Anhängern situierter Kognition geht es nicht alleine um die Rolle des Körpers, sondern auch darum, dass kognitive Systeme mittels ihres Körpers ihre Umwelt so manipulieren können, dass auch sie zu einer wertvollen kognitiven Ressource wird. Drei Überlegungen spielen in diesem Zusammenhang gegenwärtig eine Rolle: (1) Kognitive Prozesse können so von Gegebenheiten jenseits der Körpergrenzen eines Akteurs abhängen, dass eine aktive Interaktion mit der Umwelt ihre interne Repräsentation zum Teil überflüssig macht. Wahrnehmung und Handlung sind in diesem Fall nicht immer durch interne Repräsentationen vermittelt und hängen daher unmittelbarer zusammen als vom Sandwichmodell angenommen. (2) Sensomotorische Wahrnehmungstheorien nehmen die Verzichtbarkeit interner Repräsentationen zum Anlass, den Zusammenhang von Wahrnehmen und Handeln nicht nur unmittelbarer zu gestalten, sondern die Trennung vollständig aufzugeben und Wahrnehmen als eine Form von Handeln anzusehen. (3) Einigen Autoren reicht diese Art von Umweltabhängigkeit nicht aus: Für sie sind Teile der Umwelt nicht bloß externe Ressourcen einzelner Akteure, sondern selbst ein konstitutiver Teil »erweiterter«, Gehirn, Körper und Umwelt umspannender kognitiver Prozesse bzw. Systeme (s. Kap. 8).
Den gegenwärtig unter dem Stichwort der Einbettung (embedded cognition) zusammengefassten (manchmal irreführenderweise auch als »situated cognition« bezeichneten) Ansätzen geht es um die Umweltabhängigkeit kognitiver Prozesse. Aus kognitionswissenschaftlicher Sicht haben sie ihren Ursprung in den 1980er-Jahren, als in der KI eine Abkehr von klassischen Planungsansätzen einsetzte.97 Nach den [68] klassischen Planungsansätzen arbeiten kognitive Systeme auf Grundlage ihres Inputs zunächst einen vollständigen Handlungsplan aus und setzen diesen anschließend vorbehaltlos in die Tat um. Für Akteure in einer dynamischen Welt ist eine solche Strategie jedoch suboptimal, weil unter anderem nach Einholen des Inputs auftretende Veränderungen nicht mehr berücksichtigt werden können, sodass viele Handlungen zum Zeitpunkt ihrer Ausführung auf veralteten Voraussetzungen beruhen und inadäquat sind. Menschliche Akteure richten ihre Pläne häufig sehr viel situationsbezogener aus, sodass sie sie angesichts neuer Erkenntnisse spontan aufgeben oder modifizieren können. Statt zum Beispiel unsere Reise nach Kroatien im Detail durchzuplanen, fahren wir von Norddeutschland aus einfach Richtung München und folgen ab dort den Schildern, hören aber Staunachrichten und den Wetterbericht, um gegebenenfalls über Nebenstrecken ausweichen zu können oder doch schon in Italien unser Quartier aufzuschlagen. Manchmal ist es gar unmöglich, sich anfänglich mehr als nur einen ganz groben Plan zurechtzulegen: Ein Fußballer kann seine Dribblings und Pässe ebenso wenig vorausplanen wie ein Schauspieler seine Dialoge im Improvisationstheater oder ein Dozent den Verlauf eines Seminars, weil ihre Aktionen im Detail immer auch von ihrem sich kontinuierlich verändernden Umfeld bestimmt werden, das sie durch ihr Tun wiederum entscheidend mit prägen. In Fällen wie diesen bleibt dem jeweiligen Akteur gar nichts anderes übrig, als statt auf potenziell veraltete interne Informationen und Pläne ganz opportunistisch und spontan auf die Umwelt selbst zurückzugreifen.
