen hatten sich alle ganz gut aufeinander eingestellt.
Arne war zwar manchmal gestresst, wenn er zwischen den Zimmern hin und her eilen musste. Insgesamt gefiel ihm die Arbeit mit den neuen Chefs aber sehr.
»Doch, klar«, flüsterte er und sah sicherheitshalber noch mal über seine Schulter. Sie waren wirklich allein. »Ich konnte es ehrlich gesagt kaum glauben. Im ersten Moment dachte ich, ich hätte mich verhört.«
Kira grinste ihn an. »Ich freue mich für dich.«
»Meinst du, dazu gibt es einen Grund?«
»Na klar. Du baggerst seit Wochen vergebens und jetzt will er mit dir essen gehen.«
»Taktgefühl ist wirklich etwas Feines.«
Sie winkte ab. »Ich dachte, ich wäre deine beste Freundin. Da muss man kein Blatt vor den Mund nehmen.«
»Bist du ja auch. Trotz deiner schrecklichen Cousine.«
»So schlimm ist Yvonne gar nicht.«
»Wenn man davon absieht, dass sie diese ganzen Gerüchte über Max in die Welt gesetzt hat.«
Kira zog eine Grimasse. »Ja, das war wirklich scheiße von ihr. Aber sie ist nun mal angepisst.«
»Weil Hauke, der schon vor einem Jahr mit ihr Schluss gemacht hatte, jetzt in Karl verliebt ist, erzählt sie diesen ganzen Mist über Max. Sorry, aber dafür habe ich echt kein Verständnis.«
»Ich auch nicht und das habe ich ihr gesagt. Mehrmals.«
»Schade, dass sie nicht auf dich hört.«
»Stimmt. Aber lenk nicht ab. Ich habe das echt nicht böse gemeint. Ich wollte nur sagen, dass das doch ein gutes Zeichen ist.«
»Ja, schon. Allerdings hat er direkt nachgeschoben, dass das ja ein rein freundschaftliches Treffen wäre oder fast schon ein Geschäftsessen.«
»Klingt, als hätte er sich schnell rechtfertigen wollen. Erst will er mit dir essen gehen, dann erzählt er was von Freundschaft, dann vom Job.«
»Vielleicht hat er auch einfach bereut, dass er das vorgeschlagen hat.«
Kira schüttelte den Kopf und nahm ein paar weitere Tablettenschachteln heraus. »Er scheint nicht der Typ für überstürzte Entscheidungen zu sein. Jedenfalls hat er sich für diese Einladung lange genug Zeit gelassen.«
»Ich will mir einfach nicht umsonst Hoffnungen machen.«
»Kann ich verstehen. Natürlich will ich auch nicht, dass du enttäuscht wirst. Aber ein gemeinsames Abendessen … das klingt schon so ein minikleines bisschen nach Date, oder? Wenn er etwas Berufliches mit dir besprechen wollte, könnte er das schließlich auch einfach hier in der Praxis tun.«
Hinter ihnen waren Trapser auf dem Fliesenboden zu hören und Arne drehte sich um. »Na, Käpt’n? Ausgeschlafen?«
Diesmal war Käpt’n wesentlich entspannter als beim letzten Versuch. Arne musste ihm bloß noch abgewöhnen, auf Wanderschaft durch die Praxis zu gehen, wenn er mit Funny allein an der Rezeption war. Auf dem Reiterhof war das kein Problem gewesen. Hier allerdings schon. Funny schaute auch jedes Mal ganz pikiert drein, wenn Arne Käpt’n zurückbrachte, als missbillige er das Verhalten seines neuen Praxishundekollegen.
Arne streichelte Käpt’n über den Kopf und sagte: »Komm, ich bringe dich zurück nach vorne.«
»Nimm bitte das hier mit und leg es in das Fach zur Abholung. Es ist für Rita von Frau Schröder.«
»Ach, der Mops, der die ganze Zeit bellt?«
»Genau.«
Arne schaute auf die Schachtel. »Schilddrüsentabletten ohne Aroma? Ich wusste gar nicht, dass wir die haben.«
»Haben wir auch eigentlich nicht. Aber in der Praxis, wo sie vorher waren, haben sie die bekommen. Und Schilddrüsenhormone sind ja …«
»… so schwierig umzustellen, ich weiß.« Arne gab Käpt’n ein Zeichen, ihm zu folgen, und trat mit ihm auf den Gang.
»Warten Sie bitte kurz am Empfang. Die Kollegin oder der Kollege ist gleich bei Ihnen«, hörte er Maxʼ angenehme Stimme. Dann tauchte dieser auf dem Rückweg vom Eingangsbereich vor ihm im Gang auf.
Sie hatten sich heute Morgen schon kurz begrüßt, aber waren noch nicht miteinander allein gewesen.
»Hey«, sagte Arne leise, als Max auf ihn zukam.
»Moin«, erwiderte Max lächelnd und sah zu ihm auf, dass Arne für einen Moment die Knie weich wurden.
»Alles gut?«
Max zuckte mit den Schultern. »Passt schon. Und bei dir?«
»Ja. Ich freue mich auf Samstag.«
Max senkte seinen Blick und für einen Moment blieb Arnes Herz stehen.
Er würde absagen. Er würde absagen. Er würde absa…
»Ich freue mich auch«, erwiderte Max, lächelte ihn noch einmal an und verschwand dann wieder in seinem Behandlungszimmer.
Arne gab sich noch einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen, dann ging er zum Empfang. »Platz, Käpt’n«, sagte er und zeigte auf die blaue Decke.
Funny lag daneben und schien innerlich die Augen zu verdrehen.
Am Tresen stand eine Frau mit einem jungen Shiba Inu an der Leine. Arne kannte sie nicht, hatte sie aber schon ein paar Mal in der Stadt gesehen. »Ich brauche noch eine Wurmkur, bitte.«
***
Max sah von den Blutergebnissen auf, die auf dem Bildschirm von Karls Computer angezeigt wurden. »Ja, da würde ich auch die Pankreaslipase nachfordern. Hat Tiffy denn Beschwerden?«
Karl, der mit der Hüfte an dem metallenen Behandlungstisch lehnte, antwortete: »Nur Appetitmangel. Aber sie war wohl immer schon futtermäkelig. Das sagt Frau Dimitriadou und es steht auch in der Akte.«
»Hm, okay. Aber dass sie symptomfrei ist, muss ja nicht unbedingt etwas heißen. Hast du ihr schon den Flyer mit den Futterempfehlungen mitgegeben?«
»Ja, habe ich. Von Arne hat sie auch eine Probe von dem Low Fat-Trockenfutter bekommen.«
Max musste lächeln, obwohl er nicht genau wusste, weshalb. »Okay.«
Karl grinste ihn an. »Ich habe mir doch gedacht, dass du früher oder später schwach wirst«, flüsterte er.
»Hm?«
»Na, bei Arne. Er ist ja wirklich nett und gibt sich seit Wochen Mühe, deine Aufmerksamkeit zu erregen.«
Max schüttelte den Kopf. »Nein, wir gehen nur essen. Das ist alles. Mehr nicht.«
Zugegeben: Das war ein Fehler gewesen. Er hätte nie auf Arnes Idee eingehen dürfen. Und er hätte die Verabredung wieder absagen müssen. Aber wie? Er wusste schließlich, dass er Arne damit enttäuschen wurde – und sich selbst. Denn wenn er ganz ehrlich war, dann wollte er selbst gern mehr Zeit mit Arne verbringen.
»Wenn du das sagst.«
Max stand auf und ging zu Karl. »Ich kann nichts mit ihm anfangen. Das weißt du doch«, flüsterte er.
»Du musst ja nicht direkt mit ihm ins Bett. Ihr könnt euch Zeit lassen, euch immer mal treffen und dann …«
»Nein. Ich mache so etwas nicht noch mal mit.«
»Im Gegensatz zu Lars ist Arne nicht verheiratet«, erinnerte Karl ihn.
Max schlang die Arme um seinen Oberkörper. »Ja, aber wer weiß, was bei ihm nicht stimmt.«
»Ich habe nicht den Eindruck, dass bei ihm was nicht stimmt«, erwiderte Karl und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mach dir doch nicht solche Sorgen.«
»Bei Lars habe ich auch erst gedacht, dass das mit uns passen könnte. Was dann passiert ist, hast du ja erlebt. Ich habe kein Vertrauen mehr in meine Menschenkenntnis.«
»In meine kannst du aber vertrauen. Außerdem hast du auch gesagt.«
»Wie bitte?«
»Du dachtest bei Lars auch , dass das mit euch passen könnte. Also denkst du das jetzt bei Arne?«
Max spürte, dass er errötete und wandte sich von Karl ab. »Ich mag ihn. Das weißt du doch.«
»Da ist mehr. Er gefällt dir.«
»Ja«, murmelte Max und seufzte leise. »Leider.«
Karl knuffte ihn in die Seite. »Eigentlich ist das etwas Gutes.«
»Kann sein«, erwiderte Max wenig überzeugt. »Und wenn es nicht klappt, dann habe ich wieder Liebeskummer und es wäre eine total blöde Situation, weil er unser Mitarbeiter ist.«
»Wenn er dir das Herz bricht, denke ich mir einen Vorwand aus, um ihm fristlos zu kündigen. Versprochen.«
Gegen seinen Willen musste Max lachen. »Das ist ja wirklich sehr beruhigend.«
Es klopfte an der Tür.
»Ja?«, fragte Karl.
Die Tür wurde geöffnet und Kira kam herein. »Gonne Willert ist hier. Er hat zwar keinen Termin und es ist auch kein richtiger Notfall, aber … naja … es ist halt Gonne Willert.«
Karl warf Max einen amüsierten Blick zu. Gonne Willert war der Großcousin ihrer Vorgängerin in der Praxis und der Bürgermeister – oder auch selbst ernannter Kapitän – von Frederstadt. Er ging nie ohne Kapitänsmütze aus dem Haus und zu besonderen Anlässen trug er immer sein etwas zu eng gewordenes Matrosenhemd.
Er war bereits zweimal in der Praxis gewesen. Seine Siamkatze Polina war Freigängerin und legte sich anscheinend gern mit den Katzen in der Nachbarschaft an. Jedenfalls kam sie oft mit Kratzern und anderen kleinen Verletzungen nach Hause. Eigentlich nicht gerade typisch für Siamkatzen. Aber vielleicht lag das auch an ihrem Selbstverständnis, das dem ihres Herrchens in nichts nachzustehen schien.
»Schnick, schnack, schnuck, wer es macht?«, fragte Karl.
Kira kicherte.
»Nee, ich opfere mich.« Max grinste Kira verschwörerisch zu. »Schickst du ihn bitte in mein Zimmer?«
»Mache ich.« Kira ging wieder nach vorn.
»Du bist ein wahrer Freund«, verkündete Karl theatralisch. »Dafür bekomme ich aber am Samstag das Notfallhandy. Ich schulde dir jetzt schließlich schon zwei Gefallen.«
»Du kannst ja am Sonntag den Eintritt in die Kletterhalle zahlen.«
»Kommt Arne auch mit?«
Max musste lachen und schüttelte den Kopf. »Du bist unmöglich. Und ich bringe jetzt Gonne Willert und Polina hinter mich.«
»Viel Glück.«
Unterwegs in sein Behandlungszimmer begegnete Max Arne, der ihn verschwörerisch angrinste.
Max lächelte und betrat das Zimmer. »Moin Herr Willert.«
Gonne Willert tappte bereits mit dem Fuß auf den Boden. »Ah, Dr. Jacob. Da sind Sie ja. Ich dachte schon … naja, macht nichts. Sie wissen ja, bannig viel zu tun.« Er hatte Polina bereits aus ihrer Box geholt und sie saß miauend auf dem Tisch.
Am linken Vorderbein hatte sie eine kleine Wunde, die aber zum Glück nicht sonderlich tief zu sein schien.
Max hockte sich neben den Tisch und betrachtete das Bein. »Eine Schnittverletzung. Nichts Schlimmes. Ich mache etwas Salbe und einen Verband drauf. Den können Sie nach zwei Tagen abmachen, dann sollte es von selbst abheilen. Ich hole kurz Arne, damit er mir beim Festhalten hilft.«
»Holen Sie bitte Frau Fedders, ja?«
Max runzelte die Stirn und sah auf. »Warum?«
Gonne lachte jovial. »Ich habe den Eindruck, dass Polina sie lieber mag.«
Max richtete sich wieder auf. »Sekunde bitte.«
Er verließ sein Zimmer, um Kira zu suchen. Bis jetzt hatte er noch nie das Gefühl gehabt, dass Polina irgendjemanden mochte. Aber bei Gonne Willert war es einfacher, nicht zu widersprechen.
***
Arne atmete tief durch und zählte innerlich bis zehn. »Ich kann verstehen, dass das ärgerlich für Sie i…«
»Ärgerlich?« Frau Glawe schnaubte. »Eine Frechheit ist das! So einen Saftladen habe ich ja überhaupt noch nie erlebt.« Ihre Gesichtsfarbe hatte inzwischen eine sehr ungesund erscheinende Röte angenommen.
Arne rechnete damit, dass jeden Moment ihre Ohren anfangen würden zu qualmen.
Sammy, ihr Yorkshire-Terrier, den sie auf dem Arm trug, sah sein Frauchen mit großen Augen an.
»Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten«, antwortete Arne. »Aber in einer Tierarztpraxis kann es immer mal passieren, dass ein Notfall dazwischengeschoben werden muss und es dann für die anderen zu Wartezeiten kommt. Wenn Sammy dringend Hilfe bräuchte, wären Sie ja sicherlich auch froh, wenn er sofort drankäme.«
»Sammy braucht dringend Hilfe«, behauptete Frau Glawe, obwohl sie ihn eben zum Ohrenreinigen angemeldet hatte. »Wenn ihm etwas zustößt, mache ich Sie verantwortlich. Sie sind ja vollkommen unfähig.«
»Es tut mir sehr leid, dass Sie warten müssen, Frau Glawe. Aber so lang wird es ja nicht dauern. Wie gesagt, höchstens noch eine Viertelstu…«
»Mein Termin war um halb zwölf. Um halb. Jetzt ist es«, Frau Glawe schaute effektvoll auf ihre Armbanduhr, »drei nach halb.«
Arne widerstand der Versuchung, mit den Schultern zu zucken.
Frau Glawe war mit Sammy schon zu Frau Dr. Willert gekommen. Er kannte ihr Temperament und wusste, dass er ihren Auftritt gerade nicht persönlich nehmen durfte.
Er konnte ja auch wirklich nichts dafür, dass nach Gonne Willert noch ein richtiger Notfall aufgetaucht war, um den Karl sich gerade kümmerte.
Und mal ehrlich – ein paar Minuten Wartezeit würden sowohl Frau Glawe als auch Sammy sicherlich überleben.
»Wie Sie sehen, ist das Wartezimmer leer.« Arne wies auf den Wartebereich. »Sobald einer der Chefs fertig ist, sind Sie als Nächstes dran.«
»Von so einem Idioten wie Ihnen lasse ich mir überhaupt nichts sagen.«
»Was ist hier los?« So autoritär kannte Arne Maxʼ Stimme gar nicht.
Er drehte sich um. Max und Gonne Willert kamen durch den Gang auf ihn zu.
»Frau Glawe möchte nicht warten«, erwiderte Arne und gab Max durch einen Blick zu verstehen, was er davon hielt.
Willert klopfte Max auf die Schulter. »Ich bringe Polina zum Auto, dann bezahle ich, ja?«
Kira war nirgends zu sehen, vermutlich war sie bei Karl im Zimmer.
Max nickte Willert zu und wandte sich dann Frau Glawe zu. »Das ist kein Grund, meinen Kollegen derart anzugehen. Ich bestehe darauf, dass Sie sich entschuldigen.«
Auch wenn das jetzt sicher nicht der richtige Moment war, wurde Arne ganz warm. Dass Max sich für ihn einsetzte, fühlte sich wirklich verdammt gut an.
Frau Glawe klappte den Mund auf und zu. »Wieso Kollege? Das ist doch nur der Laufbursche hier.«
Max stellte sich vor Arne und straffte die Schultern. »Warum sind Sie hier?«
»Sammys Ohren müssen gereinigt werden. Das ist natürlich wichtig. Ich hoffe, das muss ich Ihnen nicht erst erklären.«
»Wenn es sich nicht um einen dringenden Notfall handelt, muss ich Sie bitten, die Praxis zu verlassen.«
»Wie bitte?« Noch ein bisschen schriller und die Glasscheiben würden bersten.
»Ich akzeptiere nicht, wie Sie sich über meinen Kollegen äußern. Ich gebe Ihnen gern die Kontaktdaten der nächsten Praxen im Umkreis. Alternativ dazu kann ich Ihnen anbieten, dass Sie draußen warten, während wir uns um Sammy kümmern.«
Frau Glawe reckte die Nase in die Luft. »In dieser Klitsche lasse ich meinen kleinen Liebling keine Sekunde aus den Augen«, verkündete sie, fuhr herum und verließ vor sich hin schimpfend die Praxis.
Max stieß die Luft aus und drehte sich zu Arne um. »Alles okay?«, fragte er liebevoll.
Arne lächelte ihn an. »Bestens, danke. Und bei dir?«
»Ich bin sauer. Aber sonst alles gut.«
»Das war echt nett von dir. Danke.« Am liebsten hätte Arne Max in den Arm genommen, aber er wollte ihm nicht zu nahe treten. Mitten in der Praxis wäre das vielleicht auch nicht ganz angebracht.
»Das war doch selbstverständlich.«
»Finde ich nicht. Frau Dr. Willert hat immer nur gesagt, wir sollen auf Durchzug stellen, wenn die Glawe wieder pöbelt.«
»Mist. Jetzt habe ich ganz vergessen, ihr die Adresse von meinem Ex zu geben.«
Maxʼ Exfreund Lars war auch Tierarzt. Er hatte eine Praxis in Lübeck, das wusste Arne.
Er schnaubte, verbiss sich dann aber das Lachen. Jedenfalls bis Max selbst loslachte und Arne gefahrlos einstimmen konnte.
»Wirklich vielen Dank«, sagte Arne, als er wieder zu Atem gekommen war.
»Nicht der Rede wert. Habe ich vor der Mittagspause noch einen Termin?«
»Nee, Sammy wäre der Letzte gewesen.«
»Der arme Hund.«
»Zu ihm ist sie zum Glück nicht so. Wenn überhaupt, könnte man ihr höchstens vorwerfen, dass sie ihn zu sehr verhätschelt.«
»Na, immerhin. Sonst hätte ich sie beim Veterinäramt angezeigt.«
»Echt?«
»Ja, natürlich. Wieso überrascht dich das?«
»Naja, Frau Dr. Willert hat das nur ein einziges Mal gemacht und da war es wirklich krass. Die meisten Tierärztinnen und -ärzte haben ja in solchen Fällen Angst, Kundschaft zu verlieren.«
»Ich bin Tierarzt geworden, um Tieren zu helfen, nicht um damit reich zu werden.«
Wäre Arne nicht schon längst in Max verliebt gewesen – in diesem Moment hätte er sich hoffnungslos in ihn verknallt.
»Finde ich gut«, erwiderte er und fürchtete, dass er dabei ziemlich dümmlich grinste.
»Dann habe ich ja Glück gehabt«, versetzte Max.
Arne berührte Max für einen kurzen Moment mit den Fingerspitzen am Handrücken. »Ich würde eher sagen, dass ich Glück hatte.«
Max lächelte schüchtern und wich seinem Blick aus. »Tja, dann …«
»Ich könnte doch sagen, dass jemand auf dem Notfallhandy angerufen hat und …«
Karl machte einen Schritt auf Max zu und sah ihn streng an. »Geh. Jetzt. Los.«
»Aber das ist wirklich keine gute I…«
»Ich sage dir jetzt mal, was keine gute Idee ist. Ein Date mit seinem Traummann vereinbaren und dann nicht hingehen. Das ist keine gute Idee.«
»Arne ist nicht mein Traummann«, erwiderte Max, obwohl er nicht wusste, ob er das so meinte.
Er wusste überhaupt nicht mehr, was er noch denken sollte.
Ja, er fand Arne toll. Jedenfalls die Vorstellung, die er von Arne hatte. Es war sogar gut möglich, dass dieser Fantasiearne sein Traummann war. Doch er wusste ja, dass er auf seine eigenen Instinkte nichts geben konnte. Die hatten ihn schließlich auch in die Beziehung mit Lars getrieben, die ihn langsam, Tag für Tag ein wenig mehr kaputt gemacht hatte.
Bis er fast seine gesamte Zeit damit verbracht hatte, über Lars nachzudenken. Was er gerade tat, ob er mit seinem Mann und den Kindern beim Abendessen saß und lachte, während Max auf seinem Bett lag und auf einen Anruf wartete, der nicht kam.
Dabei war er eigentlich gar nicht so. Vor Lars war Max noch nie einem Mann hinterhergelaufen.
Lars hatte ihn von sich selbst entfernt. Anfangs war alles perfekt gewesen. Ihre ersten Dates waren die schönsten in Maxʼ bisherigem Leben gewesen. Dann das Geständnis, dass er noch – mit Betonung auf noch – verheiratet war, sich aber bald scheiden lassen würde. Aus bald waren dann Wochen geworden, Monate, Jahre.
Wenn Max ganz ehrlich war, dann war die Nähe zu Lars sogar einer der Gründe gewesen, weshalb er sich ursprünglich für die Praxis in Frederstadt interessiert hatte. Dreißig Kilometer bis Lübeck, das war ihm wie ein Traum vorgenommen nach der Fernbeziehung, als er noch in München gelebt hatte.
Doch als Karl und er sich für die Praxis hier entschieden hatten, war Max klar geworden, dass es so nicht weitergehen konnte oder durfte. Frederstadt sollte ein Neuanfang für ihn sein. In seinem neuen Leben war kein Platz für einen Mann, der ihn ebenso belog wie seinen Ehepartner.
Das zu akzeptieren war ihm letztendlich erstaunlich leicht gefallen. Max vermisste Lars nicht einmal mehr. Was ihm fehlte, waren die Teile seines Selbst, die Lars ihm genommen hatte: seine Unbekümmertheit, den Spaß am Flirten, ja sogar die Freude am Leben. Sein Selbstvertrauen. Nicht einmal der Glaube daran, dass er es verdient hatte, glücklich zu sein, war Max geblieben.
Stattdessen waren da nur noch diese Zweifel. Ob er gut genug war. Ob er alles richtig machte. Manchmal war er sich selbst in der Praxis bei Untersuchungen und Behandlungen unsicher, weil er nicht mehr wusste, ob er auf sein Urteil vertrauen konnte. Dabei wusste er doch, dass er ein guter Tierarzt war. Wann immer er Karl nach dessen Meinung gefragt hatte, hatte dieser ihm auch zugestimmt.
Jetzt also dieses Date. Mit einem Mann, der sich schon viel zu tief in sein Herz geschlichen hatte, auch wenn Max das gar nicht wollte. Er musste auf sein Herz aufpassen, doch mit Arne gelang ihm das nicht. Da konnte er sich doch nicht mit ihm treffen.
Karl zupfte den Kragen von Maxʼ Jeansjacke zurecht und lächelte ihn aufmunternd an. »Doch, er ist dein Traummann. Weißt du, woher ich das weiß?«
Max schüttelte stumm den Kopf.
»Weil du dich sonst nicht mit ihm verabredet hättest.«
Max hätte gern widersprochen, doch ihm fiel kein Gegenargument ein.
Er wandte sich von Karl ab und betrachtete sein Spiegelbild in dem bodentiefen Spiegel am Flurschrank.
Er trug seine Jeansjacke, ein rosafarbenes Poloshirt, dunkelblaue Chinos und Turnschuhe aus Stoff.
»Kann ich denn so gehen?«, fragte er leise.
Karl tauchte hinter ihm auf, legte ihm die Hand auf die Schulter und sah sein Spiegelbild eindringlich an. »Du siehst toll aus. Abgesehen davon ist es Arne sicher egal, was du trägst. Er steht so oder so auf dich.«
Max presste die Lippen aufeinander. Um sich von seinem Gedankenkarussell abzulenken, sah er sich im Flur um.
Die WG mit Karl war ihm schon mehr Zuhause geworden als er es jemals für möglich gehalten hatte. Die hellen Möbel, der wild durcheinander geworfene Schuhhaufen neben dem Garderobenschrank, Funnys Spielzeug, das der Pudelmischling überall herumliegen ließ, nur damit Max nachts auf dem Weg ins Bad auf eine quietschende Banane trat und beinahe einen Herzinfarkt bekam, während Funny laut bellend hochschoss und von Karl einen Spaziergang einforderte.
»Dann gehe ich jetzt los«, sagte Max leise und ließ sich von Karl in eine Umarmung ziehen.
»Ich wünsche dir viel Spaß, mein Hase.« Karl drückte ihm einen Kuss auf die Wange und öffnete ihm die Tür. »Schreib mir zwischendurch mal, ja?«
»Mache ich.« Max atmete noch einmal tief durch, dann verließ er die Sicherheit ihrer Wohnung.
***
Arne fuhr sich mit der Hand durch die Haare und unterdrückte den Impuls, sich schon wieder umzusehen.
Max würde kommen. Er hätte abgesagt, wenn er nicht gewollt hätte. Aber … oh, verdammt, wie lange sollte es denn noch dauern bis halb sieben?
Arne spinstete zur Kirchturmuhr. Acht vor halb.
Er zwang sich, einmal tief durchzuatmen. Max würde gleich auftauchen. Jeden Moment.
Sie hatten sich auf dem Platz vor dem Rathaus verabredet. Max hatte – genau wie Arne – kein Auto, doch Arne konnte sich das von seinem Vater leihen, wenn er eines brauchte.
Er hatte den uralten schwarzen Land Rover Defender in einer der Parkbuchten abgestellt und lehnte am Kotflügel, wohl darauf bedacht, nicht allzu nervös auszusehen.
Max sollte nicht denken, dass Arne es ohne ihn keine Minute aushalten konnte. Auch wenn Arne zugeben musste, dass er wesentlich lieber Zeit mit Max verbrachte als ohne ihn.
Er kaute auf seiner Unterlippe herum und beobachtete eine Gruppe Touris dabei, wie sie sich gegenseitig vor einem der reetgedeckten Häuser fotografierten.
Frederstadt war eine idyllische Kleinstadt mit gerade einmal siebentausend Einwohnern. Doch so langsam begann die Urlaubssaison und es wurde jeden Tag voller auf den Straßen, die zu großen Teilen von reetgedeckten Häusern gesäumt waren.
Es kamen auch immer mehr Reisende mit ihren Hunden in die Praxis, weil diese vor Aufregung Durchfall bekamen. So ein Urlaub war für die meisten Hunde zwar schön, konnte aber auch Stress bedeuten. Zum Glück konnte man da etwas machen. Eine präbiotische Paste reichte in der Regel aus, damit die Beschwerden innerhalb weniger Tage verschwanden.
Arne hörte Schritte auf dem Kopfsteinpflaster, und noch ehe er sich umgedreht hatte, wusste er, dass es Max war. Als er sich dann tatsächlich dem Geräusch zuwandte und Max auf sich zukommen sah, konnte er nicht anders als ihn anzugrinsen.
»Hallo Chef«, sagte er und stieß sich von dem Geländewagen ab.
»Moin«, erwiderte Max lächelnd.
Man merkte ihm an, dass der norddeutsche Gruß noch ein wenig ungewohnt für ihn war. Aber er stand ihm gut.
»Schön, dass du da bist«, sagte Arne und machte einen zögerlichen Schritt auf ihn zu.
Wie sollte er Max begrüßen? Darüber hatte er sich zuvor schon Gedanken gemacht, aber dann beschlossen, es einfach auf sich zukommen zu lassen.
Max nahm ihm die Entscheidung ab und umarmte ihn.
Arne schlang seine Arme um Maxʼ schmalen Oberkörper. So nahe waren sie sich in der Praxis noch nie gekommen. Das hier war also ein neues Gefühl – und ein wunderschönes.
Maxʼ Haar roch ein wenig zitronig und sein Körper fühlte sich fast schon zerbrechlich an.
Als sie sich wieder voneinander lösten, sah Max unsicher zu ihm auf. »Hattest du Angst, dass ich nicht komme?«
Arne zuckte mit den Schultern. »Wer könnte mir das verdenken? Wäre schließlich möglich gewesen, dass du noch merkst, dass du viel zu gut für ein Date mit mir bist.«
Da. Er hatte es gesagt. Max sollte wissen, was ihm das hier bedeutete. Für Arne war es kein Geschäftsessen, kein Treffen mit einem Kumpel. Es war ein Date mit dem Mann, in den er sich verliebt hatte. Wenn Max damit nicht leben konnte, dann … tja, dann musste Arne damit irgendwie klarkommen. Doch er hatte nicht vor, Max zu verheimlichen, um was es ihm heute Abend wirklich ging.
»Ich habe sorgfältig abgewogen und mich dann doch entschieden zu kommen«, versetzte Max. Seine Mundwinkel zuckten.
Arne lachte atemlos. »Dann habe ich ja verdammt großes Glück gehabt.«
»Und ich habe verdammt großen Hunger. Hast du vielleicht vor, demnächst mal aufzubrechen?«
Arne grinste und öffnete Max mit einer kleinen Verbeugung die Beifahrertür. »Bitte einsteigen.«
Ehe er einstieg, strich Max im Vorbeigehen federleicht mit der Hand über Arnes Brust. »Vielen Dank«, sagte er leise und setzte sich auf den Beifahrersitz.
