Teil 1

Riders on the Storm

Riders on the storm

Into this house, we’re born

Into this world, we’re thrown

Like a dog without a bone

An actor out on loan

Riders on the storm

The Doors, 1971

K ommissar Ludwig Haselbacher saß übergewichtig hinter dem abgenutzten Schreibtisch des verrauchten Amtszimmers, in dem er bereits seit Mitte der 1960er Jahre saß, als er zum Kommissar befördert worden war. Die Wände, ursprünglich wahrscheinlich in einem munteren Ockergelb gestrichen, waren im Laufe der Jahre zu einem matten Durchfallbeige verkommen, da und dort schimmerte schmutzig weiß die Wand durch. Über einem klobigen Rollkasten hing ein vergilbtes Schild, auf dem die Distinktionen und die dazugehörigen Titel von Beamten im Polizeidienst nach Ranghöhe, von oben links bis unten rechts, abgebildet waren.

Hinter Haselbacher sollte eigentlich das Schwarz-Weiß-Bild von Bundespräsident Franz Jonas hängen, aber das hatte er, entgegen der allgemeinen Anweisung, es zentral in den Amtsräumen aufzuhängen, gewissermaßen asymmetrisch auf die Seite des Zimmers verbannt, neben das Fenster, wo es am dunkelsten war in dem Raum. Der Bundespräsident gehörte der anderen Reichshälfte, nämlich der roten, an und die war nicht die politische Heimat Haselbachers. Hinter ihm hing ein mit Reißnägeln befestigtes Poster aus den 60er Jahren.

BIST DU JUNG, GESUND UND FREI ,

KOMM’ ZUR WIENER POLIZEI .

Auf halber Höhe daneben, an einer Stelle, die vom Tageslicht bevorzugt war, klebte ein altes, postkartengroßes Foto einer jungen Frau, die, ein flottes Käppi am Kopf und das Gesicht über eine Schulter nach hinten gewandt, treudeutsch lachte.

Haselbacher strich sich mit Daumen und Zeigefinger von den Nasenflügeln über seine Ulkusfalten bis zu den Mundwinkeln und sagte im galligen Tonfall eines Magenkranken: »Ah so, die jugoslawische Hausmeisterin hat das Opfer identifiziert? Wie kann die das denn so genau wissen, bei dem zerschnittenen Gesicht? Na gut, da werden wir noch nachfragen, weil was so eine Tschuschin sagt … man kennt das ja.«

Dann fiel sein Blick mit Missfallen auf Walter. »Bringen’S den angespiebenen Halbstarken in die Dusche bei der Ausnüchterungszelle, Altendorfer, der stinkt ja wie ein Pestfetzen.«

Angeekelt wedelte er mit einer Hand vor seiner Nase hin und her.

»Ich hab’ überhaupt nichts gemacht«, protestierte Walter, ließ sich aber von Rayonsinspektor Altendorfer, der erfolglos versuchte, ihn nicht zu berühren, widerstandslos zur Dusche führen. Dort empfing ihn ein knabenhaft wirkender Bursche, offenbar so etwas wie ein Polizeischüler, um ihm ein Stück Seife und ein nicht weichgespültes Handtuch auszuhändigen.

»Die gehören alle in ein Arbeitslager«, räsonierte Haselbacher, zündete sich eine Johnny ohne Filter an, räusperte lautstark Schleim hoch, den er in ein verklebtes Taschentuch spuckte. »Sowas hätt’s unterm …«

»Herr Kommissar«, unterbrach ihn Bezirksinspektor Faustenhammer, »sollten wir nicht einen Fotografen zum Tatort schicken?«

»Natürlich«, polterte Haselbacher, »und dann schreiben’S einen Bericht und schaun’S, dass die Leich’ auf die Gerichtsmedizin kommt! Und Faustenhammer: Lassen’S den Asozialen mit den langen Haaren auch gleich erkennungsdienstlich abfotografieren.« Er blickte auf seine Uhr. »Wieder einmal kein Heimkommen, Herrgott noch mal«, sagte er gereizt, obwohl zu Hause niemand auf ihn wartete.

Er griff zum Telefon, wählte die Nummer der Pathologie in der Sensengasse, ließ es läuten und läuten, wollte schon wieder auflegen, als sich eine ruhige Stimme meldete.

»Dr. Weintritt, Gerichtsmedizin. Was ist denn, ich wollte gerade das Geschäft zusperren?«

»Ja, ich kann auch nicht nach Haus’ gehen, Herr Doktor. Wir haben eine Leiche mit einem verdrehten Kopf und einem zerschnittenen Gesicht. Und keinerlei Papiere oder sonst was, die auf die Identität des Opfers hinweisen würden. Vielleicht können Sie bei Ihren Zahnärzten nachwassern …«

»Was heißt, ›meine‹ Zahnärzte, Sie sind gut, hören Sie! Wurscht. Legen Sie ihn mir auf den Tisch. Ich schau’ mir das beizeiten dann an. Schönen Abend, Herr Haselbrunner!«

»…bacher, Haselbacher!«, sagte der Kommissar genervt, aber Dr. Weintritt hatte schon aufgelegt.

Der wäre mir damals gerade recht gekommen, dachte er, was bildet sich dieser Leichenschänder eigentlich ein?

• • •

Walter saß im, wenn überhaupt ganz schlecht gelüfteten, Amtszimmer von Kommissar Haselbacher, ohne Handschellen, geduscht, trotz Ausnüchterungszelle halbwegs ausgeschlafen, in einem Unterleiberl aus Polizeibeständen, rauchte eine von Haselbachers Zigaretten und trank aus einem Häferl mit der Aufschrift »133 Polizei« heißen Kaffee.

Haselbacher beugte sich vor und blies Walter Rauch ins Gesicht. »Wollen’S eine Topfengolatsche 1

»Ja«, sagte Walter, »bitte!«

»Ich auch. Aber wir haben keine.« Haselbacher grinste hämisch, wurde aber sofort wieder amtlich. »Also, schildern Sie den Tathergang, Herr Walter Horvath. Haben Sie diesem Hofer zuerst den Hals umgedreht und ihm dann das Gesicht zerschnitten, oder …« Er unterbrach sich und legte vor Walter ein A4-großes, schwarz-weißes Foto hin. »Sagen Sie, mit was haben Sie dem denn das Gesicht quadriert? Ich hab’ sowas noch nicht gesehen.«

Walter blies in den heißen Kaffee, schaute zuerst das Foto, dann den Beamten an, der wiederum ihn, Walter, mit einem durchbohrenden Blick ansah, was Walter erschrocken denken ließ: Der Typ ist ein Irrer, der kann doch nicht wirklich glauben, dass ich das war. Aber vielleicht ist das Verhörtaktik oder sowas. »Ich hab’ gar nichts, Herr Polizeichef, ich hab’ ihn nur gefunden, ich hab’ überhaupt nichts damit zu tun, ich wollt’ heimgehen und auf einmal …«

»… ist Ihnen die Leich’ vor die Füße gefallen?«

»Aber nein, Herr Polizei…«

»Wenn’S noch einmal ›Herr Polizeichef‹ zu mir sagen, lass’ ich Sie wieder einsperren, Sie Kasperl! Kommissar, Herr Kommissar heißt das.«

Nachdem er Walter über die Dienstränge aufgeklärt hatte, lehnte er sich zurück und musste erst mal Luft holen. »Also«, fuhr er fort, »heimgehen wollten Sie, Sie sind wohnhaft im 16. Bezirk, Wurlitzergasse 19, stimmt das?«

»Ja, das Haus gleich neben dem Männerheim, Zimmer, Küche. Wasser und Klo am Gang«, erläuterte Walter seine Wohnsituation.

»Haben Sie das Opfer gekannt oder sonst irgendwie mit ihm je zu tun gehabt?«

»Aber nein, Herr Po… Herr Kommissar, ich kenn’ den gar nicht, nie gesehen.«

»Wenn Sie in der Wurlitzergasse wohnen, warum gehen Sie dann durch die Speckbachergasse?«, fragte Haselbacher argwöhnisch. »Von wo sind Sie denn gekommen und was haben Sie dort gemacht?«

»Ich war bei einem Freund in der Reizenpfenniggasse und wollte heimgehen, sonst nichts.«

»Und was haben Sie bei Ihrem Freund gemacht? Wie heißt der überhaupt, Ihr Freund?«

»Der Jack? Jack heißt der …«

Ludwig Haselbacher verzog den Mund und drückte die Säure hinunter, die ihm aus dem Magen über die Speiseröhre bis in den Mund zu steigen drohte. »Jack, Jack … Hauptsache amerikanisch, was?«

»Bitte: Jakob. Jakob Goldmann.«

»Jakob, aha … ein Jud’?«

»Weiß ich nicht, Herr Kommissar.«

»Ah, wissen Sie also nicht«, brummte Haselbacher in sich hinein. »Früher hat man das gewusst.« Dann wieder zu Walter gewandt: »Und?«

»Und was?«

»Was haben Sie dort gemacht bei Ihrem Freund?«

»Ich hab’ seine Schwester besucht, die Edna. Wir sind zusammen.«

»Moment, Herr Horvath, was heißt, Sie haben seine Schwester besucht? Wohnt die bei ihm, oder was?«

»Vorübergehend, bis wir zusammenziehen, also bis ich mir das Wasser einleiten lassen und mir eine Dusche mit Sitzbadewanne in der Küche leisten kann.«

»Da schau her«, Haselbacher dämpfte seine Johnny aus, »und weiter?«

Walter Horvath dämpfte nun auch seine Zigarette aus. »Was weiter? Der Jack war nicht zu Haus’.«

»Haben Sie seine Schwester ditschgerlt 2 , gell?«

Walter schaute Haselbacher an und überlegte, ob er ihm den Aschenbecher auf den Kopf hauen sollte. Er fühlte sich, weniger durch dieses Wort als durch die Tatsache, dass Haselbacher es aussprach, gedemütigt und seine Beziehung mit Edna angepatzt.

»Make love, not war«, sagte Walter schließlich.

»Reden’S gefälligst Deutsch, hörn’S? Und haben’S Rauschgift konsumiert?«

»Aber woher denn«, log Walter entrüstet.

»Mir können’S nichts erzählen. Das seh’ ich doch gleich, wenn ich so einen Hascher vor mir sitzen hab’. Also, Herr Horvath: Als Täter kommen Sie nicht infrage, mit Ihren Oberarmen wie Fensterhaken können’S niemandem den Hals brechen. Aber wir beide sind noch nicht fertig miteinander, das sag’ ich Ihnen. Altendorfer!«

Rayonsinspektor Altendorfer trat ein. Haselbacher machte eine Bewegung, als würde er eine Fliege verscheuchen. »Geben’S dem da seine Sachen zurück und schicken’S ihn heim.«

»Herr Kommissar«, meinte Walter, »kann ich das Leiberl da anlassen, weil meine Sachen stinken sicher noch immer …«

»Hat Sie ein Aff’ gebissen? Glauben Sie, wir kleiden Sie hier ein?«

• • •

»Also: Eindeutig Tod durch gewaltsam herbeigeführtes Verdrehen und dadurch Brechen der Halswirbelsäule«, sagte Dr. Weintritt. »Keine Anzeichen von Vermeidbewegungen an den Händen des Opfers …«

»Von was?«, fragte Haselbacher.

»Von Gegenwehr. Wahrscheinlich ist er von hinten angegriffen worden. Ein kurzer, kraftvoller Ruck und … aus. Lautlos und sehr professionell!«

»Auftragsmörder?«, fragte der Kommissar.

»Kann ich nicht sagen. Das müssen Sie herausfinden, Herr Haselb…«

»…bacher, Ludwig Haselbacher!«

»Sag’ ich ja«, beschwichtigte Weintritt. »Ich habe ein paar Fotos von seinem Gebiss gemacht und an meine Zahnärzte geschickt. Bis jetzt nichts. Mich tät überhaupt wundern, wenn der in den letzten zehn Jahren bei einem Zahnarzt gewesen ist, so wie dem seine Hauer 3 beieinander sind. Und noch was: Seine Haut, sein Teint, weist auf einen Südländer hin. Muss aber nicht sein.«

»Und mit was hat der Täter dem sein Gesicht so zugerichtet?«

»Keine Ahnung. Sie sind der Kommissar. Die Verunstaltungen wurden dem Opfer übrigens erst nach seinem Tod beigebracht, sonst hätten sie mehr geblutet.«

»Danke. Sie sind mir eine große Hilfe, Herr Doktor.«

»Übrigens: Todeszeitpunkt vor ungefähr 36 Stunden!«

Der Kommissar schaute sich um. Jedes Mal, wenn er sich im Gruselkabinett des Dr. Weintritt , wie er dessen Arbeitsplatz bei sich nannte, aufhielt, wunderte er sich, wie ein Studierter das Tag für Tag und Jahr für Jahr aushalten konnte. Diese Stille, in der jedem Geräusch ein gespenstischer Nachhall folgte, das Klirren dieser ausschließlich der Totenschau dienenden Geräte, von kleinsten Skalpellen über diverse Sägen, metallische Schalen und eine mechanische Waage, die stumm drohend im Raum neben dem weiß emaillierten Leichentisch stand, auf dem jetzt, mit absurd offenen Augen im entstellten Gesicht, der Leichnam dieses Hofer lag. Haselbacher schaute auf die Uhr.