Kognitive Prozesse können also anscheinend nicht, wie im Kognitivismus oder Konnektionismus meist stillschweigend angenommen wurde, weitgehend unabhängig von der Umwelt eines Systems betrachtet werden, sondern hängen auf charakteristische Weise von den Gegebenheiten jenseits der Körpergrenzen ab. Was aber bedeutet das im Detail?
Die fragliche Art von Umweltabhängigkeit hat ihren Ursprung [69] unter anderem in dem, was Andy Clark »scaffolding« nennt.98 Die Umwelt dient kognitiven Systemen metaphorisch als Gerüst (scaffold), weil sie sich darauf stützen können, indem sie sie bei der Lösung kognitiver Aufgaben zur Minimierung des internen Informationsverarbeitungsaufwands und damit zur Steigerung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit einsetzen. Barmixer zum Beispiel lernen, die verschiedenen Drinks mit unterschiedlich geformten Gläsern, unterschiedlicher Dekoration usw. zu assoziieren, und können so durch geeignete Anordnung des entsprechenden Zubehörs auch umfangreiche Bestellungen in der richtigen Reihenfolge abarbeiten. Diese Fähigkeit büßen sie ein, sobald sie einheitliches Zubehör verwenden und sich in Ermangelung eines externen scaffolds die Abfolge buchstäblich »im Kopf« merken müssen.99 Eine derartige Einbindung der Umwelt ist fester Bestandteil unseres Alltags: Statt uns etwa beim gemeinsamen Einkauf zu merken, wer was kaufen möchte, teilen wir die Artikel auf die beiden Enden des Einkaufswagens auf, und statt uns im Gassengewirr der Lissaboner Alfama mühevoll auf dem Stadtplan den Weg zum Castelo de São Jorge einzuprägen, laufen wir einfach immer bergauf. Ein solches scaffolding beruht darauf, dass unsere Umwelt auf bestimmte Weise beschaffen ist: Wären die Gläser nicht entsprechend angeordnet und läge die Lissaboner Burg nicht auf dem Gipfel, wären uns die jeweiligen Erinnerungs- bzw. Navigationsleistungen nicht bzw. nicht im gewünschten Maße möglich.
Als Explikation einer für situierte Ansätze charakteristischen Art von Umweltabhängigkeit reicht dies allerdings nicht aus. Auch die traditionelle Auffassung von Kognition impliziert, dass in uns andere kognitive Prozesse abliefen, wenn unsere Umwelt anders wäre: Eine andere Umwelt führte ceteris paribus zu einem anderen perzeptuellen Input und daher mittelbar auch zu anderen kognitiven Prozessen. Soll mit der Einbettungsthese etwas substanziell Neues gesagt werden, dann muss die fragliche Umweltabhängigkeit also von besonderer Art sein.
[70] Eine augenfällige Besonderheit besteht zweifellos darin, dass kognitive Systeme nicht bloß passive Rezipienten von Umwelteinflüssen sind, sondern ihre Umwelt oft selbst aktiv so strukturieren, dass kognitive Leistungen überhaupt erst möglich bzw. zumindest vereinfacht werden. Kognition hängt nicht nur in dem trivialen Sinne von der Umwelt ab, dass der perzeptuelle Input zentraler kognitiver Prozesse anders wäre, wäre die Umwelt anders. Die fragliche Art von Umweltabhängigkeit scheint vielmehr grundlegend interaktiv zu sein: Die Umwelt ist nicht nur der Raum, in dem sich Probleme stellen und in dem die durch eine geeignete Transformation interner Repräsentationen aller relevanten Aspekte gefundenen Lösungen implementiert werden; die Umwelt trägt im Zuge von Interaktionen vielmehr selbst zu Lösungen bei, die internen Alternativen oftmals überlegen sind. Wir lagern, so Clark, einen Teil unserer »kognitiven Arbeit« aus, indem wir die Umwelt so strukturieren, dass sie für uns das Problem löst: Wir nutzen unsere Intelligenz aus, um unsere Umwelt so an unseren Bedürfnissen auszurichten, dass wir letztlich mit weniger Intelligenz auskommen.100
Diese Art von aktiver Strukturierung ist ein wichtiges und viel diskutiertes Phänomen, aber offenbar nicht notwendig dafür, dass kognitive Prozesse in einem interessanten Sinne eingebettet sind: Manchmal nutzen wir die Umwelt auch, ohne vorher aktiv strukturierend eingegriffen zu haben, zum Beispiel wenn wir immer bergauf laufen, um zur Lissaboner Burg zu finden, oder uns auf andere Weise an natürlichen Wegmarken orientieren.
