EINLEITUNG

 

Die Formen, die kommen und gehen – von denen euer Leib nur eine ist –, sind das Zucken meiner tanzenden Glieder. Erkenne mich in allem, und wovor sollst du dich fürchten?

Dem Hindugott Shiva zugeschriebene Worte

In: Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten1

 

 

Ungefragt kommen wir in dieses Universum, zu einer Zeit und an einen Ort, über die wir nicht entscheiden können. Einige kurze Augenblicke lang reisen wir mit anderen Menschen, mit unseren Schwestern und Brüdern, mit unseren Kindern, mit Freunden und Feinden. Wir sind auch mit anderen Lebensformen unterwegs, mit Bakterien und Bonobos, mit Felsen und Ozeanen und Morgenröten, mit Monden und Meteoren, Planeten und Sternen, mit Quarks und Photonen, Supernovae und Schwarzen Löchern und mit leeren Räumen unvorstellbaren Ausmaßes. Die Gesellschaft der Reisenden ist vielfältig, bunt, lärmend und geheimnisvoll, und obwohl wir Menschen sie irgendwann verlassen werden, wird sie weiterziehen. In einer fernen Zukunft werden sich ihr andere Reisende anschließen und sie wieder verlassen. Doch irgendwann wird sie ausdünnen. Nach Myriaden von Jahren wird sie sich verflüchtigen wie ein Gespenst in der Morgendämmerung, sich auflösen in dem Meer von Energie, aus dem sie einst entstand.

Was ist das für eine merkwürdige Menge, mit der wir reisen? Welche Stellung haben wir in ihr? Woher kommt sie, wohin zieht sie und wie wird sie schließlich verschwinden?

Heute können wir Menschen diese Geschichte besser erzählen als jemals zuvor. Wir vermögen mit bemerkenswerter Genauigkeit zu bestimmen, was sich dort draußen befindet, Milliarden von Lichtjahren von der Erde entfernt, und was sich vor Milliarden Jahren ereignet hat. Dazu sind wir in der Lage, weil unserem Erkenntnisdrang heute viel mehr Puzzleteile zur Verfügung stehen als früher, sodass wir uns eine viel bessere Vorstellung vom Gesamtbild machen können. Das ist eine erstaunliche und recht junge Errungenschaft. Viele Teile unserer Ursprungsgeschichte sind erst zu meinen Lebzeiten entdeckt worden.

Zum Teil verdanken wir es unseren großen Gehirnen, dass wir diese umfassenden Karten des Universums anlegen können, denn wie viele Organismen verwenden wir unsere Gehirne, um innere Karten von der Welt zu entwerfen. Diese Karten erzeugen eine Art virtueller Realität, mit deren Hilfe wir uns orientieren können. Nie können wir die Welt unmittelbar in allen ihren Einzelheiten sehen. Aber wir sind fähig, einfache Karten einer unfassbar komplizierten Wirklichkeit anzufertigen, und wir wissen, dass diese Karten wichtigen Aspekten der Wirklichkeit entsprechen. Das übliche Diagramm der Londoner U-Bahn lässt die meisten Kurven der Strecke außer Acht, hilft den meisten Reisenden aber trotzdem, ihren Weg durch die Stadt zu finden. Dieses Buch bietet eine Art U-Bahn-Karte des Universums.

Was den Menschen von allen anderen intelligenten Arten unterscheidet, ist die Sprache, ein Kommunikationswerkzeug, das so außerordentlich leistungsfähig ist, weil wir dank seiner unsere individuellen Weltkarten miteinander teilen und auf diese Weise Karten erzeugen und miteinander vergleichen konnten, die viel größer und detaillierter sind als die Erzeugnisse individueller Gehirne. Durch diesen Prozess kollektiven Lernens haben die Menschen während der zweihunderttausend Jahre ihrer Existenz als Spezies Pixel für Pixel immer komplexere Karten des Universums entwickelt. So kommt es, dass ein kleiner Teil des Universums beginnt, sich selbst zu betrachten. Es ist, als öffnete das Universum nach einem langen Schlaf ein Auge. Heute sieht dieses Auge immer neue Einzelheiten, was einer Reihe von Faktoren zu verdanken ist: dem weltweiten Austausch von Ideen und Informationen; der Genauigkeit und Schlüssigkeit der modernen Naturwissenschaft; neuen Forschungstechniken, von hochenergetischen Teilchenbeschleunigern bis zu Weltraumteleskopen; und Computernetzen, die unvorstellbare Zahlenmengen verarbeiten können.