Er hatte die ganze Zeit nur flach geatmet, weil er fürchtete, den Tod zu inhalieren, traute sich erst auf dem Gang der Pathologie wieder einen tiefen Atemzug, hustete trocken und murmelte in sich hinein: »No, das kann was werden.«

• • •

Kaum, dass Walter wieder in seiner Wohnung war, holte er Wasser von der Bassena 4 . Der Gang zur Bassena war jedes Mal ein kleines Abenteuer, lief man doch Gefahr, einer der drei Witwen oder, gottbehüte, allen dreien, die außer den Eheleuten Summer und Walter ebenfalls im dritten Stockwerk wohnten, in die Hände zu fallen. Denn die Sache mit dem Bassena-Tratsch ist zwar legendär, jedoch nie bloß Legende gewesen. Wenn sich meist ältere und oft verwitwete Frauen beim Wasserholen an der Bassena trafen, dann stellte sich wie von selbst eine Art Nachrichtendienst ein. Konnte man sich nicht, wie Walter, mit der Ausrede, etwas »am Herd« vergessen zu haben, entschuldigen, so war man gezwungen, alle Ungeheuerlichkeiten aus der Umgebung über sich ergehen zu lassen, diesen, wenn möglich, noch etwas hinzuzufügen, sich diverse Vernaderungen 5 anzuhören und, bevor man sich endlich zurückziehen durfte, noch ausfratscheln 6 lassen musste.

Walter hatte Glück.

Die Luft war rein. Er schleppte die volle drei Liter fassende Kanne in seine Wohnung und goss Wasser in das Plastiklavoir, das auch der täglichen Körperreinigung diente, obwohl man sich nur mit größter Anstrengung den ganzen Körper reinigen konnte. Um Gesicht, Hals, Achseln und Hände zu waschen, reichte es aber gerade. Zuvor musste er das Wasser fast immer in einem Topf, der ausschließlich diesem Zweck diente, auf einer der zwei Gasflammen des vorsintflutlichen Herdes erwärmen.

Er weichte seine übelriechende Wäsche ein, »drückte sie durch«, wie man sagte, zog sich um und ging hinunter zu der Telefonzelle auf der Straße, um Jack anzurufen.

»Ja?«

»Horch einmal zu, ich erzähl’ dir was …«

Und Jack hörte zu.

»Diese Hausmeisterin«, fragte Jack schließlich, als Walter geendet hatte, »die hat gesagt, dass der Tote der Hofer war, unser Hofer?«

»Wenn ich es dir sag’!«

»Ja, aber wie kann die das behaupten, wenn das Gesicht so zerschnitten war?«

»Aber gar so zerschnitten war’s ja nicht, es war nur so würfelig … und eigentlich nur ein bisserl blutig.«

Jack schwieg einen Moment.

»Jack?«

»Ja, ich bin eh noch da. Und du …« Jacks Ton wurde ungewohnt sachlich. »Du bist dir hundertprozentig sicher, dass es nicht der Hofer war?«

»Wenn ich’s dir doch sag’!«

»Sehr suspekt.« Suspekt war ein Lieblingswort Jacks, das er oft verwendete, auch, wenn es gar nicht passte. »Ist die Edna da?«

»Ja, Moment …«

»Hallo, Waldi«, sagte Edna. »Wo bist du denn?«

»Geh, sag nicht dauernd Waldi zu mir …«

»Wo du doch so einen Dackelblick hast.« Sie kicherte. »Kommst du dann her?«

»Ja, ich dusch’ mich bei euch und dann gehen wir zu mir …«

Jack wohnte in einer der neueren Genossenschaftsbauten, und bei diesen waren im Gegensatz zu den Wiener Altbauten Wasser und Klo (Sanitäranlagen, wie man sagte) von vornherein eingebaut.

»Okay, weil ich glaub’, der Jacky geht heut’ nicht weg.«

»Ist er krank?«

»Nein. Er kriegt Besuch von einem Mädel, Suskia oder so. Einer Neuen.«

»Wie heißt die?« Doch bevor Edna den Namen von Jacks Neuer wiederholen konnte, brach die Verbindung ab, und Walter hatte keinen Schilling mehr, um nochmals anzurufen.

• • •

Der bittersüße Geruch von türkischem Haschisch, vermischt mit dem indischer Räucherstäbchen, hing in Jacks Wohnung, der gemeinsam mit Edna und Walter auf einem abgewetzten Teppich im Wohnzimmer saß und einen Joint anzündete. Nach einem tiefen Zug und einem geräuschvoll verhauchten Ausblasen gab er ihn weiter.

»Und diese Hausmeisterin hat was vom vierten Stock gesagt? Woher weiß denn die das?«, fragte Jack.

»Keine Ahnung«, antwortete Walter und blies ein wenig hustend Haschischrauch aus, »aber gesagt hat sie’s.«

»Das heißt doch gar nichts«, meinte Edna und nahm Walter ungeduldig den Joint weg, »hörst, du wohnst schon wieder auf dem Gerät, gib her«, und nahm ihrerseits zwei kurze, abgehackte Züge. »Das heißt gar nichts, sie ist doch die Hausmeisterin, natürlich weiß die was vom vierten Stock. Wahrscheinlich hat sie ihn einmal hineingehen sehen.«

»Trotzdem suspekt«, sagte Jack und nahm einen tiefen Zug. »Ich meine, klar kennt die den vierten Stock , aber weiß die, was Sache ist?«

Er blies den Rauch über teils zerfledderte Taschenbücher, die auf dem Boden verstreut lagen: Handkes »Die Angst des Tormanns vor dem Elfmeter«, E. A. Poes »Der Doppelmord in der Rue Morgue« und »Unterwegs« von Jack Kerouac.

»Keine Ahnung«, sagte Walter, der neben Edna saß und mit dem Rücken an einem abgewetzten Fauteuil lehnte, den Jack und er von einem Flohmarkt in die Wohnung geschleppt hatten. Locker legte er einen Arm über ihre Schulter und spielte gedankenverloren mit einer ihrer Brüste, »aber wir sollten schauen, ob da noch was vom Hofer seinem Zeug da ist. Wenn die Polizei da herumstierlt …«

»Geh«, sagte Edna leichthin, klopfte Walter auf seine Hand und entzog sich seiner Umarmung, »warum soll denn die Polizei da was machen?«

»Die Polizei steckt überall die Nase rein. Und wenn die vielleicht noch einen Hund mithaben …«

»Schnauze.«

»Was?«

»Hunde haben eine Schnauze«, kicherte Edna und nahm Walter bei der Nase, »eine Schnauze, gell, Waldi?«

»Aber gerade deswegen, weil sie eine Schnauze haben, haben sie eine Nase für’s Haschisch«, dozierte Jack.

»Wir sollten hingehen und schauen, ob noch was da ist.«

Walter blickte ausdruckslos auf den fast aufgerauchten Joint. »Da ist sicher noch was da«, murmelte er. »Der Hofer hat doch immer gesagt, dass sein Vorrat unerschöpflich ist.«

»Ich trau mich das nicht«, sagte Edna. »Überhaupt wird das Haustor sicher zugesperrt!«

»Aber erst um sechs oder so.« Walter stand ein wenig mühsam auf, blieb stehen und murmelte beeindruckt: »Pfo, der Stoff kann was, ich taumle, haha …«

»Wo willst denn hin?«

»Auf’s Häusl.«

Walter verbrachte in somnambuler Versunkenheit gute zehn Minuten auf dem Klo, ehe er sich wieder neben Edna fallen ließ. »Komm, fahren wir ins Voom «, sagte er. Und der Form halber fügte er hinzu: »Gehst du mit, Jacky?«

»Nein, ich bleib’ da, ich bin eingeraucht wie ein Oberrabbiner.«

• • •

Das Voom , eigentlich Voom Voom , war zu jener Zeit die Diskothek in Wien. Sie lag in der Daungasse, im achten Bezirk, in der Josefstadt. Hier wurde Musik aufgelegt, die man nie im Radio zu hören bekam. Die Beatles und im weitesten Sinne auch die Rolling Stones waren am Weg, gesellschaftsfähig zu werden. Im Voom liefen Jimi Hendrix, Frank Zappa, Pink Floyd, Country Joe and the Fish , Captain Beefheart, The Pretty Things … Underground eben.

Am Türsteher kam nicht jeder vorbei. Man musste schon eindeutig ein Progressiver sein, um die Stufen in die Tiefen des Orkus hinuntersteigen zu dürfen und den mit psychedelischen Lichtspielen verzauberten Discotempel zu betreten. Auf der Tanzfläche herrschte Freestyle. Die meist überschminkten Mädchen tanzten entweder in lasziver Trance oder mit grotesken Zuckungen, während die Burschen sich meist mittels abgehackter Verrenkungen gebärdeten. Manche Paare wiederum standen weltvergessen, eng umschlungen, unaufhörlich zungenküssend da, nur kleine, geschmeidige Beckenbewegungen andeutend; ganz egal zu welcher Musik. Für die Elterngeneration ein Sündenpfuhl, von dessen Existenz sie nichts ahnen durfte.

Wenn man unzweideutig ein Progressiver war oder persönlich bekannt, musste man keinen Eintritt bezahlen. Gäste, die im Voom Eintritt zahlten, gehörten nicht zum inneren Kreis. Als Bursch musste man lange Haare haben, die gern mit schütterem Bartwuchs kombiniert sein durften. Modisch gab es ganz klare, ungeschriebene Gesetze: Möglichst Ungebügeltes, ja Zerknülltes, Hemden und Blusen in ausgewaschenen Farben, die allerdings langsam mehr oder weniger farbenfrohen Blumenmustern zu weichen begannen, denn die Zeit der Blumenkinder war angebrochen, und musikalisch begann man auf Leonard Cohen aufmerksam zu werden.

In dieser Szene, die vorwiegend in Diskotheken wie dem Voom Voom zu Hause war, fiel ein junger Mann mit Kurzhaarschnitt, Trevira-Hosen aus dem »Kleiderhaus zum Eisenbahner 7 « und einem dunkelblauen Hemd mit einem ärmellosen, großmütterlich gemusterten Pullover darüber selbstverständlich sofort auf. Er stand wie ein schlechter Geruch in einer nicht ausgeleuchteten Ecke der Tanzfläche und ließ den Blick nicht von Walter und Edna, die beiläufig miteinander tanzten.

»Was schaut denn der Typ da die ganze Zeit her?«, fragte Edna und deutete mit ihrem Kinn so unauffällig wie möglich in Richtung des Fremdkörpers. Walter wendete träge den Kopf und blickte durch die Rauchschwaden auf den provozierend aus dem Bild fallenden Burschen.

»Keine Ahnung. Aber ich hab’ den schon irgendwo gesehen, bilde ich mir ein.« Mit diesen Worten ging Walter auf den Kerl mit dem ärmellosen Pullover zu.

»Was schaust?«, fragte er sachlich.

Der Angesprochene wand sich ein wenig und blickte scheu um sich. »Ich kenn dich. Du warst heute am Wachzimmer«, flüsterte er kaum hörbar.

Walter stutzte und blickte sich nun seinerseits um.

»Ottakring. Grubergasse«, fuhr der Bursche fort.

»Bist du ein Kieberer 8

»Was? Bei der Polizei ist der?« Edna war zu den beiden getanzt und auch sie schaute sich witternd um.

»Ich bin noch in der Ausbildung. Ein ›provisorischer Wachmann‹, wie es offiziell heißt«, erklärte der Bursche. »Ich hab’ dir gestern bei der Dusche die Seife und das Handtuch gegeben.«

»Ah ja, genau, du warst das.«

»Ich bin der Vitus. Aus Zwettl. Vitus Veitschegger.«

»Ich bin der Walter, das ist die Edna.«

»Ich weiß«, sagte Vitus.

»Und? Musst du uns jetzt ausspionieren, oder was?«

»Aber wo! Mir gefällt das nur so da bei euch in Wien. Bei uns in Zwettl …«, er machte eine ausholende Bewegung, »gibt’s ja das alles nicht.«

»Da können wir dir leider auch nicht helfen«, sagte Edna abweisend, wollte Walter schon wegziehen, aber Walter hatte eine Idee.

»Horch zu, Vitus …«

• • •

Kommissar Ludwig Haselbacher und Bezirksinspektor Franz Faustenhammer standen vor der Hausmeisterwohnung des Zinshauses Speckbachergasse Nummer 20 in Wien-Ottakring. Sie hatten mehrmals geläutet, aber nachdem die Türglocke offensichtlich kaputt war, begannen sie, begleitet von energischen Rufen, lautstark an die Tür zu klopfen. »Polizei, Frau Potočnić, aufmachen! Wir wissen, dass Sie da sind!«

Tatsächlich konnte man durch die bereits leicht devastierte Wohnungstür hören, wie dahinter irgendetwas herumgeräumt und, so vermeinte Haselbacher, hastig getuschelt wurde. »Jooo, ich komm’ gleich! Machen’S nicht so ein Lärm!«

Dann hörten die beiden Polizisten, wie aufgesperrt wurde. Kurz darauf riss Frau Potočnić die Tür auf und rief ungehalten: »Polizei, Polizei! Glauben Sie, ich wart’ auf Ihnen? Ich hab’ einen kranken Mann, verstehen Sie? Pflägefall! Was ist denn los?«

Die beiden Herren deuteten an, dass sie an der Hausmeisterin vorbei in die Wohnung gehen wollten. Frau Potočnić wich keinen Zentimeter von der Stelle.