Arne schluckte trocken und stieg dann auf der Fahrerseite ein. »Wie war dein Wochenende bis jetzt?«
»Ruhig. Ich habe endlich die letzten Kisten ausgepackt. Wir haben ja direkt nach dem Umzug in der Praxis angefangen und sind kaum dazu gekommen, etwas in der Wohnung zu machen.«
Arne startete den Motor und lenkte den Wagen aus der Parklücke. »Ich kann mir vorstellen, wie viel Arbeit das ist. Ich bin ja erst zweimal umgezogen, von meinem Dad nach Hannover und dann in meine jetzige Wohnung. Die Möbel habe ich beide Male nicht mitgenommen, sondern nur ein paar Kisten Zeug. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ich jetzt umziehen müsste.«
»Ich hatte auch nicht viel. In München sind die Mieten so teuer, dass Karl und ich jeder nur eine winzige Wohnung hatten. Trotzdem, irgendwie hat sich einiges angehäuft. Wo ist eigentlich Käpt’n?«
»Bei meinem Dad. In dem Restaurant ist nicht so viel Platz, dass er es da gemütlich haben könnte.«
»Verstehe. Du wohnst doch hier irgendwo am Rathaus, oder?«
Arne wies auf das blaue dreistöckige Mehrfamilienhaus. »Ja, da vorne. Im Erdgeschoss. Ich habe einen eigenen kleinen Garten. Das ist praktisch wegen Käpt’n, aber im Sommer auch einfach echt schön. Wenn hier alles voll mit Touris ist, habe ich meinen eigenen Minipark, in dem ich die Sonne genießen kann.«
Max lächelte. »Das stelle ich mir toll vor. Aber mitreden kann ich da nicht. Einen eigenen Garten hatte ich noch nie. Und mein Daumen ist auch eher braun als grün. Ich habe sogar mal einen Kaktus runtergewirtschaftet.«
Arne lachte. »Das ist halb so wild. Ich habe am Anfang ein paar Bücher drüber gelesen. Das meiste wächst von allein, wenn man es regelmäßig gießt.«
»Ja, wenn .«
Grinsend bog Arne auf die Straße ein, die sie aus Frederstadt in den Nachbarort bringen würde.
»Was hast du denn so für Pflanzen? Nur Blumen und so oder auch Gemüse?«
»Blumen eher weniger. Ich habe vor allem Gemüse, Erdbeeren, Himbeeren, Salat, zwei Apfelbäume … und eine Hollywoodschaukel habe ich auch. Die muss ich allerdings nicht gießen.«
Max seufzte. »Ach, wie schön.«
»Ich kann dir meinen Garten gern mal zeigen, wenn du möchtest.«
Max schien kurz zu zögern, doch dann antwortete er: »Ja, sehr gern. Ich würde mich freuen.«
***
Um nicht in Versuchung zu kommen, Arnes Bein mit seinem zu berühren, zog Max seine Beine unter den dunklen Holzstuhl, auf dem er saß.
Arne und er hatten einen Tisch an einer der rotgestrichenen Wände bekommen, an dem es etwas ruhiger war. Es war viel los im Restaurant, fast jeder Tisch war besetzt. Aber hier in ihrer Ecke hatten sie es gemütlich, wenn auch nicht allzu viel Abstand zum nächsten Tisch war. Für Käpt’n wäre hier leider wirklich kein Platz gewesen.
Im Hintergrund lief leise indische Musik. Die konnten sie hören, weil der Lautsprecher direkt über ihrem Tisch an der Decke befestigt war. Andernfalls hätten die Gesprächsfetzen die Musik sicher übertönt.
An den Wänden hingen Holzschnitzereien und die Fensterbänke auf der gegenüberliegenden Seite des Restaurants waren übersät mit Grünpflanzen.
Es gab einen Glaseinsatz in der Decke, durch den das abendliche Sonnenlicht ins Restaurant fiel und die weißen Tischdecken in ein dezentes Orange tauchte.
Arne hatte gerade für sie beide bestellt und die Kellnerin war unterwegs in die Küche.
»Gefällt es dir?«, fragte Arne.
Max nickte stumm. Er wollte nicht zu viel sagen. Nachher verplapperte er sich noch, dass ihm das Restaurant zwar gut gefiel, Arne aber noch viel mehr.
Dieser trug ein eng anliegendes graues T-Shirt, unter dem sich seine durchaus beeindruckenden Brustmuskeln abzeichneten, darüber ein offenes rotkariertes Hemd. Die Ärmel hatte er hochgekrempelt, sodass seine kräftigen Unterarme zu sehen waren. Arnes dunkles Haar war unfrisiert und stand ein wenig chaotisch in alle Richtungen ab.
»Ich bin schon gespannt auf das Curry«, sagte Max, weil er schließlich irgendetwas sagen musste.
»Ich hoffe, du bist genauso begeistert wie ich.«
»Bestimmt.« Max fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe und sah sich im Restaurant um. »Sind das nicht Gonne Willert und seine Frau?«, fragte er und wies auf ein Paar, das gerade das Restaurant betrat.
Arne drehte sich in seinem Stuhl um. »Ja, stimmt.«
»Hoffentlich kommen sie nicht her«, murmelte Max.
Arne schnaubte. »Wenn ich hier bin, bestimmt nicht.«
Max verzog das Gesicht. Das Verhalten des Bürgermeisters Arne gegenüber war ihm auch aufgefallen. Er war nicht direkt unhöflich gewesen, deshalb hatte Max nichts gesagt, auch wenn er das gern getan hätte.
In dem Moment sah Willert in ihre Richtung und winkte Max zu. Arne ignorierte er.
Max wandte seinen Blick von ihm ab, sah aber aus dem Augenwinkel, dass er und seine Frau sich weit weg von Arne und ihm selbst hinsetzten. »Glück gehabt.«
»Du möchtest also ungestört mit mir sein?«, neckte Arne.
Max lachte atemlos. »Vielleicht möchte ich den Abend ja auch einfach nicht mit Gonne Willert verbringen.«
»Das wäre mindestens genauso verständlich«, versetzte Arne und brachte Max damit zum Lachen. Er spielte mit der Gabel, die bereits neben seinem Platz lag. »Ich weiß, ich wiederhole mich. Aber ich bin echt verdammt froh, dass du hier bist.«
Max lächelte ihn an, und als Arne das Lächeln erwiderte, hatte er das Gefühl, die Luft um sie herum würde knapp. »Ich auch. Es tut mir leid, dass … ich weiß, dass ich in letzter Zeit …« Er verstummte und presste die Lippen aufeinander.
Wie sollte er das formulieren, ohne wie ein Jammerlappen rüberzukommen? Außerdem gehörte es sich ja nun wirklich nicht, beim ersten Date über den Ex zu reden.
»Kein Problem. Wirklich. Ich verstehe das. Ich hatte auch schon mal Liebeskummer.« Arne sah ihn so liebevoll an, dass Max ihn am liebsten umarmt hätte.
Stattdessen legte er seine Hand auf Arnes. »Danke, aber ich glaube, ich habe gar keinen Liebeskummer mehr.«
Arne sah ihn ein wenig überrumpelt an. »So schnell konnte ich dich davon ablenken? Das hätte ich mir schwieriger vorgestellt.«
Max lachte. »So war das nicht gemeint. Also, ich … ich vermisse Lars eigentlich gar nicht. Das ist es nicht. Ich …« Er winkte ab. »Vergiss es. Das hier ist nicht der richtige Rahmen, um das zu besprechen. Du hast dir den Abend sicher ganz anders vorgestellt.«
Arne drehte seine Hand unter Maxʼ und verflocht ihre Finger miteinander. »Du kannst mir alles erzählen, was du möchtest. Jetzt oder zu jedem anderen Zeitpunkt.«
Seine Stimme fühlte sich wie Samt an, der sich um Maxʼ malträtiertes Herz legte.
»Ich wollte nur sagen, dass … ich mich erst selbst wieder finden muss. Das ist das Komplizierte daran.«
Arne nickte langsam. »Das hört sich an, als hättest du wirklich eine sehr schwierige Beziehung hinter dir.«
Max stieß die Luft aus. »Tja … schon, schätze ich.«
»Er hat dir doch aber nichts getan, oder?«
»Nein, das ist es nicht. Psychoterror vielleicht, aber mehr auch nicht.«
»Mehr nicht? Ist das nicht schlimm genug?«
Max hörte die unterdrückten Emotionen in Arnes Stimme. »Doch. Aber ich bin auf einem guten Weg.«
»Das freut mich sehr.«
»Sollte es auch. Schließlich hast du einen Anteil daran.«
Arne runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
Max seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, ohne emotional bedürftig rüberzukommen.«
»Dass du das nicht bist, musst du mir nicht beweisen. Ich kenne dich doch schon ein bisschen, Max. Du bist wesentlich stärker als ich.«
»Was?«
»Natürlich. Im Gegensatz zu mir hast du das Praktikum im Schlachthof geschafft, oder?«
»Ich habe es mit Karl zusammen gemacht. Wir haben jeden Abend gemeinsam geheult. Jeden Abend.«
»Alles andere hätte mich auch überrascht. Aber du hast durchgehalten, um später Tieren helfen zu können. Das finde ich bewundernswert.«
Max betrachtete das Tischtuch. »Danke, aber … naja, danke. Was ich sagen wollte – du gibst mir Sicherheit, so albern das klingt. Wenn du da bist, dann … dann hilft mir das, ruhig zu bleiben. Ich selbst zu bleiben. Weil ich weiß, dass du das okay findest. Verstehst du, was ich meine?«
Als Max seinen Blick hob, lächelte Arne ihn zärtlich an. »Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Und ich bin sehr froh, dass ich dir helfen konnte.«
Die Kellnerin kam mit ihrem Essen an den Tisch und notgedrungen mussten sie einander loslassen.
»Guten Appetit«, wünschte sie und stellte jedem eine Schüssel mit dampfendem Curry hin.
Max schnupperte neugierig. »Mhh, riecht das gut«, seufzte er.
Es duftete wirklich köstlich: würzig, ein wenig scharf, fruchtig.
Er nahm die Gabel in die Hand und probierte.
Auf die Geschmacksexplosion war er nicht vorbereitet gewesen. Max war sich sicher, noch nie so viel geschmeckt zu haben wie in diesem Moment. Das war nicht einfach nur scharf oder süß oder … sonst irgendwas. Es war alles auf einmal und einfach nur der Wahnsinn.
Nachdem er hinuntergeschluckt hatte, verkündete er: »Das ist mein neues Lieblingsessen.«
***
»Bist du denn zufrieden damit, dass ihr nach Frederstadt gekommen seid?«, fragte Arne.
Max und er gingen nebeneinander die Strandpromenade des Ortes entlang, in dem das Restaurant lag. Die Atmosphäre war ein wenig anders als in Frederstadt. Diese Kleinstadt hier war ein traditioneller Kurort mit Rosenbüschen überall und kleinen Konzertpavillons. Auf der Promenade standen verschnörkelte weiße Eisenbänke neben alten Gaslaternen, die in die Abenddämmerung leuchteten.
»Ja, und wie. Ich habe mich noch nie irgendwo so wohl gefühlt«, erwiderte Max und strahlte Arne an.
Sie gingen so dicht beieinander, dass ihre Arme sich hin und wieder berührten.
Seit sie vor einer Viertelstunde losgegangen waren, überlegte Arne, ob er nach Maxʼ Hand greifen sollte. Natürlich hätte er das gern getan. Doch wäre Max das bestimmt noch zu früh, oder? Außerdem bestand ja auch die Gefahr, dass sie hier jemandem aus Frederstadt begegneten. Wollte Max händchenhaltend mit seinem Mitarbeiter gesehen werden? Das würde direkt wieder Gerede geben, dabei waren die Wellen um seinen bescheuerten Ex doch gerade erst dabei, abzuebben.
»Frederstadt ist ja auch wirklich schön. Hat es dir in München denn auch gefallen?«
»Ja, schon. Es ist halt etwas ganz anderes, in einer Großstadt zu leben.«
»Das stimmt. Ich habe ja in Hannover studiert. Das ist immer noch kleiner als München, aber so richtig mein Ding war das nicht. Ich brauche die Natur vor meiner Haustür. Und ich habe das Meer vermisst.«
»Ich glaube, ich habe das Meer in München auch vermisst, auch wenn ich es nicht wusste und obwohl ich noch nie am Meer gelebt hatte.«
Arne lachte. »Kann ich verstehen. Es gibt nichts Besseres, als am Meer zu leben.«
»Da hast du recht. Aber Frederstadt ist einfach auch etwas ganz Besonderes. Es wird viel geklatscht und getratscht, aber alles in allem sind die Leute doch nett. Ich finde es schön, morgens beim Bäcker Menschen zu treffen, die ich kenne, und ein bisschen mit ihnen zu … äh … schnacken sagt man wohl, oder?«
Arne grinste ihn an. »Du scheinst ein Talent für Fremdsprachen zu haben.«
»Absolut. Ich habe ja sogar Bayrisch gelernt. Zumindest ein bisschen.« Max schien kurz zu zögern, doch dann sagte er: »Der Umzug nach München war auch schon eine Umstellung. Aber um dort anzukommen, habe ich länger gebraucht als in Frederstadt. Vielleicht weil ich von meiner Familie weggezogen bin. Dabei hätte ich darüber eigentlich froh sein können.«
»Möchtest du darüber reden?«, fragte Arne vorsichtig.
Max zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nicht viel zu reden. Meine Eltern und alle anderen Verwandten haben sehr, hm, konservative Ansichten.«
»Ah. Ich fürchte, ich verstehe, was du meinst.«
»München war gut für mich, glaube ich. Zu dem Zeitpunkt war es richtig. Aber jetzt ist Frederstadt mein Zuhause.«
»Das freut mich sehr.«
»Danke.« Max lächelte ihn süß an, kam ihm ein Stück näher und hakte sich bei ihm unter.
Arne drückte Maxʼ Arm und passte seine Schritte denen von Max an, der ein ganzes Stück kleiner war als er.
»Hat dir die Zeit in Hannover gereicht oder würdest du gern noch mal woanders leben?«
»Nie im Leben«, erwiderte Arne. »Ich freue mich, wenn ich einmal im Jahr meine Mutter in Spanien besuche, aber auch jedes Mal aufs Neue, wenn ich wieder nach Hause komme.«
Max nickte. »Das muss schön sein. Einen Ort zu haben, wo man voll und ganz hingehört.«
»Dieser Ort kann Frederstadt doch auch für dich sein.«
»Meinst du? Obwohl ich eigentlich nicht von hier bin?«
»Das ist doch völlig egal. Hauptsache, du fühlst dich wohl. Und wir sind eigentlich auch sehr aufgeschlossen Neuankömmlingen gegenüber.«
Max lachte leise. »Da habe ich ja Glück gehabt. Du, ich … ich bin noch aus einem anderen Grund froh, dass ich nach Frederstadt gekommen bin.«
Arne blieb stehen und wandte sich Max zu. »Ja?«, fragte er. Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren seltsam belegt.
»Ja. Ich habe nämlich einen echt netten Typen kennengelernt.«
»Das ist ja ʼn Ding.«
»Er heißt Arne.«
»Komischer Name.«
Maxʼ Mundwinkel zuckten und seine Augen blitzten, als er zu ihm aufsah. »Er arbeitet für Karl und mich.«
Arne verzog das Gesicht. »So etwas kann nicht gut gehen. Eine Beziehung am Arbeitsplatz, und dann bist du auch noch sein Chef. Nee, von dem würde ich die Finger lassen.«
Max strich mit den Händen über Arnes Brust, bis er dessen Halsausschnitt erreicht hatte, und flüsterte: »Küss mich.«
***
Max erstarrte. Noch überraschter als Arne war er selbst über das, was er gerade gesagt hatte. Das hieß aber nicht, dass er es bereute. Ganz im Gegenteil. Es gab nichts, was Max sich mehr wünschte. Weshalb sollte er das nicht sagen?
Arne hatte sehr deutlich gemacht, dass Max ihm gefiel. Und Max war sich jetzt sicher, dass er Arne vertrauen konnte. Dass Arne anders war als Lars. Dass Arne nie jemanden hintergehen würde.
Es war wohl ziemlich unlogisch, dass ihm das plötzlich so wichtig war. Schließlich war er selbst zwei Jahre lang der Geliebte eines verheirateten Mannes gewesen. Doch nun wusste er, dass das ein Fehler gewesen war. Er zahlte ja auch den Preis dafür.
Jetzt war ihm klar, dass niemand mit jemandem wie Lars glücklich sein konnte. Wenn Max eine neue Beziehung begann, dann mit jemandem, der aufrichtig war. Jemandem wie Arne.
Max spürte Arnes rasenden Puls an seiner Hand, die direkt an dessen Halsschlagader lag.
»Sicher?«, raunte Arne, legte seine Hände in Maxʼ Taille, krallte sie in den Stoff von dessen Jacke. »Das letzte, was ich will, ist, dass du das morgen bereust.«
»Das werde ich nicht bereuen. Nie«, erwiderte Max, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte seine Lippen auf Arnes.
Nur für einen winzigen Moment, doch der reichte aus, um seinen ganzen Körper kribbeln zu lassen.
»Max«, keuchte Arne und biss sich auf die Unterlippe. »Willst du es nicht lieber langsa…«
Max fuhr mit dem Zeigefinger Arnes Brust entlang und sah ihn fragend an. »Hm?«
»Scheiß drauf.« Im nächsten Augenblick lagen Arnes Hände auf Maxʼ Rücken. Er zog ihn dichter an sich, bis Max Arnes starken Körper dicht an seinem spürte.
»Dir kann ich einfach nicht widerstehen«, raunte Arne ihm ins Ohr und Max stöhnte leise, drängte sich noch dichter an ihn.
Arne platzierte sanfte Küsse auf Maxʼ Wange, seinem Unterkiefer, bis er schließlich an seinem Mund angelangt war und zärtlich mit der Zunge über Maxʼ Unterlippe strich.
Max öffnete seinen Mund, kam Arne mit seiner Zunge entgegen und vergrub gleichzeitig seine Hände in Arnes weichem Haar.
Arne streichelte ihm über den Rücken und das fühlte sich gleichzeitig aufregend und beruhigend an.
Bei ihm fühlte Max sich so aufgehoben wie noch nie in seinem Leben.
Als sie ihren Kuss schließlich unterbrachen, kuschelte Max sich an Arnes Brust und schlang die Arme ganz fest um dessen Taille. »Ich weiß, das habe ich schon mal gesagt. Und es klingt bescheuert. Aber ich fühle mich bei dir irgendwie sicher.«
Max hörte förmlich Arnes Lächeln, als dieser antwortete: »Warum sollte das bescheuert klingen?«
Max zog sich ein Stück zurück, um zu ihm aufsehen zu können. »Weil sich das anhört, als solltest du für mich nachschauen, ob sich ein Einbrecher in der Vorratskammer versteckt. Aber so meine ich das nicht.«
Arne lächelte ihn an und streichelte ihm über die Wange. »Ich weiß, was du meinst. Mir geht es mit dir doch genauso.«
Max schnaubte. »Klar. Weil ich in letzter Zeit so wahnsinnig souverän bin.«
Arne drückte ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. »Bist du doch auch. Du hast keine Ahnung, wie sexy es ist, wenn du im Labor anrufst und mit denen über die Dringlichkeit von Blutuntersuchungen diskutierst. Oder wenn du jemandem etwas erklärst. Oder als du mich bei Frau Glawe in Schutz genommen hast.«
Max lachte atemlos. »Das war ja wohl selbstverständlich.«
»War es nicht. Aber für dich ist es selbstverständlich und genau das lie… mag ich so an dir.« Arne biss sich ertappt auf die Unterlippe.
Max wusste genau, was er eigentlich hatte sagen wollen. Und am liebsten hätte er das jetzt gehört und sogar erwidert. Doch dafür war es wirklich noch zu früh. Auch wenn sie sich schon eine Weile kannten, waren seine eigenen Gefühle noch frisch.
Arne schien sich ja tatsächlich auf den ersten Blick in ihn verliebt oder zumindest verknallt zu haben. Doch Max brauchte noch Zeit. Und er wusste genau, dass Arne das verstehen würde. Weil Arne ihn verstand.
Er stellte sich wieder auf die Zehenspitzen und stupste Arnes Nasenspitze mit seiner an. »Klar ist es für mich selbstverständlich, dich vor so einer dämlichen Idiotin in Schutz zu nehmen.«
Arnes Blick war ganz weich und warm und samtig. »Ich hätte das auch für dich gemacht.«
Arne hätte alles für ihn getan. Das wusste Max.
»Ich weiß. Und genau das lie… mag ich so an dir«, erwiderte er und zwinkerte Arne zu, der daraufhin atemlos lachte.
»Heißt das, wir treffen uns bald wieder? Privat, meine ich.«
Hätte Max einfach auf sein Herz hören können, hätte er sich vermutlich nie mehr von Arne verabschiedet. Aber die Nacht würde er noch nicht mit ihm verbringen. Früher oder später mussten sie sich heute Abend also leider trennen – wenn auch nur auf Zeit.
»Morgen bin ich mit Karl verabredet. Aber am Montag nach Feierabend habe ich Zeit.«
»Gut. Ich auch.«
Max war sich ziemlich sicher, dass Arne das auch gesagt hätte, wenn er bereits etwas vorgehabt hätte.
Arne fuhr fort: »Was hältst du davon, wenn du zu mir zum Essen kommst? Wirklich nur zum Essen. Ich mache uns Spaghetti mit Pesto, mit Kräutern aus meinem Garten. Wir können auf der Hollywoodschaukel sitzen und Käpt’n kann auch mal mehr Zeit außerhalb der Praxis mit dir verbringen und …«
»Sehr gern«, unterbrach Max Arnes aufgeregten Redeschwall.
»Wirklich?«
»Ja. Wirklich.«
***
»Na, warst du brav?«, fragte Arne und hockte sich zu Käpt’n auf den Boden, der ihm daraufhin durchs Gesicht schlabberte.
Lachend schob Arne ihn weg.
»Hat es sich denn wenigstens gelohnt oder war das gerade der einzige Kuss, den du heute Abend bekommen hast?«, brummte Aiko. Er trug zwei unterschiedliche Socken in seinen Filzpuschen.
Arne richtete sich wieder auf und tätschelte Käpt’n den Kopf. »Stell dir vor, es war nicht der einzige.«
Aiko, der gerade noch ziemlich schläfrig gewirkt hatte, war mit einem Mal wieder hellwach. »Nicht?« Er trat einen Schritt zur Seite und winkte Arne in den Flur der Wohnung, in der sie lange Zeit zusammen gewohnt hatten. »Dann kommst du wohl besser mal rein, nech?«
Grinsend betrat Arne den Flur und sog den vertrauten Geruch ein.
Von der Decke hing ein Modellsegelschiff, das sein Vater vor einigen Jahren selbst gebaut hatte. Er hatte Pfeiffer’sches Drüsenfieber gehabt und war wochenlang krankgeschrieben gewesen. Vor lauter Langeweile hatte er mit dem Modellbau begonnen, der heute sein größtes Hobby war.
»Willst du einen Tee? Ich war bei diesem Laden mit den exotischen Sorten. Du weißt schon.«
»Bei Jonte und Ralf. Ja, gern. Aber nichts mit Schwarztee, bitte. Ich bin schon total aufgedreht und müsste gleich ja eigentlich doch schlafen.«
Aiko schlurfte in die Küche und Arne folgte ihm.
Auch hier stand ein selbstgebautes Segelschiff auf der Fensterbank, umrankt von einer Grünpflanze.
» Abendstunde «, las Aiko vom Etikett einer Teetüte vor.
»Klingt gut«, erwiderte Arne und setzte sich auf die dunkel lackierte Eckbank.
Käpt’n setzte sich neben ihn auf den Boden und legte sein Kinn auf Arnes Knie, der ihn daraufhin zwischen den Ohren kraulte.
Aiko setzte Wasser auf, füllte Tee in ein Sieb, hängte es in eine Kanne, holte zwei Becher aus einem Hängeschrank und setzte sich dann ebenfalls an den kleinen Tisch. »Dann erzähl mal.«
Arne lächelte. »Hast du mir nicht beigebracht, dass ein Gentleman genießt und schweigt?«
»Kann ich mich nicht dran erinnern. Stört’s dich, wenn ich rauche?« Aiko zog seine Pfeife aus der Brusttasche seines karierten Pyjamaoberteils.
Arne schüttelte den Kopf. »Also … der Abend war schön.«
Aiko stopfte seine Pfeife und schnaubte. »Ach was.«
»Wir waren essen und …«
»Erzähl mir was, das ich noch nicht weiß.«
Arne lachte leise. »Danach waren wir an der Kurpromenade spazieren.«
»Rentnertreff«, schnaubte Aiko verächtlich.
Arne schmunzelte. »Wir haben uns unterhalten und …«
»Min Jung, ob du es glaubst oder nicht: Ich hatte auch schon mal ein Date. Entweder ich erfahre jetzt wirklich mal was oder ich gehe ins Bett.« Aiko zündete seine Pfeife an und paffte ein paar Dunstwölkchen in das Licht der tiefhängenden Glaslampe.
»Ich würde aber nicht im Bett rauchen, Dad.«
»Die Klugscheißerei hast du von deiner Mutter.«
»Sie sagt, ich habe sie von dir.«
Aiko schnalzte mit der Zunge. »Was war nu mit dem Kuss?«
Arne stützte das Kinn in die Hände. »Ich konnte es selbst kaum fassen. Schließlich war Max vorher immer so abweisend gewesen. Freundlich, aber abweisend. Und dann … es war, als ob er sich mir heute Abend geöffnet hätte. So richtig.«
»So viele Details wollte ich nun auch nicht.«
Arne verdrehte die Augen und lachte. »So war es doch gar nicht gemeint.«
»Ihr habt euch also geküsst. Und dann?«
»Nichts und dann. Wir haben uns im weiteren Verlauf des Abends noch ein paarmal geküsst, aber das war’s. Vorhin habe ich ihn nach Hause gebracht. Leider.« Arne seufzte. »Er fehlt mir jetzt schon.«
»Du bist hoffnungslos verliebt.«
»Ich weiß.«
»Und er? Meinst du, er ist auch verliebt?«
Arne lächelte und stützte das Kinn in die Hände. »Ich glaube schon. Jedenfalls hoffe ich es. Keine Ahnung. Vielleicht sehe ich ja auch Dinge, die ich sehen will.«
»Wie geht es jetzt weiter mit euch?«
»Am Montagabend kommt er zu mir und ich koche uns was.«
»Kochen. Soso.«
»Wir lassen es langsam angehen. Nicht dass ich mich rechtfertigen müsste.«
»Als ich in deinem Alter war …«
»Sag jetzt bitte nichts Falsches.«
»Jedenfalls freut es mich, dass sich endlich mal was getan hat.«
»Danke, Dad. Wirklich. Ich bin ganz gerührt.«
»Was denn? Du musstest ja nun wirklich lange genug an ihm rumbaggern.«
»Ich habe nicht gebaggert.«
»Vielleicht war das der Fehler.«
Arne stieß die Luft aus. »Wie gut, dass ich nicht auf deine Ratschläge höre.«
»Habt ihr jemanden getroffen?«
Arne grinste. »Wieso? Hast du Angst, dass sich rumspricht, dass ich auf Männer stehe?«, scherzte er.
Damals, vor über zehn Jahren, war es Aiko gewesen, der ihn zu seinem Outing ermutigt hatte.
»Ich frage mich bloß, ob es gut ist, wenn gleich jeder von euch beiden weiß. Wenn Max so zurückhaltend ist, hat er sicher nicht vor, das schon bald offiziell zu machen.«
»Darüber haben wir auch gesprochen. Er sagt, er möchte sich nicht mit mir verstecken. Und bei der Arbeit gibt es keine Probleme. Er hat Karl längst von uns erzählt und ich Kira.«
»Na dann.«
»Wir haben Gonne Willert gesehen.«
Aiko zog eine Grimasse. »Der Kapitän von Frederstadt, der so schnell seekrank wird«, unkte er. »Und? Was hat er gesagt?«
»Nix. Nur von Weitem gewunken.«
Arnes Vater winkte ab. »Was für ein Spinner. Die Sache ist jetzt, was, sechs Jahre her, sieben?«
»So um den Dreh, ja.«
»Da sollte man doch meinen, dass er sich langsam mal wieder eingekriegt hätte, oder?«
»Kann uns doch egal sein. Was interessiert uns Gonne Willert?«
»Mich interessiert das, wenn der scheiße zu meinem Jungen ist.«
Arne lächelte und tätschelte Aikos Arm. »Reg dich nicht drüber auf. Ich kann damit leben; dann sollte dir das auch gelingen.« Er erhob sich, ging zum Herd, auf dem der Wasserkessel langsam begann zu pfeifen, und goss kochendes Wasser in die Teekanne.
Max ließ sich auf den Boden der Kletterhalle fallen, der ganz aus einer weichen Matte zu bestehen schien, und drehte sich auf den Rücken. Aus dieser Perspektive wirkte die Boulderwand, die er gerade erklommen hatte, noch wesentlich beeindruckender.
»Ich bewege mich nie wieder«, verkündete er und tat einen tiefen Atemzug, der in seinen Rippen schmerzte.
Er hatte noch nie darüber nachgedacht, wie viele Muskeln ein Mensch hatte. Mit der Anatomie diverser Tierarten hatte er sich im Studium ausgiebig beschäftigt und auch bei der Arbeit hatte er natürlich immer wieder damit zu tun. Doch an seine eigene Muskulatur hatte er noch nie einen Gedanken verschwendet.
Ein Fehler, wie er jetzt wusste. Hätte er nämlich geahnt, wie viele Muskeln er hatte, von denen ihm gerade jeder einzelne wehtat, hätte er sich das mit dem Klettern vermutlich doch anders überlegt.
Dabei waren Karl und er ja nicht mal wirklich geklettert. Sie hatten gebouldert. Das war angeblich einfacher. Die Wände waren niedriger und man musste nicht gesichert werden, sondern konnte einfach abspringen, wenn man oben ankam. Oder eher: falls man oben ankam.
Costin, der im Kletterpark arbeitete und ihnen heute die Grundlagen gezeigt hatte, stellte sich neben ihn und sah halb amüsiert, halb besorgt auf ihn herab. »Alles okay?«
Matt hob Max die Hand und reckte den Daumen nach oben. »Au.«
Costins Mundwinkel zuckten. »Gesundheitlich meinte ich. Kreislaufprobleme?«
Max wagte es nicht, den Kopf zu schütteln. »Nein«, hauchte er.
Costin schnaubte. »Na, dann ist ja alles bestens.«
Karl setzte sich im Schneidersitz neben Max auf den Boden und trank ein paar Schlucke aus seiner Sportflasche. »Willst du auch was?«
Max hatte gerade wenig Vertrauen in seine Schluckmuskulatur. »Lass mal.«
Costin hockte sich neben sie. »Das erste Mal ist immer … äh … das schwierigste.«
Karl schnaubte. »Was du nicht sagst.«
Grinsend zuckte Costin mit den Schultern. »Sehe ich euch hier wieder?«
»Die Frage ist wohl eher, ob ich das überhaupt überlebe«, warf Max schwach ein.
