Far, far, far away, way
People heard him say, say
I will find a way, way
There will come a day, day
Something will be done
Pink Floyd, 1968
R estoran Trabicz stand groß auf dem Schild, darunter kleiner, etwas verwittert Srpski Specijalite und wieder darunter, kaum lesbar: S.rbisch. Sp.zialität.n . Das Lokal machte auf die Wiener, genauer die Ottakringer aus der Umgebung, keinen vertrauenserweckenden Eindruck. Im Grätzel 38 sagte man: Da musst du um’s Wechselgeld boxen. Es wurde daher so gut wie ausschließlich von jugoslawischen Gastarbeitern, vorwiegend Serben, frequentiert.
Eben vor diesem Restoran Trabicz in der Seeböckgasse stand Savo Potočnić und klopfte energisch mit der Faust auf die verschmierte Glastür, durch die man trotz allem ein Schild erkennen konnte, auf dem »Montag, Di.nstag Ruh.tag« stand. Heute war Dienstag. Nach einiger Zeit erkannte Savo die Silhouette einer schlanken, vielleicht 50-jährigen Frau. Sie sperrte die Tür auf, öffnete sie einen spaltbreit und blickte misstrauisch auf Savo.
»Was willst du, du Arschloch?«, fragte sie mit kratziger Stimme auf Serbisch. Savo antwortete, indem er die Tür aufstieß.
»Lass mich rein, du Hexe, die Polizei sucht mich.«
»Du hast ihm beinahe die Nase gebrochen, du Wildsau!«
»Dann soll er mir nicht blödsinnig dreinreden, wenn ich mit Moskau spreche, noch dazu, wo er fast kein Russisch kann!«
»Du bist geisteskrank, Savo«, hörte man eine Stimme aus den Gedärmen des Spezialitätenrestaurants. Ein erschreckend hagerer, großer Mann, gut einen Kopf größer als Savo, kam aus der Küche. Er hatte langes, schlohweißes Haar, rötliche Augen und eine Nase wie ein Habichtschnabel, die von einem robusten Pflaster verklebt war. An seinem Körper schlotterten eine verwaschene schwarze Jeansjacke und eine Hose aus dem gleichen Stoff. Alles in allem erinnerte er an den exzentrischen Bluesgitarristen und Sänger Johnny Winter. Wie er wirklich hieß, wusste wahrscheinlich nicht einmal mehr seine Frau, für alle war er bloß »der Schamane«.
»Tut leid.« Savo warf einen flüchtigen Blick auf die Nase des Schamanen. »Der Partisane ist mit mir durchgegangen.«
»Wie gesagt, du bist geisteskrank. Wie kannst du Moskau garantieren, dass wir den Tito hochgehen lassen? Wer soll denn das machen? Und mit welchem Geld willst du das organisieren?«
»Ich habe einen Plan«, sagte Savo halbherzig, »ich mach’ das schon.«
Die Frau des Schamanen lachte bitter.
»Ja, du! Du hast einen Plan, dass ich nicht lache. Der Tito kommt in nicht ganz vier Wochen her, und du stehst da und hast die Polizei am Hals.«
»Du hast doch Geld.« Savo wandte sich an den Schamanen. »Mit deinen dreckigen Rauschgiftgeschäften verdienst du doch ein Vermögen!«
»Red’ doch nicht so einen Abfall, Savo«, erwiderte der Schamane, und seine Frau griff sich an den Kopf. »Ich geb’ mein Geld sicher nicht her für deine Attentatsfantasien! Noch dazu, wo du dem Kerl das Genick gebrochen und ihm das Gesicht zerschnitten hast.«
»Was hätte ich machen sollen? Ich geh’ in die Hütte im Hof, seh’ einen Typen, der sich irgendwie verdächtig umschaut, da hab’ ich ihn …«, erklärte Savo und machte die Geste des Genickbrechens.