»Frau Milana Potočnić?«, fragte Bezirksinspektor Faustenhammer der Ordnung halber.

»No, stäht auf Türe?«, fragte die Hausmeisterin lakonisch.

»Frau Potočnić«, Kommissar Haselbacher gab sich einen Ruck, »wir sind hier, um Sie zu dem Tod … zu dem Mordfall von vor drei Tagen zu befragen. Das wird sich nicht zwischen Tür und Angel erledigen lassen, gehen’S auf die Seit’n. Wir reden drinnen weiter!«

Die Frau trat nach ein paar Augenblicken zurück und gab den Weg in die Hausmeisterwohnung frei. Das Vor- und auch das Wohnzimmer wirkten penibel sauber, sah man von einem Wandteppich mit maritimem Motiv ab, der abgeschabt war und den Eindruck erweckte, das Meer am Horizont des Bildes bewege sich. Ein deutlicher Chlorgeruch lag in der Luft. Die beiden Ermittler zogen hörbar die Luft ein.

»Ollas muss sein … stäril, versteht?«, erklärte Frau Potočnić. »Mann bettlägrig, Schlaganfall, holbseitig gelähmt. Kann nicht gehen, nicht sprächen. Nix essen, gor nix. Lepo sranje 9 ! «

»Und der Gatte ist … ?«, fragte Faustenhammer.

»No in Bett, sog ich ja ganze Zeit.«

»Aha«, sagte Haselbacher und nahm unaufgefordert auf einem Sofa Platz, das Teil einer durchaus zeitgemäßen Sitzgarnitur war, wenn auch das Design von schwarzen Katzenköpfen auf orangem Grund zunächst irritierte. Faustenhammer setzte sich auf einen dazu passenden Hocker, während Frau Potočnić ein wenig überrumpelt in der Mitte des Zimmers stand.

»Wollen Sie einen Rakija 10 ? «, fragte sie. Faustenhammer schaute zu Haselbacher und massierte gewohnheitsmäßig seinen Schnurrbart mit der Unterlippe, während der Kommissar aufgeräumt antwortete: »Ja, bitte schön.« Mit Blick auf Faustenhammer fügte er hinzu: »Zweimal!«

Als Frau Potočnić ins Vorzimmer ging, das gleichzeitig die Küche war, flüsterte Faustenhammer: »Im Dienst?«

»Man muss Vertrauen aufbauen, verstehen Sie, Faustenhammer?«

Mit drei großzügig gefüllten Schnapsgläsern auf einem Bakelit-Tablett kehrte Frau Potočnić zurück, stellte vor jedem der Herren ein Glas hin und hob das ihrige. »Živeli 11 , sagte sie, während sie auf dem freien orangefarbenen Katzenkopf-Sitzmöbel Platz nahm. Sie leerte ihr Glas in sich hinein, ohne den Kehlkopf zu bewegen. Die beiden Herren taten es ihr gleich, nur um sofort darauf einen kläffenden Hustenanfall zu bekommen, die Luft scharf einzuziehen und sie danach keuchend auszustoßen.

»Pflortsch!«, sagte Faustenhammer heiser und Haselbacher bestätigte: »Habe d’Ehre, das ist vielleicht ein Rachenputzer!« Er zündete sich eine Johnny an.

Frau Potočnić schwieg, lächelte aber hämisch.

»Also«, begann Haselbacher, »Sie haben das Mordopfer als Hofer identifiziert. Wissen Sie, wie der mit dem Vornamen heißt?«

»Nix waas da.«

»Woher kennen Sie denn diesen Hofer, was hat der gemacht, von was hat er gelebt, was für Freund’ hat er gehabt? Oder gar eine Freundin? Solche Sachen eben.«

Bei jeder der Fragen schüttelte Frau Potočnić den Kopf, um abschließend zu antworten: »Nix waas da. War ein … wie heißt deitsch? Einzelgängär …«

»Und warum, glauben Sie,« mischte Faustenhammer sich ein, was ihm einen missbilligenden Blick seitens Haselbachers eintrug »und warum glaubt die ganze Nachbarschaft, dieser Hofer war der Täter, wo doch er selber das Opfer ist?«

»Jo, waas da nix, war wie gesagt Einzelgängär. Hat nix gesprochen mit Leut’ und so.«

»Was mir nicht eingeht, Frau Potočnić, wieso hat denn von den Nachbarn keiner den Toten als Hofer erkannt?«

»No, zerschnittenes G’sicht?«

»Und wieso haben Sie ihn dann erkannt?«

»Ich hab’ Auge für solche Sachen.«

In diesem Moment war ein ungeduldiges Krächzen aus dem Schlafzimmer zu vernehmen. Frau Potočnić rief etwas auf Serbisch. »Mann braucht was!«, sagte sie und erhob sich. Sie eilte geflissentlich ins Schlafzimmer und ließ die beiden Polizisten sitzen.

• • •

Im ersten Wiener Bezirk, im Café Savoy , saß Walter Horvath mit seiner Freundin Edna Goldmann, ihrem Bruder Jakob »Jack« Goldmann und einem erneut für die progressive Location peinlich unpassend gekleidetem Vitus Veitschegger, dem provisorischen Wachmann aus Zwettl.

Das Café Savoy war, noch vor dem Hawelka , die erste Adresse für Gammler und angehende Eleven 12 der Flowerpower-Bewegung, um stundenlang bei einem kleinen Braunen für 2 Schilling und 10 Groschen herumzulungern, dabei einander die Welt zu erklären und zu diskutieren, wo Ginger Baker, der Schlagzeuger der Gruppe The Cream (Gesang, Bass: Jack Bruce; Gitarre, Gesang: Eric Clapton; Schlagzeug: Ginger Baker) vorher getrommelt hatte.

Die einen sagten bei Blind Faith , die anderen bei Ginger Baker’s Airforce .

Recht schienen die zu haben, die behaupteten, er hätte vor The Cream bei der Graham Bond Organization gespielt, denn diese Version wurde von Herrn Theo, dem alerten Kellner des Savoy , vertreten und glaubwürdig belegt.

Der schlaksige Herr Theo war eine der interessantesten Figuren im gastronomischen Wiener Underground, genügte es doch, in seinem »Revier« Platz zu nehmen und ein »Gedeck« zu bestellen, worauf Herr Theo einen kleinen Braunen, ein Glas Wasser und, verborgen unter der Tasse, ein sogenanntes Hunderter-Piece 13 servierte.

Mit Vitus ins Savoy zu gehen, war gestern von Jack und Edna noch als Irrsinn, ja geradezu als Verrat bezeichnet worden, aber Walter zerstreute ihre Bedenken.

»Je mehr der mit uns herumkommt, je mehr sich der schuldig macht, desto mehr gehört er uns«, hatte er erklärt. »Unser Mann bei der Polizei, verstehts ihr mich?«

Schließlich zeigte sich Jack einverstanden.

»So blöd ist das wirklich nicht. Wir wüssten dann vielleicht schon im Voraus, wo die Polizei sich wichtig macht.«

Auch Edna lenkte schließlich ein.

»Na ja, der will ein Progressiver werden, der ist nicht glücklich bei der Polizei«, dachte sie laut. »Und in Zwettl schon gar nicht. Wir zeigen ihm unseren Underground und er zeigt uns den seinigen.«

Und so kam es, dass Vitus Veitschegger aus Zwettl gewissermaßen im Wiener Zentrum des Drogen-Detailhandels saß, die Augen aufgerissen und die Ohren weit offen, aber nicht um polizeilich zu beobachten, sondern um sich in dieser für ihn neuen Dimension halbwegs zurechtzufinden.

»Pass auf«, sagte Jack jetzt möglichst unverfänglich, »wir führen dich in die Szene ein, wir können dir Sachen zeigen, von denen du keine Ahnung hast und ohne uns nie eine haben würdest, und du gibst uns ein paar Ezzes 14 , was sich polizeilich so tut, verstehst du? Und vielleicht brauchst du von uns auch einmal einen Tipp.«

Vitus nickte, hätte zu allem genickt, weil gerade ein Mädchen mit Minirock ins Savoy gekommen war, sich zu einer Gruppe dazusetzte, sich vorbeugte und zu Edna herüberwinkte, wobei eine ihrer Brüste aus der ziemlich offenen Bluse zu gleiten drohte.

In Wien gab es die 68er-Bewegung praktisch nicht. Keine nennenswerte Politszene, so gut wie keine Demonstrationen, kaum Gefechte mit der Polizei wie in Deutschland, keinen Rudi Dutschke, keinen Benno Ohnesorg und schon gar keinen Andreas Baader und keine Ulrike Meinhof. In Wien wurde der Kampf der Generationen mittels langer Haare, Miniröcke, Verzicht auf den BH, freier Liebe, Leistungsverweigerung, Haschisch und Rockmusik ausgefochten.

»In Zwettl täten’s die verhaften ohne Busenhalter«, murmelte Vitus heiser.

»Schau nicht so hin«, stieß ihn Jack an, »das wirkt suspekt!«

»Hast du noch nie eine Brust gesehen?«, grinste Edna, während sie zurückwinkte.

Jack nahm Vitus an der Schulter, drehte ihn zu sich und sagte: »Damit du siehst, dass wir es ehrlich meinen, sagen wir dir jetzt was: Der Tote von vorvorgestern ist gar nicht der Hofer gewesen. Vielleicht hilft dir das einmal.«

Vitus, kurz abgelenkt, fragte: »Ah geh, wer war der denn dann?«

»Das wissen wir auch nicht«, sagte Walter, »der Hofer jedenfalls nicht.«

»Kennts ihr den denn?«

»Wurscht«, sagte Edna.

»Also, Vitus«, drängte Walter sanft, »was ist?«

»Gut, aber ihr dürft mich nicht verraten!«

»Hörst, wir sind doch nicht deppert, pass nur auf, dass dir auf deinem Wachzimmer nichts herausrutscht.«

»Nur weil ich aus Zwettl bin, bin ich noch lang kein Trottel«, erwiderte Vitus ein wenig eingeschnappt.

»Na super«, rief Walter, »alsdann, Herr Theo, ein Ged…«

Jack stieß ihn in die Rippen.

»Spinnst?«, zischte er. »Doch jetzt noch nicht!«

Doch davon bekam Vitus schon nichts mehr mit. Wie ein balzender Auerhahn blickte er auf das Mädchen in der offenherzigen Bluse mit dem zarten Blumenmuster.

• • •

»Wir gehen zu Fuß, beim Gehen kann ich gut denken«, sagte Kommissar Haselbacher zu Rayonsinspektor Anton Altendorfer, der im grünen Dienst-VW wartete, »und Sie fahren mit dem Auto in die Grubergasse.«

Bezirksinspektor Faustenhammer war nicht erfreut. So weit kannst du gar nicht gehen, dass du zum Denken anfängst, dachte er.

Just als die beiden an einem 16-Bogen-Plakat vorbeigingen, auf dem ein Bub einen großen, slawisch wirkenden Mann fragte: I haaß Kolaric, du haaßt Kolaric. Warum sogn’s zu dir Tschusch? , gab Haselbacher ein Knurren von sich.

»Die lügt, die Hausmeisterin, das sag’ ich Ihnen, Faustenhammer. Die Tschuschen lügen alle. Das haben wir gebraucht, das Gsindl. Wie wir damals mit der Wehrmacht gekommen sind, haben die sich die Fersen in den Orsch g’haut vor lauter Davonrennen.«

»Wie meinen’S das, Herr Kommissar, bei was lügt sie denn?«

»Nix waas da hier, nix waas da dort … die weiß sicher was, das weiß ich.«

»Ja, was weiß sie denn?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ist Ihnen aufgefallen, dass die Frau ein blaues Aug’ gehabt hat, Herr Kommissar?«

»Ja, jetzt wo Sie’s sagen.« Nach einer Pause setzte Haselbacher nach: »Wenn ich einen halbseitig Gelähmten zu Hause liegen hab’, dann riecht’s anders. So einem muss man die Scheiße abputzen und wickeln und diese Sachen.«

»Ja, aber es hat doch eh nach Chlor gerochen, wie in einem Schwimmbad«, antwortete Faustenhammer verwirrt.

»Eben«, schnauzte Haselbacher.

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Wie alle Vormittage in Wien damals war auch der heutige trotz Sonnenschein trist. Das lag aber nicht etwa an der fahlen Sonne, sondern an der monotonen Tristesse und dem grauen, rußigen Film, der die Häuser überzog, aber auch an der Spießigkeit, an den nationalsozialistischen Ressentiments, dem Katholischen und der Rückwärtsgewandtheit seiner Bewohner.