Der Geschichte dieser Karten verdanken wir die großartigste Erzählung, die Sie sich vorstellen können.

 

Als Kind konnte ich nichts verstehen, was ich nicht in irgendeine Karte einordnen konnte. Wie viele Menschen versuchte ich, die vielen Wissensgebiete zu verknüpfen, mit denen ich mich beschäftigte. Literatur hatte nichts mit Physik zu tun; zwischen Philosophie und Biologie konnte ich ebenso wenig einen Zusammenhang erkennen wie zwischen Religion und Mathematik oder zwischen Wirtschaftswissenschaft und Ethik. Ich suchte nach einem übergeordneten Bezugssystem, nach einer Art Weltkarte der verschiedenen Kontinente und Inseln menschlichen Wissens; ich wollte erkennen, wie das alles zusammenpasste. Traditionelle religiöse Erzählungen halfen mir wenig, denn da ich als Kind in Nigeria gelebt hatte, war mir schon sehr früh klar geworden, dass Religionen sich zu häufig widersprechen, um zu erklären, wie die Welt zu dem wurde, was sie ist.

Heute entsteht in unserer globalisierten Welt ein neues Bezugssystem. Es wird von Tausenden von Menschen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und einer Vielzahl von Ländern kollektiv entworfen, entwickelt und publik gemacht. Wenn wir alle diese Einsichten zusammenfassen, können wir unter Umständen Dinge wahrnehmen, die innerhalb der Grenzen einer bestimmten Disziplin nicht zu erkennen sind. Wir betrachten die Welt von einem Berggipfel und nicht vom Boden aus. Wir sehen die Verbindungen zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Landschaften, daher können wir gründlicher über allgemeine Themen nachdenken, etwa das Wesen von Komplexität, Leben oder auch unsere eigene Art! Heute erforschen wir den Menschen aus dem Blickwinkel vieler verschiedener Disziplinen (Anthropologie, Biologie, Physiologie, Primatologie, Psychologie, Linguistik, Geschichte, Soziologie), aber die Spezialisierung erschwert es dem einzelnen Forscher erheblich, so viel Abstand zu gewinnen, dass er die Menschheit als Ganzes sieht.

Die Suche nach Ursprungsgeschichten, die verschiedene Wissensgebiete miteinander verbinden können, ist so alt wie die Menschheit. Ich stelle mir gern eine Gruppe von Menschen vor, die vor vierzigtausend Jahren bei Sonnenuntergang um ein Feuer herumsaß. Ich sehe sie am Südufer des Lake Mungo in der Willandra-Seenregion von New South Wales, wo die ältesten menschlichen Überreste Australiens gefunden wurden. Heute leben dort die Paakantji, Ngyiampaa und Mutthi Mutthi, aber wir wissen, dass seit mindestens fünfundvierzigtausend Jahren Menschen in dieser Region leben.

1992 wurden die 1968 von Archäologen entdeckten Überreste eines Vorfahren (des sogenannten Mungo 1) endlich an die lokale Aborigines-Gemeinschaft zurückgegeben. Es handelt sich um eine junge Frau, die teilweise verbrannte.2 Einen halben Kilometer entfernt wurden die Überreste eines weiteren Menschen gefunden (Mungo 3), wahrscheinlich ein Mann, der mit ungefähr fünfzig Jahren starb. Er hatte an Arthritis gelitten und wies zahlreiche beschädigte Zähne auf, vermutlich weil er Pflanzenfasern durch seine Zähne gezogen hatte, um Netze oder Schnüre anzufertigen. Sein Körper war achtsam und ehrerbietig bestattet worden, nachdem man ihn aus einer Entfernung von zweihundert Kilometern herbeigeschafft und mit rotem Ockerpuder bestreut hatte. Beide Menschen starben vor rund vierzigtausend Jahren, als die heute ausgetrockneten Willandra-Seen noch voller Wasser, voll von Fischen und Schalentieren waren und eine Vielzahl von Vögeln und Tieren anlockten, die gejagt oder in Fallen gefangen werden konnten.3