Karl war wesentlich kräftiger als er und hatte sich deutlich besser an den Boulderwänden geschlagen. Während Max noch damit beschäftigt gewesen war, überhaupt vom Boden wegzukommen, hatte Karl bereits die erste Wand gemeistert. Seltsamerweise war er jetzt noch wesentlich fitter als Max, dabei hatte er mehr geleistet.
»Die Welt ist ungerecht«, seufzte Max und schloss die Augen.
Costin versetzte: »Du hast gestern Abend etwas Leckeres zu essen bekommen, also beklag dich nicht. Andere Leute haben es wesentlich schwerer als du. Ich zum Beispiel. Gestern Abend musste ich eine neue Kräuterteekreation von Ralf ausprobieren. Hopfen und Melisse und … keine Ahnung. Mir ist jetzt noch schlecht.«
Max schlug die Augen wieder auf. »Woher weißt du das mit dem Essen?«
Costin verdrehte die Augen. »Das hier ist Frederstadt.«
»Wir waren nicht mal in Frederstadt.«
»Marcel auch nicht.«
»Wie bitte?«
Costin wies auf seinen Chef, der in Sportkleidung am Eingang zur Kletterhallte stand und mit einer Frau diskutierte. Naja, zumindest diskutierte die Frau mit ihm. Sie redete aufgebracht auf ihn ein und gestikulierte wild, während Marcel eher genervt wirkte.
»Mein Chef hat euch aus dem Restaurant kommen sehen. Netter Kerl, aber eine echte Klatschtante.«
»Hat er über die Frau da auch was rumerzählt?«, scherzte Karl.
»Nee, das ist eine Verlobte.«
»Bald wohl eher Exverlobte.«
»Keine Ahnung, was da los ist. Über sich selbst quatscht er natürlich nicht. Aber bei den beiden ist seit Wochen Stunk. Ihr könnt euch ruhig noch ein bisschen erholen. Bei dem Wetter sind die meisten Kundinnen und Kunden im Außenbereich. Die Anfängerwände hier sind erst in einer Stunde wieder gebucht.«
»In einer Stunde soll ich wieder aufstehen?«, fragte Max mit so viel Empörung in der Stimme, wie er gerade aufbringen konnte.
»Mach dir keine Sorgen, wir haben auch eine Trage«, versetzte Costin, nickte ihnen noch mal zu und verschwand.
»Jetzt bist du natürlich in einem Zwiespalt«, sagte Karl und hielt Max noch mal die Wasserflasche hin. »Sicher, dass du nichts willst?«
Mühsam rappelte Max sich auf, bis er eine halbwegs sitzende Position erreicht hatte, und trank ein paar Schlucke. »Wieso Zwiespalt?«
Karl zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Weißt du nicht mehr? Als du dich an dem einen Abend verabschiedet hast, damit Hauke und ich allein miteinander Abendessen gehen, bist du doch hergekommen und hast mir hinterher erzählt, wie gutaussehend du Marcel findest.«
Max blinzelte ein paarmal. »Ach ja. Total vergessen.«
»Arne muss dir ja ziemlich den Kopf verdreht haben.«
Max musste lächeln. »Ja, hat er.«
Selbstverständlich war Karl längst im Bild. Kaum dass er gestern Abend nach Hause gekommen war, war Max in Karls Zimmer gestürzt und hatte ihm alles erzählt. Und dann noch mal. Und noch ein drittes Mal.
Karl streichelte ihm über den Rücken. »Das freut mich für dich. Ehrlich. Niemand hat das mehr verdient als du. Und Arne auch.«
»Er ist wirklich süß, oder? So lieb und verständnisvoll und sexy ist er auch.«
Karl lachte. »Dann ist er doch das absolute Komplettpaket für dich, oder?«
»Ja, schon.« Max seufzte leise. »Ich hoffe nur, dass ich keinen Fehler mache.«
»Den Eindruck habe ich wirklich nicht.«
»Ich ja auch nicht. Aber … ach, keine Ahnung.« Max presste die Lippen aufeinander. »Meinst du, er meint das wirklich alles ernst?«
»Warum denn nicht?«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen … ich meine, Arne ist so ziemlich perfekt. Und ich … naja, ich bin im Moment ein Schrotthaufen. Was soll jemand wie er schon von jemandem wie mir wollen?«
»So ein Blödsinn. Du bist noch viel toller als er. Das siehst du bloß nicht. Außerdem, mal ganz ehrlich: Er wäre ja schön blöd, wenn er seinem Chef Gefühle vorgaukelt und ihn dann abserviert. So viele Praxen gibt es hier in der Gegend auch nicht, dass er das riskieren könnte.«
»Hm. Das stimmt.«
»Außerdem sehe ich doch jeden Tag, wie er dich anguckt. Max, der arme Kerl sabbert seit Wochen jedes Mal, wenn du den Raum betrittst.«
Gegen seinen Willen musste Max lachen. »Das ist ja dann aber doch eher unattraktiv.«
Karl schüttelte grinsend den Kopf. »Du weißt, was ich meine. Wenn wir uns sicher sein können, dass jemand verliebt ist, dann bei Arne.«
»Oder bei deinem Hauke.« Max zupfte am Kragen von Karls eng anliegendem T-Shirt. »Der Knutschfleck ist doch von ihm, hoffe ich?«
Karl fuhr mit der Hand an seinen Hals. »Was? Wo?«
Max legte den Zeigefinger auf eine Stelle neben Karls Schlüsselbein. »Hier. Gestern Abend hattest du den noch nicht. Da ihr heute Morgen angeblich an der Steilküste spazieren wart, wundere ich mich jetzt doch.«
Karl räusperte sich. »Es war noch früh. Da war niemand.«
Max schnaubte. »Das will ich auch hoffen. Wenn das die Runde macht …«
»Sehr witzig.«
***
Kira stützte das Kinn in die Hand und grinste Arne über ihre beiden Eisteegläser hinweg an. »Ich frage mich, ob es überhaupt Zweck hat, dass du morgen zur Arbeit kommst.«
Er runzelte die Stirn. »Wieso das denn?«
»Als ob du dich auch nur eine Sekunde lang konzentrieren könntest.« Sie kicherte. »Oh Mann. Ich wünschte, in mich wäre auch mal jemand so verknallt wie du in Max.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass dein Mann dich auch ganz sympathisch findet.«
Sie winkte ab. »Jaja, aber er ist ein Stiesel. Du hingegen, du machst kein Geheimnis daraus, was du fühlst.«
Er zuckte lachend mit den Schultern. »Das ist gar keine bewusste Entscheidung. Ich kann einfach nicht anders. Jedenfalls bei Max. Früher war das bei mir auch nicht so.«
Sie lehnte sich auf dem schmiedeeisernen, weißlackierten Gartenstuhl zurück und zog die Augenbrauen hoch. »Ach ja. Ich erinnere mich.«
Käpt’n erhob sich schwer seufzend von dem Stück Rasen, auf dem er gelegen hatte.
»Käpt’n, leg dich doch einfach da vor…«, hob Arne an, doch da hatte sein Landseer sich bereits ein paar Zentimeter weiter niedergelassen.
Arne schüttelte den Kopf.
Käpt’n lag nicht gern in der Sonne. Während sie über den Himmel wanderte, wanderten auch die Schatten der Obstbäume durch Arnes Garten. Jedes Mal, wenn die ersten Sonnenstrahlen ihn berührten, legte Käpt’n sich empört in den Schatten. Aber eben nur so weit, dass er nach zehn Minuten wieder aufstehen musste.
Kira grinste und trank noch einen Schluck von dem Eistee, den sie vorhin gemeinsam zubereitet hatten. Sie hatte eine Früchteteemischung bei Fredertee gekauft, dem Teeladen von Jonte und Ralf. Auf der Rückseite der Packung stand eine Anleitung für Eistee. Natürlich hatten sie das ausprobieren müssen.
Arne streckte die Beine aus und seufzte. »Manchmal denke ich, ich habe das gestern Abend nur geträumt.«
Kira schmunzelte. »So gut kann er küssen?«
Er blinzelte in die Sonne. » Gut ist gar kein Ausdruck.«
Sie stupste ihn an. »Du, was mir gerade einfällt – wenn du mit ihm ins Bett gehst und mir dann alles erzählst und ich am nächsten Tag mit ihm arbeite, hoffe ich echt, dass ich ihm nicht versehentlich ein Kompliment machte.«
Arne verschluckte sich an seinem Eistee und hustete. »Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du das lassen könntest.«
»Ich gebe mein Bestes.«
»Außerdem werden wir so bald nicht miteinander ins Bett gehen.«
»Hat er das gesagt?«
»Nein, das sage ich.«
Sie sah ihn überrascht an. »Ja?«
»Ich möchte nicht, dass Max etwas überstürzt. Er hat so eine heftige Trennung hinter sich. Da ist es doch klar, dass er Zeit braucht. Ich möchte auf keinen Fall, dass er es hinterher bereut, weil er doch noch nicht so weit war. Davor hatte ich gestern schon Angst, als wir uns geküsst haben.«
»Aber bist du sicher, dass du warten willst? So verrückt, wie du nach ihm bist?«
»Natürlich würde ich gern mit ihm ins Bett gehen. Aber ich kann warten. Ich würde alles für Max tun.«
»Sogar auf den vermeintlich besten Sex deines Lebens warten?«, neckte Kira.
»Auch das, ja.«
»Fast schon schrecklich, wie glücklich ihr alle miteinander seid«, stichelte sie.
»Tu nicht so. Du bist mindestens genauso glücklich.«
»Stimmt. Aber manchmal finde ich meine Ehe nicht ganz so spektakulär wie eure Liebesgeschichten. Das mit Karl und Hauke war ja auch verdammt romantisch.«
»Ihr seid seit dreizehn Jahren zusammen und seit acht verheiratet. Da ist es doch normal, dass die Beziehung sich verändert hat.«
»Hast du schon gehört, dass Yvonne jemanden kennengelernt hat?«
»Nee. Echt? Wer will denn so eine Giftspritze daten?«
»Ein Touri aus Bielefeld. Er hat extra seinen Urlaub verlängert, um noch mehr Zeit mit ihr verbringen zu können.«
»Hoffentlich ist sie dann jetzt zu beschäftigt, um über Max zu lästern.«
»Ja, hoffe ich auch. Aber ich freue mich trotz allem für sie. Ich weiß, dass ihr Verhalten unmöglich war. Allerdings war sie wirklich sehr verliebt in Hauke.«
»Dann kann sie von mir aus gern auf ihn sauer sein, aber nicht auf Max. Was hat er denn damit zu tun?«
Kira hob die Hände. »Hey, ist ja gut. Mir musst du das nicht erklären.«
»Sorry. Ich weiß. Mich regt das einfach so auf.«
»Gonne Willert hingegen ist dir scheißegal.«
»Ich wage zu behaupten, dass er mehr Leuten hier in Frederstadt egal ist, als er überhaupt glauben könnte.«
Kira grinste und wedelte mit der Hand eine Mücke von ihrem Oberarm weg. »Kann gut sein. Aber als er letztens in der Praxis war, hat er behauptet, seine Katze mag dich nicht, damit Max mich holt und nicht dich.«
»Lass den doch quatschten.«
»Na, also, dem würde ich gern mal meine Meinung sagen. Mal ehrlich, diese alte Geschichte.«
»Scheiß doch drauf. Irgendwie hat er ja auch recht. Ich habe mich wirklich nicht gerade toll verhalten.«
»So etwas kann vorkommen. Und was hatte er denn bitte damit zu tun? Im Prinzip geht ihn das doch gar nichts an.«
»Mich interessiert nicht, ob er mich mag oder nicht. Die Menschen, deren Meinung für mich zählt, seid du, meine Eltern und …«
»… natürlich Max«, beendete Kira seinen Satz.
Er strahlte sie an. »Ganz genau.« Als sein Handy piepste, schnappte er es sich sofort vom Tisch.
»Von ihm?«, fragte Kira.
Arne öffnete Maxʼ Kurznachricht und las: Ich habe es überlebt. Aber knapp.
»Warum grinst du so?«
Arne tippte eine Antwort: Da bin ich aber froh. :-)
»Max und Karl waren heute im Kletterpark. Sie sind jetzt fertig. Scheint anstrengend gewesen zu sein.«
Sie schnaubte. »Kann ich mir vorstellen. Klettern, so ein Blödsinn. Menschen sind gar nicht dazu gemacht, sich vertikal zu bewegen. Wobei ich sagen muss, die Jungs, die da arbeiten, sind echt schnucklig. Costin ist wirklich verdammt heiß. Als ich vor Kurzem am Strand war, waren Ralf und er zum Schwimmen da. Da hätte ich glatt die Übersicht verlieren können.«
Arne schnalzte mit der Zunge und schüttelte gespielt missbilligend den Kopf. »Und es heißt immer, Männer denken nur an das Eine.«
Kira überging seinen Einwurf und fuhr fort: »Aber Marcel ist auch nicht schlecht. Wer weiß, vielleicht ist er ja bald wieder zu haben.«
»Ja? Ich dachte, der heiratet im Herbst.«
»Meine Tante wohnt neben Marcel und Thea. Sie hat mir erzählt, dass die beiden sich ununterbrochen streiten. Jeden Abend schreit Thea ihn an, hat sie gesagt.«
Arne zuckte mit den Schultern. »Tja, ist ja nicht unser Problem.«
»Nein, du stehst natürlich über dem Gerede.«
Arne grinste sie an. »Ich würde dir empfehlen, das genauso zu machen.«
»Aber wenn ich das genauso machen würde, wärest du jetzt nicht einer der Ersten – und hoffentlich auch Einzigen –, die erfahren, wer sich im Ferienhaus von meinem Onkel einquartiert hat.«
»Und wenn ich das gar nicht wissen will?«
Kira funkelte ihn an. »Dann muss ich mich jetzt leider verabschieden.«
»Ich wünsche dir noch einen schönen Sonntag«, erwiderte Arne und duckte sich, um Kiras Strohhalm auszuweichen, den sie nach ihm geworfen hatte.
***
»Sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, rief Karl aus dem Flur.
»Ganz sicher. Wenn ich morgen in der Lage sein soll, zu arbeiten, kann ich mich heute überhaupt nicht mehr bewegen«, erwiderte Max. »Ich wünsche euch viel Spaß am Strand.«
»Danke! Bis später.« Die Tür fiel hinter Karl und Funny ins Schloss.
Max lag auf seinem Bett und betrachtete die weißen Schäfchenwolken, die über den sattblauen Himmel zogen. War das wirklich der schönste Wolkenhimmel, den er je gesehen hatte, oder kam ihm das nur so vor?
Seit seinem Date mit Arne hatte er das Gefühl, dass ihm alles besser gefiel, alles ihm mehr Freude machte.
Max kannte dieses Gefühl, doch er hatte zwischendurch vergessen, wie es war, das zu empfinden. Es war, als hätte Arne es wieder hervorgeholt.
Max seufzte und bemerkte, dass er lächelte. Wie immer, wenn er an Arne dachte. Vermutlich war das ziemlich kitschig, aber das war ihm egal. Es fühlte sich viel zu gut an, als dass es ihm hätte albern vorkommen können.
Er angelte nach seinem Laptop, der neben ihm auf dem Boden lag, und stellte ihn auf die Matratze. Dann loggte er sich in sein Social Media-Profil ein.
Keine Anfragen und nur Nachrichten von Leuten, die er bereits kannte. Erleichtert stieß er die Luft aus.
Lars hatte sich schon seit Wochen nicht mehr gemeldet. Hoffentlich bedeutete das, dass er aufgegeben hatte.
Doch auch jetzt war etwas anders. Bislang hatte Max sein Profil immer mit Anspannung geöffnet. Auch wenn er eigentlich nichts mehr mit Lars hatte zu tun haben wollen – irgendwie war er doch immer aufgeregt gewesen. Hatte sich fast gewünscht, dass Lars sich noch mal meldete. Jetzt war er ihm einfach nur egal.
Max klickte sich durch seine Benachrichtigungen, reagierte auf ein paar Kommentare, beantwortete eine Nachricht von einer Kommilitonin und gratulierte zwei ehemaligen Kollegen aus München, die beide heute Geburtstag hatten.
Als er den Cursor zum Logout -Button bewegte, hielt er jedoch inne. Sollte er? Das hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht. Er hatte es sich nicht erlaubt. Weil er gewusst hatte, dass er es noch nicht ausgehalten hätte.
Doch jetzt traute er es sich zu. Max war klar, dass er Larsʼ Profil noch einmal besuchen musste. Um sich selbst zu beweisen, dass es ihm nichts mehr ausmachte. War dieser Moment jetzt gekommen?
Als hätte Arne geahnt, dass Max gerade emotionale Unterstützung gebrauchen konnte, kündigte dessen Handy eine Nachricht an. Du fehlst mir, las Max.
»Du mir auch, Arne«, flüsterte er, dann gab er Larsʼ Namen in das Suchfenster ein und klickte auf das Suchergebnis.
Hm. Nichts. Gar nichts. Nicht die leiseste Regung.
Max vergrößerte Larsʼ Profilbild, das ihn mit seinem Mann und den Zwillingen im Zoo zeigte. Im Hintergrund war ein Elefant zu sehen.
Max stieß die Luft aus und lachte. Er fühlte gar nichts mehr, wenn er das Bild betrachtete. Keine Eifersucht, keine Traurigkeit. Nichts. Es war ihm einfach egal.
Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und tat einen erleichterten Atemzug. Es war vorbei. Endlich.
Max loggte sich aus und nahm sein Handy. Statt eine Antwort zu tippen, rief er Arne an.
»Hey, na?«, meldete sich dieser nur eine halbe Sekunde später. »Ich kann nicht reden. Kira ist hier und belauscht mich.«
»Das ist eine freche Unterstellung. Würde ich nie tun«, hörte Max sie lachend behaupten.
»Ich wollte auch nur mal hallo sagen. Ich habe an dich gedacht.«
»Mach mal auf laut, ich höre ihn gar nicht«, forderte Kira.
»Ich gehe kurz rein«, sagte Arne.
Max hörte Schritte und dann, dass eine Terrassentür geschlossen wurde.
»Sorry. Tut mir leid«, sagte Arne lachend.
»Kein Problem. Ich wollte auch gar nicht stören.«
»Tust du nicht. Kira ist bloß mein Plan B, weil du heute keine Zeit für mich hast«, scherzte Arne.
»Sicher, dass sie dich nicht hören kann?«
»Ganz sicher, sonst hätte ich längst eine sitzen.« Arne lachte sein ansteckendes Lachen. »Erzähl mal, wie war’s im Kletterpark?«
»Anstrengend. Aber es hat Spaß gemacht. Auch wenn Karl sich wesentlich besser geschlagen hat als ich.«
»Es gibt Wichtigeres als klettern.«
»Bouldern zum Beispiel«, versetzte Max. »Du, ich … ich muss mich bei dir bedanken.«
»Bedanken? Wieso?«
Max holte tief Luft. »Für alles. Deine Geduld mit mir und … alles einfach. Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe.«
»Und ich erst«, erwiderte Arne.
Max biss sich auf die Unterlippe. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er sich das Profil seines Exʼ angesehen hatte. Irgendetwas sagte ihm, dass Arne so etwas nie tat.
Aber es hatte sich doch gelohnt – Max war einen weiteren Schritt auf dem Weg von Lars weg gegangen. Und er hatte nicht den Eindruck, dass noch sonderlich viele Schritte vor ihm lagen. Es war eher so, dass er sich bereits auf einem ganz anderen Weg befand: auf dem hin zu Arne. Das war ein schöner Weg, mit duftenden Blumen am Rand und Bienen und …
»Woran denkst du gerade?«
»An Bienchen und Blümchen«, erwiderte Max.
Arne schnaubte. »Na, dann habe ich ja alles richtig gemacht.«
Grinsend erwiderte Max: »Vielleicht freue ich mich ja auch nur darauf, morgen Abend mit Käpt’n und dir im Garten zu sitzen.«
»Wir freuen uns auch.« Arne lachte leise. »Telefonieren wir später noch mal? Bevor wir schlafen gehen?«
»Sehr gern. Bis später.«
»Bis später.«
Max legte auf und schaute wieder in den Himmel. Das war definitiv der schönste Wolkenhimmel seines Lebens. Und wenn es nur daran lag, dass er noch Arnes Stimme im Ohr hatte.
»Die sind aber ganz schön tief, Arne«, murmelte Kira über seinen Unterarm gebeugt.
»Ach, Quatsch. Das geht schon. Gehört zu unserem Job doch dazu.«, erwiderte er.
»Alles okay?«, hörte er Karl hinter sich fragen, der wohl gerade das Labor betreten hatte.
Er drehte sich um und grinste seinen Chef an. »Klar, kein Problem.«
Karl schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, warum einem die Leute das nicht vorher sagen. Die haben tatsächlich behauptet, der Hund wäre ganz brav.«
»Von einem Hund, der kratzt, hört man aber auch selten«, meinte Kira.
»Beißen konnte er ja nicht. Als er das erste Mal geschnappt hatte, hat Karl den Leuten gesagt, dass er ohne Maulkorb nicht weitermacht.«
»Zeig mal her«, sagte Karl und betrachtete Arnes Arm. »Das muss desinfiziert werden.«
»Habe ich schon gemacht«, erwiderte Arne.
»Es hört nicht auf zu bluten«, sagte Kira.
Er winkte ab. »Das hört gleich schon auf.«
»Habe ich irgendwas verpasst?«
Auf den Klang von Maxʼ Stimme hin fuhr Arne herum. »Hey.«
Max lächelte ihn an. »Hey.«
»Kümmere dich mal um deinen Mitarbeiter des Monats«, forderte Karl ihn grinsend auf und klopfte Arne auf die Schulter. »Kira, würde es dir was ausmachen, für den Rest des Tages mit Arne zu tauschen? Am Empfang ist er mit den Wunden besser aufgehoben.«
»Nee, das macht mir natürlich nichts aus«, erwiderte sie und schob Karl extrem unauffällig aus dem Zimmer.
»Wunden? Was ist denn passiert?«, fragte Max und kam ein wenig steifbeinig auf Arne zu.
»Nichts eigentlich.«
Max biss sich auf die Unterlippe und griff um Arnes Handgelenk, betrachtete die blutenden Kratzer auf dessen Unterarm. »Das sieht aber nicht nach nichts aus«, erwiderte er und sah zu Arne auf. »Katze?«
»Hund.« Arne streckte die andere Hand aus und streichelte Max über die Wange. »Mach dir keine Sorgen. Mir geht’s gut.«
»Da müssen wir was machen. Warte mal eben.«
Arne hielt ihn am Arm fest. »Max, du musst echt nicht …«
Ein Blick von Max ließ ihn verstummen.
»Ich bin gleich wieder da«, erwiderte Max und verließ das Labor.
Arne schaute ihm grinsend hinterher. Max war verdammt sexy, wenn er so bossy war. Okay, Max war immer sexy. Aber jetzt gerade eben besonders.
Seufzend lehnte Arne sich mit der Hüfte gegen die Arbeitsplatte.
Das Labor war neben dem Empfang Kiras Domäne. Heute wäre Arne also öfter hier als sonst. Hoffentlich brachten nicht allzu viele Leute Kotproben für einen Giardientest vorbei. Den machten sie nämlich selbst und … naja, manche Aufgaben überließ Arne lieber Kira, die einen wesentlich weniger empfindlichen Geruchsinn hatte als er.
»Da bin ich wieder.«
Arne strahlte Max an, der mit einer Sprühflasche, Tupfern, Wattestäbchen, einem Verband mit rotem Pfotenmuster und Salbe in der Hand vor ihm stand.
Max legte alles, was er mitgebracht hatte, auf die Arbeitsfläche.
»Das ist lieb, aber wirklich nicht nötig. Ich habe die Kratzer auch schon selbst desinfiziert«, sagte Arne sanft.
»Sicher ist sicher«, entgegnete Max und sah zu ihm auf. »Ich möchte nicht, dass dir was passiert«, fügte er leise hinzu.
»So schnell wirft mich nichts um.«
Max schmunzelte. »Das kann ich mir vorstellen«, murmelte er, legte seine Hand auf Arnes Brust und strich über den Stoff von dessen Poloshirt.
»Ist das sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz?«, flüsterte Arne.
Max lachte atemlos. »Fühlst du dich denn belästigt?«
»Nee, aber du vielleicht.«
Max kicherte und lehnte seine Stirn an Arnes Schulter. »Ganz im Gegenteil.«
Arne schlang seinen unverletzten Arm um Max und streichelte ihm über den Rücken. »Das ist gut«, sagte er.
Max sah zu ihm auf und fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe.
War es tatsächlich erst vorgestern gewesen, dass sie sich geküsst hatten? Arne kam es viel länger vor. Wie eine Ewigkeit.
»Darf ich dich küssen?«
Max grinste. »Ich habe gedacht, dass wir die Stufe erreicht haben, an der man das nicht mehr fragen muss.«
Lachend erwiderte Arne: »Immerhin sind wir bei der Arbeit.«
»Ich nehme an, dass du Kira genauso informiert hast wie ich Karl.«
Arne legte seine Hand in Maxʼ Nacken, strich mit dem Daumen durch das weiche Haar an seinem Hinterkopf. »Ich hoffe, ich bin gut weggekommen.«
»Hm. Ehrlich gesagt kann ich mich gar nicht mehr so genau erinnern, wie du küsst.«
»Wenn das so ist, helfe ich dir gern auf die Sprünge.« Arne beugte sich zu ihm hinunter und streifte Maxʼ Lippen mit seinen.
Mehr traute er sich jetzt gerade nicht. Immerhin konnte jeden Moment Kira oder Karl hereinkommen und außerdem waren sie in der Praxis, wo er einen kühlen Kopf behalten musste.
Max schluckte und lachte atemlos. »Ja, ich erinnere mich wieder.«
»Und?«
»Ganz okay«, versetzte er. Ein leichter Rotschimmer überzog seine Wangen. »Jetzt gib mir mal deinen Arm.«
Die Blutung hatte nachgelassen. Max wischte das restliche Blut mit einem Tupfer ab und sprühte ein Wunddesinfektionsspray auf.
Die ganze Zeit hielt er Arnes Handgelenk fest und dieser konnte nicht anders, als sich zu fragen, wie es wohl wäre, wenn Max ihn in anderem Zusammenhang berührte. Wenn sie allein waren, ungestört. Im Bett.
Er räusperte sich und zog seinen Arm aus Maxʼ Griff. »So, ich glaube, das re…«
»Ich bin hier der Fachmann«, entgegnete Max streng und schnappte sich wieder seinen Arm.
Arne schnaubte. »Sonst erzählst du mir immer, dass du meine Einschätzungen gern mit einbeziehst, weil ich selbst fast Tierarzt bin.«
Maxʼ Augen funkelten, als er Arne ansah. »Ja, aber offensichtlich bist du unvernünftig und damit bin ich nicht einverstanden. Schon mal was von Arbeitsschutz gehört?«
»Ich hoffe, ich muss demnächst keinen Helm bei der Arbeit tragen.«
Max wischte das Spray mit einem weiteren Tupfer ab. »Kommt drauf an.«
»Worauf?« Arne zuckte zusammen, als Max mit einem Wattestäbchen eine antibiotische Salbe auftrug, die höllisch brannte.
»Trägst du außer dem Helm dann sonst noch was?«
***
»Käpt’n, jetzt komm doch endlich.« Seufzend blieb Arne stehen. »Wie kann man so viel schnüffeln?«
Lachend hakte Max sich bei ihm unter. »Ist doch nicht schlimm. Ich habe es nicht eilig.«
»Kann ich verstehen. Die Aussicht darauf, mit dir allein zu sein, behagt mir auch überhaupt nicht.«
»Wir sind ja gar nicht allein. Käpt’n ist schließlich dabei.«
Arne schnaubte. »Sobald wir bei mir zu Hause sind, schmeißt er sich auf den Rasen und ist nicht mehr ansprechbar.«
»Machst du das auch so?«
»Klar. Und dann darfst du uns ein Bier bringen.«
»Käpt’n trinkt Bier? Das erklärt natürlich, warum er so vor sich hin schleicht.«
Inzwischen hatten sie den Rathausplatz erreicht.
Wie in letzter Zeit immer waren auch jetzt einige Touristinnen und Touristen unterwegs, die ganz verzückt auf die Reetdachhäuser zeigten und vor den Souvenirläden mit den Postkarten und getöpferten Leuchttürmen stehen blieben.
»Och nee, nicht der schon wieder«, murmelte Max, als Gonne Willert das Rauthaus verließ.
Er war in Begleitung von zwei anderen Männern. Sie blieben am Fuß der Treppe stehen und verabschiedeten sich mit Handschlag.
Max drehte sich zu Käpt’n um. »Jetzt leg aber wirklich mal einen Zahn zu, ja?«
Arne lachte. »Wenn der Kapitän von Frederstadt wüsste, dass du ihm nicht begegnen willst, würde er sich eine andere Tierarztpraxis suchen.«
»Ganz ehrlich? Das wäre mir wesentlich lieber«, erwiderte Max grinsend und nahm Arne die Leine aus der Hand. Vor lauter Überraschung hob der Landseer tatsächlich die Nase und trottete neben Max her in Richtung Arnes Haus.
»Du hast einen guten Einfluss auf ihn«, sagte Arne und schloss zu ihnen auf. »Bei mir geht er nie so brav mit. Und als Frau Dr. Willert noch in der Praxis war, wollte er sich da auch nicht benehmen.«
»Liegt vielleicht an ihrem Nachnamen«, scherzte Max und tätschelte Käpt’ns Kopf, während sie darauf warteten, dass Arne die Haustür aufschloss.
Als Max aufsah, entdeckte er, dass der Bürgermeister geradewegs zu ihnen herübersah.
Max hob den Arm und winkte. »Schönen Abend für Sie, Herr Willert. Traumhaftes Wetter, oder?«, rief er quer über den Platz.
Willert wandte sich ab.