Das Sonnenlicht, das sich knappe drei Stunden, namentlich von neun bis Viertel vor zwölf, durch eines der beiden Fenster von Walters Wohn- und Schlafzimmer stahl, schien auf Ednas blondes Haar. Sie erwachte, drückte sich an Walter, der brummend die Augen aufschlug, sich zu ihr umdrehte, sie in die Arme nahm, aus denen sie sich aber alsobald herauswand, sich aufrichtete und aufstand. Walter blickte ihr mit schlafumflorten Augen nach und dachte wie immer, wenn er sie nackt von hinten sah: Ein Wahnsinn, dieser Arsch

Sie schlüpfte in ihr ärmelloses, mit verwaschenen Orangetönen gestreiftes Kleidchen, nahm den Kloschlüssel vom Türstock in der Küche, die gleichzeitig das Vorzimmer war, und ging in den Gang hinaus. Walter hörte, wie das Türschloss der Gemeinschaftstoilette klackte und Edna aufs Klo ging. Wenig später hörte Walter, dass die Tür zur Nachbarwohnung geöffnet wurde und Frau Summer, die klimakterische Nachbarin und Gattin von Herrn Summer, auf den Gang trat, um ebenfalls die Gemeinschaftstoilette aufzusuchen.

»Müssen Sie immer wie ein Flitscherl 15 herumrennen?«, kreischte sie. »Schämen’S Ihnen nicht? Mein Mann ist ganz fertig, wenn er Sie so sieht!«

Edna murmelte etwas von »alter Scheißer« und kam wieder in die Wohnung.

»Das hab’ ich gehört!«, rief Frau Summer von draußen.

Zwischen Walter und den Eheleuten Summer kriselte es, seit Walter eingezogen war, denn bereits nach einer Woche hatte Herr Summer knapp nach 23 Uhr an die Tür gebumpert und sich mit neurotischer Fistelstimme über die zu laute Musik beschwert und Walter von da an als »katilinarische Existenz« bezeichnet. Später, als Edna immer häufiger zu Besuch kam, war sie für Frau Summer »die blonde Flitsch’n von nebenan«.

Edna und Walter hörten die Spülung der Gemeinschaftstoilette rauschen. Dann wurde die Klotür zugeschlagen.

»Irgendwann zeigen wir euch an, ihr …«, rief Frau Summer kurz darauf, mit dem Gesicht offenbar ganz nah an Walters Wohnungstür.

»Ich weiß nicht, ob ich das aushalten werd’, Walter«, seufzte Edna und ließ sich ins Bett fallen. »Selbst mit eingeleitetem Wasser und Sitzbadewanne.«

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Jakob »Jack« Goldmann saß mit einem exotisch aussehenden Mädel um die Mittagszeit im Savoy . Langes, schwarzes, leicht gelocktes Haar, große, schwarze Augen, im Licht schimmernde Kreolen hingen an ihren Ohren, in ein weites, indisch anmutendes Gewand gehüllt, lehnte sie sich an Jack, der ihr frisch verliebt in die Augen sah.

Walter und Edna wussten gleich: Das war eine von ihnen. Jack bemerkte die beiden erst, als sie unmittelbar vor dem Tisch standen.

»Das ist die Suskia«, sagte Jack nicht ohne Besitzerstolz. Suskia lächelte ätherisch.

»Peace.«

Die vier saßen beim Frühstück, sprachen kaum und wenn bloß Oberflächliches. Schließlich war es Jack, der aussprach, woran alle dachten.

»Heute gehen wir in den vierten Stock und schauen, ob der Hofer dort wirklich sein Zehntausender-Piece versteckt hat, wie er immer gesagt hat.«

»Piece ist gut« sagte Walter mit vollem Mund, »das ist sicher so groß wie eine Tafel Schokolade.«

»Und wir sollen dort alle hingehen?«, fragte Edna. »Wir alle vier?«

»Klar.« Jack stellte seine Schale Kaffee hin. »Der Walter und ich gehen hinein und ihr zwei steht vor der Tür Schmiere.«

Suskia nahm einen Schluck von ihrem Tee.

»Die Leiche, die sie vor einer Woche oder was gefunden haben, war das wirklich der Hofer?«, fragte sie, als sie die Tasse absetzte. »Der ist doch bitte seit Monaten in der Türkei.«

Walter tauschte einen Blick mit Jack.

»Kennst du den Hofer?«

»Sicher. Ich habe ihm vor gut einem halben Jahr geholfen, seinen Shit 16 in 100er-Stücke zu verpacken. Im vierten Stock . Den kenn’ ich nämlich auch.«

Die drei waren baff.

»Und«, fragte Jack vorsichtig, »hat der wirklich ein Zehntausender-Piece dort versteckt?«

»Könnte gut sein, dass noch was da ist.« Suskia spülte den Mund mit Jasmintee, der sich seit Neuestem steigender Beliebtheit erfreute. »Genaues weiß ich nicht«, fuhr sie fort.

»Im Vanilla haben’s gesagt, der Hofer ist in die Türkei getrampt, Stoff kaufen. Aber wie gesagt … wer weiß …«

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Kommissar Ludwig Haselbacher dämpfte ungehalten seine Zigarette im grauslich vollen Aschenbecher aus und hustete Bezirksinspektor Faustenhammer Rauch ins Gesicht. »Das gibt’s doch nicht! Alle Hofer, die ich im Zentralen Meldeamt finden kann, sind entweder vor kurzem verstorben oder wohnen weiß Gott wo, nur nicht in der Speckbachergasse 20. Bis auf einen, ein gewisser Gerald Hofer, der aber seit ein paar Jahren in einem Pflegeheim in Atzgersdorf vor sich hinstirbt. Wenn’s nach dem ZMA geht, gibt es unseren Hofer gar nicht.«

»Außer der Hausmeisterin hat nie jemand behauptet, dass der Hofer im Haus Speckbachergasse 20 wohnt … im vierten Stock …«

»Was denn für ein vierter Stock?« Haselbacher breitete vor Faustenhammer den Auszug aus dem ZMA aus. »Das Haus hat ja nur drei Stö… äh … Stockwerke! Schaun’S doch.«

Faustenhammer blickte auf.

»Vorladen!«, sagte Haselbacher laut. »Wir werden diese saubere Hausmeisterin amtlich vorladen, da kann sie sich nicht auf ihren kranken Mann ausreden und im Schlafzimmer verschwinden, wenn’s eng wird.«

»Gar keine schlechte Idee, Herr Bezirksinspektor.«

»Und noch was!« Haselbacher fuchtelte mit einem Zeigefinger. »Dieses Zimmer samt dem Pflegefall werden wir uns auch noch genau anschauen.«

Er stand auf, ging zur Tür, öffnete sie und steckte den Kopf hinaus.

»Veitschegger!«, rief er.

»Bitte, Herr Kommissar.«

»Kommen’S rein, Bub, ich geb’ Ihnen gleich was und das bringen’S dann zum Herrn Hofrat in die Bezirkshauptmannschaft.«

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Das Vanilla , neben dem Voom Voom das zweite Epizentrum des Wiener Undergrounds, war ein aufgelassenes Textilgeschäft im Erdgeschoss eines gut erhaltenen Altbaus in einer sonst unbedeutenden Seitengasse der Wiener Innenstadt, unmittelbar neben der Minoritenkirche.

Es wurde von einem älteren Ehepaar, beide bereits über dreißig, als »exklusiver« Club geführt. Gegen eine Einschreibgebühr von 150 Schilling wurde man Clubmitglied, erhielt einen Schlüssel, der die Haustür sperrte, und war gegen eine monatliche Zahlung von 25 Schillingen stets gern gesehener Gast.

Es bestand aus einem großen Hauptraum und zwei von diesem links und rechts abgehenden Nebenräumen: ein Raum mit einem Wuzzler 17 , der andere mit einem Flipper. Der gesamte Club war mit einem violetten Teppichboden ausgelegt und ebenso gestrichen, mit einem Violett, wie es als begleitender Farbton auch gern bei Begräbnissen zu finden ist. Über die ganze Breite gab es eine Bar, die meisten Gäste hockten aber auf entlang der Wände stehenden Styroporquadern, die entweder abgekletzelt waren oder von Brandlöchern verunziert, was aber aufgrund der gnädig unzureichenden Beleuchtung kaum zu bemerken war.

Erst, wenn zur Sperrstunde grelles, weißes, ernüchterndes Licht aufgedreht wurde, sahen die Gäste die ganze Erbärmlichkeit des Interieurs und verließen ohne Murren oder Protest die Räumlichkeiten.

Im Vanilla wurde die gleiche Musik gespielt wie im Voom Voom , jedoch ließ sich eine Präferenz für Deep Purple erkennen. Es verkehrten auch mehr oder minder die gleichen Leute da; von wegen exklusiv.

Hier im Vanilla saßen Edna, Suskia, Walter und Jack auf einem der Styroporklötze und wirkten traumatisiert, denn sie hatten ein Erlebnis oder »Abenteuer«, wie sie es untereinander nannten, hinter sich, das, nachdem sie in den Arkaden der Minoritenkirche noch einen durchgezogen hatten, umso wuchtiger in ihnen nachhallte.

Es war knapp vor 18 Uhr gewesen, und die Tür zum Haus Speckbachergasse 20 war noch unversperrt. Wie besprochen, lümmelten Edna und Suskia an der Hausmauer, standen Schmiere oder gingen, wie von ungefähr, vor dem Haustor auf und ab, während Walter und Jack den Hof betraten und zu einem Holzschuppen schlichen, der schief in einem Mauereck des Hinterhofes lehnte. Eine jahrzehntealte, knorrige Platane, die an der Längsseite der Holzhütte zu kleben schien, verbarg die beiden notdürftig, und sie waren froh, dass es allmählich dunkelte.

Deutlich hörten sie, wie in dem Verschlag in einer fremden Sprache, so etwas wie Russisch, gesprochen wurde, wobei die eine Stimme gewissermaßen hier und jetzt sprach, während die andere knarzte, gelegentlich pfiff und rauschte, also aus einem Funkgerät zu kommen schien, wobei die Funkstimme befehlsgewohnt klang, während die andere, ohne Widerspruch zu wagen, antwortete.

In diese Unterhaltung mischte sich immer wieder eine weitere zeternde Männerstimme, die mit dem, was die andere zu der kratzigen Stimme aus dem Funkgerät sagte, nicht einverstanden zu sein schien. Die Männerstimmen wurden immer lauter und ließen keinen Zweifel daran, dass in hohem Maße Uneinigkeit herrschte. Die Funkstimme überschlug sich geradezu bei dem Versuch, sich Gehör zu verschaffen. Da flog unvermittelt die aus Holzlatten zusammengenagelte Tür auf, und ein untersetzter, bulliger Mann zerrte einen zweiten, der vergeblich versuchte, sich an dem senfgelben Kurzmantel des ersten aufzurichten, an dessen langen, weißen Haaren aus dem Verschlag, trat ihn mit Füßen, fauchte wütend, zog ihn bis zur Haustür, schlug ihm den Ellbogen ins Gesicht und warf ihn hinaus auf die Gasse.

Walter und Jack hörten, wie die beiden Mädchen draußen erschraken, der stämmige Mann rief dem Hinausgeworfenen noch drohend etwas nach und kehrte, geräuschvoll ausspuckend, wieder in den windschiefen Verschlag zurück. Er besprach mit der Stimme aus dem Gerät noch ein paar Minuten sachlich irgendetwas, um danach den Schuppen zu verlassen, und versperrte die Bretterbude mit einem Vorhängeschloss, ehe er in die Hausmeisterwohnung eilte.

Erst Minuten später lösten sich Walter und Jack aus ihrer starren Angespanntheit, lugten hinter der Platane hervor und huschten auf Zehenspitzen, immer noch kaum atmend, durch den Hof und beim Haustor hinaus. Nach dem, was gerade geschehen war, beschlossen sie in stiller Übereinkunft, den Schuppen ein andermal zu durchsuchen. Die beiden Mädchen, die sich in den Eingang des Nachbarhauses gedrückt hatten, kamen vorsichtig heraus.

Alle vier liefen wie auf Kommando davon und blieben erst zwei Gassen weiter, heftig atmend, stehen.

»Sehr arg!«, keuchte Suskia. »Total aggressiv!«

»Schschschtt«, zischte Jack. »Kommts, gehen wir.«

»Russisch?«, fragte Edna und bohrte Stunden später im Vanilla ihren Zeigefinger in den Styroporquader, während sie das Erlebte zu verstehen versuchte. »Wieso denn grad Russisch?«

»Ja, Ostblock halt, was weiß denn ich.« Walter schüttelte den Kopf.

»Habts ihr eine Ahnung, wer das war?«, erkundigte sich Suskia, während sie mit einem Stück herausgebrochenem Styropor spielte.

»Keine Ahnung«, sagte Jack, »auf jeden Fall sehr suspekt.«

Walter blickte in sein Bier.

»Ich sag’ nur eins: Spionage, Geheimdienst oder sowas!«

Jack warf sein beinahe schulterlanges Haar nach hinten. »Der Typ hat die Tür von der Hütte zugesperrt.«

»Schlamassel!«, sagte Edna.

»Das ist gar nicht leiwand 18 «, stimmte ihr Walter zu. Leiwand war Walters Wort, mit dem er die Welt einteilte. Leiwand oder nicht leiwand.

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»Ja!«, rief Oberst Hofrat Ableitinger undeutlich, denn er kaute gerade an einem Butterbrot mit Schnittlauch. Als nach dem zögernden Anklopfen niemand eingetreten war, schluckte er den Bissen hinunter und spülte mit einem Mundvoll saurer Milch nach. »Herein!«, schrie er.