Kehren wir zu den fiktiven Gesprächen in der Abenddämmerung am Feuer zurück. Dort finden wir Mädchen und Jungen, ältere Männer und Frauen, Eltern und Großeltern, einige in Felle gewickelt und Babys wiegend. Kinder jagen sich am Seeufer, während die Erwachsenen ihre Mahlzeit aus gebratenen Wurzelknollen, Witchetty-Maden und Waransteaks beenden. Allmählich wendet sich das Gespräch ernsteren Themen zu und wird zunehmend von den älteren Leuten bestimmt. Wie an so vielen langen Sommertagen und Winternächten erzählen die Alten, was sie von ihren Vorfahren und Lehrern erfahren haben. Sie stellen die Art von Fragen, die mich seit jeher faszinieren: Wie hat die Landschaft mit ihren Hügeln und Seen, ihren Tälern und Schluchten Gestalt angenommen? Woher kommen die Sterne? Wann haben die ersten Menschen gelebt, und woher kamen sie? Oder waren wir schon immer da? Sind wir mit Waranen, Wallabys und Emus verwandt? (Auf letztere Frage antworten sowohl die Menschen vom Lake Mungo wie die moderne Wissenschaft mit einem entschiedenen »Ja!«) Die Erzähler lehren Geschichte. Sie berichten über mächtige Kräfte und Wesen, die in ferner Vergangenheit unsere Welt erschufen.

Diese Erzählungen erstrecken sich über viele Nächte und Tage und beschreiben die paradigmatischen Ideen und Mythen der Menschen am Lake Mungo. Das sind die Ideen mit langem Atem, die Ideen, die Jahrhunderte überdauern. Sie fügen sich zu einem riesigen Mosaik von Informationen über die Welt zusammen. Einige Kinder finden Teile der Geschichte zu schwierig, um sie beim ersten Mal zu verstehen. Aber sie hören die Geschichten oft und in unterschiedlichen Versionen, und sie gewöhnen sich an sie und ihren tieferen Sinn. Wenn die Kinder älter werden, verinnerlichen sie die Geschichten. Sie lernen sie besser kennen und wissen ihre Schönheiten, Feinheiten und Bedeutungen zu schätzen.

Wenn die Menschen über Sterne, Landschaften, Wombats und Wallabys oder über die Welt der Vorfahren sprechen, entwerfen die Lehrer eine gemeinsame Karte, die den Mitgliedern der Gemeinschaft das Verständnis erleichtert, die ihnen zeigt, wo ihr Platz in einem vielfältigen, schönen und manchmal schrecklichen Universum ist: Dies seid Ihr; dies ist, woher ihr kommt; dies sind die, die es gab, bevor ihr geboren wurdet; dies ist das Ganze, von dem ihr ein kleiner Teil seid; dies sind die Pflichten und Aufgaben, die euch aus dem Leben in einer Gemeinschaft mit anderen wie euch selbst erwachsen. Die Geschichten haben große Macht über die Menschen, weil man ihnen vertraut. Sie fühlen sich wahr an, weil sie auf dem erprobten Wissen beruhen, das von den Vorfahren über viele Generationen weitergegeben wurde. Immer wieder wurde es auf Richtigkeit, Plausibilität und Schlüssigkeit überprüft, wobei man sich der reichen Erkenntnisse über Menschen, Sterne, Landschaften, Pflanzen und Tiere bediente, die die Mungogemeinschaft, ihre Vorfahren und ihre Nachbarn erworben hatten.

Wir können alle von den Karten profitieren, die unsere Vorfahren anlegten. Der französische Soziologe Émile Durkheim vertrat die Ansicht, dass die Karten, die sich in den Ursprungsgeschichten und Religionen verbergen, von entscheidender Bedeutung für unsere Selbstwahrnehmung sind. Ohne sie könnten wir von einem Gefühl der Verzweiflung und Sinnlosigkeit überwältigt werden, das gelegentlich in den Selbstmord führe. Kein Wunder, dass fast alle Gesellschaften, die wir kennen, die Ursprungsgeschichten in den Mittelpunkt ihrer Erziehung gestellt haben. In der Steinzeit lernten die Jungen die Ursprungserzählungen von den Älteren, so wie die Gelehrten später die zentralen Erzählungen des Christentums, Islams und Buddhismus an den Universitäten von Paris, Oxford, Bagdad und Nalanda studierten.