Grinsend hielt Arne ihm die Tür auf. »Max, du Rebell.«
Kopfschüttelnd betrat Max den Hausflur. »Ich möchte mal wissen, was der für ein Problem hat. Liegt das daran, dass wir schwul sind?«
»Nee.« Arne legte ihm den Arm um die Schultern. »Scheiß auf Willert, Max«, sagte er und führte ihn an der Holztreppe vorbei zu einer Wohnungstür, die im hinteren Bereich des Hauses lag.
»Geht deine ganze Wohnung nach hinten raus?«, erkundigte Max sich, während Arne den richtigen Schlüssel an seinem Bund suchte.
»Nee. Die Küche und das Schlafzimmer gehen nach vorne raus. War wohl eigentlich anders gedacht, also dass das Zimmer zum Platz hin das Wohnzimmer ist. Aber ich finde es besser, wenn der Gartenzugang im Wohnzimmer ist. Außerdem ist es hier nachts sowieso nie so laut, dass man nicht auch da schlafen könnte.«
Max ertappte sich dabei, dass er sich fragte, ob er das heute Nacht wohl selbst sehen würde, und biss sich auf die Unterlippe.
Er wollte gern neben Arne einschlafen und neben ihm aufwachen und all dieses romantische Zeug. Aber er wollte noch wesentlich mehr mit Arne im Bett tun als einfach nur zu schlafen.
»Alles okay?«
»Ja, wieso?« Max blinzelte ein paarmal.
»Naja, ich stehe hier wie bestellt und nicht abgeholt neben der offenen Tür.« Arne grinste.
Max spürte, dass er errötete. »Tja … dann gehe ich mal rein. Komm, Käpt’n.«
Sie betraten Arnes Wohnung. Max zog Käpt’n das Geschirr aus und reichte es Arne mit der Leine, der beides an einen Haken neben der Tür hängte.
Dann sah Max sich um. Gleich auf den ersten Blick strahlte Arnes Wohnung Ruhe und Gemütlichkeit aus. Durch eine Tür mit Glaseinsätzen konnte Max ins Wohnzimmer blicken, das genau wie der Flur nur in Weiß und Beigetönen eingerichtet zu sein schien.
An einer Wand im Flur hing ein altes Steuerrad, sonst gab es keine Bilder oder Dekoration.
»Gibst du mir deine Jacke?« Arne legte von hinten die Hände auf Maxʼ Schultern. »Danach führe ich dich rum und mache mich dann mal ans Kochen.«
Max drehte sich um und sah zu Arne auf. »Schön hast du’s.«
»Mit dir hier in der Wohnung ist es gleich viel schöner.«
Dann bleibe ich doch einfach für immer hier, dachte Max und dieser Gedanke machte ihm keine Angst. Er fühlte sich einfach nur gut an.
***
Max tupfte sich mit der geblümten Papierserviette die Lippen ab, legte sie auf seinen leeren Teller und lehnte sich auf dem Gartenstuhl zurück. »Kannst du mir bitte eine schlechte Eigenschaft von dir nennen?«
Arne trank den letzten Schluck Weißwein aus seinem Glas und sah ihn überrascht an. »Wieso sollte ich?«
»Weil du mir langsam unheimlich wirst. Du bist supernett und lieb und lustig. Du siehst verdammt gut aus. Du hast einen schönen Garten, einen süßen Hund und jetzt kannst du auch noch kochen. Gib’s zu, du bist gar nicht echt.«
Arnes Herz machte einen Aussetzer. Nicht dass er Max bei alldem zugestimmt hätte – das mit dem Garten und dem Hund stimmte –, aber dass Max das so sah, ließ Arne ein paar Zentimeter über seinem Stuhl schweben. Hieß das etwa, dass er Max wirklich gefiel?
Er zwinkerte ihm zu. »Du hast recht. Ich bin nicht echt, sondern einer schmutzigen Fantasie von dir entsprungen.«
Max grinste. »Das kann auch nicht sein.«
»Warum nicht?«
»Wenn das hier eine meiner schmutzigen Fantasien wäre, säßen wir nicht mehr vollbekleidet im Garten.«
Arne runzelte die Stirn. »Du willst nackt im Garten sitzen?«
Max prustete einen Schluck Weißwein auf die Wiese. »Du bist unmöglich, weißt du das?«
»Ja, weiß ich. Hast du mir ja gerade gesagt.« Arne stand auf und strich Max über den Arm, ehe er dessen Teller und seinen eigenen nahm und sie in die Küche brachte.
So gern er in Maxʼ Nähe war – jetzt gerade brauchte er ein wenig Abstand. Seine Willenskraft wurde ja schon durch Maxʼ pure Anwesenheit auf die Probe gestellt. Aber wenn Max jetzt auch noch solche Sachen sagte …
Arne ging zum Spülbecken und ließ warmes Wasser über die Teller laufen, ehe er sie in die Spülmaschine räumte.
Als er sich wieder aufrichtete, blickte er in Maxʼ wunderschöne grüne Augen.
»Alles okay?«, fragte Max.
»Ja, klar. Warum fragst du?«
»Ich hatte gerade den Eindruck, dass ich etwas Falsches gesagt habe. Das war nicht so gemeint, dass ich mir irgendwas mit dir vorstelle. Also, okay, ich stelle mir schon … aber …« Er holte tief Luft und sah Arne hilflos an.
Mit einem großen Schritt war Arne bei ihm und legte seine Hände auf Maxʼ Wangen. »Hey. Das ist doch nicht schlimm. Ich bin nicht sauer oder so.«
»Nicht?«
»Nein. Ich fühle mich geschmeichelt und selbst das ist noch untertrieben. Ehrlich gesagt«, Arne drückte Max einen Kuss auf die Nasenspitze und flüsterte ihm dann ins Ohr: »Ehrlich gesagt denke ich auch ziemlich oft an so etwas.«
»Oh«, keuchte Max und krallte seine Hand in Arnes Poloshirt.
Arne stupste Maxʼ Nasenspitze mit seiner an. »Es tut mir leid, wenn ich dir das Gefühl gegeben habe, dass ich deine Bemerkung nicht okay fand. Es ist nur … ich fand sie halt ein bisschen mehr als nur okay.«
»Wie meinst du da… oh.« Max presste die Lippen aufeinander und aus irgendeinem Grund lief er feuerrot an, dabei wäre das doch eigentlich Arnes Job gewesen.
Arne lachte und zuckte mit den Schultern. »Ich bin nur gegangen, um nicht in Versuchung zu geraten, etwas ziemlich Dummes zu machen.«
»Etwas Dummes? Was denn zum Beispiel?«
Arne wich seinem Blick aus. »Du weißt, was ich meine.«
Er konnte unmöglich all die Dinge aussprechen, die er gern mit Max gemacht hätte.
»Und warum wäre das dumm?«, fragte Max leise, aber seine Stimme klang fest und sicher.
»Weil ich dir so viel Zeit geben möchte, wie du brauchst. Ich will auf keinen Fall, dass du hinterher irgendetwas be…«
»Wie kommst du darauf, dass ich irgendetwas mit dir bereuen könnte?«, fiel Max ihm ins Wort und griff nach Arnes Handgelenk. »Zeig mir mal deine Verletzung.« Mit geschickten Fingern löste er den Verband, den er ihm heute Nachmittag angelegt hatte, und legte ihn auf die Waschmaschine. Dann betrachtete er die Kratzer im warmen Sonnenlicht, das durch das Küchenfenster fiel. »Sieht ja schon besser aus. Tut es noch weh?«
»Nein, gar nicht«, behauptete Arne.
Max sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Das war kein guter Schachzug. Du hättest die Mitleidsnummer abziehen können.«
»Ich möchte aber kein Mitleid von dir.«
Max lächelte und ließ Arnes Arm los, schmiegte sich an dessen Brust. »Was möchtest du denn?«
»Alles andere. Für immer.«
***
Max schlang seine Arme um Arnes Taille.
Das wollte er auch. Genau das.
»Arne, ich …«, krächzte er und räusperte sich.
Arne streichelte ihm liebevoll über den Rücken. »Du musst jetzt nichts sagen.«
Max trat einen kleinen Schritt zurück, um ihm in die Augen sehen zu können. »Aber …«
»Schhhh.« Arne legte seinen Finger auf Maxʼ Lippen. »Ich bin schon die ganze Zeit verliebt in dich und du offensichtlich nicht in mich. Da musst du dich jetzt nicht gedrängt fühlen, irgendetwas zu sagen, für das es dir eigentlich noch zu früh ist.«
Max zog Arnes Finger weg, wohl darauf bedacht, nicht versehentlich an seine Wunden zu kommen. »Wenn du mich mal ausreden ließest, kämen wir wesentlich schneller voran.«
Arne lachte atemlos. »Sorry.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich jemals wieder verlieben kann. Und wenn, dann schon gar nicht so … so … komplett. Oh Mann, das klingt total bescheuert.«
»Ich weiß ganz genau, was du meinst«, erwiderte Arne leise, als hätte er Angst, diesen besonderen Augenblick zwischen ihnen zu zerstören. »Wenn man an nichts anderes mehr denken kann.«
»Wenn sich jeder Moment ohne den anderen leer anfühlt.«
»Wenn man nichts lieber möchte, als den anderen glücklich zu machen.«
»Mach dir da mal keine Sorgen. Ich bin mir sicher, dass du mich sehr glücklich machen wirst.« Max biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte ein Grinsen.
»Was?« Arnes Mundwinkel zuckten.
»Ach, nichts.«
Arnes forschender Blick ließ ihn schließlich nachgeben.
»Also schön. Ich hätte beinahe gesagt, dass ich mir sicher bin, dass du mich heute Nacht sehr glücklich machen wirst. Aber das hätte ziemlich oberflächlich geklungen. Und so als ob ich nur Sex wollte.«
Arne schluckte hörbar. »So ist es doch nicht, oder?«
Max sah Arne tief in die Augen und konnte die Unsicherheit, die er dort entdeckte, sehr gut verstehen. So hatte er sich auch schon oft gefühlt.
»Nein, so ist es nicht. Ich würde dich nie für ein bisschen unverbindlichen Spaß ausnutzen. Mal abgesehen davon, dass die Zeiten bei mir längst vorbei sind.«
»Bei mir auch. Ich will nur noch einen Mann. Einen ganz bestimmten.« Arne rieb sich über den Nacken.
»Karl hat recht. Du bist Mitarbeiter des Monats.«
Arne lachte. »Bekomme ich dann jetzt besonders wichtige Aufgaben übertragen?«
»Ja. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob die nicht die Grenze zwischen Beruf und Privatleben überschreiten.«
»Das hängt vermutlich davon ab, ob sie in der Praxis stattfinden.«
Max konnte nur mühsam ein Stöhnen unterdrücken. Der Gedanke, es mit Arne im Labor zu treiben … oje, er würde die Praxis nie mehr mit den gleichen Augen sehen wie noch heute Nachmittag.
Arne grinste sein süßes Grinsen. »Du bist dir ganz sicher, dass du heute mit mir ins Bett willst?«
Max legte seine Hand auf Arnes Brust – diese Gewohnheit hatte sich schon eingeschlichen und er wollte nicht mehr darauf verzichten. Arne fühlte sich einfach so verdammt gut an. So stark. Wie ein Felsen zum Anlehnen und ja, dann war das eben klischeehaft.
»Ich glaube, ich war mir noch nie bei etwas so sicher.«
»Nicht mal bei der Berufswahl?«
»Nicht mal bei der Wahl meines Lieblingseises.«
»Was ist dein Lieblingseis?«
»Pistazie. Und deins?«
»Schokolade. Haben wir jetzt genug geredet?«
»Scheiße, ja«, erwiderte Max atemlos, schlang seine Arme um Arnes Nacken und küsste ihn.
Arne stöhnte leise in ihren Kuss und machte einen großen Schritt rückwärts, sodass Max die Wand in seinem Rücken spürte.
Er lehnte sich dagegen und zog Arne an dessen Kragen zu sich. »Hör bloß nicht auf, mich zu küssen«, murmelte er und biss ihm in die Unterlippe.
»Alles klar, Chef«, erwiderte Arne heiser und hob Max im nächsten Moment hoch, sodass dieser erschrocken die Beine um Arnes Hüften schlang. »Aber das geht doch auch im Bett, oder?«
***
Arne richtete sich von der Matratze auf, sodass er auf Maxʼ Oberschenkeln saß, und strich mit den Händen über dessen rasierte Brust. »Bist du echt?«, fragte er leise.
Max lachte und legte die Hände auf Arnes Oberschenkel. »Ja, ich bin echt«, erwiderte er und setzte sich ebenfalls auf, sodass sein Mund auf der Höhe von Arnes nackter Brust war. Er platzierte sanfte Küsse dort, die dafür sorgten, dass Arnes Haut kribbelte.
Er fuhr mit den Fingern in Maxʼ Haar und schloss die Augen. »Bist du dir ganz sicher?«
Max sah aus geweiteten Pupillen zu ihm auf. »Ganz sicher. Ich bin hier und ich bleibe auch hier.«
Woher hatte Max gewusst, dass es genau das war, was Arne hatte hören müssen, obwohl er das nicht einmal selbst gewusst hatte?
Er beugte sich zu Max hinunter, verwickelte ihn in einen heißen Kuss.
Max war hier. In seinem Bett. In seinen Armen.
Er schubste Arne von sich herunter, sodass dieser mit dem Rücken auf der Matratze landete und verwirrt zu ihm aufblinzelte.
Grinsend setzte Max sich auf Arnes Schoß, rieb seine Hüften an Arnes. Sie trugen beide nur noch ihre Unterwäsche. Arne schwarze Boxershorts, Max einen dunkelblauen Hipster, der nichts der Fantasie überließ.
Arne drängte sich Max entgegen, der nach seinen Handgelenken griff und sie neben ihm ins Kissen drückte.
Maxʼ Blick bohrte sich in Arnes, als er mit dem Zeigefinger langsam, viel zu langsam, Arnes Brust entlangfuhr und schließlich seinen Bauch erreichte.
Arne spürte, dass einer seiner Bauchmuskeln unter Maxʼ Berührung zuckte, der daraufhin grinste.
»Ungeduldig?«
»Das sollte ich wohl eher dich fra… oh, fuck.« Arne schnappte nach Luft, als Max seine Boxershorts ein Stück nach unten zog und die Kontur seines Hüftknochens entlangfuhr.
»Max«, stöhnte Arne und streckte die Hände aus, um ihn anzufassen, strich über Maxʼ Beine, seine Brust, seine Schultern. »Jetzt wäre der Zeitpunkt, mir ein bisschen mehr über deine Fantasien zu erzählen.«
Max lachte atemlos, schob seine Hand weiter in Arnes Boxershorts und legte sie um dessen Erektion.
Arne fluchte leise und schloss für einen kurzen Moment die Augen, dann hielt er Maxʼ Handgelenk fest. »Warte.«
Max sah ihn fragend an. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein. Überhaupt nicht. Ich möchte vorher einfach wissen, was dir gefällt. Was wünschst du dir, hm?«
Max senkte seinen Blick, fuhr mit der Zunge über seine Unterlippe.
»Hey«, flüsterte Arne und zog an Max Arm.
Max verstand das Signal, legte sich neben Arne und kuschelte sich an ihn, den Kopf auf seiner Schulter. Sein Bein lag über Arnes, streifte dessen Erektion. Maxʼ Härte drückte gegen Arnes Hüften.
»Was ist los, hm?«, flüsterte Arne und drückte Max einen Kuss auf die Schläfe.
»Ich fürchte, du findest mich ziemlich langweilig, wenn ich dir jetzt erzähle, was ich mir wünsche.«
Arne schüttelte lächelnd den Kopf. Er griff nach Maxʼ Hand und drückte sie auf seinen Schritt, woraufhin Max durch den Stoff nach Arnes Härte griff und auf und ab strich.
Arne keuchte. »Fühlt sich das so an, als könnte ich dich langweilig finden?«
Max lächelte leicht. »Nein«, murmelte er. »Ich … also … was ich mir am liebsten vorgestellt habe, ist … eigentlich das hier.«
Arne lächelte und streichelte ihm über die Wange. »Ich könnte nicht behaupten, dass ich da etwas gegen habe. Geschweige denn dass ich es langweilig finde. Von dir angefasst zu werden, dich anzufa… Max !« Arne schnappte nach Luft, als er Maxʼ Hand plötzlich wieder ohne den störenden Stoff dazwischen spürte.
»So?«, fragte Max kleinlaut.
»Genau so«, erwidere Arne atemlos und zog Max auf sich, der ihn sofort weiter verwöhnte.
Scheiße. Allein der Anblick von Max über ihm, mit geröteten Wangen, von ihren Küssen geschwollenen Lippen …
Arne schluckte trocken und hakte die Finger seiner rechten Hand in den Bund von Maxʼ Hipster. »Darf ich?«
Max nickte und Arne verlor keine Zeit, zog Maxʼ Hipster über dessen Hüften, legte eine Hand um seine Härte, strich mit der anderen über die weiche Haut an der Innenseite seiner Oberschenkel.
Max legte den Kopf in den Nacken und stöhnte und Arne wusste einfach, dass er sich an diesen Anblick sein Leben lang erinnern würde.
Dieser Moment war so heiß, aber das war längst nicht alles. Max und er, hier, jetzt, zusammen – das war die pure Magie. Arne spürte das Knistern in der Luft, das Kribbeln auf seiner Haut, das Brennen seiner eigenen Fingerspitzen, sobald er Maxʼ Haut berührte.
»Arne«, keuchte Max und hörte auf, Arnes Erektion zu massieren, stützte sich mit beiden Händen auf dessen Brust ab und kam im nächsten Moment in heißen Schüben auf Arnes Bauch.
Halb legte er sich neben ihn, halb fiel er auf die Matratze. »Arne«, murmelte er und knabberte sanft an dessen Schulter. »Ich … so etwas habe ich noch nie erlebt.«
Arne drehte sich auf die Seite, schlang seine Arme um Max und zog ihn fest an sich. »Alles okay, mein Engel?«
Max nickte stumm, schmiegte sein Gesicht in Arnes Halsbeuge und schob seine Hand zwischen ihre Körper, umfasste Arne wieder, der ihm wenige Augenblicke später über die Klippe folgte.
Max erwachte mit einem muskulösen Arm um seinen Oberkörper und weichen, warmen Lippen in seinem Nacken.
Er seufzte wohlig und kuschelte sich an den starken Körper in seinem Rücken.
»Morgen, mein Engel«, flüsterte Arne und streichelte Max über die Brust. »Gut geschlafen?«
Max blinzelte und legte seine Hand auf Arnes, verflocht ihre Finger miteinander.
Wie schön es sich anfühlte, mit Arne zusammen zu sein. So … natürlich irgendwie. Als wären sie beide dazu geboren worden, zusammen zu sein. Wer weiß, vielleicht waren sie das ja.
Karl hatte nie an Schicksal geglaubt, bis er Hauke getroffen hatte. Max hingegen hatte daran geglaubt – bis zu seiner sogenannten Beziehung mit Lars. Die hatte ihn davon überzeugt, dass es die große Liebe zumindest für ihn nicht gab. Womöglich hatte er sich da geirrt.
»Ich kann dich förmlich denken hören«, sagte Arne.
Max lachte und drückte seine Hand. »Dann weißt du ja schon, wie glücklich ich mit dir bin.«
»Mmmh, sag das noch mal.« Arnes verschlafene Morgenstimme war verdammt sexy.
»Ich bin glücklich mit dir.«
»Noch mal.«
»Ich bin glücklich mit dir.«
»Noch mal.«
»Mach mir Frühstück.«
Arne lachte und biss ihn zärtlich in den Nacken. »Ganz schön bossy, Boss.«
Ehe Max hätte antworten können, spürte er plötzlich ein schweres Gewicht auf seinen Beinen.
»Käpt’n, nein! Ich habe dir nicht erlaubt …« Arnes Protest ging in Käpt’ns freudigem Gebell unter.
Max kicherte und drehte sich auf den Rücken. Im nächsten Moment hatte er eine nasse Hundenase im Gesicht und Arnes Landseer schleckte ihm durchs Gesicht.
Lachend hob Max die Arme, um sein Gesicht abzuschirmen, aber seine Bewegungen waren noch nicht koordiniert genug, als dass er wirklich eine Chance gegen den riesigen, kräftigen Hund gehabt hätte.
»Ach, ein Haustier ist doch ein unerschöpflicher Quell der Freude«, hörte Max Arne sagen und lachte noch lauter, während er Käpt’n mit aller Kraft von sich hinunter schob, der sich daraufhin neben ihn legte. Das Holz des Bettes knarrte.
»Du könntest ja schon mal Kaffee kochen«, neckte Max und kraulte Käpt’ns Flanke.
Grinsend schüttelte Arne den Kopf und tätschelte Käpt’ns Rücken. »Bis gleich, ihr zwei«, sagte er und stand auf.
»Hey, warte! Das war ein Scherz!«
»Ich weiß. Aber ich will doch, dass du unsere erste gemeinsame Nacht in guter Erinnerung behältst.« Arne zwinkerte ihm zu und stieg in seine Boxershorts, ehe er das Schlafzimmer verließ.
Max sah ihm nach, betrachtete die Konturen seiner Rückenmuskeln, die Sommersprossen auf seiner Schulter, auf die die Morgensonne durch das Rollo fiel.
»Wenn ich pfeifen könne, würde ich dir hinterherpfeifen«, rief Max ihm nach.
Arne lachte und tauchte wieder im Türrahmen auf. »Dann kann ich ja froh sein, dass du mir keinen Klaps auf den Hintern gegeben hast.«
»Dafür warst du zu weit weg«, erwiderte Max und bemühte sich, Arne nicht allzu auffällig zu mustern.
Himmel, was hatte dieser Kerl einen Körper. Und was er damit alles anstellen konnte …
Max hatte letzte Nacht überhaupt nicht mehr gemerkt, dass er doch noch Muskelkater vom Bouldern hatte. Der machte sich dafür jetzt zur Strafe noch schlimmer bemerkbar. Aber das war Max egal. Alles war egal, wenn er nur mit Arne zusammen sein konnte.
»Milch und Zucker?«
»Bisschen Milch, kein Zucker.«
»Ich hoffe, du magst Erdbeermarmelade.«
»Mit Erdbeeren aus deinem Garten?«
»Klar, was denn sonst?«
»Marmelade kochen kannst du auch?«
Arne zuckte mit den Schultern. »Ist nicht so schwierig. Ich zeige dir, wie das geht. Dann machen wir das zusammen.«
»Zusammen klingt gut«, erwiderte Max.
Arne kam wieder ins Schlafzimmer und ging neben dem Bett in die Hocke, sodass sie fast auf Augenhöhe waren. »Moin«, flüsterte er und lächelte.
»Moin«, erwiderte Max ebenso leise, beugte sich vor und drückte Arne einen Kuss auf die Lippen. »Danke für alles.«
»Wie meinst du das?«
»Für dein Verständnis, für … alles einfach. Es ist einfach perfekt mit dir. Du bist perfekt.«
Arne lachte sein jungenhaftes Lachen. »Das musst du gerade sagen«, erwiderte er und blieb mit der Hand in der Bettdecke hängen, zog sie so ein Stück runter, sodass Maxʼ nackte Brust zum Vorschein kam. Arne räusperte sich und wandte den Blick ab. »Wenn ich jetzt nicht gehe, wird das so schnell nichts mit Kaffee«, murmelte er und rieb sich über den Nacken.
Im nächsten Augenblick begann der Wecker zu klingeln.
Arne schaltete ihn aus. »Ich mache mal Frühstück.«
»Solange kann ich ja eine Runde mit Käpt’n gehen.«
»Das würdest du machen?«
»Dachtest du, ich habe vor, mich von dir bedienen zu lassen?«
»Wie sollte ich bloß darauf kommen?«
Max lachte und schwang die Beine aus dem Bett. »Ist es dir recht, wenn ich mit ihm gehe?«
»Du bist Tierarzt. Du wirst ihn schon nicht kaputt machen«, versetzte Arne, fügte dann aber ernster hinzu: »Ich vertraue niemandem mehr als dir, mein Engel.«
Max stand auf und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Geht mit bei dir genauso.«
***
Kira zog die Augenbrauen hoch. »Er ist mit Käpt’n eine Runde gegangen? Allein?«, flüsterte sie.
Arne zuckte mit den Schultern. »Ja. Warum nicht?«
Sie ruderte so wild mit den Armen durch die Luft, dass sie an die Hängeschränke stieß, die im Labor hingen. So groß war der Raum auch nicht, dass genug Platz für Kiras ausladende Gesten war.
Arne klebte das nächste Etikett auf ein Blutröhrchen.
»Weil das so etwas wie eine Liebeserklärung ist. Er übernimmt Herrchenpflichten. Das heißt …«, Kira holte tief Luft, »das mit euch ist etwas Ernstes.«
Arne befürchtete, gerade ziemlich debil zu grinsen. »Gut möglich. Immerhin hat er mir gestern Abend gesagt, dass er sich in mich verliebt hat.«
Sie schnappte nach Luft und presste die Hand auf ihr Herz. »Und das sagst du mir hier so ganz nebenbei?«
Arne seufzte. »Es war so schön. Ich hätte nie gedacht, dass ich überhaupt eine Chance bei ihm habe.«
Kira boxte ihm gegen den Oberarm. »Erzähl mal. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass du ganz brav auf dem Sofa geschlafen hast. Ihr habt gevö…«
»Pssst«, zischte Arne. »Nicht so laut. Man hört dich ja noch im Wartezimmer.«
Kira grinste. »Also ja. Du hast nicht widersprochen. Ich verstehe ja, wenn du nicht ins Detail gehen willst. Aber du könntest zumindest eine Andeutung machen.«
Er zwinkerte ihr zu. »Könnte ich natürlich. Allerdings wärest du danach sicher nicht mehr in der Lage, dich auf deinen Job zu konzentrieren.«
»So gut?«
»Noch viel besser.« Arne grinste.
»Sieh mal an. Ich hätte gar nicht gedacht, dass Max so etwas in sich stecken hat. Ups.« Sie kicherte. »Das Wortspiel war ein Versehen.«
Arne schnaubte. »Das glaube ich dir nicht. Außerdem, was soll das heißen?«
»Naja, er wirkt so schüchtern. Ist er im Bett auch so?«
»Das geht dich überhaupt nichts an.«
»Also nicht.«
»Kira.«
»Warte mal. Ist er etwa ein tiefes stilles Wasser?«
»Was?«
»Naja, tiefe Wasser sind … nee, stille Wasser sind tief, sagt man doch.«
Arne schüttelte lachend den Kopf. »Ich glaube, der Kaffee ist dir nicht bekommen. Vielleicht ein bisschen zu viel Koffein?«
»Ach ja, Kaffee. Vor lauter Sextalk habe ich den glatt vergessen«, murmelte Kira und trank einen Schluck aus dem Pappbecher, mit dem sie vorhin zur Arbeit gekommen war.
»Erzähl mir doch mal von dem neuen Coffeeshop«, bat Arne in der Hoffnung, Kira von ihrem aktuellen Thema abzulenken.
Einerseits redete er sehr, sehr gern über Max. Aber auf der anderen Seite fühlte er auch, dass das, was zwischen ihnen geschehen war, nicht für andere Ohren bestimmt war. Natürlich erzählte Arne Kira, was los war, genau wie Max es Karl erzählte. Aber Details gingen nur Max und ihn etwas an.
»Leckerer Kaffee, sexy Barista. Um noch mal auf Max zurückzuko…«
»Sei leise«, flüsterte Arne, der auf dem Flur Schritte hörte.
Im nächsten Moment tauchte Max in der Tür auf. Er trug sein dunkelblaues Poloshirt und die gleichen Chinos wie gestern. Arne hätte ihm ja eine andere Hose geliehen, doch die waren Max alle viel zu lang.
Maxʼ Haare waren wuscheliger als sonst. Wenn Arne die Augen schloss, war er wieder in dem Behandlungszimmer, in das Max ihn vorhin gezogen hatte, seine Lippen auf denen von Max, seine Hände in dessen Haar, sein Oberschenkel zwischen denen seines unwiderstehlichen Chefs …
»Moin Kira«, sagte Max und warf Arne einen scheuen Blick zu.
»Moin Chef. Schicke Hose.«
Max sah an sich hinunter und errötete. »Danke. Ist meine Lieblingshose. Trage ich öfter.«
»Verstehe. Auch mehrmals hintereinan…«
»Brauchst du Hilfe, Max?«, unterbrach Arne das Verhör und warf Kira einen warnenden Blick zu.
Max lächelte ihn dankbar an. »Ja, bitte. Ich habe gerade einen Welpen da, der neu bei seinem Herrchen ist. Er will immer nur spielen und hält nicht still beim Abhören. Das Herrchen ist aber viel zu aufgeregt, um ihn vernünftig festzuhalten.«
»Ich komme mit«, sagte Arne und folgte Max ins Behandlungszimmer, den Blick fest auf den Boden gerichtet.
Er wollte nicht in Versuchung kommen, Maxʼ Hintern in diesen engen weißen Chinos zu betrachten.
»So, da bin ich wieder. Das ist mein Kollege, er hilft beim Festhalten.«
Der Mann sah von dem Behandlungstisch auf, auf dem sein Dackelwelpe an einem Spielzeug herumkaute, und strahlte Arne an. »Moin. Ich bin Hannes und das ist Django.« Er streckte seine Hand aus.
Arne ging an ihm vorbei und hielt den Hund fest, der daraufhin begann, ihm begeistert über die Hand zu lecken.
»Hallo Django.« Arne streichelte ihm über das mit seidenweichem, rotbraunem Fell bedeckte Köpfchen.
Max nahm das Stethoskop vom Schreibtisch und nickte Arne grinsend zu.
Dieser Hannes machte keinerlei Anstalten, Arne ein bisschen mehr Platz zu machen, sondern blieb dicht neben ihm stehen, während Max mit der Untersuchung fortfuhr.
»Django ist erst seit gestern bei mir. Der Züchter hatte ihn Donald genannt, aber in Anbetracht der politischen Umstände …« Er kicherte. »Jedenfalls weiß ich gar nicht, wer von uns beiden aufgeregter ist.«
»Ist nicht nötig. Meine Chefs sind die besten Tierärzte, die Sie finden können.«
»Ach, ich bin Hannes. Du kannst ruhig du sagen.«
»Nein danke.«
Max hustete, aber Arne war sich ziemlich sicher, dass er nur ein Lachen überspielen wollte.