»Wie gesagt, du bist geisteskrank, Savo«, bekräftigte der Schamane. »Wieso bist du überhaupt so versessen darauf, den Tito umzubringen? Du bist doch Serbe.«
»Ich bin Serbe, ja. Aber in erster Linie bin ich Kommunist. Und was der Tito bei uns macht, ist kein Kommunismus. Das ist Titoismus! Sich von der Sowjetunion lossagen und Geld vom westlichen Klassenfeind nehmen ist Verrat!«
Savo Potočnić wechselte das Thema und wandte sich der Schamanin zu. »Und du«, er stieß ihr andeutungsweise seinen Zeigefinger vor die Brust, »du mit deinem unchristlichen Nebengeschäft, du hast auch Geld, wenigstens das könntest du in den Dienst der Sache stellen.«
Sie schaute ihn an, als hätte er sich soeben übergeben.
»Vielleicht verzeiht dir die Gottesmutter dann«, fügte Savo hinzu.
»Du schau lieber, dass sie dir verzeiht … du Mörder.« Sie schüttelte den Kopf, ging Richtung Küche und murmelte: »Ist Kommunist, bringt alle um, aber bemüht die Gottesmutter … Idiot.«
• • •
Kommissar Haselbacher stand am Gang der Pathologie, wartete auf Dr. Weintritt, den »Leichenschänder«, wie er ihn in dessen Abwesenheit nannte, und rauchte in kurzen, abgehackten Zügen bereits die zweite Johnny , denn er wollte weder den hier herrschenden Todeshauch einatmen, noch konnte er den nur schlecht camouflierten Verwesungsgeruch ertragen.
Die Schritte des Pathologen näherten sich, ohne Zielstrebigkeit zu vermitteln. Als Dr. Weintritt am Kommissar vorbeiging, um sein Geschäft aufzusperren, warf er einen abschätzigen Blick auf die nur mehr einen Zentimeter lange Zigarette. »Kommen’S rein, Herr Haselberger …«
»Haselbacher ! Können Sie sich das nicht merken?«, grantelte der Kommissar. »Für was haben wir Sie studieren lassen?«
»… drinnen hab’ ich einen Aschenbecher.«
Dr. Weintritt setzte sich hinter seinen Schreibtisch, nahm aus einer Lade eine Petrischale heraus, in der keine Kultur angelegt war, sondern nur ein Stück Gewebe lag. Er hielt sie Haselbacher hin und schüttelte sie ein wenig. »Das, Herr Hasel- äh … -bacher, ist ein Stück von der Blase des noch nicht identifizierten Mordopfers. Sie wissen, wen ich meine?«
»Natürlich, Herr Doktor Wein- äh … -tritt«, äffte Haselbacher.
»Wir haben da was ganz Interessantes gefunden.«
»Aha?«
»Nämlich eine Substanz, die sich in bestimmten psychoaktiven Pilzen findet. In unserem Fall Muscimol , das euphorisierende und halluzinogene Agens des Fliegenpilzes.«
»Fliegenpilz? Sie meinen diese narrischen Schwammerln?«
Dr. Weintritt nickte. »So kann man auch sagen. Die Pilze haben eine jahrhundertealte Tradition, sie wurden und werden zum Beispiel von Medizinmännern indigener Volksstämme eingenommen, vornehmlich aber von Schamanen, vor allem solchen aus slawischen Kulturen, um zum Beispiel den Geistern oder Göttern näher zu sein. Die getrockneten Pilze werden gegessen, und der dabei entstehende Urin wird wiederholt getrunken, da er nach dem Pilzkonsum noch sehr viel Muscimol enthält.«
Haselbacher sperrte den Mund auf und es dauerte ein paar Sekunden, bis er das Gesagte begriffen hatte.
»Was? Die trinken ihr … ding … ihr Lulu? Und haben Sie vorhin Kultur gesagt? Slawische Kultur? Vor dreißig Jahren hätt’ man Sie eingesperrt dafür. Slawische Kultur, dass ich nicht lach’. Untermenschen hat das g’heißen!«
»Wie die Nazis dazu gesagt haben, ist irrelevant.«
»Ich war nie ein Nazi, bitte!«
»No, freilich.« Dr. Weintritt winkte ab. »Aber die Tatsache, dass wir Reste einer solchen Substanz, nämlich eben das bereits erwähnte Muscimol , in der Blase dieses Hofer gefunden haben, könnte ermittlungsrelevant sein.«
»Was ich immer gesagt habe: Rauschgift, da ist Rauschgift im Spiel!«, sagte Haselbacher patzig.