Doch merkwürdigerweise fehlt im modernen Bildungswesen eine überzeugende Ursprungsgeschichte, die alle Erkenntnisbereiche miteinander verbindet. Das könnte zumindest teilweise erklären, warum das von Durkheim beschriebene Gefühl der Orientierungslosigkeit und Vereinzelung heute überall auf der Erde spürbar ist, in Delhi oder Lima genauso wie in Lagos oder London. In einer global vernetzten Welt werben so viele lokale Herkunftserzählungen um das Vertrauen und die Aufmerksamkeit der Menschen, dass sich die Geschichten gegenseitig entwerten. Daher konzentriert sich das moderne Bildungswesen überwiegend auf Teile der Geschichte, sodass die Schüler ihre Welt nur durch einzelne Disziplinen kennenlernen. Zum Lernstoff heutiger Schüler gehören Dinge, die unseren Vorfahren am Lake Mungo völlig fremd waren – von der Infinitesimalrechnung über moderne Geschichte bis zu Programmiersprachen. Doch im Unterschied zu den Menschen am Lake Mungo wird selten von uns verlangt, das Wissen zu einer einzigen, zusammenhängenden Erzählung zu vereinigen, ähnlich wie die Globen in altmodischen Klassenzimmern Tausende von lokalen Karten zu einer einzigen Weltkarte zusammenfassten.

 

 

Eine moderne Ursprungsgeschichte

 

Und doch … stückweise bildet sich eine moderne Ursprungsgeschichte heraus. Wie die Geschichten, die am Lake Mungo erzählt wurden, ist auch unsere moderne Ursprungserzählung von unseren Vorfahren entworfen und dann im Laufe vieler Generationen und Jahrtausende immer wieder kritisch betrachtet und überprüft worden.

Natürlich unterscheidet sie sich von den meisten traditionellen Ursprungserzählungen. Was zum Teil daran liegt, dass sie nicht einer bestimmten Region oder Kultur zu verdanken ist, sondern einer globalen Gemeinschaft von mehr als sieben Milliarden Menschen, daher bezieht sie ihr Wissen aus allen Teilen der Welt. Sie ist eine Ursprungserzählung für alle modernen Menschen, und sie stützt sich auf die globalen Traditionen der modernen Naturwissenschaft.

Anders als viele traditionelle Ursprungserzählungen weist die moderne Version keinen Schöpfergott auf, obwohl ihre Energien und Teilchen nicht weniger übernatürlich erscheinen als viele traditionelle Ursprungsgeschichten. Wie in den Erzählungen des Konfuzianismus oder des frühen Buddhismus geht es in der modernen Ursprungsgeschichte auch um ein Universum, das einfach ist. Jeder darüber hinausgehende Sinn oder Zweck wird ihm von uns Menschen zugeschrieben. »Was ist der Sinn des Universums?« fragt Joseph Campbell, ein Mythenforscher und Religionswissenschaftler. »Was ist der Sinn eines Flohs? Er ist einfach da, das ist es; und das ist auch sein Sinn, einfach da zu sein.«4

Die Welt der modernen Ursprungserzählung ist instabiler, unruhiger und weit größer als die Welten vieler traditioneller Ursprungsgeschichten. Diese Eigenschaften verweisen auf die Grenzen der modernen Ursprungsgeschichte. Obwohl von globaler Geltung, ist sie noch sehr jung, gewissermaßen im Rohzustand, mit einigen blinden Flecken der Jugend. Sie entwickelte sich zu einer ganz bestimmten Zeit in der menschlichen Geschichte, daher ist sie von den dynamischen und möglicherweise destabilisierenden Traditionen des modernen Kapitalismus geprägt. Das erklärt, warum sie in vielerlei Hinsicht die nötige Sensibilität für die Biosphäre vermissen lässt, die wir von den Ursprungsgeschichten indigener Völker überall auf der Erde kennen.

Das Universum der modernen Geschichte ist ruhelos, dynamisch, in Bewegung und riesig. Der Geologe Walter Alvarez erinnert uns daran, indem er fragt, wie viele Sterne es enthält. Die meisten Galaxien umfassen etwa 100 Milliarden Sterne, und es gibt mindestens ebenso viele Galaxien im Universum. Daraus folgt, dass es (tief Atem holen!) mindestens 10.000.000.000.000.000.000.000 (1022) Sterne im Universum gibt.5 Ende 2016 haben neuere Beobachtungen gezeigt, dass es wohl sehr viel mehr Galaxien im Universum gibt – Sie dürfen also gern noch ein paar Nullen an diese Zahl dranhängen. Unsere Sonne ist nur ein ganz gewöhnliches Mitglied dieser riesigen Gruppe.