***
Max zog seine nackten Füße auf die Sitzfläche des Strandkorbs und lehnte den Kopf an Arnes Schulter, der daraufhin den Arm um ihn legte.
Seufzend kuschelte Max sich noch ein Stück enger an ihn. »Das arme Herrchen von Django.«
Er hörte das Grinsen in Arnes Stimme, als dieser antwortete: »Wieso?«
»Du weißt genau, wieso.«
Käpt’n jagte laut bellend zwei Australian Shepherds nach, die gerade ins Wasser rannten. Max kannte die zwei, sie hießen Fritz und Luise. Sie waren noch jung, etwa eineinhalb Jahre alt, und freuten sich jedes Mal so, dass sie zum Tierarzt durften, dass sie vor Aufregung ganz Frederstadt zusammenbellten.
Es kam selten vor, dass Tiere so begeistert in die Praxis kamen, und Max freute sich daher besonders darüber. Oft wollten die Tiere nicht mal von ihm angefasst werden.
Natürlich konnte er das verstehen. Das war ihm auch klar gewesen, als er diesen Beruf gewählt hatte. Trotzdem fand er es schade, dass er so viel Kontakt zu Tieren hatte, die gar nichts mit ihm zu tun haben wollten.
Um ihnen die Angst zu nehmen, nahm er sich immer extra viel Zeit, vor allem für Tiere, die vor Panik zitterten oder sich unter dem Stuhl versteckten. Auch wenn kaum ein Tier gern zum Arzt ging – sie sollten es so angenehm wie möglich haben. Wenn das bedeutete, dass es auch mal etwas länger dauern konnte, auch wenn jemand nur wegen einer Kleinigkeit kam, dann war das eben so. Mit Leckerchen, Leberwurst und ein paar Streicheleinheiten konnte Max ihnen den Arztbesuch zumindest ein bisschen erträglicher machen.
Noch besser in so etwas war allerdings Arne. Bei jedem Tier, das er bei einer Behandlung festhielt oder dem er einen Verband anlegte, hätte man meinen können, dass es Arnes eigenes war. So liebevoll sprach er mit den Tieren, streichelte und tröstete sie.
Käpt’n folgte den beiden anderen Hunden – Überraschung! – ins Wasser und schwamm mit kräftigen Zügen durch die Wellen.
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst«, behauptete Arne dreist.
Max schnaubte und drehte den Kopf, um ihn ansehen zu können. »Er steht auf dich.«
»Wer?« Arne schaute aufs Meer und schmunzelte.
Es war ein bedeckter Abend. Die Sonne schimmerte nur schwach hinter den grauen Wolken hervor. Das Meer erschien heute graugrün und tiefer als sonst, unnahbarer. Aufregender. Max hatte jetzt schon so viele Gesichter des Meeres gesehen und doch hatte er oft das Gefühl, es noch gar nicht richtig zu kennen.
»Djangos Herrchen. Herr Gabel. Oder eher Hannes, wie du ihn ja nennen sollst.«
Arnes Mundwinkel zuckten. »Habe ich aber nicht gemacht, oder?«
Max lachte leise. »Das war wirklich süß von dir.«
»Ach, ich dachte, er tut dir leid.«
Max lachte. »Aber es war süß, dass du ihn für mich hast abblitzen lassen.«
»Vielleicht ist er ja auch einfach nicht mein Typ«, neckte Arne.
»Ach nein? Was ist denn dein Typ?«
Arne neckte: »Mhh, ich stehe auf große, kräftige Männer mit dunklen Haaren und braunen Augen.«
Max kicherte. »Gut zu wissen. Dann muss ich ja nur noch ein bisschen wachsen, mehr trainieren, mir die Haare tönen und farbige Kontaktlinsen kaufen.«
Arne drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bleibst, wie du bist, okay?«
»Du aber auch, bitte.«
»Wenn mein Chef das von mir verlangt, bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig.«
Max grinste. »Das hier war übrigens eine echt schöne Idee.«
Ein Date im Strandkorb hatte er noch nie gehabt. Das war vielleicht nicht die aufregendste Wahl, aber die allerschönste. Arne, Käpt’n und das Meer – was konnte er mehr wollen?
»Ich könnte für den Rest unseres Lebens mit dir hier sitzen«, sagte Arne leise und streichelte sanft über Maxʼ Brust.
»Für den Rest unseres Lebens oder für den Rest unseres gemeinsamen Lebens?«
»Ist das nicht das gleiche?«
Max legte die Hände auf Arnes Wangen. »Doch. Ist es«, erwiderte er und stupste dessen Nasenspitze mit seiner an.
Es war noch ziemlich früh für so ein Versprechen. Immerhin dateten sie erst seit ein paar Tagen. Aber sie kannten sich schon länger und irgendwie fühlte es sich für Max so an, als hätten sie sich schon immer gekannt, auch wenn sie sich erst vor ein paar Monaten zum ersten Mal begegnet waren.
Arne legte seine Hand in Maxʼ Nacken, spielte mit einer Haarsträhne dort und lächelte ihn an. »Heißt das, du möchtest mit mir zusammen sein?«
Max schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an. »Ja. Mehr als alles andere.«
Arne lehnte seine Stirn an die von Max. »Was für ein Zufall, dass du das sagst. Ist bei mir nämlich genauso.«
Max schob sein Bein über Arnes und verlagerte sein Gewicht, sodass er auf dessen Schoß saß. So hatte er das Meer zwar nicht mehr im Blick, aber dafür Arne. Das war noch viel besser.
»Ich hatte von Anfang an so ein gutes Gefühl mit Frederstadt. Als ich die Praxis im Internet entdeckt habe, dachte ich … keine Ahnung, wie ich das erklären soll. Dass Karl und ich in Frederstadt glücklich werden können. Nicht nur beruflich.«
»Vielleicht solltest du umsatteln und Zukunftsvorhersagen anbieten.«
»Gute Idee. Jetzt sage ich dir mal den weiteren Verlauf des Abends voraus.«
»Da bin ich aber gespannt.«
»Wir gehen jetzt zu dir nach Hause.«
»Was du nicht sagst.«
»Und dann gehen wir ins Bett.«
»Ehrlich?«
»Und dann …« Max lachte, als Arne ihm den Zeigefinger auf die Lippen legte.
»Überrasch mich«, raunte er, ehe er seinen Finger durch seine Lippen ersetzte.
Arne setzte sich auf die halbhohe Mauer, die die Promenade vom Sandstrand trennte, und atmete einmal tief durch.
Max war heute schon früher in die Praxis gegangen, weil er sich vor der Sprechstunde mit einer Vertreterin für medizinisches Spezialfutter traf. Käpt’n hatte er mitgenommen, sodass Arne noch laufen gehen konnte.
Arne machte seit Jahren Crosslauf, an dem Käpt’n natürlich keinen Spaß hatte, schließlich war viel zu wenig Wasser involviert.
Er kam gerade von der Steilküste. Statt seiner üblichen Runde durch die Sterngasse nach Hause war Arne noch ein Stück an der Strandpromenade entlang gelaufen.
Seltsam. Obwohl er bis auf die Zeit in Hannover sein gesamtes Leben in Frederstadt verbracht hatte und endlose Male am Meer gewesen war, brachte er es jetzt mit Max in Verbindung. Spätestens seit gestern Abend waren Max und das Meer in Arnes Gedankenwelt miteinander verbunden. Schließlich hatten sie in einem Strandkorb mit Blick auf die Ostsee darüber gesprochen, dass sie jetzt ein Paar waren.
»Morgen.«
Arne fuhr herum.
Jonte und Costin joggten grinsend auf ihn zu.
»In Gedanken?«, neckte Costin.
Jonte schmunzelte. Die beiden hatten vermutlich von Anfang an Bescheid gewusst. Schließlich war Karl mit Hauke zusammen, der wiederum der Cousin von Jontes Freund Valentin war. Und Costins Freund Ralf war Jontes bester Freund. Wobei – das hier war Federstadt. Vermutlich brodelte die Gerüchteküche bereits ohnehin.
»Vielleicht«, erwiderte Arne lachend.
»Schönen Tag für dich«, sagte Jonte und lief weiter.
Costin hob die Hand zum Gruß und folgte.
Arne zog sein Handy aus der Hosentasche und klickte sich im Telefonbuch zur Nummer seiner Mutter durch. Auf Fuerteventura war es zwar eine Stunde früher, aber sie war sicherlich längst auf den Beinen. Arnes Mutter war eine Frühaufsteherin, außerdem hatte sie einige Tiere zu versorgen, ehe sie mit ihrem Lebensgefährten die Praxis aufmachte.
»Moin Arne«, meldete sie sich gutgelaunt nach dem zweiten Klingeln.
»Moin Mom.«
»Rufst du an, um mir endlich von deinem neuen Freund zu erzählen?«
Er stöhnte. »Hat sich das schon bis zu euch rumgesprochen?«
Pia lachte. »Ich habe gestern mit Ansje telefoniert. Wiebke hat ihr gesagt, dass …«
»Danke, ich kann es mir vorstellen.«
»Willst du gar nicht hören, was man sich über euch erzählt?«
»Ganz ehrlich? Nein.«
»Aber ich wusste natürlich schon vorher Bescheid. Aiko hat so etwas angedeutet. Da stellt sich mir natürlich die Frage, warum du mich nicht eingeweiht hast.«
Arne grinste. »Bis jetzt gab es ja nicht viel zu erzählen.«
»Und das hat sich geändert?«
»Ja. Wir haben gestern Abend …«
»… im Strandkorb gefummelt.«
»Geknutscht.«
»Das habe ich aber anders gehört.«
Arne schnaubte. »Meine Version interessiert dich also gar nicht?«
»Doch, auch.«
»Mom, ich habe einen neuen Freund.«
»Wie schön. Das freut mich. Er ist dein Chef, oder?«
»Ja, genau. Max. Du wirst ihn lieben.«
»Ich bin schon sehr gespannt auf ihn. Bringst du ihn im Juli mit?«
»Keine Ahnung. Wir haben noch nicht darüber gesprochen. Gestern Abend haben wir erst mal geklärt, was das mit uns jetzt eigentlich ist. Ich will ihn nicht direkt überfordern, indem ich ihn meiner Familie vorstelle.«
»Immerhin hat er so eine schwierige Trennung hinter sich.«
»Weißt du das von Ansje oder Dad?«
»Von Wiebke.«
»Ah. Schön. Dann bist du ja voll im Bilde.«
Pia räusperte sich. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Was kommt denn jetzt?«
»Ich bin deine Mutter und möchte, dass du glücklich bist.«
»Mom, was ist los?«
»Ich bin dreieinhalb Tausend Kilometer Luftlinie von dir entfernt. Und ich habe deinen Max ja noch nie live erlebt.«
»Okay …«
»Aber ich habe das mit seiner Trennung und dem komischen Ex gehört und ich frage mich … Arne, bist du dir sicher, dass er bereit für eine neue Beziehung ist?«
»Ja.«
»Einfach ja?«
»Einfach ja. Max hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, wie sehr ihm das mit seinem Ex zugesetzt hat und dass er noch nicht so weit war. Jetzt ist er so weit. Ende der Geschichte.«
Pia seufzte leise. »Dann bin ich froh.«
»Und ich erst. Max ist … er ist einfach ein ganz besonderer Mensch, Mom.«
»Mit einem besonders knackigen Hintern, habe ich gehört.«
»Ansje? Wiebke?«
»Viktoria.«
»Vikto… oh Mann. Das gibt’s doch nicht.«
»Grüß ihn von mir, deinen Traummann, ja?«
»Werde ich machen.«
»Es wäre übrigens schön, wenn ich mal mit ihm telefonieren könnte. Du hast mir doch erzählt, dass er diese Fortbildung über Parasitenerkrankungen macht. Ich habe einen Leishmaniose-Patienten, über den ich gern mal mit Max reden würde.«
»Das lässt sich sicher einrichten.«
»Super. Dann hoffentlich bis später.«
»Bis später.«
***
Max kaute auf seiner Unterlippe herum.
»Bist du nervös?«, fragte Arne und legte seine Hand auf Maxʼ Wange. »Gleich blutet deine Lippe.«
Max hörte auf und atmete einmal tief durch. »Ja, ehrlich gesagt bin ich schon ein bisschen nervös.«
Er lehnte mit der Hüfte am Behandlungstisch. Auf dem Schreibtisch in der Ecke des Untersuchungszimmers stand der Laptop, mit dem er gleich den Videoanruf bei Arnes Mutter machen würde.
Arne stellte sich dicht vor ihn und schlang die Arme um Maxʼ Körper. »Du musst das nicht machen, wenn du dich damit nicht wohlfühlst«, sagte er und drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. »Ich kann ihr einfach noch absagen.«
»Auf keinen Fall. Ich möchte mit ihr reden. Sie ist deine Mutter, Arne. Natürlich will ich sie kennenlernen. Und wenn ich ihr vielleicht mit einem Tipp für ihren Patienten weiterhelfen kann … Beim letzten Wochenendeseminar habe ich wirklich einige neue Sachen über Leishmaniose gelernt.«
Arne lächelte ihn liebevoll an. »Ich freue mich, dass du sie kennenlernen möchtest.«
»Ist doch logisch. Deinen Vater habe ich ja schon mal getroffen. Aber vielleicht können wir bald mal zusammen mit ihm essen gehen, sodass wir uns auch besser kennenlernen können.«
Arne strahlte ihn an. »Im Ernst?«
Max lachte atemlos. »Na klar. Ich bin ja leider nicht mehr Teil einer Familie, die ich dir vorstellen könnte.« Er verzog das Gesicht.
»Dafür hast du jetzt meine Familie.«
Max schloss die Augen und lehnte seine Stirn an Arnes Brust. »Du bist wirklich süß, weißt du das?«
Arne streichelte ihm über den Rücken. »Das ist mein Ernst. Du wirst dich bestimmt super mit meinen Eltern verstehen.«
Max richtete sich auf und straffte die Schultern. »Okay. Ich lege dann jetzt mal los.«
Arne hielt ihn am Handgelenk fest. »Du bist ein fantastischer Tierarzt, Max.«
Ertappt wich Max Arnes Blick aus. »Danke«, murmelte er. »Du kennst mich viel zu gut.«
»Ja, ich kenne dich. Und ich bin verliebt in dich. So schlimm kannst du also nicht sein.«
Gegen seinen Willen musste Max lächeln. »Ich könnte ja trotzdem ein schlechter Tierarzt sein.«
»In so jemanden könnte ich mich nicht verlieben. Ein Mann, der Tieren schadet – sei es absichtlich oder nicht –, wäre nichts für mich.« Arne stellte sich ihm in den Weg, sah ihm tief in die Augen.
Max legte die Hand auf Arnes Brust und sah zu ihm auf. »Dann habe ich ja noch mal Glück gehabt«, erwiderte er, ehe er sich von Arne abwandte und auf den Drehstuhl setzte.
Arne hatte bereits alles vorbereitet. Max musste nur noch auf Anrufen klicken, um den Videoanruf zu starten.
Er schaute noch einmal zu seinen Notizen vom letzten Seminar, die er herausgesucht hatte, dann klickte er auf die Schaltfläche.
Ein paar Sekunden später erschien eine Frau auf dem Bildschirm, der deutlich anzusehen war, dass sie Arnes Mutter war. Die gleichen dunklen Augen, das gleiche wuschelige Haar, die gleiche Nase, die gleichen Lippen. Sie hatte sogar ebenfalls Sommersprossen.
»Hallo Max! Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Pia.«
»Hallo Pia. Freut mich auch. Sehr sogar. Arne spricht immer so nett von Ihnen.«
»So alt, dass du mich siezen musst, bin ich nun auch wieder nicht. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass er nur nette Dinge über mich sagt.«
»Womit du vollkommen recht hast«, sagte Arne, der sich gerade an einer der Schubladen mit chirurgischem Besteck zu schaffen machte.
»Die schlechten Manieren hat er von seinem Vater.« Pia grinste verschwörerisch in ihre Webcam.
»Also, ich finde ihn genau richtig, so, wie er ist.«
Arne warf Max ein strahlendes Lächeln zu.
Pia lachte. »Das sind ja schon mal gute Voraussetzungen. Wie war dein Tag bis jetzt?«
Max zuckte mit den Schultern. »Ereignislos, aber in unserem Job ist das ja etwas Gutes.«
»Da hast du allerdings recht. Also, zu meinem Patienten. Es ist ein siebenjähriger Rüde, ein Podenco-Mischling. Ich schicke dir gerade eine Mail mit seiner Akte, damit du siehst, wie ich ihn bis jetzt behandelt habe.«
Max öffnete das Emailfenster und lud die Datei herunter, die Pia ihm geschickt hatte.
»Ah, okay«, murmelte er, während er die Einträge überflog. »Wie sind denn seine Nierenwerte im Moment?«
***
Arne gab sich ja alle Mühe, Max nicht allzu auffällig anzuschmachten. Aber wenn er nach Kiras und Karls amüsierten Blicken ging, lief es nicht besonders gut.
Unter dem Tisch drückte Max sein Knie gegen Arnes und dieser konnte nur knapp der Versuchung widerstehen, seine Hand zu nehmen.
Auch wenn Kira und Karl Bescheid wussten, war das hier immer noch ihr Arbeitsplatz. Und sie steckten mitten in der Teambesprechung. Definitiv nicht der geeignete Rahmen, um über Max herzufallen und ihn besinnungslos zu küssen. Doch das hieß nicht, dass Arne das nicht wollte.
»In der Akte steht, dass es bei Sparkys letzter Zahn-OP Probleme gab. Was war denn da los?«, fragte Karl.
»Die Blutung hat nicht aufgehört. Frau Dr. Willert musste sogar bei der Narkose nachlegen«, berichtete Arne.
Karl verzog das Gesicht. »Okay. Das klingt eher nach einem Job für die Tierklinik, oder was meinst du, Max?«
Max nickte. »Würde ich auch sagen. Für den Fall, dass er eine Blutkonserve braucht, wäre er da besser aufgehoben.«
»Gut. Dann rufe ich Frau Bente morgen an und sage ihr, dass wir sie nach Lübeck überweisen. Gibt es sonst noch etwas zu besprechen?«
»Ja, allerdings geht es nicht um einen Patienten von uns, sondern um einen von Arnes Mutter«, sagte Max.
Kiras Augenbrauen verschwanden unter ihrem neu geschnittenen Pony. »Ach. Habt ihr euch unterhalten?«
»Ja, wir hatten heute ein Videotelefonat.«
Da Karl überhaupt nicht auf diese Information reagierte, hatte Max es ihm wohl schon erzählt. Arne und Kira hatten jedoch noch keine Zeit gehabt, um darüber zu sprechen.
Während Max kurz zusammenfasste, um was es ging und welche Behandlung er vorschlug, ließ Arne sich einfach nur von dem angenehmen Klang seiner Stimme berieseln. Er wusste schließlich schon alles, da er bei dem Gespräch dabei gewesen war.
Er hatte ja gewusst, dass seine Mutter und Max auf einer Wellenlänge waren. Dennoch war er froh, dass deren erstes Gespräch miteinander so gut gelaufen war. Vielleicht war es wirklich eine gute Idee, Max für den Sommer nach Fuerteventura einzuladen.
Arnes Überlegungen wurden durch ein Hämmern an die Praxistür unterbrochen.
Kira schaute auf die Wanduhr und seufzte. »Ein Notfall oder Gonne Willert.«
»Ich tippe auf Gonne«, sagte Karl grinsend.
»Ich auch.«
Max nickte. »Dito.«
»Ich gehe schon.« Kira erhob sich und verließ den Pausenraum.
»War der immer schon so?«, fragte Karl.
Arne verdrehte die Augen. »Als Frau Dr. Willert noch hier war, hat er sich sogar schlimmer aufgeführt. Weil die beiden miteinander verwandt sind, meinte er, den dicken Mann markieren zu können.«
»Naja, er ist ein dicker Mann«, scherzte Karl.
Kira tauchte in der Tür auf und räusperte sich.
»Was?«
Sie grinste. »Hauke ist ja auch nicht gerade schlank, oder?«
Karl warf ihr einen indignierten Blick zu. »Hauke ist genau richtig.«
»Es ist übrigens wirklich Willert. Er will Max sprechen. Allein. Ist in Zimmer zwei«, flüsterte sie.
»Ist was mit seiner Katze?«, erkundigte Max sich und stand auf.
»Sie ist nicht mal dabei.«
»Hoffentlich will er nicht mit dir über Katzenfutter reden«, sagte Karl und grinste Max an.
Dieser zeigte ihm den Mittelfinger und verschwand Richtung Behandlungszimmer.
»Katzenfutter?«, fragte Arne verwirrt.
Karl winkte ab. »Ach, nur so ein Scherz. Ist nicht wichtig.« Er schaute ebenfalls auf die Uhr. »Oh, ich muss los. Hauke und ich gehen essen.«
»Mit Nachtisch?«, neckte Kira.
»Das ist privat«, versetzte Karl lachend. »Entschuldigt mich bitte bei Max, ja?«
»Klar. Schönen Abend.«
Kira verabschiedete sich ebenfalls von ihm und Karl ging los zu seiner Verabredung.
Arne lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Was Willert wohl jetzt wieder will?«
Kira setzte sich zu ihm an den Tisch und zog eine Grimasse. »Meinst du, das könnte … du weißt schon, mit Max und dir zu tun haben?«
»Inwiefern?«
»Er hat euch zusammen gesehen, das hast du mir selbst erzählt. Außerdem redet ganz Frederstadt darüber, dass ihr gestern Sex im Strandkorb hattet.«
»Sex? Wir hatten doch keinen …«
Sie winkte ab. » Ich weiß das. Wie auch immer. Was ist, wenn er Max warnen will?«
Mit einem Mal war Arne sehr kalt. »Warnen? Wegen … naja, Hannover?«
»Er nimmt es dir offensichtlich noch übel.«
»Meinst du, das würde er tun?«
»Meinst du, es gibt etwas, das er nicht tun würde?«
Arne sprang auf, ging ein paar Schritte auf und ab. »Aber … aber …«
»Was genau weiß Max denn über Hannover?«
Er blieb stehen und zuckte mit den Schultern. »Nichts. Also, dass ich da studiert habe und so. Aber sonst … ich meine, man erzählt einem neuen Partner doch nicht gleich am Anfang alles von früher, oder?«
»Nee, eigentlich nicht. Allerdings frage ich mich, ob du es nicht doch besser mal angesprochen hättest.«
»Das fällt dir jetzt ein? Hättest du mir das nicht früher sagen können?«
Sie hob die Hände. »Ich habe vorher nicht dran gedacht.«
»Sorry. Ich …« Arne straffte die Schultern. »Ich gehe mal gucken, ob Max Hilfe brau…«
Er hörte eilige Schritte auf dem Gang.
»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Herr Willert«, sagte Max eisig.
Willert, der ihm langsamer gefolgt war, schnaubte bloß.
Im nächsten Augenblick hörte Arne, wie die Praxistür ins Schloss geknallt wurde.
Wenige Sekunden später kam Max auf Arne zu gestürmt. »Was für ein Arsch!«
Kira schob sich an Arne vorbei. »Ich glaube, ich gehe dann mal.« Im Vorbeigehen drückte sie seinen Arm. »Viel Glück«, raunte sie. »Schönen Abend für euch.«
»Tschüs«, sagten Max und Arne im Chor.
Max ging ins Pausenzimmer und setzte sich mit verschränkten Armen auf einen der Stühle. »Der erzählt Lügen über dich, Arne. Und er streut nicht einfach nur Gerüchte, sondern kommt persönlich her, um mir davon zu berichten.« Kopfschüttelnd schenkte er sich ein Glas Wasser ein.
Arne schloss die Augen, doch das änderte natürlich nichts daran, dass sein Herz so hämmerte, dass das Blut in seinen Ohren rauschte. »Ging es um Thies?«
Max erstarrte.
***
Tief durchatmen, ermahnte Max sich selbst.
Dann hatte Gonne Willert also wirklich einen Neffen namens Thies. Das hieß aber noch lange nicht, dass Arne sich irgendetwas hatte zuschulden kommen lassen.
Aber wieso fragte Arne nach Thies, wenn Max ihm sagte, dass Willert ihm etwas Schlechtes über ihn erzählt hatte?
Arne setzte sich neben Max und nahm seine Hand. Arnes Hand, die sonst immer schön warm war, fühlte sich kalt an.
»Ja«, krächzte Max.
Das musste nichts Schlimmes bedeuten. Es wäre ja auch dumm von Willert gewesen, sich etwas komplett Neues auszudenken. Stattdessen hatte er sein Lügengespinst um Tatsachen herum aufgebaut. Sehr schlau.
»Was hat er dir denn erzählt?«
»Totalen Blödsinn, da bin ich mir sicher«, erwiderte Max überzeugter, als er sich gerade fühlte.
Noch mit Willert in Zimmer zwei hatte er kein Wort geglaubt. Doch Arnes merkwürdige Reaktion ließ ihn zweifeln.
»Max, was hat er gesagt?«, fragte Arne leise.
Max fuhr sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. »Dass du in Hannover mit seinem Neffen Thies zusammen warst.«
»Das stimmt. Thies hat dort Informatik und Spanisch auf Lehramt studiert. Er ist der Sohn von einer von Gonne Willerts Schwestern. Sie ist als junge Frau nach Hannover gegangen und hat dort eine Familie gegründet. Ich kannte Thies trotzdem, weil er in den Ferien immer mal hier in Frederstadt zu Besuch gewesen war. Irgendwann sind wir uns auf dem Campus über den Weg gelaufen und … naja, wie das so ist.«
Max schluckte trocken.
Bis dahin stimmte das mit dem überein, was Willert ihm auch erzählt hatte. Aber Max war ja klar gewesen, dass Arne vor ihrem Kennenlernen bereits Beziehungen gehabt hatte.
»Wir sind ein Paar geworden und nach ungefähr zwei Jahren zusammengezogen.« Arne zögerte.
»Okay. Aber Willert hat behauptet, du hättest Thies ein halbes Jahr lang betrogen.« Maxʼ Stimme überschlug sich. »Wie kann er das sagen? So etwas würdest du nie tun.«
Arne schwieg und starrte vor sich auf den Tisch.
»Arne, sag doch was!«
Er sah auf und Max unendlich traurig an. »Du hast recht. Heute würde ich so etwas nie tun. Aber … du musst verstehen, Max, das waren besondere Umstände. Thies war damals kein besonders glücklicher Mensch. Er hat panische Prüfungsangst und hat eine Prüfung nach der anderen versemmelt. Irgendwann war es so schlimm, dass er eine bestimmte Prüfung zwingend bestehen musste, weil er sonst das Studium hätte abbrechen müssen. Thies ist darüber halb verrückt geworden. Er hat nur noch gelernt, Tag und Nacht. Und er hat sich auch sonst verändert, hatte immer schlechte Laune und war so extrem misstrauisch. Ich … ich habe dann jemanden kennengelernt. Ilian, einen Austauschstudenten aus Bulgarien. Wir haben uns erst nur angefreundet, aber mit der Zeit war da mehr. Ich wollte es Thies sagen, allerdings hatte ich Angst, dass er dann komplett den Halt verliert und wieder durch die Prüfung rasselt. Ich wollte ihm natürlich die Wahrheit sagen, aber … naja, ich wollte bis nach der Prüfung warten.«
»Also hast du ihm etwas vorgemacht«, sagte Max tonlos.
Arne zuckte merklich zusammen. »Ja, also habe ich ihm etwas vorgemacht.«
»Ein halbes Jahr lang.«
»Ein halbes Jahr lang«, bestätigte Arne.
»Und dann hast du ihm nicht mal die Wahrheit gesagt, sondern er musste es selbst herausfinden.«
Das hatte Willert jedenfalls gesagt und so langsam war Max geneigt, ihm alles zu glauben, was er erzählt hatte.
»Thies hat mein Handy durchsucht und Nachrichten von Ilian gefunden. Am Tag vor seiner Prüfung.«
»Hat er bestanden?«
»Ja. Knapp.«
»Dann wäre die ganze Scharade also nicht einmal nötig gewesen.« Max zog seine Hand aus Arnes.
»Max, mir ist klar, wie das jetzt …«
»Ich bin ja wohl kaum in der Position, dich dafür zu verurteilen. Schließlich war ich lange der Geliebte eines verheirateten Mannes.«
»Max, ich …«
»Aber ich habe gedacht, dass … Ich wollte einen Neuanfang, Arne. Ich dachte, dass du anders bist. Dass ich dir vertrauen kann.«
»Das kannst du, Max, bitte glaub mir.«
»Wer weiß, was du mir alles nicht erzählst – zu meinem Besten natürlich.«
»Ich würde dich nie anlügen oder dir etwas verheimlichen. Das schwöre ich dir.«
»Du weißt genau, was mit Lars war. Bist du da nicht auf die Idee gekommen, dass ich gern wissen würde, dass du früher …« Maxʼ Stimme versagte.
»Ich habe Scheiße gebaut. Aber das ist Jahre her. Ich habe daraus gelernt, mich verändert. Das mit Thies spielt für mich überhaupt keine Rolle mehr. Ich habe damit abgeschlossen. Deshalb habe ich es dir nicht erzählt.«
»Für dich spielt es keine Rolle mehr, du hast damit abgeschlossen? Und wie geht es ihm damit?«
»Er hat einen neuen Partner und lebt mit ihm in Hamburg. Wir sind uns vor zwei Jahren oder so auf dem Weihnachtsmarkt hier in Frederstadt über den Weg gelaufen. Es war ein kurzes, aber sehr nettes Gespräch.«
»Wie idyllisch.« Max stand auf. Glücklicherweise trugen ihn seine zittrigen Knie.
»Irgendwann hätte ich dir davon erzählt. Aber anders.«
»Was hättest du denn ausgelassen?«
»Nichts. Du hättest alles erfahren. Allerdings hätte ich es dir gern schonender beigebracht.«
»Die Tatsachen ändern sich doch nicht. Du hast deinen Ex ein halbes Jahr lang hintergangen und betrogen. Ich dachte, du bist anders als Lars. Dabei bist du ganz genauso.« Max drehte sich um und stürmte förmlich aus der Praxis, rannte durch den Innenhof, auf den Bürgersteig und weg, einfach nur weg.
»Alles gut?«, fragte Pia und legte Arne die Hand auf die Schulter.