»Ja«, erwiderte Weintritt, »und es kann vor allem auch ein Hinweis auf die Identität des Opfers sein. Dass der vielleicht Hofer heißt, bringt Sie ja nicht weiter. Sie sollten in Kreisen ermitteln, wo es üblich ist, solche Pilze zu konsumieren. Und, Herr …«
»… Haselbacher …«
»… diese Schwammerln wachsen ja nicht auf Bäumen … obwohl es auch Baumschwämme gibt, die …«
»Das ist alles sehr interessant, Herr Doktor, aber Ihre ermittlungstechnischen Ratschläge können Sie sich sparen, ich red’ Ihnen in Ihr Metier ja auch nicht rein«, sagte Haselbacher, der sich ärgerte, dass Dr. Weintritt sich unterstand, mit ihm so von oben herab zu reden. Seinerzeit hätte er als Polizist schon gewusst, wie er einen Herrn Doktor, der von slawischer Kultur sprach, in die Schranken weisen konnte.
»Bitte, bitte«, beschwichtigte Weintritt, »ich hab’ nur helfen wollen.«
»Danke vielmals, Herr Doktor, ich werd’ diese Ihre Informationen in die Ermittlungen einfließen lassen.«
Als Haselbacher das Geschäft verlassen hatte, begegnete er auf dem Gang einem Mann, der in einer Art Schutzanzug einen Wagen mit einer beiläufig zugedeckten Leiche vor sich herschob. »Guten Tag«, sagte der Leichenschieber etwas zu laut und etwas zu verbindlich. »Guten Tag«, antwortete Haselbacher ebenso.
Es fiel auf, dass man in der Pathologie niemals grußlos aneinander vorbeiging, als wollte man sicherstellen, dass man selbst und der andere noch am Leben war.
Wie auch immer, der Letzte löschte das Licht.
• • •
Nachdem der Polizei-VW an Jack, Walter, Edna und Suskia vorbeigefahren und in die Wilhelminenstraße eingebogen war, liefen Walter und Jack zurück in den vierten Stock , brachen das Polizeisiegel auf, zogen das viele Haschisch und die Dose mit dem LSD unter der Kredenz hervor und liefen wieder über den Hinterhof hinaus, zurück zu den Frauen.
Im zweiten Stock stand ein Fenster offen, das auf den Hof hinausging. Eine Frau mit Lockenwicklern im Haar beugte sich hinaus.
»Ferdl, da rennen schon wieder zwei so langhaarige G’frieser herum«, meldete sie nach hinten.
»Mach’s Fenster zu, Lintschi, das geht uns nix an«, sagte, nicht sichtbar, ihr Mann.
• • •
Als Walter und Jack das Haschisch samt dem LSD und dann noch die Pistole auf den Küchentisch in Jacks Genossenschaftswohnung legten, hielt ihr radikales Schweigen für ein paar Sekunden die Welt an. Dann brach Suskia die Stille.
»Ihr habts ein Polizeisiegel aufgebrochen?« Wurde das doch in Kriminalfilmen als besonders perfide und kaltblütig vermittelt.
»Ist ganz einfach«, sagte Jack leichthin, »ist nur Papier.«
Edna stellte daraufhin, mit besorgtem Blick auf die Beute, die Frage zum Tage.
»Und? Wie tun wir jetzt?«
»Wir sollten zuerst einmal ein paar Kostproben rauchen.«
Nach den ersten reihum gemachten Zügen stand fest, das Zeug war 1A, was mit sachkundigen Bemerkungen untermauert wurde.
»Pfo, das fahrt ein!«
»Bist du deppert, das turnt! « 39
»Sagenhaft!«
»Scheiß’ mich an, das ist das beste Zeug, das ich jemals geraucht hab’.«
»Libanese?«
»Könnt’ sein … ich tippe eher auf Afghane.«
»Afghane ist schwarz.«
»Nicht unbedingt.«
»Es gibt auch roten Afghanen.«
»Geh! Das ist ganz klar ein roter Libanese.«
»Rot? Eher dunkelbraun!«
»Kann uns das nicht wurscht sein?«, beendete Suskia die Diskussion.