Der entscheidende Punkt scheint vielmehr zu sein, dass die direkte Einbeziehung der Umwelt ihre im Rahmen der traditionellen Auffassung von Kognition so zentrale interne Repräsentation zumindest teilweise verzichtbar macht. Das Brettspiel Scrabble zum Beispiel, bei dem aus sieben Spielsteinen mit zufällig ausgewählten Buchstaben sinnvolle Wörter gebildet werden müssen, ist einfacher zu lösen, wenn man nicht mental mit den Buchstaben jongliert, sondern die [71] Steine selbst so lange umstellt, bis sich sinnvolle Wortteile ergeben. Man muss dann nämlich nicht mehr alle Permutationen von
K C M C H U S
auf ihre semantische Sinnhaftigkeit hin überprüfen, sondern kann durch Umgruppieren und Zusammenführen der für das Deutsche typischen Buchstabenfolgen »CK« und »SCH«
C K S C H M U
leicht »Schmuck« und »Mucks« als mögliche Lösungen erkennen. Die Umgruppierung der Spielsteine macht das ursprüngliche Problem lösbar bzw. leichter handhabbar, indem sie es in ein Problem einer anderen Art transformiert. Indem eine Situation geschaffen wird, in der wir nicht mehr mit internen Repräsentationen hantieren müssen, sondern die relevanten Informationen der Welt selbst entnehmen können, wird die abstrakte Suche in einem komplexen Möglichkeitsraum, mit der unser Gehirn (anders als Computer) nur schlecht zurechtkommt, auf eine Reihe einfacher Mustererkennungen und damit auf etwas reduziert, was unser Gehirn sehr gut kann (s. Kap. 3).101
Etwas ganz Ähnliches zeigt sich auch im Falle visueller Wahrnehmung. Anders als eine naive Kamerametapher es erwarten ließe, erstellen wir offenbar keine detaillierten internen Momentaufnahmen (snapshots) dessen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in unserem Gesichtsfeld zu sehen ist, sondern entnehmen durch sakkadische Augenbewegungen (schnelle Blickwendungen) die erforderlichen Informationen »on the fly« der Umwelt selbst. In einer Studie von Dana Ballard und Kollegen zum Beispiel sahen Probanden links oben auf einem Monitor eine Anordnung farbiger Rechtecke und sollten aus einem Vorrat auf der rechten Seite mit der Maus entsprechende Rechtecke auswählen, um damit links unten die vorgegebene Anordnung nachzubauen. Eine Analyse ihrer Augenbewegungen zeigte, dass sie sich [72] augenscheinlich nicht einmalig Position und Farbe merkten, um dann ein Rechteck dieser Farbe zu suchen und an der entsprechenden Position abzulegen, sondern während jedes Kopiervorgangs mehrere Male hin und her blickten, um Farbe oder Position immer dann frisch abzurufen, wenn es erforderlich war.102
David Kirsh und Paul Maglio bezeichnen Handlungen, die auf diese Weise den internen Repräsentationsaufwand verringern, als epistemische Handlungen (epistemic actions). Gewöhnliche Handlungen dienen der physischen Erreichung eines Ziels – wir gehen in den Keller, um eine Flasche Wein zu holen. Epistemische Handlungen hingegen strukturieren unsere Umwelt so, dass sie uns die zur Lösung eines Problems erforderlichen Informationen verschaffen – wir öffnen den Kühlschrank, um herauszufinden, ob wir noch genug Eier für ein Soufflé haben. Beim Computerspiel Tetris zum Beispiel müssen verschieden geformte zweidimensionale Blöcke durch Rotation und Seitwärtsbewegung so angeordnet