Langsam öffnete sich die Tür und Vitus Veitschegger betrat schüchtern das für ihn Allerheiligste, das Refugium des höchsten aller Polizisten des 16. Wiener Gemeindebezirks.

Er verbeugte sich unwillkürlich und trat erst näher, nachdem der Herr Hofrat bellte: »No, kommen’S schon her … äh …«

»Veitschegger, Vitus Veitsch…«

»Jaja, der Haselbacher von der Grubergasse schickt Sie, gell? Geben’S her.«

Ableitinger nahm dem befangenen provisorischen Wachmann das Formular aus der Hand und überflog es. »Was will er, einen Durchsuchungsbeschluss? Für eine Hausmeisterwohnung? Ah so, das ist im Zusammenhang mit dem Fall Hofer. Ja, steht denn dem seine Identität schon fest?«

Oberst Ableitinger griff nach seinem Parker-Kugelschreiber und unterfertigte schmissig das Formular.

Vitus Veitschegger murmelte etwas mit gesenktem Kopf, Ableitinger blickte auf.

»Was brabbelst denn da in deinen nicht vorhandenen Bart, Burscherl?«

»Äh … das Mordopfer ist gar nicht der Hofer …«

Vitus biss sich auf die Lippen mit einem Gefühl, das bei Schiller so treffend beschrieben wird: Doch kaum war ihm das Wort entfahren, wollt’ er’s im Busen gern bewahren

Die Atmosphäre im Raum, die für den Zwettler in ihm aus allen Richtungen Abgehobenheit und einschüchternde Macht signalisierte, raubte ihm die Bodenhaftung, hatte ihn die Vernunft und sein Versprechen an Walter vergessen lassen. Die Macht, die hier herrschte, war einfach zu ähnlich jener, die ihn in opulent ausgestatteten Kirchen und bei orgelnden Gottesdiensten unwillkürlich die Hände falten ließ. Ableitinger lehnte sich zurück und blickte Vitus an, als wäre er ein seltenes Insekt.

»Hahaha«, lachte er ölig. »Hast zu viel Maigret g’schaut, was? Woher willst du denn das wissen? Wer hat dir denn das gesagt?«

Vitus wollte sich selbst auf den Mund schlagen, da fiel ihm ein Satz ein, den er in einem Jerry-Cotton-Heft gelesen hatte. »Ich gebe meine Informanten nicht preis«, sagte er, doch er brachte kaum mehr als ein Wispern zustande.

Der Herr Hofrat schwieg verdutzt. Dann begann ihn ein konvulsivisches Lachen zu schütteln und sein Gesicht rötete sich bedenklich. »Hahahaha! Er gibt seine Informanten … hahaha … nicht preis! Wenn ich das erzähl’, das glaubt mir kein Mensch! Wie heißen Sie?«

»Veitschegger, Herr Hofr…«

»Ah ja, Sie sind der Bursch aus Zwettl, wie mir scheint.«

Ableitinger war vor Lachen kurzatmig geworden. »Gehen’S raus und lassen’S sich den Wisch abstempeln, habe die Ehre. Und grüßen Sie mir Ihre Informanten … hahaha!«

Veitschegger machte die ersten Schritte rückwärts, ehe er sich dem Herrn Oberst den Rücken zuzukehren getraute. Die Tür war noch nicht ins Schloss gefallen, da drückte Ableitinger den Knopf seiner Gegensprechanlage. »Gehen’S, verbinden’S mich mit diesem Haselbacher, Wachzimmer Grubergasse!«

• • •

»Ehrlich gesagt, hab’ ich kein gutes Gefühl«, sagte Jack, lümmelte sich an Suskia und legte seinen Kopf zutraulich auf ihre Schulter, »nämlich so gar nicht!«

Walter und Edna schauten ihn neugierig an und Suskia strich ihm übers Haar. »Na komm, Jacky, sprich zu uns«, hauchte sie.

Jack richtete sich ein wenig auf und schob eine Hand in Suskias Wohnkleid. »Ob wir dort noch einmal hingehen, in den vierten Stock ? Der Typ ist ja ein Berserker.« Er drehte die Augen nach oben, schaute zuerst Suskia an, dann Edna. »Ihr hättet sehen sollen, wie der dem anderen mit den weißen Haaren den Ellbogen ins Gesicht gerammt hat«, sagte er.

»Wieso war denn der so … aggressiv?«, fragte Suskia und blies in Jacks Haare.

»Der mit der gelben Jacke hat so eine Wut auf den Weißhaarigen g’habt. Wenn der mir so eine reinhaut, fall’ ich tot um«, sagte Walter.

»Ja, aber warum?«, fragte Edna.

Jack richtete sich endgültig auf, nahm seine Hand aus Suskias Kleid und wurde sachlich. »Der Walter hat schon recht, glaub ich, wenn er von Spionage und Geheimdienst und so redet. Das ist sicher irgendetwas Politisches. Etwas Kommunistisches, glaub’ ich.«

»Was Kommunistisches?«

»Ja, weil’s Russisch geredet haben. Weil, wenn nicht, hätten’s Englisch geredet.«

»Da wüssten wir wenigstens ungefähr, um was es geht«, sagte Suskia und zog Jacks Hand wieder in ihr indisches Kleid.

»Eines möchte ich schon sagen«, warf Edna ein, »der Kommunismus ist von der Idee her nichts Schlechtes. Was zum Beispiel der Jesus gesagt hat, war auch kommunistisch, wenn halt mit Religion …«

»Obwohl nicht feststeht, ob dem Ganzen die Religion nicht erst später übergestülpt worden ist«, hörten sie eine Stimme, gewissermaßen von außerhalb.

Herr Theo, der Ober des Savoy , war an den Tisch getreten und hatte den von Edna Goldmann begonnenen Satz fertig gesprochen. Er griff in die Gesäßtasche seiner schwarzen, speckig glänzenden Hose, nahm seinen Fleck 19 heraus und sagte etwas zu laut: »Zahlen gewünscht, bitte sehr …«

»Wir wollen ja gar nicht zahlen«, sagte Edna verwundert, aber Herrn Theos Mimik und Körpersprache spielten weiter »Zahlen gewünscht«, während er, nur für die vier hörbar, eine Frage zwischen den Zähnen hervorknirschte. »Was ist? Habts ihr das 10.000er-Piece vom Hofer gefunden?«

Alle vier starrten ihn an. Woher wusste er davon?

»Es wird geredet«, sagte Herr Theo undeutlich, denn er öffnete kaum den Mund beim Sprechen und benahm sich ansonsten so, als würde er tatsächlich kassieren.

»Wer redet?«, fragte Walter misstrauisch.

Herr Theo beugte sich etwas vor und wischte mit seinem Hangerl 20 beiläufig über den Tisch. »Ihr selbst habts geredet, als ihr das letzte Mal hier wart.« Dann schaute er Suskia an und sagte etwas anzüglich: »Du, Frau Bellowitsch, hast doch von 100er-Stückerln geredet, die du ihm einpacken geholfen hast. Und irgendetwas von einem vierten Stock.«

Als alle verdattert schwiegen, fügte Herr Theo an: »Wenn ihr das Piece auftreibt, können wir ins Geschäft kommen.«

Herr Theo machte elastisch auf der Ferse kehrt und schnalzte im Abgehen mit seinem Hangerl.

»Der ist mir nicht ganz koscher«, sagte Edna.

»Der muss hören wie ein Luchs«, staunte Walter.

»Wieso weiß der, dass du Bellowitsch heißt?«, fragte Jack.

»Ah, gar nichts, wir haben einmal was g’habt. Ich war mit dem zusammen«, sagte Suskia.

»Ganz kurz nur, Jacky, du brauchst dir nichts denken.«

Wie um sie Lügen zu strafen, blickte Herr Theo aus der Distanz Suskia durchdringend an.

»Sehr suspekt«, brummte Jack.

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»Haselbacher«, sagte der Kommissar ungewohnt höflich in den Hörer. Er zündete sich eine Johnny an, um die Unruhe, die ihn immer ergriff, wenn er mit Vorgesetzten sprach, zu verblasen. »Sagen Sie, Haselbacher, wen haben’S mir denn da geschickt?«

»Bitte, wen meinen Sie, Herr Oberst?«

»No, der junge Bursch da, dem ich den Durchsuchungsbefehl für diese Hausmeisterwohnung genehmigt habe.«

»Ah so, der Lehrbub! Ein gewisser Veitschegger, Vitus Veitschegger, provisorischer Wachmann. Was ist mit dem, war er frech?«

»Aber nein.« Ableitinger trank den letzten Schluck saure Milch. »Das Bürscherl war ganz desperat. Aber eines, Haselbacher, möchte ich Sie wissen lassen!«

»Herr Oberst?«

»Er hat mir gesagt, dass diese Leiche, die ihr da habts, dass die gar nicht dieser Hofer ist.«

»Was?« Haselbacher unterbrach sich. »Ich meine, wie bitte, Herr Oberst?«

Dieser Respekt, ja die Unterwürfigkeit gegenüber Ranghöheren, war Haselbacher bereits in der Hitlerjugend zu eigen gewesen.

Seinen Scharführer hatte er angehimmelt, während er den Kameraden gegenüber überheblich gewesen war und nicht nur einmal den einen oder anderen eines Regelverstoßes wegen zur Meldung gebracht hatte.

Wehe, er fühlte sich von Ranggleichen gehänselt oder herabwürdigend behandelt, da ging er schon einmal so weit, sie zu verleumden.

»Er hat gesagt, er gibt seine Informanten nicht preis. Und jetzt frage ich Sie, Haselbacher, welche Informanten kann der Bursch haben, und vor allem, welche Informationen, die Sie nicht haben? Und, Haselbacher, was läuft da bei Ihnen in der Grubergasse, von dem ich nichts weiß?«

»Ich bitte Sie, Herr Oberst, gar nichts läuft bei uns! Sie wissen doch, dass ich Sie umgehend informieren würde, wenn …«

»Also, das möcht’ ich auch hoffen! Und Haselbacher: Schauen’S dazu, dass da was weitergeht in der leidigen Sache. Wiederhören!«

Bevor Ableitinger auflegte, murmelte Haselbacher etwas von: »den Buben werde ich mir vorknöpfen«, und saß dann eine Zeit lang unverwandt vor sich hinschauend da.

Er hatte sich damals bald zum Kriegsdienst gemeldet, aber nach dem Blitzkrieg gegen Polen erkannt, dass Kriegsgetümmel seinem Charakter nicht entsprach, und bei der Polizei angeheuert, ohne es jemals, wie er es herbeigewünscht hatte, in die GESTAPO zu schaffen, hatte sich aber, bei entsprechenden Aktionen, als deren Handlanger hervorgetan.

Ein quietschendes Bremsgeräusch kam von der Straße und ließ ihn aus seinem Tagtraum schrecken. Haselbacher hustete etwas Schleim herauf und spuckte ihn in den Papierkorb.

»Altendorfer!«, rief er ungehalten.

Rayonsinspektor Altendorfer machte die Tür von außen ein wenig zögerlich auf und trat schlurfend in das abgewetzte Dienstzimmer.

»Schleichen Sie nicht herum wie ein Friedhofsdeserteur, hören’S, und heben’S die Füße beim Gehen!«

Altendorfer warf sich nur geringfügig in die Brust und zwirbelte mit der Linken eine seiner Koteletten. »Was liegt an, Herr Kommissar?«

»Wo ist denn unser Frischgefangter?«

»Veitschegger? Der ist mit dem Bezirksinspektor auf der Kreuzung Thaliastraße/Panikengasse wacheln üben.« Haselbacher schlug mit der flachen Hand auf seinen Tisch.

»Reden’S nicht wie ein Trottel, Altendorfer«, rief er erbost. »Das heißt Verkehrsregelung und nicht ›wacheln‹, Sie Seifensieder! Wenn der Veitschegger auf die Wachstube kommt, schicken’S ihn sofort zu mir.«

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, zündete sich noch eine Johnny an und griff zum Telefon, um seine Frau anzurufen, ehe ihm mitten in der Bewegung einfiel, dass sie vor knapp drei Jahren gestorben war. Als er sie 1942 geheiratet hatte, war sie gerade zwanzig Jahre alt gewesen und, obwohl Wienerin, ein richtiges deutsches Mädel, das es bereits nach drei Jahren im BDM 21 zur Mädelscharführerin gebracht hatte und mit Strenge und einer selbstverständlichen Überzeugung ihren Pflichten nachging.

Ihre ganze Liebe gehörte zwar dem Führer, sie hatte sich aber trotzdem mit nicht einmal 19 Jahren in den strammen und verwegen linientreuen Polizisten Ludwig Haselbacher verliebt. Es war nicht nur dieses gemeinsame Weltbild gewesen, das die beiden verband, sondern die beinahe sakrale Besessenheit, die sie für Liebe hielten, zumindest auf Seiten Haselbachers.

Wenn sie über das zu erwartende rassenreine Dritte Reich sprachen, so bemühte sich der junge Haselbacher stets, ihre Begeisterung noch zu übertreffen. Dieser Ehrgeiz war es, der ihn seinen Dienst vorbildlich, ja vorausschauend, und nicht selten übereifrig versehen ließ.

Die beiden heirateten und sie blieb sein Ein und Alles, wie man sagt. So gern wäre er zur GESTAPO gegangen, um ihr zu zeigen, dass er ›jemand‹ war, dass es ehrenvoll war, seine Frau zu sein. Aber offenbar war er für die geheime Staatspolizei nicht geheim genug.