Und dann begann eine wortreiche Lagebesprechung, so als hätten alle Sprechperlen geschluckt, und es wurden die verwegensten Pläne mit den unterschiedlichsten Argumenten für das weitere Vorgehen besprochen. Ob man das Ganze in 100er-Stücke teilen und im Voom , im Vanilla oder in der Camera en detail verdrehen sollte? Oder, noch besser, im Volksgarten beim Theseustempel, respektive hinter der Liesl verkaufen? Das hätte den Vorteil, dass man, als harmloser Spaziergänger getarnt, bei Tageslicht tätig sein konnte und nicht in den immer wieder von verdeckten Ermittlern der Polizei auf- beziehungsweise heimgesuchten Szenelokalen dealen musste. Obwohl diese Ermittler so verdeckt waren, dass man sie zehn Kilometer gegen den Wind riechen konnte. Junge Mistelbacher 40 mit kurzen Haaren, die lächerlich auf lang gebürstet und akkurat ins Gesicht gekämmt waren, und die sich auf geradezu groteske Weise anbiederten, indem sie läppisch den Anschein gaben, Progressive zu sein.
Mit Liesl war das sezessionistische, aus weißem Marmor gehauene Denkmal der Kaiserin Elisabeth gemeint, das unweit des Theseustempels lag und dessen breite Stufen hinauf zu Elisabeth führten, die gelassen auf einer Art Fauteuil saß. Da die Liesl ein wenig abgelegen war und daher nur wenig besucht wurde, war es gewissermaßen der ideale Platz, um zu dealen oder gemütlich einen durchzuziehen. Der Theseustempel hatte sich überhaupt in den letzten Jahren zum Epizentrum der Gammler und Hippies entwickelt. Auf seinen Stufen, an die griechischen Säulen gelehnt, saßen langhaarige Burschen, die ausufernd Bob Dylan, Joan Baez, Donovan und in letzter Zeit vereinzelt Leonard Cohen auf der Gitarre spielten. Nur Walter spielte auch Lieder, die er selbst geschrieben hatte, was aber niemanden störte oder vielleicht auch gar nicht auffiel. Grob überschminkte, teils auch nur mit Kernseife gewaschene Mädchen hörten hingebungsvoll zu und nicht wenige verliebten sich in den einen oder anderen Musiker, so: »It’s the singer, not the song.«
Alle trugen meist ungebügelte, verwaschene und grundsätzlich abgelebte Gewänder, die den Eindruck vermitteln sollten, man mache sich aber schon so gar nichts aus Kleidung oder überhaupt aus Mode. In Wirklichkeit jedoch wurde jeder Stilfehler sofort bemerkt und kritisch gemustert. Die geringste Spur von Unachtsamkeit, beispielsweise eine Bügelfalte, zog sogleich Misstrauen nach sich.
»Der Herr Theo hat doch gemeint, er möchte mit uns ins Geschäft kommen, oder?«, fragte Edna, nachdem sie einen tiefen Zug genommen hatte.
»Aber der Theo ist suspekt«, winkte Jack ab, »der haut uns höchstwahrscheinlich übers Ohr. Noch dazu, wo der sicher auch noch mit anderen verbandelt ist … als Großhändler.«
»Aber«, warf Walter ein, »wenn wir die ganze Sache dem Theo verklopfen, dann haben wir auf einen Schlag das Geld, und die Geschichte ist für uns erledigt.«
»Wir müssen es, bis es zu einer Übergabe kommt, irgendwo lagern. Bei mir zu Hause möcht’ ich nicht so einen Haufen Shit haben«, sagte Jack.
»Ich tät’s schon nehmen, was soll denn schon sein?«, meinte Walter.
Edna griff in seine Haare und beutelte ihn. »Bist du meschugge? Da braucht nur dein depperter Nachbar einmal die Polizei rufen! Die sperren dich ein und schmeißen die Schlüssel weg.«
»Warum soll denn der Summer die Polizei rufen?«
»Walter, die Edna hat recht«, warf Suskia ein, »deine Nachbarn sind alte Trottel. Was weißt du, was denen einfällt.«
»Wisst ihr, was das beste Versteck wär’?«, fragte Jack lächelnd.