werden, dass sich vollständig gefüllte Reihen ergeben. Auch diese Aufgabe lässt sich »im Kopf« lösen, ist aber effizienter zu bewältigen, wenn man die optimale Anordnung findet, indem man die Position der Blöcke auf dem Monitor verändert. Das probeweise Rotieren und Verschieben der Blöcke ist eine epistemische Handlung: Wir manipulieren unsere Umwelt so, dass sie uns die Informationen verschafft, die wir zur Lösung der Aufgabe brauchen. Auf diese Weise finden wir heraus, wie und wohin ein Block am besten passt, ohne mehr als notwendig auf interne Repräsentationen zurückgreifen zu müssen.103
Weil Spione angeblich auch immer nur gerade das wissen, was sie für ihren Auftrag unbedingt wissen müssen, spricht Clark in diesem Zusammenhang vom »007-Prinzip«: Aus evolutionären Gründen wird ein Wesen Informationen, die es mittels eines entsprechenden Verhaltens direkt der Struktur seiner Umwelt entnehmen kann, nicht selbst auf aufwendige Weise intern repräsentieren und zum Zwecke der internen [73] Informationsverarbeitung verfügbar halten.104 Wenngleich eine solche Auslagerung (offloading) eines Teils der informationsverarbeitenden Prozesse zweifellos vorteilhaft sein kann, ist unklar, ob man daraus mit Clarks 007-Prinzip schließen sollte, dass manipulatorische Strategien dieser Art das Resultat eines natürlichen Ausleseprozesses sind. Larry Shapiro hat eingewendet, dass diese stärkere evolutionäre These unter anderem voraussetzt, dass die zu lösende Aufgabe unter Selektionsdruck konstant blieb und keine natürlichen oder physiologischen Bedingungen oder weitere Umweltfaktoren eine interne Lösung begünstigten. Da diese Voraussetzungen in vielen Fällen jedoch nicht erfüllt zu sein scheinen, sind manipulatorische Auslagerungsstrategien in seinen Augen (gerade unter nichtmenschlichen Tieren) eher die Ausnahme.105
Wesentlich scheinen manipulatorische Strategien der skizzierten Art allerdings für solche Systeme zu sein, die wie Brooks’ Mobots (s. Kap. 6) überhaupt keine zentrale Verarbeitungseinheit haben, in der handlungsunabhängige interne Repräsentationen der Umwelt zusammenkommen könnten, und denen daher gar nichts anderes übrig bleibt, als anstelle interner Weltmodelle die Umwelt selbst als das beste aller möglichen Modelle zu nutzen.106
Die Vorstellung, dass kognitive Prozesse auf die beschriebene Weise in die Umwelt des jeweiligen Systems eingebettet sind, scheint inhaltlich eng verknüpft zu sein mit der Idee der Verkörperlichung: Durch welche Art von Handlung ein Akteur seine Umwelt strukturieren und welche Aspekte er als scaffold nutzen kann, hängt maßgeblich davon ab, über welche Art von Körper und welche körperlichen Fähigkeiten er verfügt. Es geht mithin weniger um die Umweltabhängigkeit kognitiver Prozesse als solche als vielmehr darum, dass ihre Umweltabhängigkeit nicht oder nicht ausschließlich durch interne Repräsentationen vermittelt ist. Vielmehr ist sie in dem Sinne unmittelbar, dass die durch die körperliche Verfasstheit eines Systems überhaupt erst ermöglichte, zugleich [74] aber auch Einschränkungen unterworfene Interaktion mit der Umwelt aufwendige, unter Umständen symbolisch strukturierte interne Repräsentationen zumindest zum Teil verzichtbar macht.