Nach 1945, als sich der Endsieg als Schimäre erwiesen hatte und sich niemand mehr herrenmenschliche Spompanadeln 22 leisten konnte, wohnten die Eheleute Haselbacher nach wie vor in einer auf einen anonymen Hinweis seinerseits hin arisierten, großbürgerlichen, von alliierten Bomben verschont gebliebenen Wohnung, und es gelang ihnen, auf die eine oder andere Art glücklich zu sein. Beide hatten so oft beteuert, sie wären niemals Nazis gewesen, dass sie es allmählich selbst zu glauben begannen. Ein Verdrängungskunststück, das damals Tausende mühelos zuwege gebracht hatten.

Die Nachricht von ihrem unerwarteten, plötzlichen Tod vor drei Jahren, verschuldet durch die revanchistische Haltung eines, wie er vermutete, jüdischen Arztes, warf ihn erneut aus der Bahn. Seine Seelenlandschaft war spätestens von da an eine finstere. Erhellt wurde sie einzig von dem Licht, das gelegentlich aufleuchtete, wenn er an seine verstorbene Frau dachte.

Haselbacher hustete und dämpfte die Zigarette aus, die so weit herabgeraucht war, dass sich die Kuppen von Zeige- und Mittelfinger zu entzünden drohten.

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The times they are a changing , flutete aus den hohen Lautsprechern über der Tanzfläche und selbst die erstklassige Tonanlage in der Camera Obscura – neben dem Voom Voom die andere In-Disco Wiens, denn im Vanilla tanzte man ja nicht – schaffte es nicht, die blecherne Gießkannenstimme Bob Dylans zu entzerren.

Hier, in der Camera , legte ein Discjockey auf, der sich »Lipperl« nannte, und der es zu einer Art Kultstatus gebracht hatte. Wer den Lipperl kannte oder wem der Lipperl gar einen Musikwunsch erfüllte, der galt etwas in der Szene. Die Mädels himmelten ihn ganz offen an, obwohl er, wie die eifersüchtigen Burschen sagten, klein und schirch 23 war.

Edna und Suskia bewegten sich frivol auf der Tanzfläche, während Walter und Jack mit Vitus Veitschegger an einem Tisch in gnädiger Ferne von den pulsierenden Boxen saßen. Dylan hatte ausgekrächzt und Lipperl entschied sich für die Doors und »L. A. Woman«.

Walter hielt Vitus mit beiden Händen an der Schulter und schüttelte ihn kräftig durch.

»Du hast diesem Kommissar gesagt, wer wir sind?«, fragte er. »Und dass der Hofer gar nicht der Hofer ist? Das ist nicht leiwand, hörst? Überhaupt nicht leiwand!«

»Was hätte ich denn tun sollen? Die haben mich … irgendwie … zur Sau gemacht.«

Vitus wand sich aus Walters Griff und erzählte, wie er vor Haselbachers Schreibtisch mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Blick gestanden war und Rayonsinspektor Anton Altendorfer ihm ins Ohr geflüstert hatte, man könne ihm vielleicht nicht viel nützen, aber erheblich schaden. Bezirksinspektor Franz Faustenhammer, der nebenher in der Polizeisportvereinigung als Trainer für Selbstverteidigung tätig war, hatte mit seiner suppentellergroßen Hand Vitus’ Kopf wie einen Handball genommen und in Richtung Haselbacher gedreht, sodass er ihn anschauen musste. Dieser hatte sich vorgebeugt und gemeint, er habe Mittel und vor allem Methoden, der Wahrheit auf die Sprünge zu helfen. Das hätte er gelernt, seinerzeit.

»Ich habe nur gesagt, dass ich den Walter kenne, von euch anderen wissen die nichts«, versuchte Vitus, sich herauszureden.

»Was glaubst du, wie schnell, bis die uns im G’nack 24 sitzen werden?«, fragte Jack.

Suskia wisperte bedeutungsvoll. »Das ist ein Krieg da draußen, verstehst?«

Wie um ihre Worte zu unterstreichen, sang Jim Morrison:

Motel money murder madness

Let’s change the mood from glad to sadness

»Wir werden ihn halt nicht mehr treffen oder ihn gar wohin mitnehmen«, sagte Edna bestimmt.

»Pass auf.« Walter schaute ihn an.

»Wenn du unser Freund bleiben willst, dann sagst du uns, was die vorhaben, ob uns die verhaften wollen, ob’s uns beobachten und solche Sachen. Und zwar sofort! Auch wenn du nur einen Verdacht hast, verstehst?«

Vitus stimmte fast allem zu. »Die müssen aber schon den Eindruck haben, dass ich auf ihrer Seite bin, sonst kann ich euch gar nichts stecken«, schränkte er ein.

»Na schön«, sagte Jack versöhnlich, »vielleicht wird ja doch ein anständiger Mensch aus dir.«

»Nicht wir sind deine Informanten, sondern du bist unser Informant«, sagte Edna suggestiv.

»Einer von uns!«, bekräftigte Walter.

If they say I never loved you , sang Jim Morrison, you know they are a liar , und in Vitus’ Herz begann der Kampf zu toben, den der Mensch seit Anbeginn der Zeit mit sich austrägt:

Der Kampf zwischen Pflicht und Neigung.

• • •

Im Innenministerium, in der Herrengasse im 1. Wiener Gemeindebezirk, war alles ruhig. Nichts war von der ansonsten üblichen Nervosität und den hastig einberufenen Besprechungen, die Tücken des Protokolls betreffend, zu bemerken, wenn ein hoher diplomatischer Gast zu Besuch kam.

Für heute Vormittag hatte sich »nur« der Botschafter der »Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien« (SFRJ) angesagt; da war man entspannt, obwohl man dazu neigte, dem kommunistischen Gast vorzuführen, wie souverän in der freien Welt solch bilaterales Vorkommnis gehandhabt wurde. Darum waren Imbiss und Getränke, die für das Gespräch zwischen dem Minister und dem Botschafter vorbereitet wurden, vom Feinsten. Jourgebäck vom Demel 25 mit Beinschinken, Lachs, spezieller Wiener Salami und vorzüglichem Käse, ausgesuchte Patisserien, Sekt und wientypischer Kaffee.

Gegen Ende der 1960er Jahre wurde die abwehrende Haltung Österreichs gegenüber kommunistischen Ländern zwar abgeschwächt, aber man zeigte doch gern, was man hatte, um zu suggerieren, dass bei uns dieser Wohlstand jederzeit und für alle da war.

Der Herr Botschafter war naturgemäß nicht allein gekommen. Von den drei Herren in den dunklen Anzügen, die seinem Aussteigen vor dem Innenministerium mit unbeweglichen Mienen assistierten und keinen Blick auf die uniformierten Wiener Beamten verschwendeten, war einer mit dem Herrn Botschafter, selbstverständlich in entsprechendem Abstand, mitgekommen.

Der mittelgroße, zur Rundlichkeit neigende Mann mit dem Stiernacken und Augen, bei denen es schien, als würde nie ein Lidschlag ihre Wachsamkeit auch nur für eine Sekunde unterbrechen, stand, die Hände vor seinem Sakko gekreuzt, schweigend und ohne jede Mimik seitlich hinter dem Diplomaten. Der Herr Botschafter setzte sich, heftig ausatmend, dem Herrn Minister gegenüber und wies mit dem Kopf auf seinen Leibwächter. »Das Dragan. Gospodin Dragan Zaradicz.«

Dann griff er auch schon auf die einladend arrangierten Leckereien zu, was der Herr Innenminister mit einem dünnen Lächeln kommentierte. Nach anfänglichem Einleitungsgeplänkel ließ die Süffisanz des Herrn Ministers nach, als er hörte, was der Botschafter zu sagen hatte. Dieser sprach, wenn auch mit eckigem Akzent, so doch in recht gutem Deutsch und in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. »Herr Innenminister, wie Sie wissen, ist ein weiterer Staatsbesuch von unserem Ministerpräsidenten General Josip Broz Tito geplant gewesen …«

»Wieso gewesen , Herr Botschafter? Es steht doch fest, dass der Herr Ministerpräsident einen neuerlichen Staatsbesuch in Wien absolvieren möchte?«

»Herr Minister, aus verlässlichen Quellen mussten wir erfahren, dass mit großer Wahrscheinlichkeit ein versuchtes Attentat auf den Herrn Ministerpräsidenten zu … äh … erwarten ist.«

Der Minister legte das Lachssemmerl, das er gerade zum Mund führte, weg und zeigte sich ehrlich überrascht. »Aber Herr Botschafter, unserem Nachrichtendienst ist nichts von solchen Absichten bekannt!«

»Unseren Nachrichtendiensten eben schon, Herr Minister. Und da wir ängstigen, dass Ihre Polizei … wie sagt man deutsch … unvermögend ist, die notwendigen Sicherheitsstandards … äh … gewährzuleisten …«

»… zu gewährleisten?«, sprang der Minister ein.

»… genau, sind wir gezwungen, diesen Staatsbesuch zu absagen.«

»Aber Herr Botschafter! Beim letzten Besuch Ihres verehrten Ministerpräsidenten 1967 sind doch alle Schutzmaßnahmen und Auflagen erfüllt worden!«

»1967, da 26 , 1971, ne 27 «, antwortete der jugoslawische Botschafter lakonisch, »der KGB ist tätig, einen Anschlag auf General Josip Broz Tito zu vorbereiten. Sie wissen, dass zwischen der SFRJ und der UDSSR Spannung ist. Der ›eigene Weg‹ von Sozialismus ist dem Kreml … wie sagt man … Dorn im Auge.«

»Herr Botschafter, ich kann Ihnen garantieren, dass …«

»Molim 28 «, sagte der Botschafter ein wenig undeutlich, versuchte er doch, einen der kleinen Punschkrapfen als Ganzes zu essen. »Nichts gratinieren … äh … garantieren, Herr Minister. Möglich, wir können den Besuch verschieben bis …«

»Aber Herr Botschafter, unterstellen Sie Österreich im Allgemeinen und Wien im Besonderen, nicht in der Lage zu sein, die für einen Staatsbesuch notwendigen Sicherheitsvorkehrungen treffen und in der Folge auch durchführen zu können?«

Der Botschafter hatte den Punschkrapfen in sich aufgenommen, griff zu einer Tasse Kaffee und nahm schlürfend einen Schluck. »Herr Minister, bitte vielmals, ich stelle nichts unter. Aber ich verlasse mich auf die Berichte aus Belgrad.«

Der Botschafter wandte sich kurz zu Dragan Zaradicz und man hätte meinen können, dass dieser, ohne mit einem Gesichtsmuskel zu zucken, abschätzig schmunzelte. »Unsere Polizei ist nicht schlecht, Herr Botschafter!«, beharrte der Minister.

»Schlecht nicht«, antwortete der Botschafter, »aber nije dobro 29

• • •

Walter und Jack kamen gerade aus dem Hawelka , als aus dem nebenan befindlichen, gutbürgerlichen Wiener Gasthaus Reiterer zwei Männer auf die Straße traten. Der feiste, grobschlächtige Oberkörper des einen steckte in einer derben Jeansjacke mit runenähnlichen Symbolen, der andere, etwas kleiner und gedrungen, in einem senfgelben Caban 30 . Zwei weitere Burschen mit ähnlich dekorierten Jeansjacken blieben in der offenen Wirtshaustür stehen.

»Poldi, hack’ ihn um, den Tschuschen!«, rief einer, und der andere:

»Fest in die Gosch’n, Poldi, scheiß dir nix!« Der Grobschlächtige, den seine Freunde Poldi nannten, ging auf den als Tschuschen Titulierten zu. »Jetzt pass auf, Cevapcici !«, sagte er und wollte ihn vor die Brust stoßen, sein Gegenüber aber trat blitzschnell einen Schritt zur Seite und der Stoß ging ins Leere. Der Runenmann machte einen weiteren Schritt auf den Senfgelben zu, um ihm die rechte Faust an den Kopf zu schlagen, doch der Angegriffene knickte nach links weg, sodass der Schlag erneut vorbeiging, verlagerte sein Gewicht auf das vordere Bein und schlug ansatzlos und explosiv aus der Hüfte in die Bauchgegend seines Gegners.

Poldi wollte wieder zuschlagen, hielt aber in der Bewegung inne, klappte zusammen und ging gespenstisch langsam und lautlos zu Boden – die fatalen Folgen eines trockenen Leberhakens.

Die beiden anderen Burschen schickten sich an, aus der Wirtshaustür hervorzutreten, doch weit kamen sie nicht. Dem ersten schlug der Unbekannte im gelben Mantel kurz mit dem Handballen aufs Ohr, worauf dieser fast zwei Meter seitwärts taumelte. Sein Freund wich möglichst unauffällig in die Gaststube zurück.

Mittlerweile näherten sich ohne Eile zwei von der Kellnerin herbeigerufene Polizisten, sahen einen Mann am Boden liegen und einen zweiten wimmernd die Hand auf das linke Ohr halten. Ein Wachmann half dem am Boden liegenden Poldi auf, trat dann zu seinem Freund und fragte ihn, ob er in Ordnung sei. Er musste seine Frage mit erhobener Stimme wiederholen, da dieser nicht zu hören schien. Der andere Polizist blickte sich um, sah aber nur mehr einen Mann in einer gelben Jacke, der in vollem Lauf in eine der engen Innenstadtgassen abbog. Der Mann verschwand darauf in einem Haustor, zog seinen auffällig senfgelben Caban aus, wendete dessen Inneres nach außen, schlüpfte wieder hinein und trat nunmehr mit einem taubengrauen Kurzmantel unaufgeregt auf die Straße.