Er versuchte sich gar nicht erst an einem Grinsen. »Bestens.«
Sie seufzte und drückte seinen Arm. »Ich weiß, dass du das jetzt nicht hören willst und mir auch nicht glaubst. Aber es wird besser, Arne. In ein paar Wochen wirst du dich schon viel …«
»Mom, Max ist meine große Liebe. Der Eine, verstehst du? Da ist es mit ein paar Wochen Liebeskummer und einem Flirt zum Ablenken nicht getan. Ich …« Er schluckte und schüttelte den Kopf.
Pia nahm ihre Sonnenbrille ab und blinzelte in die grelle Mittagssonne, die auf die Veranda fiel.
Es war ein wenig wärmer als in Frederstadt, aber nicht unerträglich heiß. Ein leichter Wind zog an den Ärmeln von Arnes T-Shirt.
Pia schob das Glas Limonade, das vor Arne auf dem Moasiktischchen stand, ein wenig näher zu ihm. »Trink doch mal einen Schluck, Arne. Diego hat die Limo selbst gemacht.«
»Ich weiß ja, dass du es gut meinst. Aber ein Zuckerschock hilft mir auch nicht.«
Pia schmunzelte. »Als du noch klein warst, war nach ein bisschen Schokolade alles wieder gut.«
»Wenn die Sandburg von einer Welle weggespült wird, ist das aber etwas anderes als Liebeskummer.«
Seine Mutter lehnte sich auf dem hölzernen Gartenstuhl zurück und ließ den Blick über ihre Kakteen gleiten.
In Frederstadt hatte sie schon gern gegärtnert. Hier auf Fuerteventura war sie in der Auswahl der Pflanzen etwas eingeschränkter. Doch sie hatte das Beste aus dem kleinen Garten der Finca gemacht, in der sie mit ihrem Partner lebte.
»Ich weiß, wie es ist, sich von einer großen Liebe verabschieden zu müssen.«
»Das klingt immer alles so pathetisch. Ich fühle mich, als hätte er mir das Herz aus der Brust gerissen und so ein Zeug. Wenn ich das früher gelesen oder gehört habe, dachte ich, wie albern. Aber genauso fühlt es sich an.« Arne streckte die Beine aus und betrachtete die Maserung des Holzbodens. »Es ist, als wäre mein ganzes Leben plötzlich wertlos, wenn ich es nicht mit ihm teilen kann. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll.«
»Das verstehe ich. Als Aiko und ich uns getrennt haben …« Pia seufzte. »Natürlich ist es nicht einfach. Aber man kann so etwas durchstehen.«
»Ihr habt euch einvernehmlich getrennt, weil ihr euch nicht mehr gut verstanden habt. Ich will ja nicht sagen, dass das besser ist oder so. Aber ich wollte nie, dass es zwischen Max und mir aus ist. Das Schlimmste ist, dass ich nicht einmal glaube, dass er das wirklich wollte. Er hat einfach so viel Angst. So verdammt viel Angst, die ich ihm nehmen wollte. Und dann habe ich alles nur noch schlimmer gemacht. Wie konnte ich so blöd sein? Ich habe all seine Befürchtungen bestätigt. Er hat mich endlos lange auf Abstand gehalten, weil er befürchtet hat, ich könnte ihm etwas vormachen.«
»Du hast ihm doch aber nichts vorgemacht. Thies vielleicht, aber nicht Max.«
Arne stieß die Luft aus. »Du weißt genau, dass es so einfach nicht ist. Ich hätte mir denken müssen, dass das früher als geplant rauskommt.«
»Hättest du es ihm wirklich erzählt?«
»Ja, irgendwann. Mir war klar, dass das Thema für Max ein rotes Tuch ist. Deshalb hatte ich Schiss. Aber ich hätte es ihm gesagt. Allerdings hätte ich gewartet, bis er mir mehr vertraut hätte.«
»Ich verstehe. Aber verlorenes Vertrauen kann man reparieren.«
»Denkst du denn, dass Max mir noch ein einziges Wort von dem, was ich sagen würde, glaubt?«
Pia zog eine Grimasse. »Tja, ich …«
»Eben.« Arne schaute in die Ferne, über die Kakteen und den Gartenzaun hinweg zu dem roten Sand, der sich in Hügeln bis zum Horizont erstreckte.
So leer und trostlos kam ihm die Natur hier auf einmal vor. Wie seine eigene Zukunft. Ohne Max.
Pia streckte sich und nahm ihre Sonnenbrille vom Beistelltisch. »Ich mache uns etwas zu essen. Möchtest du Pfannkuchen?«
»Danke, ich habe keinen Hunger.«
»Arne, du musst …«
Er schüttelte den Kopf.
Seufzend erhob Pia sich. »Ich mache einfach mal Pfannkuchen. Wenn du doch möchtest, sind welche da.«
»Danke«, murmelte er.
Arne wusste ja, dass seine Mutter es gut meinte, ihn aufmuntern wollte. Früher hatte so etwas funktioniert. Doch der Kummer, den er jetzt hatte, war zu groß. Nein, nicht einfach nur groß. Erdrückend. Übermächtig.
Arne fühlte sich wie unter einer Decke aus Blei begraben, die ihn immer kleiner und kleiner zusammendrückte, bis nur noch ein winziger schwarzer Klumpen von ihm übrig war.
»Weißt du schon, wie lange du bleibst?«
»Für immer?«
Pia lächelte ihn traurig an. »Das würde mich sehr freuen. Aber ich wünschte, es hätte einen anderen Anlass«, sagte sie und ging ins Haus.
Arne lehnte sich auf dem Stuhl zurück.
Pia hatte ja recht. Er musste sich Gedanken darüber machen, wie es weitergehen sollte. Immerhin hatte er einen Arbeitsvertrag mit Max und Karl. Er konnte nicht einfach der Praxis fernbleiben. Doch genau das hatte er getan. Er hatte Käpt’n zu seinem Vater gebracht, sich ins nächste Flugzeug gesetzt und war nach Fuerteventura abgehauen.
Sein Handy lag ausgeschaltet im Koffer. Es war nicht so, dass er nichts von zu Hause hören wollte. Er konnte es nicht, selbst wenn das auch wieder melodramatisch klang.
Es war so schon schwierig genug, mit dem Wissen zu leben, dass er selbst hier und Max endlos weit von ihm entfernt war – und das nicht nur wegen der Kilometer, die zwischen ihnen lagen.
Wenn Kira ihn jetzt fragen würde, was los war, wann er wieder zur Arbeit kommen wollte … das würde er nicht packen. Dabei musste er das schnellstmöglich entscheiden.
Obwohl … eigentlich stand es doch schon fest. Er konnte nicht mehr mit Max zusammenarbeiten und Max höchstwahrscheinlich auch nicht mit ihm. Arne musste kündigen und sich einen neuen Job suchen.
Und Max vergessen. Als wäre das überhaupt möglich gewesen.
***
»Und du hast wirklich keine Ahnung, wo er ist?«, hörte Max Karls leise Stimme aus dem Pausenraum.
Er blieb stehen, so weit von der Tür entfernt, dass Karl und Kira ihn nicht sehen konnten. Sein Herz hämmerte in seiner Brust.
»Doch. Sein Vater hat es mir erzählt.«
Funny kam vom Empfangsbereich zu Max getrapst, stupste ihn mit der Nase an und sah zu ihm auf.
»Hey«, flüsterte Max, kniete sich neben ihn und streichelte über das blondgelockte Fell an seinem Kopf.
Der Pudelmischling schleckte ihm durchs Gesicht und Max drückte ihm einen Kuss auf die Lefze.
»Danke. Es ist lieb, dass du mich aufmuntern willst«, murmelte er, richtete sich wieder auf und ging dann in den Pausenraum, wo Karl ihn mit einem aufmunternden, Kira hingegen mit einem misstrauischen Blick bedachte.
» Warum Arne nicht hier ist, weiß ich allerdings leider auch nicht«, fuhr Kira schnippisch fort und stolzierte aus dem Pausenraum.
Funny trapste dafür herein und legte sich unter den Tisch.
Karl legte Max den Arm um die Schultern. »Sicher, dass du nicht lieber nach Hause gehen willst?«
Er nickte. »Was soll ich denn da machen? Im Bett liegen und mir selbst leidtun?«
»Es tut mir so leid. Ich meine, das mit diesem Thies ist lange her, aber …«
Max setzte sich, verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte die Stirn darauf. »Ich kann nicht wieder darüber reden.«
»Ich meine ja nur, dass ich ein schlechtes Gewissen habe. Wenn ich dir nicht zugeredet hätte …«
»Es war meine Entscheidung. Eigene Dummheit. Wie konnte ich auch auf die bescheuerte Idee kommen, dass ich Glück haben könnte?«
»Also, mit deinem besten Freund hast du verdammt großes Glück.« Karl drückte Maxʼ Schulter. »Kann ich etwas für dich tun? Irgendwas?«
Max erhob sich und tat einen zittrigen Atemzug. »Kannst du mich mal in den Arm nehmen?«
»Hey, klar.« Karl legte seine muskulösen Arme um Max und dieser erwiderte die Umarmung, lehnte seine Stirn an Karls Schulter.
»Ich hab dich lieb, Kleiner«, flüsterte Karl und streichelte ihm über den Rücken.
»Ich dich auch«, erwiderte Max und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, ehe sie sich wieder losließen. »Und es ist wirklich nicht deine Schuld.«
Karl verzog das Gesicht. »Glaubst du, dass Kira echt nicht weiß, warum Arne heute nicht zur Arbeit gekommen ist?«
»Ja, ganz sicher. Sonst wäre sie mir längst an die Gurgel gegangen.«
»Wenn sie sagt, dass sein Vater ihr verraten hat, wo er ist … das klingt nicht so, als wäre er einfach zu Hause geblieben, oder?«
Max biss sich auf die Unterlippe.
»Soll ich versuchen, etwas rauszufinden? Hauke weiß eigentlich immer über alles Bescheid, weil bei ihm im Laden so viel geredet wird.«
»Ich schätze, er ist bei seiner Mutter auf Fuerte.«
»Ja, stimmt, das kann gut sein.«
Max schluckte. »Meinst du, er bleibt lange weg?«
Karl rieb sich über den Nacken. »Tja, er wird wohl kaum in die Praxis zurückkehren, oder?«
Darüber hatte Max sich schon den Kopf zerbrochen. Musste, konnte er weiterhin mit Arne zusammen arbeiten? Wie sollte das gehen?
»Denkst du, er bleibt dort?«, fragte Max leise.
»Keine Ahnung. Aber ich habe dir ja etwas versprochen.«
»Hm? Was meinst du?«
»Wenn er dir das Herz bricht, schmeiße ich ihn raus.« Karl räusperte sich.
Es war ihm anzusehen, wie unwohl er sich mit dem Gedanken fühlte. Immerhin hatte Arne sich eigentlich nichts Schlimmes zuschulden kommen lassen. Hätte er Max betrogen oder angelogen, wäre das etwas anderes gewesen. Aber so?
»Bitte nicht«, sagte Max und schlang die Arme um seinen eigenen Körper. »Wenn er kündigt, okay. Aber wir können nicht … das … das geht nicht.«
Karl nickte langsam. »Ehrlich gesagt hätte ich auch ein ziemlich schlechtes Gewissen ihm gegenüber gehabt. Andererseits … wie soll das mit euch funktionieren? Selbst wenn Arne den Empfang übernimmt und Kira in den Behandlungszimmern hilft, wirst du ihm zwanzig Mal am Tag über den Weg laufen. Mindestens.«
»Ich muss mich eben zusammenreißen«, erwiderte Max, der sich offen gestanden wunderte, dass er den heutigen Tag bislang überhaupt überstanden hatte.
Jetzt war erst einmal Mittagspause. Aber entspannen konnte er trotzdem nicht. Das Problem war nicht die Arbeit, sondern dass er in seinem eigenen Kopf gefangen war, der ununterbrochen Gedanken an Arne produzierte.
Und dann erst sein Herz. Max hätte nie geglaubt, dass ein gebrochenes Herz nicht nur seelisch, sondern auch körperlich wehtun konnte. Nach der Trennung von Lars war es ihm beschissen gegangen. Aber nicht so. Wie jetzt hatte er sich überhaupt noch nie gefühlt.
Er sehnte sich so sehr nach Arne. Nach dem Mann, von dem er sich ab sofort fernhalten musste, ob er es wollte oder nicht.
Max wusste ja selbst, dass sein Verhalten vollkommen irrational war. Arne hatte vor Jahren jemanden betrogen. Na und? Das hatte mit ihm, Max, nichts zu tun.
Aber irgendwie hatte es das doch. Er hatte seine Vergangenheit hinter sich lassen wollen. Larsʼ Lügen und Manipulationen, das bange Warten, Hoffen und Angsthaben.
Mit Arne war es anders gewesen. Bei ihm hatte Max sich sicher gefühlt. Warm. Gut aufgehoben. Bis alles über ihm zusammengestürzt war.
Natürlich hatte er darüber nachgedacht, ob es nicht doch eine Möglichkeit gab. Ob er Arne nicht einfach anrufen und fragen sollte, ob sie das alles vergessen konnten.
Aber er würde es nicht vergessen können, selbst wenn Arne jetzt überhaupt noch mit ihm zusammen sein wollte. Jedes Mal, wenn sie sich verabschiedeten – und sei es nur für fünf Minuten –, würde Max sich Arne mit einem anderen Mann vorstellen.
Ja, Menschen konnten sich ändern. Aber hieß es nicht immer, dass Bad Boys nur in Romanen und kitschigen Filmen plötzlich zahm wurden?
Ab wann war man ein Bad Boy? Reichte ein One-Night-Stand, gar ein Kuss mit einem Mann, der nicht der Freund war? Oder musste es eine Affäre sein? Wie lange hatte die zu dauern? Einen Monat, zwei? Ein halbes Jahr?
Arne war kein Bad Boy. Ja, er hatte so etwas Verwegenes an sich, das Max zugegebenermaßen sehr gut gefallen hatte. Aber bad war er doch deshalb nicht. Arne war der liebste, netteste, süßeste … Fremdgeher, erinnerte Max diese fiese kleine Stimme in seinem Kopf, die einfach nicht die Klappe halten wollte.
Wer einmal fremdgeht, geht noch mal fremd. Und noch mal. Und noch mal. Und noch …
»Halt die Klappe!«
Karl runzelte die Stirn. »Ich habe doch gar nichts gesagt.«
Max räusperte sich. »Ich meinte … äh … die Stimme in meinem Kopf.«
»Möchtest du dich vielleicht kurz hinlegen?«
***
Arne zog die Beine aufs Bett und stellte den Laptop auf seine Oberschenkel.
Das Polsterbett in Pias und Diegos Gästezimmer war so ziemlich das gemütlichste, in dem Arne je geschlafen hatte. Doch lieber hätte er eine Nacht mit Max auf dem harten Praxisboden verbracht als ohne ihn hier.
So würde es jetzt bleiben. Ab sofort würde er jede Nacht ohne Max verbringen. Oder vielmehr: allein. Denn niemand konnte Max ersetzen. Wie sollte Arne sich je für einen anderen Mann interessieren, nachdem er die große Liebe gefunden und wieder verloren hatte?
Auf dem Bildschirm tauchte Kira auf, die Haare in ein Handtuch gewickelt, eine grüne Gesichtsmaske auf der Haut.
»Ich hoffe, du hast einen verdammt guten Grund dafür, dass du einfach abgehauen bist«, sagte sie statt einer Begrüßung und sah mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm ihres PCs. »Mann, siehst du scheiße aus.«
»Ich freue mich auch, dich zu sehen.«
Sie wedelte mit der Hand durch die Luft. »War euer Zoff wegen Thies so schlimm?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir haben uns nicht einmal wirklich gestritten.«
»Ach so. Na, dann ist ja alles bestens. Ich frage mich nur, weshalb du dann auf Fuerteventura sitzt und aussiehst wie ein Zombie, während Max mit verheulten Augen und solchen Augenringen durch die Praxis geistert, als hätte er auch noch den letzten Rest seines Orientierungssinns verloren.«
Arne räusperte sich. »Er hat mit mir Schluss gemacht.«
Kira blinzelte ein paarmal. »Äh …«
»Und er hat natürlich vollkommen recht.«
»Ach ja?«
»Ja. Nach allem, was er mit Lars erlebt hat, wollte er jemanden, auf den er sich verlassen kann.«
»Und auf dich kann er sich nicht verlassen?«
»Doch, selbstverständlich kann er das. Aber das glaubt er mir nicht. Wieso sollte er auch? Sein Ex hat ihn jahrelang belogen. Welche Veranlassung hat er also, mir zu vertrauen?«
»Welche Veranlassung hat er, dir nicht zu vertrauen?« Kiras Stimme überschlug sich. »Du bist nicht Lars. Du hast nichts falsch gemacht. Er kann ja nicht alle Männer unter Generalverdacht stellen, er ist doch selbst einer.«
»Gonne hat ihm von Thies erzählt.«
Sie zuckte mit den Schultern. »War doch klar. Aber ich finde schon traurig, dass er ihm mehr glaubt als dir.«
Er runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Na, du wirst Gonne ja wohl nicht in jedem Punkt rechtgegeben haben.«
»Doch.«
Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und fragte schließlich: »Warum hast du nicht gelogen? Er hätte dir geglaubt. Er hätte dir alles geglaubt.«
»Ich weiß. Eben deshalb habe ich nicht gelogen.«
Sie stieß die Luft aus. »Du bist ein Idiot!«
»Ich hätte unsere Beziehung doch nicht auf einer Lüge aufbau…«
»Was denn für eine Lüge? Du hast vor zig Jahren Scheiße gebaut. Das hat mit Max und dir nichts zu tun. Du hättest es zumindest beschönigen können. Ich meine, dass du Thies ein halbes Jahr lang etwas vorgemacht hast, war ja wirklich keine Glanzleistung.«
»Das weiß ich.«
Kira stützte das Kinn in die Hände. »Weiß Max auch, weshalb du so lange gewartet hast, ehe du Thies reinen Wein eingeschenkt hast?«
»Er weiß sogar, dass Thies sich selbst reinen Wein eingeschenkt hat, weil ich noch weiter warten wollte.«
»Oh, Arne. Und jetzt?«
»Wie geht es ihm?«, fragte er.
»Nicht sonderlich toll, fürchte ich.«
»Sieht er wirklich so schlimm aus, wie du eben gesagt hast?«
»Da du ja so ein Wahrheitsverfechter bist, werde ich jetzt auch nichts beschönigen. Weißt du noch, wie schlimm er aussah und wie beschissen es ihm ging, als er in der Praxis angefangen hat?«
Arne nickte stumm.
»Gegen das, was jetzt Sache ist, war das ein hohler Schiss.«
Er ließ den Kopf gegen das Polster sinken. »Scheiße.«
»Wenn du gelogen hättest, ginge es ihm jetzt besser.«
»Hör auf, Kira.«
»Ist doch so. Du hättest euch beiden Kummer erspart.«
»Wenn ich möchte, dass Max mir vertraut, muss ich ihm die Wahrheit sagen.«
»Hast du den Eindruck, dass er dir jetzt vertraut?«
»Wenigstens weiß er, dass ich nicht gelogen habe.«
»Ja, das ist sicher ein richtiger Trost für ihn.«
»Du musst mich doch verstehen. Wie soll ich ihm etwas vormachen?«
Er fühlte sich dreckig. Zu wissen, dass er Max so unglücklich gemacht hatte, war jedoch noch zigmal schlimmer.
Er hatte ja befürchtet, dass es Max schlecht ging. Aber so extrem, wie Kira es schilderte, hatte er es sich nicht vorgestellt.
Immerhin waren sie längst nicht so lange zusammen gewesen wie Max und dessen Ex. Bedeutete das, dass ihre Beziehung Max mehr bedeutet hatte als die Affäre mit Lars? Schon nach dieser kurzen Zeit? Wäre sein Herz nicht schon gestern Abend in tausend Stücke zersplittert, wäre das sicherlich jetzt passiert.
»Du hast ja recht«, sagte Kira. »Ich finde einfach schrecklich, dass du jetzt so leidest. Und Max tut mir auch leid.«
»Mir auch«, murmelte Arne und massierte seine Nasenwurzel.
Hätte er das alles verhindern können, wenn er Max von Anfang an alles erzählt hätte? Ehrlich gesagt hatte er darüber vorher kaum nachgedacht. In Frederstadt wurde ständig so viel über die neuesten Entwicklungen geklatscht, dass sich außer Gonne Willert vermutlich kaum noch jemand überhaupt an die alte Geschichte erinnerte.
Schließlich gab es immer neue Gesprächsthemen. Und Arne dachte wirklich nur noch sehr selten an Thies und den Fehler, den er damals begangen hatte. Seine Liebe zu Max hatte alles andere verdrängt.
Zugegeben, er hatte auch seine Befürchtungen gehabt, was Maxʼ Reaktion anging. Doch irgendwie hätten sie das schon hinbekommen, davon war er überzeugt. Er hätte nur gleich zu Beginn alle Karten auf den Tisch legen sollen.
Noch ein Fehler also. Aber war es gerecht, dass Max für diese zwei Fehler bestraft wurde, die Arne begangen hatte?
»Wann kommst du wieder?«, fragte Kira.
Er schluckte trocken. »Ich weiß es nicht.«
»Du weißt nicht, wann oder …« Sie verstummte.
»Ich weiß gar nichts.«
Kira sog scharf die Luft ein. »Du denkst also darüber nach, bei deiner Mutter zu arbeiten?«
»Ich spreche passabel Spanisch und in der Praxis sind viele deutsche Touris und Expats mit ihren Tieren.«
Kira biss sich auf die Unterlippe. »Verstehe. Und was ist mit Käpt’n?«
»Wenn ich wirklich hier bleibe, hole ich ihn natürlich nach. Ich miete mir ein Auto und gucke, dass ich so mit ihm herkomme. Auf keinen Fall lasse ich ihn zurück und fliegen kommt nicht in Frage.«
»Käpt’n lässt du nicht zurück, mich aber schon? Und Max, wo wir schon mal dabei sind?«
Arne versuchte sich an einem Lächeln. »Du kannst gern ebenfalls herkommen. Auf der anderen Seite der Insel gibt es eine Tierärztin, mit der meine Mutter befreundet ist. Sie sucht auch noch jemanden.«
Kira seufzte leise. »Ach, das wäre schön. Aber es geht ja doch nicht. Mein Mann, meine Familie, meine Freundinnen und anderen Freunde sind alle hier. Ich arbeite auch gern in der Praxis.«
»Verstehe ich.«
»Was ist mit Max?«
»Hattest du den Eindruck, dass er gern weiterhin mit mir zusammenarbeiten würde?«
Kira zögerte. »Ich glaube, ihm wäre es am liebsten, wenn ihr den gestrigen Abend einfach ungeschehen machen könntet.«
»So geht es mir auch. Aber du bist meiner Frage ausgewichen.«
Sie zog eine Grimasse. »Du fehlst ihm. Auf jeden Fall. Aber …«
Er nickte. »Okay.«
Selbst wenn sie nicht mehr zusammen sein konnten – hätte Max sich Arne als Mitarbeiter gewünscht, dann hätte er darüber nachgedacht. Doch vermutlich ging es Max genau wie ihm. Er hätte Arnes Gegenwart nicht ertragen können. Also musste Arne ihm das ersparen.
»Ich werde jetzt erst mal hier bleiben. Zwei oder drei Wochen. Dann sehen wir weiter«, sagte Arne, wohlwissend, dass in zwei oder drei Wochen nichts anders wäre als heute.
»Max?«, klang es dumpf an Maxʼ Ohr. »Max? Maximilian!«
Er zuckte zusammen und sah von der Tischplatte auf. »Hm? Was ist los?«
Karl stand mit verschränkten Armen vor ihm im Pausenraum und sah ihn besorgt an. »Alles okay? Ich rede seit ein paar Minuten mit dir und du reagierst einfach nicht.«
Max blinzelte ein paarmal und räusperte sich. »Sorry, ich war in Gedanken.«
Seufzend nahm Karl ihm gegenüber Platz und legte seine Hand auf die von Max. »Willst du drüber reden?«
Stumm schüttelte Max den Kopf. Was würde das bringen? Er hatte doch ohnehin nichts Neues zu sagen. In den letzten zwei Wochen hatte sich rein gar nichts verändert. Abgesehen davon vielleicht, dass Arnes Abwesenheit Max jeden Tag noch mehr schmerzte.
»Meinst du, ich habe einen Fehler gemacht?« Max sah sich überrascht um.
Hatte er das gerade gefragt? Wo war das denn hergekommen? Er hatte an Arne gedacht, an ihren Abend in dem indischen Restaurant. Aber er hatte nicht darüber nachgegrübelt, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Natürlich hatte er das Richtige getan. Er wollte nicht zurück dorthin, wo er mit Lars gewesen war.
Doch war das mit Arne überhaupt möglich? Er kannte Arne, ziemlich gut jedenfalls. Wenn jemand nicht wie Lars war, dann Arne. Bedeutete das … mit einem Mal bekam Max schlecht Luft.
Karl räusperte sich. »Tja, das … also, das ist von meiner Seite aus schwierig zu beurteilen, weißt du?«
»Also ja«, schloss Max tonlos.
Karl lächelte traurig. »Ich kann dich verstehen, Max. An deiner Stelle hätte ich bestimmt genauso reagiert.«
Funny kam ins Zimmer getrapst und legte den Kopf auf Maxʼ Knie, der ihn daraufhin hinter den Ohren kraulte. »Aber du findest es falsch.«
»Ich glaube, bei so etwas gibt es kein Richtig oder Falsch.«
»Hast du etwas über ihn gehört? Irgendetwas?«
Natürlich wurde im Ort endlos viel getratscht. Max hätte ganz einfach selbst etwas in Erfahrung bringen können. Doch Gespräche über Arne traute er sich einfach noch nicht zu. Er bemerkte die fragenden, neugierigen Blicke und behauptete jedes Mal, wenn ihn jemand drauf ansprach, dass Arne vorübergehend in der Praxis seiner Mutter aushalf.
»Ralf hat wohl gehört, dass Arne darüber nachdenkt, auf Fuerteventura zu bleiben und in der Praxis seiner Mutter zu arbeiten.«
»Für wie lange denn?«
Karl presste die Lippen aufeinander und sah Max betreten an.
»Für … nein, du meinst … für immer?« Maxʼ Stimme brach.
Dabei war das doch eigentlich ideal. Er musste nicht mehr mit Arne zusammenarbeiten und Arne hatte trotzdem einen Job. Warum also fühlte es sich gerade so an, als würde ihm schon zum zweiten Mal in diesem Monat das Herz aus der Brust gerissen?
Max sprang auf und taumelte, stützte sich an der Tischkante ab.
Sofort war Karl bei ihm, legte ihm den Arm um die Taille. »Geht’s?«
»Er will auf Fuerteventura bleiben? Für immer?«
»Es ist wohl möglich, ja. Keine Ahnung, wer Ralf das erzählt hat und ob es stimmt.«
»Oh, ich möchte die traute Zweisamkeit nicht stören.« Kira, die anscheinend gerade hatte hereinkommen wollen, blieb im Türrahmen stehen.
»Komm ruhig rein«, sagte Karl.
»Mir war schwindlig«, erklärte Max. »Wir haben nicht … das … Karl hat nur …« Er verstummte.
Er war Kira keine Rechenschaft schuldig. Aber was, wenn Kira Arne erzählte, dass sie Max und Karl in trauter Zweisamkeit ertappt hatte?
Machte das überhaupt noch einen Unterschied? Max hatte sich doch gegen eine Beziehung mit Arne entschieden. Warum also war ihm so wichtig, was Arne dachte?
»Schon gut.« Kira wirkte in letzter Zeit ein wenig matt. Seit Arne weg war, um genau zu sein.
Max atmete einmal tief durch. »Du hast doch Kontakt mit Arne, oder?«
Karl und Kira schauten ihn überrascht an.
»Ja«, erwidere sie knapp, nahm einen Teebeutel aus einem Hängeschrank und schaltete den kleinen Wasserkocher ein.
»Wenn Jonte und Ralf wüssten, dass wir hier Tee aus dem Supermarkt trinken«, scherzte Karl.
Max lächelte gezwungen. »Wie geht es ihm?«
Kira hängte den Teebeutel in einen Becher und drehte sich zu ihm um. »Wem? Jonte oder Ralf?«
»Arne.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Weshalb fragst du mich das?«
»Weil ich es wissen möchte.«
»Sorry, aber ich möchte nicht mit dir darüber reden.«
Max schluckte. »Ich möchte doch einfach nur wissen, wie …«
»Pass mal auf, Max. Du hast ein Recht auf deine eigenen Entscheidungen. Die gehen mich auch überhaupt nichts an. Du bist ein guter Chef und ich arbeite gern für euch. Aber wie du dich Arne gegenüber verhalten hast, darüber bin ich echt sauer. Ich möchte gern weiterhin gut mit dir zusammenarbeiten können. Daher lassen wir das Thema besser, okay?«
Max fuhr sich durch die Haare. »Okay.«
Karl legte ihm die Hand auf die Schultern. »Würdest du uns bitte noch kurz allein lassen, Kira? Ich schütte deinen Tee auf und bringe ihn dir gleich nach vorn, ja?«
Kira atmete einmal tief durch. »Danke. Tut mir leid. Ich bin ein bisschen … das mit Arne geht mir sehr nahe. Er ist mein bester Freund. Sein Glück bedeutet mir viel.«
»Mir auch, Kira. Das musst du mir glauben«, sagte Max leise.
»Ich weiß. Das ist ja das Traurige daran«, erwiderte sie und verließ den Pausenraum.
***
Als Arne ein Klopfen an der Tür hörte, klickte er schnell Maxʼ Profilbild weg und steckte sein Handy in die Tasche seiner Shorts.
»Ja?«, sagte er und sah sich im Gästezimmer um, in dem er die letzten zwei Wochen verbracht hatte.
Ein Großteil seiner Sachen blieb hier. Er nahm nur einen Rucksack mit dem Nötigsten mit: Portemonnaie, Handy, Tablet, Ladekabel und so weiter. Schließlich hatte er nicht vor, lange in Frederstadt zu bleiben.