Wenn die Fähigkeit zum scaffolding interne Repräsentationen verzichtbar macht und unter anderem von der körperlichen Verfasstheit eines Akteurs abhängt, dann muss auch das Verhältnis von Wahrnehmung und Handlung überdacht werden. Zum einen kann Wahrnehmung dann nicht mehr bloß den intern weiterzuverarbeitenden Input für einen ansonsten passiven Rezipienten liefern, sondern muss als Resultat der aktiven Exploration der Umwelt durch einen körperlich auf bestimmte Weise verfassten und handelnden Akteur betrachtet werden. Zum anderen muss in diesem Fall auch die Funktion von Wahrnehmung neu bestimmt werden: Wenn detailgetreue interne Repräsentationen verzichtbar sind, dann kann die Funktion von Wahrnehmung nicht darin bestehen, Akteure mit solchen Repräsentationen zu versorgen. Wozu aber ist Wahrnehmung gut, wenn nicht dazu, mentale Abbilder der Umwelt zu erstellen?
Eine mögliche Antwort liefert der Slogan »perception is for action«, der auf die Handlungsbezogenheit von Wahrnehmung abzielt. Diese Handlungsbezogenheit besteht nicht nur in der trivialen Tatsache, dass Wahrnehmung uns zum Handeln befähigt. Wahrnehmung ist vielmehr wesentlich handlungsbezogen: Unser Wahrnehmungsapparat versorgt uns nicht mit abstrakten Repräsentationen, die sich nur auf dem Umweg über ein allgemeines Abwägungs- und Entscheidungssystem in Handlungen niederschlagen können; er ist vielmehr direkt mit unserem Handlungsapparat verbunden und codiert Wahrnehmungsinformationen in einem handlungsspezifischen, auf den jeweiligen Körper abgestimmten Format, das die Handlungsroutinen selbst, ohne Vermittlung durch dazwischengeschaltete zentrale Prozesse, unmittelbar verarbeiten können (s. Kap. 6).
Bei Brooks’ Mobots zum Beispiel dienen die [75] Wahrnehmungsmodule gerade nicht dem Aufbau interner Repräsentationen, sondern lösen direkt entsprechende Aktivitäten aus. Selbst künstliche Systeme, die auf interne Repräsentationen ihrer Umwelt zurückgreifen, sind effizienter, wenn diese Repräsentationen ein handlungsspezifisches Format haben. So kreiert ein anderer am MIT entwickelter Roboter eine »Karte« seiner Umwelt, indem er Wahrgenommenes über eine Kombination aus aktuellem sensorischem Input und aktueller Bewegung klassifiziert – ein gerader Korridor etwa wird als eine Vorwärtsbewegung mit aktiven seitlichen Nahbereichssensoren abgespeichert.107 Da die Motorsignale selbst Teil der Codierung der Wahrnehmungsinformation sind, kann der Roboter an einen Ort zurückfinden, indem er die dafür erforderlichen Motorbefehle direkt seiner aktivitätsbezogenen »Karte« entnimmt, ohne dass er auf Grundlage abstrakter Koordinaten einen Plan erstellen und diesen in entsprechende motorische Anweisungen überführen müsste.
Der handlungs- und körperspezifische Charakter von Wahrnehmung zeigt sich unter anderem auch in den Kompensationsleistungen von Probanden, deren Gesichtsfeld durch Prismen seitlich verschoben ist: Sollen sie zum Beispiel einen Ball oder Dartpfeil auf ein Ziel werfen, verfehlen sie dieses zunächst systematisch, treffen nach einigem Training aber wieder so gut wie zuvor. Diese Anpassung ist jedoch motorspezifisch: Sollen sie nach erfolgreichem Training von unten nach oben statt von oben nach unten oder mit der anderen Hand werfen, verfehlen sie ihr Ziel zunächst wieder.108 Befunde wie diese zeigen, dass das kognitive System nicht einmalig lernt, den verschobenen perzeptuellen Input intern zu korrigieren und dann global für alle kognitiven oder motorischen Aufgaben die korrigierten Daten zu verwenden. Die Korrektur ist vielmehr ganz wesentlich auf bestimmte Handlungen abgestimmt: Sie geschieht nicht mittels zentraler kognitiver Prozesse, sondern ist auf eine spezifische Kombination aus Blick- und Wurfwinkel, Wurfarm und Körperhaltung zugeschnitten.