Walter und Jack, die aus bester Lage die ganze Szene beobachtet hatten, standen verkrampft vor dem Hawelka , hatten sie in dem Geflüchteten doch denjenigen wiedererkannt, der vor ein paar Tagen im Hinterhof, in dem sich Hofers Lager befand, dem weißhaarigen Mann den Ellbogen ins Gesicht gedroschen hatte.

»Potz! « 31 , sagte Jack, als er sich aus seiner Erstarrung löste, »Habe d’Ehre!«

»Kein Bemmerl«, bekräftigte Walter, »dem Faschisten hat das aber auch gehört. Das ist die einzige Sprache, die so einer versteht.«

»Das nächste Mal gehen wir untertags in die Speckbachergasse, da dürfte der Typ Außendienst haben«, sagte Jack.

»Du willst noch einmal hingehen?«

»Es geht um einen Haufen Geld, bitte«, antwortete Jack. »Oder willst du, dass es sich der Theo holt?«

»Der weiß doch gar nicht, wo er suchen soll.«

»Noch nicht«, murmelte Jack. »Darum sollten wir bald hingehen.«

»Wenn wir dem Gelben in die Hände fallen … no, das wär’ leiwand!«

• • •

»Faustenhammer, sind Sie vom bösen Schwein benagt?«, fragte Kommissar Haselbacher ein paar Tage später, als sich der Bezirksinspektor anschickte, vor dem Haus Speckbachergasse 20 einzuparken. »Da hätten wir gleich mit Tatütata vorfahren können. Fahren’S unauffällig vorbei und parken’S irgendwo ums Eck.«

Faustenhammer parkte wie befohlen in einer Seitengasse, und die Herren Beamten, Kommissar Ludwig Haselbacher, Bezirksinspektor Franz Faustenhammer, Rayonsinspektor Anton Altendorfer, dessen Koteletten sich langsam zu einem Backenbart auszuwachsen begannen, und der junge provisorische Wachmann Vitus Veitschegger stiegen aus, um demnächst amtszuhandeln. Haselbacher hatte angeordnet, Vitus mitzunehmen, damit er einmal sieht, »was Polizei sein heißt«.

»Alles, was euch spanisch vorkommt, gebts ihr in die Sackerln, die ihr hoffentlich mitgenommen habts«, gab Haselbacher letzte Anweisungen. »Und nicht reagieren, wenn euch während der Hausdurchsuchung wer anredet oder so. Hast’ gehört, Veitschegger? Einfach ruhig weitermachen!«

• • •

»Sch…«, entfuhr es Edna, als der VW Variant mit der Aufschrift POLIZEI sich unmittelbar vor dem Haus Speckbachergasse 20 einzuparken schien.

»Sag’s ruhig«, ermutigte sie Suskia. »Scheiße!«

Als der Wagen dann aber doch weiterfuhr und in die nächste Gasse einbog, seufzte Edna erleichtert. »Schlamassel wollt’ ich eigentlich sagen.«

»Du und deine jiddischen Sager.« Suskia grinste.

Die beiden jungen Frauen standen, wie vor knapp zwei Wochen, vor dem Wohnhaus Schmiere, denn Walter und Jack waren wieder in der Hinterhofbaracke, um nach dem ominösen 10.000er-Piece zu suchen. Nicht genug, dass alle vier das Geld aus dem sicher nicht unbeträchtlichen Verkaufserlös haben wollten, sie brauchten es, wenn auch aus gegenläufigen Gründen.

Walter und Edna brauchten es, weil Jack schon einige Male wie von ungefähr gesagt hatte, dass Suskia zu ihm ziehen werde und Walter dazuschauen möge, das Wasser in seine Bassena-Wohnung einzuleiten und die Sitzbadewanne, vermutlich der Wunsch von Edna, installieren zu lassen.

Jack und vor allem Suskia wollten das Geschäft machen, weil Suskia immer wieder den Wunsch äußerte, nach Indien zu reisen, um dort als Blumenkind unter Blumenkindern zu leben, namentlich im Ashram »Rishikesh« des Maharishi Mahesh Yogi. Sie gedachte, dort transzendent zu meditieren, umso mehr, da der Guru mitten im Dschungel luxuriöse Bungalows mit Badewannen hatte bauen lassen, als 1968 die Beatles selbst bei ihm die Erleuchtung gesucht hatten.

»In Indien«, hatte Suskia einmal gesagt, während sie mit Jack den Spliff 32 danach rauchte, »in Indien sind wir mit unserem Anteil aus dem Verkauf wahrscheinlich die Reichsten in der Kolonie.«

Jack hatte verträumt dem herbsüßen Rauch nachgeblickt, gedankenverloren an sich herumgespielt und Suskias Hand genommen, um seinen nächsten Satz haptisch zu untermauern. »Und das Kapital wächst, wie du siehst.«

»Dann müssen wir es sofort investieren«, hatte sie gehaucht.

• • •

Als die beiden Mädels die drei Herren in Uniform um die Ecke biegen sahen, wie sie entschlossen auf das 20er-Haus zugingen, wurden sie in die Gegenwart zurückgerissen. Kaum hatte Edna die Sprache wiedergefunden, sagte sie dann doch und mit Überzeugung: »Scheiße.«

Nach kurzer Katatonie riss Suskia das Haustor ein Stück weit auf. »Achtung! Polizei«, rief sie verhalten.

Als sie sich wieder der Straße zuwandte, schaute Suskia Vitus Veitschegger an, dessen Blick flehte: Nicht grüßen oder was, bitte!

»Was schauen denn die zwei Mentscher 33 so blöd?«

Faustenhammer kaute mit seinem Unterkiefer auf seinem Walross-Schnurrbart herum, machte das Haustor auf und sagte, ohne Edna und Suskia richtig anzuschauen: »Lungert da nicht herum. Schleichts euch!«

»Seit wann ist es verboten, dass man herumlungert?«, maulte Edna zurück. Sie sagte »herumlungert« so, dass es ein Synonym für »Trottel« hätte sein können.

»Sind’S ruhig«, keifte Haselbacher, »sind’S ruhig, sonst gehen’S mit!«

Faustenhammer öffnete das Haustor.

• • •

Das nachmittägliche Sonnenlicht schien durch die Spalten zwischen den schmutzig grauen Brettern, aus denen der Verschlag zusammengenagelt war, und wirkte wie ein hauchfeiner Gazeschleier, in dem aufgewirbelter Staub tanzte.

Das einzige Mobiliar waren zwei alte Küchenkredenzen, die, einstmals weiß, in nahezu farblosem, feuchtem Braun kreuzbrav nebeneinanderstanden. Die ehemaligen Arbeitsflächen waren mit einem über die ursprünglichen Ränder hinausragenden Brett verbunden. Davor stand verzweifelt ein wackeliger Küchensessel.

Walter hatte einen rostigen Nagelzieher aus der Werkzeuglade seiner Mutter mitgenommen. Sein Vater hatte zu Lebzeiten »im Haus« alles selbst gemacht, er war wie fast alle Männer der Kriegsgeneration ein Hobbybastler gewesen. Mit diesem Nagelzieher war es ganz einfach, Schloss und Riegel, die mittels eines Splints in der Holztür steckten, herauszuziehen.

Zwischen Walter und seinem Vater hatte ein Vater-Sohn-Konflikt geherrscht, seit sich herausgestellt hatte, dass Walter für Latein, Mathematik, Physik, Chemie, eigentlich für gar keinen Gegenstand irgendetwas übrighatte, und sein Vater während eines Elternsprechtags erfahren musste, dass er ein »diffiziler« Schüler sei, ins Kritische ausgewachsen. Das Einzige, das Walter in der Schule positiv erlebt hatte, war, dass er in der vierten Klasse Jakob »Jack« Goldmann aus der Parallelklasse kennenlernte, der, wie er selbst Musiker, unbedingt Dichter werden wollte, als Schüler aber unauffällig geblieben war.

Der Vater sperrte Walter die Gitarre weg, strich ihm das Taschengeld, ja verhielt sich grundsätzlich aggressiv gegen ihn. Seine Mutter versuchte wie alle Mütter in solchen Situationen zu vermitteln, einzulenken, gegenseitiges Verständnis zu erreichen, allein die Positionen waren zu festgefahren. Walter wollte Gitarre spielen, Lieder schreiben, singen wie Bob Dylan und die Schule bleiben lassen, sein Vater wollte gerade das Gegenteil.

Erst als der Vater dann in den besten Jahren, wie man sagt, irgendeinen Krebs im Gallengang bekommen hatte, seine Haut dadurch immer gelber wurde und die Ärzte seiner Mutter mitteilten, dass nichts mehr zu machen sei, da änderte sich alles.

Die Mutter hatte darauf bestanden, dass dem »Papa« die Wahrheit nicht zumutbar sei, und in Tateinheit mit den Ärzten und Schwestern im Spital versicherte sie dem Todkranken, es handle sich um eine Gelbsucht und er brauche nur Geduld, bis wieder alles in Ordnung käme.

Durch diese Lüge, das ständige »zuversichtlich in die Zukunft blicken« und »ja kein böses Wort sagen«, wenn sie den Vater im Krankenhaus besuchten, entwickelte sich in dessen letzten beiden Lebensmonaten so etwas wie Zuneigung und Gemeinsamkeit zwischen Vater und Sohn.

Eine Erinnerung an seinen Vater zerriss Walter jedes Mal das Herz, wenn er daran dachte: Ein weiterer Routinebesuch bei dem mittlerweile von Cortison aufgeschwemmten Vater ging zu Ende. Walter und seine Mutter verließen das ebenerdige Krankenzimmer und schauten wie gewohnt von draußen noch einmal hinein. Sein Vater, dessen Bett unmittelbar neben dem Fenster stand, hatte sich aufgerichtet und blickte, so zumindest schien es ihm, Walter mit einem traurigen Lächeln direkt in die Augen, hob den Arm und winkte ihm zu.

Tags darauf war er tot.

Trotz des einfallenden Sonnenlichts konnten Walter und Jack nur allmählich Einzelheiten erkennen. Als sich ihre Augen an das im Inneren des Schuppens herrschende Halbdunkel gewöhnt hatten und sie mit der Suche nach dem 10.000er-Piece beginnen wollten, hörten sie, wie eines der Mädels »Achtung! Polizei!« rief. Sie drückten sich an die Wand und ihre Körper sperrten das feingesponnene Sonnenlicht großflächig aus.

Aber nicht nur Walter und Jack hörten den gepressten Warnruf: »Achtung! Polizei!«, denn unmittelbar danach flog die Tür zu der Bretterbude auf. Einen kurzen Moment flutete das Licht dieses Spätsommertages den Verschlag, dann schloss sich die Tür hinter dem bulligen, gedrungenen Mann, der die beiden Burschen mit stummem Erstaunen ansah.

Er trug einen taubengrauen Kurzmantel, hielt einen Finger an die Lippen und atmete kaum. Walter und Jack starrten ihn oder vielmehr seine Jacke an, die bei der hastigen Geste einen Teil des senfgelben Innenlebens offenbart hatte.

Walter erkannte unter den Stimmen, die von außen hereindrangen, diejenige Haselbachers. »Also, wie besprochen: nichts reden, gründlich und rücksichtslos alles durchsuchen.«

»Oh, moj Bože! Policija, sranje! « 34 , entfuhr es Milana Potočnić, als sie ihre Wohnungstür öffnete und zum zweiten Mal die Herren von der Polizei vor ihr standen.

Bezirksinspektor Faustenhammer hielt der Hausmeisterin den genehmigten Durchsuchungsbefehl unter die Nase. »Wir schau’n uns nur ein bisserl um«, schnauzte er. Dann betrat er mit den beiden anderen, die Frau unwirsch beiseiteschiebend, das Vorzimmer.

»Sie woren jo schon do lätzte Woche«, sagte Frau Potočnić.

»Ja. Aber heut’ bleiben wir ein bisserl länger«, antwortete Haselbacher. Dann sah er die Hausmeisterin an. »Was haben’S denn mit Ihrem Gesicht g’macht?«

Sie strich mit einer Hand über einen Bluterguss auf ihrer linken Wange. »Ich? Goa nix.«

Kaum war das Schließen der Wohnungstür zu vernehmen, rannte der Untersetzte, nicht ohne einen entsprechenden Blick auf Walter und Jack zu werfen, aus der Schaluppe hinaus, überquerte den Hof und schloss hinter sich vorsichtig das Haustor.

Draußen rempelte er die beiden Mädels an, knirschte »S’puta! «, 35 und verschwand um die nächste Ecke in der Degengasse.

• • •

Als Anton Altendorfer das Schlafzimmer betrat, vermutete er einen halbseitig gelähmten Mann vorzufinden, jedoch war die nur notdürftig an ein Pflegebett erinnernde Liegestatt leer.