Die Tür quietschte leise, als Pia sie öffnete. »Kann ich irgendwie helfen?«
»Nein, danke. Ich habe alles gepackt. Ist ja nicht so viel.«
Seufzend lehnte seine Mutter sich gegen den Türrahmen. »Versteh mich bitte nicht falsch.«
Er setzte sich aufs Bett und sah sie abwartend an.
»Aber bist du dir sicher, dass das die richtige Entscheidung ist?«
»Was meinst du?«, fragte Arne, um Zeit zu gewinnen.
Das Problem war: Er wusste es selbst nicht. Er hatte keine Ahnung mehr, was richtig war. Er wusste bloß, was falsch war. Was nicht in Frage kam: nach Frederstadt zurückzukehren und sein Leben dort wieder aufzunehmen.
Nie zuvor hatte er ernsthaft in Betracht gezogen, Frederstadt dauerhaft zu verlassen. Nun bereitete ihm schon der Gedanke, auch nur für kurze Zeit dorthin zurückzukehren, Bauchschmerzen – und zwar wirklich echte Bauchschmerzen, nicht nur metaphorische.
Pia zuppelte an ihrem khakifarbenen Leinenkleid herum. »Ich weiß, dass es mir nicht zusteht, mich in dein Leben einzumischen. Aber ich glaube, dass du dabei bist, einen Fehler zu begehen.«
»Das wäre ja nichts Neues. Fehler zu begehen scheint meine größte Stärke zu sein.«
Mit einem traurigen Lächeln nahm Pia neben ihm auf der Bettkante Platz und streichelte ihm über die Wange. »Jeder macht Fehler, Arne. Sogar dein Max.«
Er schüttelte den Kopf. »Max hat sich nichts vorzuwerfen. Er hat …«
»… eine Affäre mit einem verheirateten Mann gehabt.«
»Als sie sich kennengelernt haben, wusste er nicht, dass Lars verheiratet ist.«
Pia hob die Hände. »Ich sage doch nicht, dass ich ihn verurteile. Wie gesagt, jeder Mensch macht Fehler. Aber du darfst dich deshalb nicht selbst zerfleischen. Was glaubst du, wie viele Menschen in ihrem Leben schon mal fremdgegangen sind, hm? Sind das jetzt alles Schwerverbrecher, die an den Galgen gehören? Nein. Also trifft das auch auf dich nicht zu.«
Arne krächzte: »Ich gehöre aber dafür an den Galgen, dass ich Max unglücklich gemacht habe.«
Pia rieb mit den Fingerspitzen über ihre Stirn. »Kann es sein, dass er da auch einen Anteil dran hatte? Schließlich hat er eure Beziehung wegen etwas beendet, das ihn gar nicht betrifft.«
»Mom, was soll das? Du weißt doch genau …«
»Ich bin nicht hergekommen, um mit dir zu streiten. Ich wollte nur fragen, ob du dir wirklich sicher bist. Das ist alles.«
Arne betrachtete den Holzfußboden. »Ich kann nicht nach Frederstadt zurück. Jetzt gerade wäre es mir noch lieber, nach Australien zu gehen. So weit weg, wie es geht. Aber Fuerte ist ja auch schon mal etwas.«
»So ein Umzug ist ein großer Schritt. So etwas darf man nicht überstürzen.«
»Ich weiß. Aber in Frederstadt gibt es für mich keinen Platz mehr.«
Sie legte ihm den Arm um die Schultern. »Bist du dir da ganz sicher? Dort sind auch Aiko, Kira, deine anderen Freundinnen, Freunde, Bekannten, dein Job, dein Zuhause …«
»Es war auch dein Zuhause und du bist jetzt hier.«
»Darüber habe ich drei Jahre lang nachgedacht. Du hattest nicht mal drei Wochen.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich erzähle Dad und Kira von meiner Entscheidung, hole Käpt’n und dann fange ich hier neu an«, sagte er wie ferngesteuert.
Es war ja nicht so, dass er das wollte. Es war einfach nur die einzige Wahl, die ihm blieb.
»Wirst du denn die Ostsee nicht vermissen?«
»Nicht so sehr wie ich Max vermisse.«
»Deinen Garten?«
»Nicht so sehr wie Max.«
»Und was ist mit Max?«
Er stieß die Luft aus. »In Frederstadt würde ich ihn noch mehr vermissen als hier. Wenn das überhaupt möglich ist.«
Pia streichelte ihm über den Rücken. »Hast du dir schon überlegt, wie du es mit der Wohnung machst?«
»Ja, ich kündige sie. Kira hat einen Schlüssel, den kann sie meiner Vermieterin für Besichtigungen geben. Ich habe ja eine Kündigungsfrist. In der Zeit muss ich noch mal hin und mich um meine Sachen kümmern. Die Möbel lasse ich größtenteils da. Vielleicht möchte die neue Mieterin oder der neue Mieter etwas übernehmen.«
Pia nickte langsam. »Okay. Und du glaubst wirklich, dass du hier glücklich wirst?«
Nein. Arne glaube nicht, dass er überhaupt jemals noch einmal glücklich werden würde.
»Man sollte meinen, du willst mich loswerden.«
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Das ist das letzte, was ich will. Soll ich dir mal etwas verraten? Als ich dich in Frederstadt bei Aiko zurückgelassen hatte, habe ich fast ein Jahr lang nur geheult. So schwer ist mir das gefallen. Aber mein Platz war hier, bei Diego, auf dieser Insel. Ich wusste, dass ich auf Dauer sowieso nicht in Frederstadt glücklich werden würde. Nicht nachdem ich hier mein Paradies gefunden hatte. Mein größter Wunsch war immer, dass du deinem Paradies leben kannst. Denn Frederstadt ist dir mehr Heimat als es mir jemals hätte sein können. Du gehörst dorthin. Ich möchte einfach nicht, dass du es irgendwann bereust, wenn du jetzt hierher ziehst.«
Arne zwang sich, einmal tief durchzuatmen. Seine Mutter war gut darin, seine eigenen Gefühle auszusprechen. Nicht einmal in Gedanken hätte er all das so formulieren können – es traf zu hundert Prozent zu.
»Du hast die Rechnung ohne Max gemacht«, erwiderte er matt.
»Eine zerbrochene Liebe ist schlimm. Aber davor wegzulaufen, bringt dich nicht weiter.«
Arne zuckte mit den Schultern. »Notfalls kann ich ja irgendwann wieder zurückgehen.«
»Das ist nicht so einfach. Du wirst nie mehr das Frederstadt wiederfinden, das du jetzt verlässt, wenn du ihm einmal den Rücken gekehrt hast.«
»Ich kann ohne Max nicht leben und er nicht mit mir. Was soll ich noch in Frederstadt?« Arne erhob sich und schulterte seinen Rucksack. »Ich würde dann jetzt gern auf dein Angebot von gestern zurückkommen, mich zum Flughafen zu fahren.«
***
Max schloss für einen Moment die Augen und zwang sich, tief durchzuatmen.
Er lehnte sich an die Stallwand und sah in den Abendhimmel, über den ein kräftiger Wind kleine Wölkchen jagte.
Es war ein Fehler gewesen, herzukommen. Was sollte er schon erreichen? Wenn Kira ihm nicht helfen wollte, dann erst recht nicht Arnes Vater.
Was konnte das auch bringen? An den Tatsachen hatte sich nichts geändert. Max konnte nicht mit Arne zusammen sein. Weshalb also war er so erpicht darauf, zu erfahren, was Arne vorhatte? Ob er wirklich auf Fuerteventura bleiben wollte?
Seit den Gesprächen mit Kira und Karl heute Vormittag waren die Stunden wie in einem Nebel an Max vorbeigezogen. Ohnehin war es ein komischer Tag gewesen. Kira war schlecht drauf gewesen und hatte sich am frühen Nachmittag auch noch für eine Stunde verabschiedet. Irgendetwas Privates, hatte sie gesagt. Vielleicht hatte sie Streit mit ihrem Mann?
So oder so. Nun war Max also hier. Nicht einmal Karl hatte er davon erzählt. Schließlich war das hier eine total bescheuerte Idee.
Max stieß sich mit dem Fuß von der Wand ab. Sollte er nach Hause gehen? Das wäre sicher besser.
Statt zu tun, was er selbst sinnvoll fand, hielt er auf den Eingang zum Pferdestall zu.
Sie waren eine Kleintierpraxis und behandelten keine Pferde. Deshalb war Max noch nie hier gewesen. In der Nachbarstadt gab es einen Kollegen, der sich auch um die Frederstädter Pferde kümmerte.
Arne hatte Max mal erzählt, dass Käpt’n einen Platz in der Sattelkammer gehabt hatte, als sein Vater noch auf ihn aufgepasst hatte. Also hielt Max auf die Tür zu, über der Sattelkammer stand, und spinstete hinein. Kein Käpt’n.
»Moin. Kann man helfen?«
Ertappt fuhr Max herum und sah geradewegs in das Gesicht von Arnes Vater. »Moin Herr Thomsen.«
Herr Thomsen zog die Augenbrauen hoch. »Das ist ja ʼne bannige Überraschung.«
Max räusperte sich. »Ja, ich … ich dachte, ich schaue mal vorbei.«
»In der Sattelkammer?«
»Bei Käpt’n.«
Herr Thomsen schnaubte. »Tja, Käpt’n ist offensichtlich nicht hier, nech?« Er ging an Max vorbei in die Sattelkammer und blieb vor der Wand mit den Sätteln stehen. »Ist sonst noch was?«
»Ich …« Max straffte die Schultern. »Ich wollte Sie fragen, wo Arne ist.«
Herr Thomsen drehte sich nicht zu ihm um. »Wenn er Ihnen das nicht gesagt hat, will er offensichtlich nicht, dass Sie das wissen.«
»Ja, ich … das …«
Reiß dich zusammen, schalt Max sich selbst.
»Ich weiß. Das kann ich auch verstehen. Aber ich muss mit ihm reden. Bitte, Herr Thomsen.«
Arnes Vater steckte die Hände in die Hosentaschen. »Tja, so ist das manchmal, nech? Da merkt man erst, was man will, wenn es zu spät ist.«
»War das bei Ihnen mit Ihrer Frau auch so?«
Herr Thomsen fuhr herum und sah Max aufgebracht an. »Ich rede über Sie, nicht über mich.«
»Ich kann verstehen, dass Sie sauer auf mich sind.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben meinem Jung das Herz gebrochen. Darüber bin ich nicht einfach nur sauer.«
Max räusperte sich. »Er ist doch auf Fuerteventura, oder? Wo kann ich ihn denn da finden? Ich weiß nicht, wie seine Mutter mit Nachnamen heißt. Eine Tierärztin namens Thomsen gibt es da nicht, ich habe nachgeschaut.«
»Nee.«
»Bitte, Herr Thomsen. Ich …«
»Er ist nicht auf Fuerteventura.«
»Nicht?«
»Nee.«
Max spürte seinen Herzschlag im ganzen Körper. »Wo ist er denn dann?«
»Falls er möchte, wird er es Sie sicher wissen lassen.«
»Ich habe Scheiße gebaut.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Verdammt, Herr Thomsen, hatten Sie noch nie Angst?«
Arnes Vater sah ihn verdutzt an. »Angst?«, wiederholte er.
»Ja, Angst. Sie wissen schon, dieses Gefühl, wenn man glaubt, keine Luft mehr zu kriegen. Das sich wie eine riesige Faust um Ihren Körper legt und das Leben aus Ihnen herauspresst. Von dem Sie denken, dass Sie es einfach nicht mehr ertragen können.«
»Wenn Sie mir jetzt auch noch weismachen wollen, dass Sie Angst vor Arne haben …«
»Ich hatte Angst, ihn zu verlieren. Dass er mich verlässt. Dass er merkt, dass ich nicht gut genug für ihn bin. Und bescheuert, wie ich nun einmal bin, habe ich dann genau das selbst herbeigeführt. Ich habe Arne verloren und ich weiß, dass es meine Schuld ist. Aber ich bin wirklich gestraft genug damit, dass Arne nicht bei mir ist und ich weiß, dass es an mir liegt. Also hören Sie bitte auf, mich wie ein Stück Scheiße zu behandeln. Ich verstehe, dass Sie schlecht auf mich zu sprechen sind. Das bin ich selbst auch. Es war nie mein Wunsch, Arne unglücklich zu machen. Aber wenn er mich wirklich so geliebt hat, dann gibt er mir vielleicht noch mal eine Chance. Also wäre es wirklich nett von Ihnen, wenn Sie mir sagen, wo ich ihn finden kann.«
Max blinzelte. Hatte er das gerade alles gesagt? Wo hatte er das denn auf einmal hergenommen?
Zugegeben, wirklich überrascht war er nicht. Weshalb sonst hätte sein Unterbewusstsein ihn dazu drängen sollen, herzukommen? Natürlich wollte er Arne zurück. Auch wenn die Chancen darauf verdammt schlecht standen.
Herr Thomsen rieb sich über den Nacken. »Haben Sie mal versucht, ihn anzurufen?«
»Nein. Was ich Arne sagen will, geht nur persönlich. Was ist nun? Wissen Sie, wo er ist? Sagen Sie es mir?«
»Ich habe eine Ahnung, wo er sein könnte. Allerdings weiß ich nicht, ob ich Ihnen das sagen sollte. Wenn ich das nächste Mal mit ihm rede, bitte ich ihn, Sie zu kontaktieren.«
Max fühlte sich wie ein Ballon, aus dem jemand die Luft gelassen hatte. »Okay«, murmelte er.
Herr Thomsen klopfte ihm auf die Schulter. »Mutig, was Sie da gerade gesagt haben.«
Max lachte zittrig. »Ja, ich bin ein echter Held.«
»Es gehört einiges dazu, sich seine eigene Angst einzugestehen und dagegen zu handeln.«
»Weitergebracht hat es mich bis jetzt nicht, oder?«
Max war sich sicher, dass Arne sich nicht melden würde. Das hatte er ja bis jetzt auch nicht getan. Welche Veranlassung hatte er dazu? Max hatte ihre Beziehung wegen etwas beendet, das ihn nicht einmal etwas anging. An Arnes Stelle hätte Max vermutlich auch keine Lust mehr gehabt, ihn noch mal wiederzusehen.
Herr Thomsen zuckte mit den Schultern.
»Wie geht es ihm?«, fragte Max.
Arnes Vater räusperte sich. »Geht so.«
»Und wo ist Käpt’n? Bei Arne?«
»Ja.«
»Okay, dann … danke.«
»Nichts zu danken. Ach, Dr. Jacob?«
»Hm?«
»Sie sind doch nicht so scheiße, wie ich dachte.«
Max lächelte traurig. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«
***
Käpt’n legte seinen Kopf auf Arnes Schulter und dieser lehnte seinen Kopf an Käpt’ns. »Wenn du lieber bei mir sitzt, als ins Wasser zu rennen, musst du mich aber schon sehr vermisst haben«, sagte Arne und seufzte. »Es tut mir leid, dass ich so lange weg war. Aber jetzt sind wir wieder zusammen.«
Er nahm ein wenig Sand und ließ ihn durch seine Finger rieseln.
Die Strände Fuerteventuras waren anders als die der Ostsee. Irgendwie … perfekter. Ganz heller Sand, türkisblaues Wasser, wärmere Temperaturen. Doch Arne mochte den etwas rauen Charme seiner Ostsee. Das hier war sein Zuhause.
Seine Mutter hatte recht gehabt. Sie fühlte sich in Fuerteventura angekommen. Mehr als Arne das je können würde. Schließlich hatte sie sich freiwillig dazu entschieden, dorthin zu ziehen. Hätte er die Wahl gehabt, wäre er hier geblieben.
Arne schüttelte über sich selbst den Kopf. Er haderte und haderte, dabei wäre es viel sinnvoller gewesen, wenn er versucht hätte, sich damit abzufinden.
Eigentlich hatte er doch auch großes Glück. Er konnte vorübergehend bei Pia und Diego wohnen, würde sogar bei ihnen arbeiten. Wer konnte schon von sich behaupten, dass er auswandern und sich in der neuen Heimat ins gemachte Nest setzen konnte?
Die Sache war nur: Arne wollte dieses gemachte Nest gar nicht. Er wollte sein Zuhause. Und vor allem wollte er Max.
Er blinzelte ein paarmal und wischte sich mit der Hand durchs Gesicht. Käpt’n sollte nicht mitbekommen, wie traurig Arne war.
Dabei hatte er doch heute wieder gemerkt, was für ein schlechter Schauspieler er war. Er hatte sich mit Kira getroffen, war danach zu seinem Vater gefahren und die beiden hatten sofort gemerkt, wie schwer ihm der Abschied fiel.
Als er am Flughafen angekommen war, hatte er sich einen Mietwagen genommen. Mit dem war er nach Frederstadt gefahren. Er hatte ein wenig Gepäck aus seiner Wohnung mitgenommen, Sommerkleidung und Bücher vor allem, natürlich auch Käpt’ns Sachen: Futter, Kissen, Spielzeug.
Nun war er mit Käpt’n noch an den Strand gefahren. Sie mussten sich schließlich von der Ostsee verabschieden. Arne würde wohl noch das eine oder andere Mal herkommen. Doch ob Käpt’n Frederstadt noch einmal sehen würde? Die Reise von Fuerteventura aus wäre für ihn sehr beschwerlich. Arne würde ihn bei Pia und Diego lassen, wenn er herkam, um alles zu regeln.
»Wir steigen gleich ins Auto und dann fahren wir ganz weit weg«, flüsterte er und legte den Arm um Käpt’n. »So weit, dass wir ein paarmal übernachten müssen. Wir fahren sogar mit dem Auto auf ein Schiff. Und dann wohnen wir bei meiner Mom und ihrem Mann. Erinnerst du dich noch an meine Mom?«
Käpt’n sah Arne nachdenklich an.
»Ich weiß, dass es dir hier gut gefällt. Aber du musst nicht traurig sein. Da, wo wir jetzt bald wohnen, gibt es auch ein Meer.« Arne zog die Nase hoch. »Und es ist fast immer schönes Wetter. Im Winter regnet es ganz selten, aber im Sommer eigentlich nie. Die Temperaturen sind angenehm. Und der Strand ist … naja, er ist sehr schön.« Arne zwang sich zu einem Lächeln, das Käpt’ns Gesichtsausdruck nach zu urteilen nicht sonderlich überzeugend ausfiel.
»Wir fangen noch mal neu an, Käpt’n. Viele Leute wünschen sich das, weißt du? Wir haben großes Glück.«
Vielleicht würde er sich das ja irgendwann selbst glauben.
»Und neue Freunde wirst du dort auch finden. Auf Fuerte gibt es zum Beispiel ganz viele Podencos. Die magst du doch.«
Käpt’n stupste Arnes Wange mit seiner feuchten Nase an.
Arne drückte ihm einen Kuss auf die Lefze und sah noch einmal auf das Meer.
Die Aussicht von ihrem Platz am Hundestrand aus hätte so auch auf eine Postkarte gepasst. Der Himmel war samtblau, ein paar lilaschimmernde Wölkchen wurden von der tiefstehenden Sonne angestrahlt. Das Wasser glitzerte im abendlichen Licht.
Ja, so konnte er die Ostsee in Erinnerung behalten. Arne zog sein Handy aus der Hosentasche und machte ein Foto.
Es zeigte drei verpasste Anrufe von seinem Vater an. Vermutlich wollte er Arne überreden, doch noch hierzubleiben. Vorhin auf dem Reiterhof war ihm das nicht gelungen, aber Aiko gab nicht so leicht auf.
Arne steckte das Handy wieder ein. Es fiel ihm so schon schwer genug, Abschied zu nehmen. Da musste er nicht auch noch seinen Vater davon überzeugen, dass das notwendig war.
»Arne!«
Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Wenn er jetzt schon anfing, sich Maxʼ Stimme einzubilden, wurde es höchste Zeit, dass sie aufbrachen.
Er erhob sich. »Lass uns gehen, ja?«
Der Landseer stand auf und schaute in die Richtung, aus der Arne geglaubt hatte, Max rufen zu hören.
»Arne!«
Schon wieder.
Käpt’n sah sich um.
Bildete Käpt’n sich das etwa auch ein? Oder …
»Arne, warte!«
Arne fuhr herum und sah Max auf sich zulaufen, die Haare windzerzaust, die Wangen gerötet.
»Scheiße«, murmelte Arne.
Er hatte doch gerade beschlossen, aufzubrechen. Wie sollte er jetzt gehen, wenn Max hier war?
Max kam stolpernd vor ihm zum Stehen. Sein Brustkorb hob und senkte sich in schnellem Rhythmus. »Ich habe … ich war bei … deinem Vater«, japste er und stützte sich mit den Händen auf seinen Oberschenkeln ab. »Er wollte mir … nicht sagen … wo du bist, aber … ich dachte, irgendwie … keine Ahnung … ich hatte so ein Gefühl … dass ihr hier sein könntet.«
Arne schluckte. »Nett, dass du dich persönlich von mir verabschieden willst. Dann kann ich dir ja auch gleich meine Kündigung geben. Die hätte ich sonst noch in den Briefkasten geworfen.«
***
»Abgelehnt«, japste Max.
Arne runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
Max ließ sich in den Sand fallen und kraulte Käpt’n, der ihm zur Begrüßung die nasse, sandige Nase ins Gesicht steckte. »Hallo Flauschi.« Max sah zu Arne auf. »Ich nehme deine Kündigung nicht an.«
Arne wich seinem Blick aus und räusperte sich. »Max, ich kann nicht weiter mit dir arbeiten. Das willst du doch sicher selbst nicht.«
»Gib mir fünf Minuten. Bitte. Danach kannst du von mir aus kündigen und nach Fuerteventura gehen.« Max hielt die Luft an.
Würde Arne ihn hier sitzen lassen und gehen? Wer seinen Traummann wegen eines Fehlers verließ, den dieser vor Jahren begangen hatte, durfte eigentlich keine zweite Chance mehr bekommen.
Arne setzte sich Max im Schneidersitz gegenüber, den Blick gesenkt. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, sagte er so leise, dass Max es über das Rauschen des Bluts in seinen Ohren kaum hören konnte.
»Ich liebe dich«, sagte er.
Das war das erste, was ihm in den Kopf kam – und es fühlte sich einfach richtig an, es auszusprechen.
Arne sah ihn an und lächelte unendlich traurig. »Ich liebe dich auch, Max.«
Max streckte die Hand nach Arne aus.
Arne zögerte sichtlich, doch dann nahm er Maxʼ Hand in seine. »Ich glaube, ich schaffe das nicht.«
»Was schaffst du nicht?«
Arne schluckte hörbar. »Dieses Gespräch. Ich … ich will dich nicht hier zurücklassen, Max. Aber wenn wir keine gemeinsame Zukunft haben, kann ich auch nicht bleiben. Lass es uns einander doch nicht schwerer machen, als es schon ist.«
»Mal angenommen, ich würde dir jetzt sagen, dass ich mich wie ein Vollidiot verhalten habe. Ich würde mich entschuldigen. Und ich würde dich bitten, mir noch eine Chance zu geben. Uns noch eine Chance zu geben. Was würdest du dann sagen?«
Bunte Punkte tanzten am Rand von Maxʼ Gesichtsfeld. Die Lauferei durch den Sand, die Tatsache, dass er seit dem Aufstehen gerade mal ein halbes Käsebrötchen gegessen hatte, und die Aufregung – all das zusammen ergab keinen sonderlich gesunden Cocktail. Doch sein Befinden war ihm jetzt gerade völlig egal. Nur bewusstlos werden durfte er nicht, jedenfalls nicht solange Arne ihm noch keine Antwort gegeben hatte.
»Ich würde dir sagen, dass ich dir immer eine zweite Chance geben würde. Oder eine dritte. Eine vierte. Eine siebentausendste.«
»Ich habe mich wie ein Vollidiot verhalten. Es tut mir unendlich leid. Bitte verzeih mir. Gib mir noch eine Chance, Arne. Nur eine einzige. Mehr brauche ich nicht. Ich werde dich nämlich nie wieder gehen lassen. Oder Scheiße bauen. Oder … egal was. Ich werde mein Bestes geben, um dich glücklich zu machen.«
Arne blinzelte ein paarmal und sah ihn ungläubig an. »Was?«
Max lachte atemlos. »Bitte sag mir, was du darüber denkst.«
»Ich …« Arne stieß die Luft aus. »Bist du dir sicher?«
»Ja.« Max sah ihn forschend an. »Willst du mich doch nicht mehr?«
»Natürlich will ich noch mit dir zusammen sein. Aber ich dachte, du vertraust mir nicht mehr. Das kann ich ja verstehen. Doch wie soll so eine Beziehung funktionieren?«
»Ich vertraue dir, Arne. Mehr als jedem anderen.«
»Aber … was ist mit Thies und Ilian und …«
»Das ist Vergangenheit. Deine Vergangenheit. Mit der habe ich nichts zu tun. Genauso wenig wie du etwas mit Lars zu tun hast. Wir haben beide Dinge getan, auf die wir heute nicht stolz sind. Aber wir sind nicht mehr die Menschen, die wir damals waren. Ich würde nie mehr etwas mit einem gebundenen Mann anfangen und du würdest nie mehr fremdgehen. Wenn du mir vertrauen kannst, dann kann ich auch dir vertrauen. Ich weiß, dass ich das viel zu spät erkannt habe. Aber als mir klar wurde, dass ich wirklich drauf und dran bin, dich für immer zu verlieren …« Er schüttelte den Kopf. »So bescheuert das klingt, aber ich hatte trotz unserer Trennung die ganze Zeit das Gefühl, dass … du noch da bist. Nachdem ich mitbekommen hatte, dass du ernsthaft nach Fuerte gehen willst, da … keine Ahnung. Da habe ich erst wirklich erkannt, wie bescheuert ich war. Ich war so unfair zu dir. Es war schließlich nicht deine Schuld, dass ich Angst hatte. Es ist nur … wenn man jemanden liebt wie ich dich, dann hat man … also, ich habe dann Angst, dich zu verlieren.«
Arne legte den Zeigefinger auf Maxʼ Lippen. »Mich wirst du nicht wieder los, mein Engel. Versprochen.«
Max warf sich regelrecht in Arnes Arme, der daraufhin rückwärts in den Sand fiel.
Max landete auf ihm, stützte sich mit der Hand auf Arnes Brust ab. »Aber was ist, wenn du irgendwann mal stirbst?«
»Dann bringe ich dich vorher um.«
Gegen seinen Willen musste Max lachen. »Vielleicht weißt du es ja vorher gar nicht.«
»Okay. Ich verspreche dir, nur bei einem Autounfall zu sterben, der für dich auch tödlich endet.«
»Das kann man doch nicht ver…«
»Max?«
»Ja?«
»Halt die Klappe«, sagte Arne zärtlich, legte seine Hände auf Maxʼ Wangen und drückte ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. »Ich bin zwei Jahre jünger als du. Statistisch gesehen ist es sehr wahrscheinlich, dass du vor mir stirbst.«
»Okay. Das ist gut.«
»Für dich vielleicht. Aber Max, wir sind noch nicht mal dreißig.«
»Ich bin neunundzwanzig. Das ist fast drei…«
»Max!« Arne verlagerte sein Gewicht, sodass Max plötzlich mit dem Rücken im Sand lag.
Arnes Gesicht schwebte wenige Zentimeter über ihm. »Ich liebe dich. Ich will mein Leben mit dir verbringen. Dafür nehme ich sogar das Risiko in Kauf, dich zu verlieren. Weil ich nichts lieber möchte als dich an meiner Seite zu haben.«
Max schlang die Arme um Arnes Nacken. »Das möchte ich auch, Arne. So sehr.«
»Dann lass mich dich lieben.«
»Was, hier? Am Strand?«
Arne lachte und lehnte seine Stirn gegen Maxʼ. »Ich meinte das eher auf der emotionalen Ebene.«
»Schade.«
Arne grinste ihn an. »Die ganze Gefühlsduselei sollte also nur dazu dienen, mich ins Bett zu bekommen?«
»Ich weiß, wie es mit dir im Bett ist. Glaub mir, das ist es wert.«
Arne stupste Maxʼ Nasenspitze mit seiner an. »Wenn das so ist, sollten wir dringend von hier verschwinden, meinst du nicht?«
Max hielt ihn am Kragen seines T-Shirts fest. »Bist du dir sicher, dass du mir verzeihen kannst?«
»Bin ich. Aber ich werde dir bei jedem unserer kommenden Streits vorwerfen, dass du mich verlassen hast.«
»Soll mich das dann dazu bringen, nachzugeben?«
»Klar.«
»Dann möchte ich mir das Ganze lieber noch mal überlegen.«
»Tu das.«
Max zählte innerlich bis drei. »Fertig.«
»Und?«
»Zu dir oder zu mir?«
***
Arne hatte es schon immer genossen, Max anzusehen. Doch jetzt, nachdem er geglaubt hatte, ihm nie wieder so nah zu sein, konnte er den Blick gar nicht mehr von Max abwenden. Folgerichtig stolperte er auf den Treppen zur Wohnung, die Max mit Karl teilte, gleich mehrmals.
Kichernd hielt Max ihn am Arm fest. »Bist du betrunken?«
»Liebestrunken vielleicht«, versetzte Arne.
Max verdrehte die Augen. »Bisschen theatralisch, oder?« Er versuchte, die Tür aufzuschließen, aber seine Hand zitterte.
Arne legte seine Hand auf die von Max und nahm ihm den Schlüssel ab. »Alles okay, mein Engel?«
Max nickte. Er sah so müde aus. »War nur alles ein bisschen viel heute.«
»Jetzt mache ich dir erst mal etwas zu essen«, sagte Arne und schloss die Tür auf.
Käpt’n erklomm die letzte Stufe und sah sie beleidigt an. Treppen waren nicht sein Fall.
»Max?«, ertönte Karls Stimme aus der Wohnung.
»Karl?«, fragte Max überrascht. Er hatte Arne erzählt, dass Karl bei Hauke war.
Arne öffnete die Tür.
»Arne?« Hauke tauchte im Flur hinter Karl auf.
»Hauke.«
Maxʼ Mundwinkel zuckten. »Irgendjemand sollte sich noch über Käpt’ns Anwesenheit wundern, sonst fühlt er sich nachher ausgeschlossen.«
»Käpt’n?«, fragten Karl und Hauke im Chor.