Die moderne Ursprungsgeschichte ist keineswegs vollständig. Sie befindet sich noch im Bau. Neue Abschnitte müssen hinzugefügt, bereits vorhandene Teile überprüft und abgeändert, Gerüste und Abfallhaufen entfernt werden. Und es gibt noch immer Lücken in der Geschichte, daher wird sie – wie alle Ursprungserzählungen – niemals den Nimbus des Geheimnisses und der Erhabenheit verlieren. Doch in den letzten Jahrzehnten haben wir das Universum, in dem wir leben, sehr viel besser kennengelernt, ohne dass es sein Geheimnis verloren hätte, ganz im Gegenteil. Bei Blaise Pascal lesen wir: »Wissen ist wie eine Kugel. Je größer das Volumen, desto stärker der Kontakt mit dem Unbekannten.«6 Die moderne Ursprungsgeschichte berichtet von dem Erbe aller Menschen und kann uns daher auf die großen Herausforderungen und Chancen vorbereiten, denen wir uns alle an diesem entscheidenden Punkt in der Geschichte des Planeten Erde gegenübersehen.

Im Zentrum der modernen Ursprungsgeschichte steht die Idee wachsender Komplexität. Wie entstand unser Universum, in dem wir mitreisen, und wie brachte es zunächst Elemente und irgendwann Schnabeltiere hervor? Wir wissen nicht wirklich, woraus sich das Universum gebildet hat und ob es vor ihm schon irgendetwas gab. Aber wir wissen, dass unser Universum, als es aus einem riesigen Energieschaum hervorging, außerordentlich einfach war. Und Einfachheit bleibt auch seine Grundbedingung. Schließlich ist es größtenteils ein kalter, dunkler und leerer Raum. Trotzdem herrschten in speziellen und ungewöhnlichen Umwelten, wie auf unserem Planeten, vollkommene Goldilocks-Bedingungen, die wie der Brei in der gleichnamigen angelsächsischen Kindergeschichte sind: nicht zu warm und nicht zu kalt, nicht zu dick und nicht zu dünn, sondern genau richtig für die Entwicklung von Komplexität.7 In diesen Goldilocks-Umwelten sind im Laufe von vielen Milliarden Jahren immer komplexere Phänomene in Erscheinung getreten, mit mehr beweglichen Teilen und unübersichtlicheren inneren Beziehungen.

Komplexere Phänomene traten an entscheidenden Übergangspunkten auf, und die wichtigsten von ihnen werde ich als Schwellen bezeichnen. Die Schwellen geben dem komplizierten Narrativ der modernen Ursprungsgeschichte eine Struktur. Sie verweisen auf wichtige Wendepunkte, an denen bereits vorhandene Dinge neu angeordnet oder auf andere Weise verändert wurden, sodass etwas Neues mit »emergenten« Eigenschaften entstand – Besonderheiten, die es vorher noch nie gab. Das frühe Universum hatte keine Sterne, keine Planeten und keine lebenden Organismen. Dann wurden aus Wasserstoff- und Heliumatomen Sterne gebildet, im Inneren sterbender Sterne entstanden neue chemische Elemente, Planeten und Monde bildeten sich mit Hilfe dieser neuen chemischen Elemente aus Eis- und Staubklumpen, und die ersten lebenden Zellen entwickelten sich in den vielfältigen Umwelten felsiger Planeten. Wir Menschen gehören unmittelbar zu dieser Geschichte, denn wir sind Produkte der Evolution und Diversifizierung des Lebens auf dem Planeten Erde. Doch im Laufe unserer kurzen, aber bemerkenswerten Geschichte haben wir so viele vollkommen neue Formen der Komplexität geschaffen, dass wir heute die Veränderung auf unserem Heimatplaneten zu beherrschen scheinen. Das Auftreten von neuen Phänomenen, die komplexer sind als das, was vorher war, von Phänomenen mit emergenten Eigenschaften, wirkt stets so wundervoll wie die Geburt eines Kindes, weil das Universum im Allgemeinen die Tendenz hat, weniger komplex und ordentlich zu werden. Schließlich wird diese Neigung zu wachsender Unordnung, zu Entropie, die Oberhand gewinnen. Das Universum wird in zufälligem Durcheinander ohne Muster oder Struktur versinken. Doch bis dahin ist es noch ein sehr, sehr weiter Weg.

Derzeit scheinen wir in einem kraftstrotzenden, jungen Universum voller Kreativität zu leben. Die Geburt des Universums – unsere erste Schwelle – ist so wundervoll wie alle anderen Schwellen unserer modernen Ursprungsgeschichte.