»Herr Kommissar«, rief er, »schaun’S einmal!«

Haselbacher, der gerade mit spitzen Fingern in einer Wäschelade etwas zu finden suchte, blickte auf. »Was gibt’s?«

Altendorfer führte ihn zu dem leeren Bett. »Frau Potočnić«, rief er, »wo ist denn Ihr Gatte, der Schlaganfallpatient, der Gelähmte? Ausgeflogen?«

»Mann in Spital«, sagte Frau Potočnić ein wenig kleinlaut, »hat aufamol keine Luft gekriegt. Rettung tra-ra, tra-ra und bringt Mann in Spital …«

Franz Faustenhammer drängte ins Zimmer. »Aha, in was für ein Spital denn?«

Frau Potočnić hatte sich wieder einigermaßen gefasst. »Nix waas da. Haben geholt und fertig.«

»No, das werden wir ja bald wissen«, antwortete Haselbacher. »Und wenn in den Aufzeichnungen der Rettung kein … wie heißt der malade Gemahl?«

»Savo.«

»Potočnić?«

»No was sunst?«, versetzte Frau Potočnić.

»Also«, Haselbacher baute sich vor der Hausmeisterin auf, »wenn in den Aufzeichnungen der Rettung kein Savo Potočnić aufscheint, dann schicken wir Sie zurück nach Jugoland.«

Inzwischen kramte Vitus Veitschegger draußen in der Küche desinteressiert in Schubladen herum und fand einen, wie man im Waldviertel sagte, »Wiegehobel«, mit dem man Gemüse, Wurst und Teig in kleine Würfel schneiden konnte. Man legte beispielsweise zwei Paradeiserhälften auf ein Brett, nahm den Wiegehobel an seinem Plastikgriff und stanzte, mit entsprechendem Druck und wiegenden Bewegungen, mit den scharfen, in neun kleine Quadrate angeordneten Messern aus den Paradeiserhälften jeweils neun Würfel.

Veitschegger erinnerte sich an das Foto des toten Hofer, der wahrscheinlich gar nicht der Hofer war, und an dessen zerschnittenes Gesicht. Er steckte den Wiegehobel sicherheitshalber ein.

• • •

Walter und Jack lösten sich allmählich aus ihrer Verkrampfung.

»Komm«, zischte Walter und zog Jack am Ärmel, »lass uns verschwinden.«

Doch Jack bewegte sich nicht vom Fleck. »Nix, lass uns suchen!«

»Ja, das Weite,« drängte Walter und zog Jack abermals am Ärmel, »daneben ist die Kieberei.«

»Und wenn schon«, flüsterte Jack. »Jetzt sind wir schon da und der gelbe Preisboxer ist fort.«

Sie begannen, sich so geräuschlos wie möglich in der altersschwachen Hütte umzuschauen, öffneten, gewissermaßen in einer Parallelaktion zu jener in der Hausmeisterwohnung, die Laden und Türen der beiden Kredenzen, bis auf eine, die versperrt war, stöberten in den Regalen voller Lurch, fanden zunächst nichts, da zog Walter Jack wiederum am Hemdärmel und hielt ihm schweigend eine staubige Pistole unter die Nase.

»Bist du deppert!«, entfuhr es Jack. »Eine Krach’n!«

»Schscht,« machte Walter, stülpte sein T-Shirt über den Hosenbund, steckte sich die Waffe hinten in die Hose und zog seinen Gürtel enger.

»Wo kann denn der Shit nur sein« sagte Jack enttäuscht. »Die eine Kredenztür ist zugesperrt, wenn ich die aufbrech’, macht das sicher einen Lärm …«

Jacks Blick fiel auf das Blechschild an der Ziegelwand gegenüber den beiden Kredenzen, das auf eine Art Mauervorsprung genagelt war und Hofer wahrscheinlich irgendwann aus einem Altbauhaus hatte mitgehen lassen. Auf dem Schild stand in schwarzen Lettern auf schmutzig weißem Grund 4. STOCK . Darum hieß der halbverwitterte Holzverschlag ja »vierter Stock«.

»Gib mir den Nagelzieher«, sagte Jack und zog dann mit geringer Anstrengung die nachlässig fixierten Schrauben aus der bröseligen Wand. Als das Schild nur mehr an der Schraube links unten hing, pendelte es auf die Seite, und aus einem Hohlraum dahinter purzelten sieben in Stanniol verpackte, schulheftgroße Tafeln Haschisch auf den Boden. Jack fand noch zwei Weitere in dem Versteck.

Als Walter einen letzten Blick in die Maueröffnung warf, fand er eine handtellergroße Blechdose, in der es schepperte. Er öffnete sie. Es entfuhr ihm ein geflüstertes »Pfo!«. Schätzungsweise gut über fünfzig linsenförmige, orange Pillen lagen darin. »Das sind alles Trips! Yellow Sunshine , ich krieg’ einen gojischen 36 Kopf!«

Da hörten sie, wie die Tür zur Hausmeisterwohnung geöffnet wurde, und die Stimmen der Polizisten drangen über den Hof. Sie schoben die neun Haschischtafeln in den schmalen Zwischenraum, der sich zwischen Boden und Unterkante einer der beiden Kredenzen auftat. Die andere Kredenz hatte keine Beine mehr, darum stand die Küchenmöbelkonstruktion so unglücklich da. Walter drückte mit dem Nagelzieher eine der Schrauben in die rechte obere Ecke des Schildes, sodass es wieder waagrecht hing und den Hohlraum dahinter verbarg.

Keine Sekunde zu früh, denn aus dem Stimmengewirr der Polizisten hörten sie Haselbacher unmittelbar vor der Holztür sagen: »Los, Männer, schauen wir da auch rein!«

Bezirksinspektor Franz Faustenhammer öffnete die Holztür mit mehr Kraft als notwendig, und Tageslicht flutete den Verschlag. Sowohl Walter und Jack als auch die vier Polizisten standen da wie vom Donner gerührt.

Kommissar Haselbacher war der Erste, der sich fing. Sein Blick fiel auf Walter. »Aha, der Herr Horvath. Was genau machen Sie da? Und wer ist der andere Gruftspion?«

Walter schwieg, nicht aus taktischer Überlegung, sondern weil es ihm die Rede verschlagen hatte. An seiner Stelle antwortete Jack, so als hätte man einen Knopf gedrückt. »Jakob Goldmann.«

»Ah, Sie sind dieser jüdische Komplize von dem sauberen Herrn, oder?«, feixte Haselbacher mit hörbarer Geringschätzung und sagte aufmunternd zu seinen drei Kollegen: »Schaut einmal, was es da zu finden gibt. Schaut mir ganz nach einem Drogenversteck aus.«

Die Blicke, die hektisch zwischen Walter, Jack und Vitus gewechselt wurden, fielen gottseidank niemandem auf.

Als sich Faustenhammer und Altendorfer routinemäßig in der Schaluppe umzuschauen begannen, hatte Walter den Eindruck, die Pistole in seinem Gürtel beginne zu glühen.

Nur nichts anmerken lassen, dachte er, nur nicht nach hinten greifen, nur keinen Blick auf den Spalt zwischen Kredenzunterkante und Fußboden werfen, ganz cool bleiben … Er schaute aber dennoch dorthin und bemerkte erschaudernd, dass eine Ecke Stanniol zu sehen war und in einem Sonnenstrahl geradezu aufblitzte.

»Wir wollten nur das Schild, auf dem 4. Stock steht, abmontieren«, sagte Jack, so harmlos es ihm möglich war. »Ich … äh … wollte es in meiner Wohnung aufhängen.«

»So, so.« Haselbacher nickte und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ah, da kommt das her, was? Das mit dem vierten Stock.« Er wandte sich an seine Kollegen. »Verstehts ihr? Deswegen hat diese Hausmeisterin immer was vom vierten Stock gefaselt!«

»Herr Kommissar«, meldete sich Altendorfer und rüttelte an der versperrten Kredenztür.

»Was ist denn da drin?«, fragte Haselbacher tückisch. »Was haben die Herren denn da eingesperrt?«

Walter und Jack zuckten zunächst erleichtert die Achseln, wobei Walters Erleichterung in nächster Sekunde schockartiger Panik Platz machte.

»Und? Wo ist der Schlüssel, ihr zwei Komiker?«, fragte der Kommissar. »Altendorfer, durchsuchen’S die beiden Früchtchen.«

Jack drehte geistesgegenwärtig seine Hosentaschen um, bemühte sich, nicht zu stottern, und stotterte dennoch.

»Bi… bitte, wir haben keinen Schlüssel«, brachte er heraus, während Walter seine ganze Kraft brauchte, gelassen zu wirken.

»Aufbrechen!«, befahl Haselbacher. Faustenhammer blickte suchend um sich, entdeckte den Nagelzieher und schlug mit zwei kräftigen Hieben auf die morsche Kredenztür ein, die seufzend nachgab.

»Was haben wir denn da?«, fragte Faustenhammer, und Altendorfer machte einen Schritt vor, griff in das Kastel und nahm, assistiert von Vitus, ein vorsintflutliches Funkgerät samt Zubehör plus einen vergilbten Zettel heraus, auf dem in kyrillischen Schriftzeichen Unentzifferbares geschrieben stand. Die Herren der Exekutive standen ein paar Sekunden ratlos da, bis Haselbacher, gewissermaßen der Form halber, brummte: »Was brauchen die denn ein Funkgerät?«

Als niemand die Frage beantwortete, herrschte Haselbacher Altendorfer an: »Sicherstellen und mitnehmen!« Dann hatte er eine Idee. »Faustenhammer«, sagte der Kommissar, »gehen’S in die Hausmeisterwohnung zurück und nehmen’S diese Hausmeisterin mit.«

»Wir haben aber keinen Haftbefehl!«, wandte Altendorfer ein.

»Wer hat was von verhaften gesagt? Mitnehmen tun wir sie, das ist alles.«

Als Faustenhammer die sich unkooperativ und widerborstig verhaltende Hausmeisterin vorführte, zeigte Haselbacher ihr das Funkgerät und das Stück Papier mit der rätselhaften Schrift.

»Erstens, Frau Potočnić, zu was brauchen’S denn ein Funkgerät, und zweitens, was steht auf dem Zettel da?«, fuhr sie der Kommissar an.

»Nix waas da von Funkdings. Hat wahrscheinlich gehärt die Hofär und das auf Papierstückl ist Russisch und ich sprichta ka Russisch und das kann net lesen.«

»No, das werden wir am Wachzimmer besprechen, gute Frau«, sagte Haselbacher im Ton des Siegers.

»Und ihr zwei …« Er wandte sich Walter und Jack zu. »Schleichts euch. Halt! Altendorfer, nehmen’S noch die Personalien von unserem Freund aus dem gelobten Land auf!«

Faustenhammer führte die Hausmeisterin ab und Altendorfer schob Walter und Jack vor sich her.

»Veitschegger«, sagte Haselbacher, »springen’S ins Auto, holen’S ein Polizeisiegel und picken Sie’s auf die Holztür da, dass niemand da drin herumkramanzen 37 kann.«

Edna und Suskia, die durch den offenen Spalt des Haustors Speckbachergasse 20 ungefähr mitbekamen, was sich im Hof abspielte, gingen, als Walter und Jack, die Polizisten und Frau Potočnić auf die Straße traten, so unbefangen wie irgend möglich Richtung Effingergasse.

Faustenhammer stieß Haselbacher kurz an.

»Schaun’S, Herr Kommissar, die zwei Trutsch’n sind noch immer da.«

1 Quarktasche

2 Wienerisch für: Geschlechtsverkehr ausüben.

3 Alt-Wienerisch für Zähne

4 Wasserstelle am Gang in Wiener Altbauten.

5 Alt-Wienerisch für jemanden verunglimpfen, schlecht machen.

6 Alt-Wienerisch für jemanden aufdringlich aushorchen.

7 Heute »Modehaus Eisenbahner«; damals »Kleiderhaus zum Eisenbahner«; Bezugsquelle für altmodisch-spießige Garderobe

8 Wienerisch: Verächtlich für Polizist

9 Serbisch: Schöne Scheiße

10 Scharfer serbischer Schnaps

11 Serbisch: Prost

12 Schüler, Lehrling

13 Haschisch im Gegenwert von 100 Schilling

14 Jiddisch: Tipps, Ratschläge, Auskünfte

15 Wienerisch für: Leichtes Mädchen

16 In den 70er Jahren Insiderbezeichnung für Haschisch

17 Tischfußballgerät

18 Wienerisch für: sehr gut, sehr schön

19 Wienerisch: Kellnerbrieftasche

20 Wienerisch: Allzwecktuch aus weißem Stoff für Kellner

21 Bund deutscher Mädchen – Mädchenorganisation des Naziregimes

22 Alt-Wienerisch: Untriebe, Schikanen, Faxen

23 Wienerisch: hässlich

24 Wienerisch: Genick

25 Legendäre(s) Wiener Konditorei und Kaffeehaus

26 Ja

27 Nein

28 Bitte

29 Nicht gut

30 Kurzer Mantel

31 Jiddisch: No bumm!

32 Kurzer, dünner Joint, auch: Einblatt

33 Alt-Wienerisch für Mädchen

34 Oh mein Gott! Polizei, Scheiße.

35 Aus dem Weg

36 Jiddisch: Ich fasse es nicht

37 Wienerisch für nach etwas suchen, herumwühlen