Grinsend zog Arne Käpt’n an dessen Geschirr in die Wohnung und schloss die Tür. »Schön, dann sind wir ja jetzt alle versammelt.«
Karl machte zwei große Schritte auf Max zu und sah ihn forschend an. »Ist alles okay mit dir?«, fragte er und zog ihn in eine Umarmung.
Arne und Hauke wechselten einen halb amüsierten, halb gequälten Blick. Es war ja wirklich albern, auf den besten Freund des Freundes eifersüchtig zu sein. Aber anschauen wollte Arne sich die Umarmung trotzdem nicht.
»Ja, warum denn nicht?«
»Ich versuche die ganze Zeit, dich zu erreichen. Niemand wusste, wo du bist, ich habe schon rumtelefoniert. Ich war kurz davor, die Polizei anzurufen.« Karl ließ ihn los und sah Arne verwirrt an. »Und … äh … Arne. Du bist … hier?«
Max nahm Arnes Hand und verflocht ihre Finger miteinander. »Ja, wir … haben uns zufällig am Strand getroffen.«
Hauke schnaubte und lehnte sich in den Rahmen der Küchentür. »Arne ist also zufällig aus Fuerteventura hierher gekommen, ja?«
»Ich wollte Käpt’n holen.«
»Wie es aussieht, wolltest du auch Max holen. Brennt ihr zusammen durch oder was?«
Arne lachte. »Eigentlich eine gute Idee. Was meinst du?«
Max lächelte. »Aber nicht mehr heute.«
Karl sah zwischen ihnen hin und her. »Kann mir bitte mal jemand erklären, was hier eigentlich los ist?«
»Ich war bei Arnes Vater, um ihn zu fragen, wo er ist.«
Ein Lächeln schlich sich auf Karls Gesicht. »Du hattest Recht, Hauke.«
»Ich habe immer Recht.«
Karl schnaubte.
»Sag mir bitte, dass ihr nicht gewettet habt.« Max versuchte sich an einem empörten Gesichtsausdruck, der an ihm einfach nur zum Anbeißen aussah.
»Würden wir nie tun«, behauptete Hauke.
»Am Anfang war es noch lustig. Aber ich habe mir echt Sorgen gemacht, Max. Du warst so fertig heute und ich dachte, dir ist etwas passiert«, sagte Karl.
»Tut mir leid. Wirklich. Das wollte ich nicht.«
Hauke legte Karl die Hand auf die Schulter. »Ist ja noch mal gut gegangen.«
Karl nickte. »Und du bist jetzt wieder in Frederstadt?«, fragte er an Arne gewandt.
»Eigentlich wollte ich nur kurz ein paar Sachen regeln, mich verabschieden und natürlich Käpt’n holen. Aber dann hat Max Käpt’n und mich am Strand gefunden und …« Er warf seinem Freund einen fragenden Blick zu.
Karl war Maxʼ bester Freund. Es war also auch an Max, ihm zu erzählen, was los war.
»Wir haben uns ausgesprochen und sind wieder zusammen«, ergänzte Max und drückte Arnes Hand.
»Ich möchte ja jetzt nicht darauf herumreiten, dass ich es gleich gesagt habe …«, hob Hauke an.
Karl lachte. »Ich freue mich für euch. Ehrlich.«
»Danke. Wir freuen uns auch«, sagte Max, gefolgt von einem lauten Magenknurren.
»Ich hoffe, ihr habt alles für Pizza da«, sagte Arne.
Hauke straffte die Schultern. »Pizza. Das ist unser Stichwort. Lass uns gehen, Karl.«
Karl runzelte die Stirn. »Gehen?«
»Wir wollten doch Pizza essen gehen.«
»Ihr könnt gern bei uns mitessen«, bot Arne in der Hoffnung an, dass sie ablehnen würden.
»Ach so. Nee. Also, wir haben einen Tisch reserviert.« Karl zwinkerte Max zu. »Komm, Funny.«
Funny kam aus der Küche getrapst und begrüßte Käpt’n mit einem Nasenstupser.
Anschließend trottete Käpt’n in die Küche und warf sich auf Funnys rotkariertes Kissen, das neben dem Esstisch lag.
»Mach’s dir ruhig gemütlich«, scherzte Hauke.
»Dann einen schönen Abend für euch«, sagte Karl grinsend. »Ach, Arne – heißt das, du bleibst in der Praxis?«
»Wenn ihr mich noch wollt.«
»Wir denken drüber nach«, versetzte Karl und drückte Max einen Kuss auf die Wange. »Bis morgen.«
»Bis dann«, erwiderte Max strahlend.
***
»Hmmm, das riecht aber gut«, seufzte Max und stützte das Kinn in die Hände.
Arne ging vor dem Ofen in die Hocke und zog das Blech mit der Pizza heraus.
»Sicher, dass ich dir nicht helfen kann?«
»Bleib sitzen«, erwiderte Arne und warf ihm einen strengen Blick zu, von dem Max nie zugeben würde, dass er ihn ziemlich sexy fand.
Arne schnitt die Pizza in zwei Hälften, gab jede davon auf einen Teller und brachte sie dann an den Esstisch. Einen Teller stellte er vor Max, den anderen an seinen Platz. Dann setzte Arne sich.
»Vielen Dank. Genau das, was ich jetzt gebraucht habe«, sagte Max.
»Ich würde alles für dich tun. Sogar Pizza machen.«
Lachend schnitt Max mit seinem Messer den ersten Bissen ab. »Gut zu wissen. Vielleicht gibt es beim nächsten Mal sogar Dessert.«
»Ja, oder ich keltere noch ein bisschen Wein«, versetzte Arne.
Max lachte und probierte die Pizza. Sie schmeckte einfach perfekt. Aber wenn er ganz ehrlich war, hätte er jetzt so ziemlich alles mit großem Appetit gegessen.
Er schluckte den Bissen hinunter. »Schmeckt sehr lecker.«
»Freut mich.«
Die nächsten Minuten verbrachten sie schweigend damit, die Pizza aufzuessen.
Als Arne sein Besteck auf den Teller legte, war Max bereits fertig.
Käpt’n, der ein bisschen Käse abbekommen hatte, schnarchte laut auf Funnys Kissen.
Arne schnaubte. »Gut, dass Käpt’n für die romantische Hintergrunduntermalung sorgt.«
Max grinste und rutschte auf der Sitzbank näher zu Arne, legte den Kopf auf dessen Schulter.
Arne legte ihm den Arm um die Taille und drückte einen Kuss auf Maxʼ Scheitel. »Wie fühlst du dich, mein Engel?«
»Gut«, murmelte Max und bemühte sich, die Augen offen zu halten.
Arne lachte leise. »Müde?«
»Mhm.«
»Willst du schlafen gehen?«
»Nein. Ich will die ganze Nacht lang mit dir hier sitzen und glücklich sein, dass ich dich wiederhabe.«
Arne streichelte ihm über die Wange. »Ich bin auch glücklich. So glücklich wie jetzt war ich nicht mal, als wir uns zum ersten Mal geküsst haben.«
»Bleibst du auch wirklich hier, Arne?«
»Ja, natürlich. Ich wollte doch eigentlich gar nicht weg von hier.«
»Dann wärest du also nur meinetwegen gegangen?«
Arnes betretenes Schweigen war Max Antwort genug.
»Es tut mir so leid, wirklich. Ich wollte nie …«
»Hey«, unterbrach Arne ihn. »Wenn ich mich überstürzt dazu entscheide, das Land zu verlassen, ist das sicher nicht deine Schuld.«
Max schnaubte.
»Außerdem ist es ja noch mal gut gegangen.«
»Deine Mutter wird aber enttäuscht sein.«
»Von wegen. Sie wollte es mir ausreden.«
»Ehrlich?«
»Ja. Sie wusste, dass ich auf Fuerte nicht glücklich werde. Aber ohne dich wäre ich nirgendwo glücklich geworden.«
»Ich ohne dich auch nicht.«
»Was Karl eben gefragt hat … dir ist das doch auch recht, oder? Wenn ich wieder bei euch arbeite?«
»Natürlich. Das musst du doch nicht fragen.«
»Gut.«
»Oder willst du das nicht mehr?«
»Ich will alles, was mit dir zu tun hat.«
Lächelnd schmiegte Max sich an ihn. »Dann ist ja gut.«
Arnes Handy vibrierte in dessen Tasche. »Tut mir leid. Das ist bestimmt mein Vater. Er ruft schon die ganze Zeit an.«
»Ich habe ihn gebeten, dir auszurichten, dass ich mit dir reden will«, sagte Max und richtete sich wieder auf. »Du solltest drangehen. Er macht sich sonst Sorgen.«
»Okay. Ich fasse mich kurz.«
»Soll ich rausgehen?«
»Quatsch, bleib hier.« Arne griff nach Maxʼ Hand und beantwortete den Anruf. »Moin Dad. … Ja, ich weiß. Ich habe ihn getroffen. … Ja. … Nein. … Doch. … Nein, ich bleibe hier. Wir reden morgen, okay? … Okay, bis dann. Gute Nacht..« Arne legte auf und grinste Max an. »Er freut sich.«
»Und was ist mit deiner Mutter und Kira? Willst du den beiden nicht Bescheid sagen?«
»Das kann ich doch auch morgen noch. Das wird schließlich ein bisschen dauern.«
»Mach ruhig. Das ist doch wichtig.«
Arne lächelte ihn an. »Danke«, sagte er und tippte auf seinem Handy herum.
»Sag bloß, du bleibst doch hier!«, hörte Max Kira statt einer Begrüßung rufen.
Lachend sahen Max und Arne sich an.
»Woher weißt du das denn schon?«, fragte Arne. »Ah, verstehe.« An Max gewandt, flüsterte er: »Ralf.«
»Ralf? Woher weiß …« Max winkte ab. »Ich gebe auf.«
Arne stand aus dem Bett auf. Käpt’n war nicht hier, also war er Max ins Bad oder in die Küche gefolgt.
Wenn das so weiterging, würde Käpt’n bald nur noch auf Max hören, dachte Arne grinsend.
Er sah sich in Maxʼ Zimmer um. Gestern Abend waren sie einfach nur noch müde ins Bett gefallen, nachdem sie am Küchentisch stundenlang geredet hatten. Als Max im Sitzen wegedämmert war, hatte Arne darauf bestanden, dass sie ins Bett gingen, wo sie beide sofort eingeschlafen waren.
Maxʼ Zimmer war schlicht und modern eingerichtet. Es war gemütlich, aber man merkte, dass er noch nicht lange hier wohnte. Alles war noch besonders ordentlich und wirkte irgendwie neu.
Arnes Blick fiel auf sein Spiegelbild an der Schranktür. Er trug noch die Sachen von gestern, Jeans und ein ausgewaschenes T-Shirt, das über Nacht zerknittert war.
Er öffnete die Tür, die nur angelehnt war, und ging in den Flur.
Aus der Küche strömten ihm Radiomusik und Kaffeeduft entgegen. Er ging den Flur entlang und blieb in der Tür zur Küche stehen.
Max hatte ihm den Rücken zugedreht und war an der Arbeitsplatte zugange. Arne bewunderte seinen Hintern in dem engen dunkelblauen Hipster.
Das T-Shirt, das Max trug, war ihm etwas zu weit und über eine Schulter gerutscht.
»Wessen T-Shirt ist das?«, fragte Arne um einen leichten Tonfall bemüht.
Max quietschte und fuhr herum. »Hilfe, hast du mich erschreckt!« Er presste sich die Hand auf die Brust.
Arne verzog das Gesicht. »Tut mir leid, das wollte ich nicht.«
Max zupfte am Saum des T-Shirts. »Es ist Karls. Warum?«
Arne machte ein paar Schritte auf ihn zu, desinteressiert beobachtet von Käpt’n.
»Vielleicht sollte ich dir ein paar T-Shirts von mir geben. Dann musst du seine nicht mehr tragen«, erwiderte Arne leichthin.
Max biss sich auf die Unterlippe und grinste. »Eifersüchtig?«
Arne blieb vor ihm stehen, stützte sich links und rechts von Max an der Arbeitsplatte ab. »Sollte ich?«
»Nein. Und ich sollte es vermutlich nicht so heiß finden, wenn du besitzergreifend wirst.«
Gegen seinen Willen musste Arne lachen. »Mir gefällt einfach die Vorstellung von dir in den Klamotten von einem anderen nicht. Macht mich das besitzergreifend?«
»Nein«, erwiderte Max übertrieben abwehrend, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Überhaupt nicht.« Mit diesen Worten drehte er sich wieder um.
Arne legte seine Hand auf Maxʼ Bauch. »Du bist dünn geworden«, murmelte er in die kurzen Haare in Maxʼ Nacken.
Max zuckte mit den Schultern. »Ich hatte eben keinen Hunger. Du hast mir so gefehlt.«
»Du mir auch, mein Engel«, flüsterte Arne und platzierte sanfte Küsse auf Maxʼ nackter Schulter.
»Ich koche gerade«, protestierte Max halbherzig.
»Cornflakes? Kocht man die?«
»Okay, dann mache ich eben Frühstück.«
»Kannst du das vielleicht verschieben?«
»Warum?«, keuchte Max, als Arne zärtlich in die Haut an seinem Hals biss.
»Weil mich das mit dem T-Shirt wirklich anpisst. Du solltest es ganz dringend ausziehen.«
Max sog scharf die Luft ein. »Zieh du es mir doch aus.«
Das musste er nicht zweimal sagen. Arne zog das T-Shirt hoch und Max über den Kopf.
Max wandte sich ihm wieder zu und sah aus geweiteten Pupillen zu ihm auf. »Zufrieden?«
Arne ließ seinen Blick über Maxʼ Körper gleiten. Er war wirklich zu dünn geworden, aber Max würde ihm immer gefallen. Egal, ob er zu- oder abnahm, sich die Haare färbte, sich einen Bart bis zu den Knien wachsen ließ oder was auch immer.
»Du hast immer noch etwas an«, erwiderte Arne.
»Wenigstens ist es meine eigene Unterwäsche.«
Grinsend drückte Arne ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. »Nicht witzig.«
»Warum grinst du dann?«
»Weil du bei mir bist. Weil wir zusammen sind. Endlich wieder.«
Max strich mit den Händen über Arnes Brust nach oben, verschränkte die Arme in dessen Nacken. »Es tut mir so le…«
»Schhh.« Arne biss ihm zärtlich in die Unterlippe. »Hör auf. Wir haben beide Fehler gemacht, aber zum Glück noch mal die Kurve gekriegt.« Er schlang die Arme wieder um Maxʼ Körper, zog ihn dicht an sich. »Du fühlst dich gut an.«
Max keuchte leise auf, als ihre Hüften sich berührten. »Ich … äh … du … was hast du gesagt?«
Arne lachte leise. »Habe ich dich etwa aus dem Konzept gebracht?«
»Ja. Und es wäre wirklich nett, wenn du damit weitermachen könntest.«
Arne griff nach Maxʼ Oberschenkeln, hob ihn hoch und Max schlang seine Beine um Arnes Hüften.
Lachend lehnte er seine Stirn an Arnes Schultern. »Weißt du eigentlich, wie sexy ich es finde, dass du so stark bist?«
Arne lachte atemlos und knabberte an der weichen Haut am Hals von Max, der sich anscheinend schon rasiert hatte. »Weißt du eigentlich, wie sexy du bist?«, flüsterte er, machte einen Schritt und drückte Max mit dessen Rücken gegen die Wand. »Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, kann ich an nichts anderes denken als an dich.«
»Wieso sollte es dir auch anders gehen als mir?«, versetzte Max, vergrub seine Finger in Arnes Haar und zog leicht daran, gerade so fest, dass es beinahe wehtat.
Arne drängte seine Hüften gegen die von Max, genoss den Druck an seiner aufgerichteten Härte, spürte Maxʼ Erektion an seiner.
Sie waren beide schon fast so weit, viel zu lange hatten sie auf die Nähe des jeweils anderen verzichtet. Doch es machte nichts, wenn es jetzt schnell ging. Sie hatten noch so viel Zeit miteinander.
»Ich war noch nie so verliebt wie in dich, mein Engel«, flüsterte Arne Max ins Ohr.
Max drehte seinen Kopf, drückte seine Lippen auf Arnes. »Und ich in dich. Also nicht so wie … früher … ich, fuck, Arne.« Er löste seinen Griff in Arnes Haar und stöhnte laut, als er über dessen T-Shirt kam.
Arne hielt Max fest, drängte sich noch ein letztes Mal an ihn und schloss die Augen, als sein Höhepunkt ihn mit sich riss.
***
Max hielt Arne und Käpt’n die Haustür auf, dann blieb er unschlüssig stehen.
»Wir müssen da lang«, neckte Arne und wies in die Richtung, in der die Praxis lag.
»Was du nicht sagst«, erwiderte Max verschnupft.
Lachend drückte Arne ihm einen Kuss auf die Wange. »Sorry. Du sahst gerade so verwirrt aus.«
Max verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Ich … ich habe mich nur gerade gefragt … also, es wird ziemlich viel geredet über uns.«
»Das hier ist Frederstadt. Was hast du erwartet?«, fragte Arne leichthin. »Hey, ist alles okay?«
»Ja, ich … also, wie möchtest du denn jetzt vorgehen?«
»Käpt’n, hör auf, so zu ziehen.« Arne zog seinen Hund an der Leine zurück. »Wie meinst du das?«
Max atmete einmal tief durch. »Die Leute haben ja mitbekommen, dass wir zusammen waren. Als du weg warst, haben wir erzählt, dass du in der Praxis von deiner Mutter aushilfst. Aber ich hatte den Eindruck, das haben nicht alle geglaubt.«
Arne zuckte mit den Schultern. »Ist mir egal, was die Leute denken. Dir doch auch, oder?«
»Ja. Schon. Aber … also, tun wir jetzt so, als wäre nichts?«
Arne lächelte ihn an und griff nach Maxʼ Hand. »Von mir aus können wir gern so tun, als wären wir zusammen. Ach nein, warte. Wir sind ja zusammen.«
Max lachte atemlos und hoffte, dass Arne nicht hörte, wie schnell sein Herz hämmerte.
»Ich liebe dich, mein Engel. Das kann ruhig jeder wissen.«
Max drückte Arnes Hand. »Ich liebe dich auch und habe genauso wenig Lust, dass wir uns verstecken.«
Arne zwinkerte ihm zu und zusammen machten sie sich auf den Weg in die Praxis.
Statt den direkten Weg zu nehmen, gingen sie einen Umweg durch den kleinen Stadtpark, damit Käpt’n noch ein bisschen schnüffeln konnte.
Es war bereits über zwanzig Grad warm, die Sonne schien und über ihnen rauschten die Blätter der Linden leise im Wind.
»So kann es von mir aus immer sein«, sagte Max.
Arne lächelte ihn an. »Ich habe hin und wieder Knieprobleme. Irgendwann werde ich bestimmt einen Rollator brauchen.«
Max zuckte mit den Schultern. »Ich würde dich auch im Rollstuhl durch den Park schieben.«
Arne ließ Maxʼ Hand los, legte ihm dafür den Arm um die Schultern. »Na, das sind doch rosige Aussichten.«
»Wäre es unromantisch, wenn ich jetzt etwas über meinen Ex sage?«
»Wenn du sagst, dass ich ein besserer Liebhaber bin als er, fände ich das überhaupt nicht unromantisch.«
Kichernd legte Max den Arm um Arnes schmale Taille. »Bist du. Ein wesentlich besserer sogar.« Lars war immer egoistisch gewesen. Auch im Bett. »Aber ich wollte eigentlich sagen, dass ich mir mit Lars nie die Zukunft ausgemalt habe. Dabei war das ja alles, was ich gehabt hätte, weil die Gegenwart so scheiße war. Weiter als bis zu unserem nächsten Treffen habe ich allerdings nie gedacht. Bei dir ist das anders. Ich meine, ich genieße jeden Augenblick mit dir. Aber ich freue mich auch auf alle weiteren. Verstehst du, was ich meine?«
Arne seufzte leise und drückte Maxʼ Schulter. »Sehr gut sogar. Das habe ich auch zu meinem Dad gesagt, nachdem ich dich zum ersten Mal getroffen hatte.«
»Wie jetzt?«
»Naja, ich habe ihm erzählt, dass ich den Mann kennengelernt habe, mit dem ich alt werden möchte. Er hat mir davon abgeraten und gemeint, alt werden sei nichts für Feiglinge.«
Max lachte. »Du bist doch kein Feigling.«
»So war das auch nicht gemeint. Er hatte an dem Tag Rückenschmerzen. Du kennst ihn doch. Er ist eben nicht gerade die geborene Frohnatur.«
»Meinst du, dass er mich als Schwiegersohn akzeptiert?«
»Gestern Abend am Telefon klang er sogar richtig begeistert. Ich glaube, du hast ihn sehr beeindruckt. Was genau hast du denn zu ihm gesagt?«
Max blieb stehen. »Oh nein.«
Verwirrt sah Arne ihn an. » Oh nein? Ich weiß nicht, wieso ihn ausgerechnet das überzeu…«
»Gonne Willert«, zischte Max und nickte zu dem Mann, der gerade den Kiesweg entlangging, der in wenigen Metern in denjenigen münden würde, auf dem Arne und Max gerade mit Käpt’n gingen.
»Ich kann Käpt’n auf ihn hetzen.«
»Bei Käpt’ns Tempo ist Willert im Rathaus, bevor er sich überhaupt in Bewegung gesetzt hat.«
Arne lachte und zog damit Willerts Aufmerksamkeit auf sie.
Genau wie Max gerade blieb auch Willert wie angewurzelt stehen.
»Moin, Herr Bürgermeister«, grüßte Arne freundlich.
Max krallte sich in Arnes T-Shirt fest. »Guten Morgen, Herr Willert.«
Willert öffnete den Mund, schloss ihn wieder, lief tomatenrot an und ruderte mit den Armen durch die Luft, als hätte er Angst, zu ertrinken. »Das … Sie … aber … was machen Sie denn hier?«, fragte er Arne empört.
Arne lächelte ihn freundlich an. »Ich bin wieder zurück. Meine Mutter hat eine neue Mitarbeiterin gefunden. Also gab es keinen Grund, dass ich noch länger auf Fuerteventura bleibe.«
Willert schnaubte und sah zwischen ihnen hin und her. »Und wann fliegen Sie wieder zurück?«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Nächsten Monat. Aber dann kommt Max mit. Ich muss meiner Mutter doch schließlich ihren neuen Schwiegersohn vorstellen, oder?«
»Dr. Jacob?«
Max räusperte sich. »Ja?«
»Nein, ich meine … Sie sind der neue Schwiegersohn?«
Max straffte die Schultern. »Das bin ich. Sie klingen überrascht.«
Willerts Gesichtsfarbe intensivierte sich. »Aber ich habe Ihnen doch gesagt … Sie wissen doch …«
»Bitte?«
Willert wies auf Arne. »Der da ist …«
» Der da hat einen Namen und ist mein Freund.«
»Er ist ein Fremdgeher.«
»Ich habe Ihnen schon mal gesagt, dass ich nicht möchte, dass Sie sich in mein Privatleben einmischen.«
»Sie sind ganz schön undankbar, wissen Sie das? Ich denke, ich werde mir eine neue Tierarztpraxis suchen.«
»Ich kann Ihnen den Kollegen Jendrak sehr empfehlen. Allerdings weiß ich nicht, inwiefern er sich von Ihnen vorschreiben lässt, mit wem er sein Leben teilt. Schönen Tag noch.« Max zog Arne mit sich, der leise vor sich hin lachte.
»Dein Ex und Willert. Die haben einander echt verdient.«
Max spinstete über seine Schulter hinweg zu Willert, der ihnen empört hinterhersah. »Ich fürchte, Ehrenbürger werde ich nicht mehr.«
»Du bist der Ehrenbürger meines Herzens. Reicht dir das?«
»Vollkommen.«
***
Arne löste Käpt’ns Leine von dessen Geschirr und Käpt’n schoss los Richtung Wasser.
Max lachte. »Kaum zu fassen, wie schnell er rennen kann, wenn er das Meer sieht.«
Arne nahm Maxʼ Hand und zusammen gingen sie durch den Sand zum Wellensaum. »Wann verrätst du mir denn endlich, was du in deinem Rucksack hast?«
»Erstens ist das Karls Rucksack …«
»Oh, großartig.«
Max kicherte. »Und zweitens musst du dich nur noch ein wenig gedulden. Erst mal brauchen wir den perfekten Platz.« Er blieb stehen und sah sich am Hundestrand um.
Es waren noch ein paar andere Leute mit ihren Hunden unterwegs, Touris wie Einheimische. Selbst wenn Arne nicht alle Leute aus Frederstadt zumindest vom Sehen her gekannt hätte, wäre es sehr einfach gewesen, sie zu erkennen: Schließlich beäugten alle von ihnen Max und Arne sehr neugierig.
»Ich weiß ja nicht, was genau du vorhast«, neckte Arne.
Max schnaubte. »Nicht das, was du gerade denkst.«
»Ich denke gar nicht immer nur an Sex mit dir.«
»Ach.«
»Manchmal möchte ich dich einfach nur küssen.«
»Da oben!« Max wies zum Rand des Strands, wo der Wald begann, der sich die Steilküste entlang zog. »Siehst du den umgekippten Baumstamm?«
»Ja, sehe ich. Da gehen wir hin?«
»Japp.«
Arne sah nach Käpt’n, der mit einem Berner Sennenhund durch die Wellen tobte, sich aber immer mal wieder nach Arne umsah.
Käpt’n machte am Hundestrand gern sein eigenes Ding, entfernte sich aber nie zu weit von Arne.
»Ich glaube, so einen langen Arbeitstag hatte ich noch nie«, murmelte Max und lachte verlegen. »Mir kam es jedenfalls wie eine Ewigkeit vor, bis ich dich endlich wieder küssen konnte.«
»Das Problem ist, dass ihr so gute Tierärzte seid. Wenn wir weniger zu tun hätten, hätten wir beide uns mal zusammen im Labor einschließen können.«
Lachend schüttelte Max den Kopf. »Was sollen denn Karl und Kira dazu sagen?«
»Meinst du, die hätten sich beschwert?«
»Nee, wohl nicht. Vor allem weil Kira so froh ist, dass du hier bleibst.«
»Nur Kira?«
»Dein Vater freut sich bestimmt auch.«
»Danke.«
Max grinste. Inzwischen hatten sie den Baumstamm erreicht und Max zog den Rucksack aus. Er öffnete den Reißverschluss und holte zwei Gläser und eine Flasche Champagner hervor.
Arne zog die Augenbrauen hoch. »Wow. Ich habe aber einen echt guten Fang gemacht.«
»Deshalb hast du dir doch deinen Chef angelacht, oder?«, versetzte Max.
»Vielleicht hat sich mein Chef ja mich angelacht.«
»Auf gar keinen Fall.« Er fingerte am Korken herum. »Sehr beeindruckend, wie ich Champagner angeschleppt habe und dann die Flasche nicht aufbekomme, nech?«
Arne streichelte ihm über die Wange. »Sag das noch mal.«
Max sah ihn überrascht an. »Sehr beeindruckend, wie …«
»Nein, ich meinte nech .«
»Hä?«
»Du hast nech gesagt.«
Max lachte verlegen. »Echt?«
»Echt. Und ich finde es bannig sexy, wenn du das sagst.«
»So hat jeder seine Vorlieben.« Inzwischen war es Max gelungen, die Flasche zu öffnen, und er schenkte etwas Champagner in die beiden Gläser.
»Ich habe gleich mehrere«, erwiderte Arne.
»Oha.«
»Wenn du Willert deine Meinung sagst, ist das mindestens genauso heiß.«
»Ich hoffe, du hast nicht vor, ihn in eventuelle zukünftige Rollenspiele einzubinden.«
Lachend erwiderte Arne: »Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er sich dazu bereiterklären würde.«
Max kniff die Augen zusammen. »Können wir bitte über etwas anderes sprechen als Willert?«
»Zum Beispiel?«
Er stellte die Flasche in den Sand und drückte Arne ein Glas in die Hand. »Zum Beispiel darüber, auf was wir trinken wollen.«
»Auf meinen sexy Chef, der sogar Champagnerflaschen öffnen kann?«
»Oder auf meinen Mitarbeiter mit den sexy Oberarmen?«
»Schön, dass du auch meine inneren Werte zu schätzen weißt.«
»Die kommen direkt auf Platz zwei. Naja, vielleicht drei.«
»Was wäre denn dann zwei?«
Max biss sich auf die Unterlippe. »Das verrate ich dir, wenn wir gleich bei dir zu Hause sind.«
Arne schluckte und stieß mit Max an. »Auf unsere gemeinsame Zukunft, mein Engel.«
»Auf unsere Zukunft«, erwiderte Max, nippte an seinem Glas und legte dann seine Hand auf Arnes Brust. »Küss mich.«
Arne beugte sich zu ihm hinunter, streifte Maxʼ Lippen federleicht mit seinen. »Ich liebe dich.«
»Ich dich auch. Und wi… Käpt’n!«
Laut bellend und triefnass sprang Käpt’n um sie herum.
Rasch bückte Max sich, um das Glas aufzuheben, das Käpt’n ihm aus der Hand gerissen hatte, als er an ihnen hochgesprungen war.
»Ja, Käpt’n, nicht aufregen, dich haben wir auch lieb«, sagte Max lachend.
Arne griff nach Käpt’ns Geschirr, hielt ihn fest und hockte sich neben ihn. »So. Jetzt beruhigen wir uns mal, ja?«
Max setzte sich neben sie. »Genau. Schließlich habe ich noch einen Programmpunkt hier am Strand geplant.«
»Nämlich?«
»Wir gucken jetzt den Sonnenuntergang an. Als Familie, also bleib sitzen, Käpt’n.«
Dieses warme Gefühl, das Max immer in ihm auslöste, breitete sich mal wieder aus Arnes Brust in seinem gesamten Körper aus. Konnte es einen perfekteren Mann geben als Max? Arne bezweifelte das. Und selbst wenn. Einen anderen wollte er sowieso nicht.
Die Geschichte von Valentin und Jonte wird in
»Weihnachtsmarkt in der Sterngasse«
erzählt, die von Ralf und Costin in
»Vom Einbrecher zum Traummann«
und die von Karl und Hauke in
»Schokoherz zu verschenken«
.
Genovefa Adamsʼ andere Gay Romance-Titel sind ebenfalls bei Amazon erhältlich.