[76] Der Slogan »perception is for action« ist darüber hinaus eng mit dem Antirepräsentationalismus von Gibsons ökologischer Wahrnehmungstheorie verbunden.109 Gibson richtet sich damit gegen computationalistische Wahrnehmungstheorien im Stile Marrs, für die das zentrale Problem in der Frage besteht, wie das visuelle System aus dem zweidimensionalen Retinabild den Eindruck einer dreidimensionalen Welt rekonstruieren kann. Laut Gibson geht diese Frage von falschen Voraussetzungen aus, weil Wahrnehmung immer schon direkt und handlungsbezogen ist: Wahrnehmung dient nicht der Bereitstellung handlungsunabhängiger Repräsentationen, sondern ist auf konkrete Handlungen ausgerichtet, und die dafür benötigte Information muss nicht erst aus einem Retinabild rekonstruiert werden, sondern ist immer schon in reichhaltiger und strukturierter Weise in der Umwelt selbst (dem sogenannten ambient optic array) vorhanden. Die Umwelt offeriert dem Wahrnehmenden Handlungsmöglichkeiten, die dieser direkt – das heißt nicht inferenziell, nicht vermittelt durch interne Repräsentationen – wahrnehmen kann. Diese Handlungsmöglichkeiten, Gibson spricht von »Affordanzen« (affordances), sind keine intrinsischen, rein objektiven Eigenschaften des Wahrgenommenen, sondern entstehen durch die Interaktion eines verkörperlichten Lebewesens mit seiner Umwelt, indem dieses die Dinge in der Welt direkt als für es verzehrbar, erklimmbar, begehbar, greifbar, tragbar usw. wahrnimmt. Auch hier besteht also nicht nur ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Wahrnehmen und Handeln, sondern auch zwischen der Umweltabhängigkeit eines Systems und seiner je spezifischen Verkörperlichung, denn was für ein System verzehrbar, tragbar, erklimmbar usw. ist, variiert natürlich mit seiner jeweiligen körperlichen Verfasstheit.
Alva Noës sensomotorische Wahrnehmungstheorie geht noch einen Schritt weiter. Noë kritisiert nicht nur die Auffassung, dass Wahrnehmung interne Repräsentationen bereitzustellen hat, sondern auch Gibsons These, dass [77] Wahrnehmen dem Handeln dient. Für Noë gilt vielmehr: Wahrnehmen ist Handeln, das heißt etwas, was ein verkörperlichtes Subjekt im Rahmen seiner aktiven Exploration der Umwelt tut.110 Wahrnehmung in Noës Sinne ist daher kein theoretisches Wissen-dass, sondern ein praktisches Wissen-wie, eine sensomotorische Fähigkeit, die im Wissen um die regelhaften sensomotorischen Zusammenhänge (sensorimotor contingencies) besteht, welche sich im Rahmen unserer Interaktion mit der Umwelt auftun: Ein Objekt, dem wir uns nähern, beansprucht einen größeren Teil unseres Sichtfeldes; ein Geräusch wird umso lauter, je näher wir seiner Quelle kommen; visuelle und taktile Eindrücke verändern sich auf systematische Weise, wenn wir um ein Objekt herumgehen oder darüberstreichen usw. Gestützt wird eine solche Konzeption von Wahrnehmung unter anderem durch die Möglichkeit sensorischer Substitution: Visuelle Information etwa kann so in taktile Reize auf dem Rücken oder der Zunge umgewandelt werden, dass Blinde damit auch entfernte und sich bewegende Objekte wahrnehmen können, sofern sie ihre Umwelt aktiv erkunden dürfen und auf diese Weise die sensomotorischen Zusammenhänge zwischen ihren Bewegungen und den entsprechenden Veränderungen der taktilen Stimulation erlernen.111
Da die sensomotorischen Fähigkeiten eines Systems von seiner körperlichen Verfasstheit abhängen, ist der Aspekt der Umweltabhängigkeit auch hier wieder eng mit dem der Verkörperlichung verknüpft. Allerdings scheint es zu weit zu gehen, wenn Wahrnehmung an die tatsächliche Ausübung sensomotorischer Fähigkeiten gebunden wird, da dann zum Beispiel Tetraplegiker oder Locked-in-Patienten, die nahezu vollständig gelähmt sind, keine Wahrnehmungen haben könnten. Unter anderem aus diesem Grund fordert etwa Noë zuweilen lediglich, der Wahrnehmende müsse das entsprechende sensomotorische Wissen erworben haben, auch wenn er seine Fähigkeit aktuell nicht ausüben könne.112
Die Repräsentationsskepsis, die üblicherweise mit der [77] Vorstellung einer nachhaltigen Umweltabhängigkeit kognitiver Prozesse einhergeht, kann also unterschiedlich radikal ausfallen. Durch das gemeinsame Interesse an der Umwelt und unserer Interaktion mit ihr liegt eine Anbindung an den Dynamizismus nahe. Die Anhänger der oben skizzierten Wahrnehmungstheorien zum Beispiel erklären Repräsentationen im Einklang mit dem Dynamizismus in der Tat für verzichtbar. Andere hingegen streben lediglich eine Erweiterung computationalistischer Ansätze an. Kirsh und Maglio etwa verstehen epistemische Handlungen ausdrücklich als ein Mittel, durch das Akteure ihre eigenen computationalen Zustände effektiv und zweckmäßig beeinflussen können, und Ballard und Kollegen verstehen Augenbewegungen als auf die Umwelt gerichtete »Zeiger« (deictic codes), die zusammen mit internen informationsverarbeitenden Prozessen hybride Berechnungsprozesse (deictic computations) bilden. Hier geht es also nur darum, die abstrakten, satzartigen und handlungsunabhängigen Repräsentationen des Kognitivismus durch wesentlich handlungsbezogene Repräsentationen zu ergänzen (etwa durch Action-oriented-, Emulator- oder Pushmi-pullyu-Repräsentationen).113 Auf diese Weise scheint ein Mittelweg eröffnet zu werden zwischen den umfassenden symbolischen Repräsentationen des Kognitivismus und der vermeintlichen Repräsentationslosigkeit des Dynamizismus. Dieser Mittelweg erlaubt es offenbar, den berechtigten Bedenken gegenüber dem Kognitivismus Rechnung zu tragen, ohne zugleich Gefahr zu laufen, jene höherstufigen kognitiven Leistungen nicht mehr einfangen zu können, die Informationen erfordern, die nicht »on the fly« der aktuellen Situation entnommen werden können.
In einer ganz anderen Richtung rekonziliatorisch äußert sich auch Simon, einer der Stammväter des Computermodells des Geistes, der sich zusammen mit Alonso Vera vehement dafür eingesetzt hat, dass eine Anerkennung der Umweltabhängigkeit kognitiver Prozesse nicht automatisch zu einer Abkehr von klassischen Ansätzen führen muss, da sich die [79] Echtzeitinteraktion mit sich dynamisch verändernden Umgebungen sehr wohl symbolisch modellieren lässt und viele der als revolutionär gefeierten Systeme letztendlich auf klassischer Symbolverarbeitung beruhen.114
Auch wenn eine solche vollständige Nivellierung der beiden Lager wohl zu weit geht, spricht vieles dafür, dass die in diesem Kapitel diskutierten Ansätze in der Tat nicht als vollständiges Surrogat klassischer Positionen intendiert sein können, sondern lediglich als Ergänzung die Situations- und Handlungsbezogenheit kognitiver Prozesse deutlicher herausstellen sollen.