Die drei anderen blickten ihn mit geweiteten Augen an. Jack tat geheimnisvoll.
»Dort, wo wir es gefunden haben.«
»Was, im vierten Stock ?« Edna klang, als hätte sie sich verhört.
»Genau«, sagte Suskia so euphorisch, als hätte sie noch nie eine bessere Idee vernommen. »Dort ist es über ein halbes Jahr gelegen, dort liegt es ein, zwei Monate auch noch gut.«
»Was heißt ein, zwei Monate?« Walter stand auf der Leitung.
»Bis wir es verkauft haben, verstehst du?«, sagte Jack so, als spräche er zu einem Kleinkind.
Und wieder war es Edna, die die dringendste Frage stellte. »Wie viel ist denn das ganze Zeug wert?«
• • •
Haselbacher saß in seinem Zimmer im Kommissariat 1160, Grubergasse, zog an einer Zigarette und beäugte das Funkgerät samt Zubehör, das in dem Holzverschlag im Hinterhof der Speckbachergasse 20 sichergestellt worden war. Faustenhammer, Altendorfer und der junge Veitschegger standen um ihn herum und blickten nicht weniger ratlos vor sich hin.
»Was ist das?«, fragte Haselbacher mehr sich selbst als in die Runde.
»Sowas wie ein Funkgerät«, äußerte Altendorfer unsicher.
»So viel weiß ich auch!«, bellte Haselbacher.
»Aber was will diese Potočnić mit einem Funkgerät? Übrigens, haben wir schon eine Meldung, ob ihr Mann, der Gelähmte … wie heißt er g’schwind?«
»Savo Potočnić«, meldete sich Vitus Veitschegger.
»… ob der mit einer Rettung abgeholt worden ist?«
»Nein, nichts«, antwortete Faustenhammer. »Ich hab’ auch im Wilhelminenspital fragen lassen, Savo Potočnić gibt’s keinen.«
»Dann lügt die Potočnić, diese Zigeunerin mit den zusammengewachsenen Augenbrauen«, sagte Haselbacher. »Veitschegger, was haben’S denn da?«
Sein Blick fiel auf den Wiegehobel, den Vitus während der ganzen Fahrt in den Händen gehalten, den aber niemand sonst beachtet hatte.
»Das hab’ ich g’funden, in der Küche von der Frau.«
»Ah geh …« Altendorfer fuhr sich mit seinen zu langen Fingernägeln durch die wuchernden Koteletten. »Und? Brauchst den in deiner Küche?«
»Nein, nein, ich hab’ mir nur gedacht … wegen dem zerschnittenen Gesicht von diesem Hofer, der ja gar nicht der Hofer sein dürfte …« Er zeigte auf die Anordnung der Schneiden. »Die könnten so ein Muster machen«, stammelte Veitschegger.
Faustenhammer wollte schon hämisch feixen, unterließ es aber, als er sah, dass Haselbacher interessiert aufblickte.
»Der Bursch meint das quadratische Muster im Gesicht dieses … lass einmal anschauen …«
Alle betrachteten den Wiegehobel mit dem Plastikgriff. Haselbacher öffnete die Mappe mit den Fotos vom Gesicht der Leiche im Rinnsal und verglich die geometrische Verunstaltung mit dem Messerblock des Küchengerätes.
»Könnte gut sein. Holt mir diese Hausmeisterin her!«
• • •
Nachdem geklärt war, wo die überreichen Haschisch- und LSD-Bestände zwischengelagert werden sollten, kam Interesse für die Pistole auf. Jack betrachtete sie von allen Seiten, probierte an ihr herum und blickte schlussendlich in ihren Lauf.
»Jack!«, rief Suskia. »Bist du blöd geblieben? Man schaut doch einer Waffe nicht in den Lauf!«
»Wenn die losgeht«, sagte Edna und schauderte, als hätte sie ein eisiger Lufthauch gestreift.
»Der Theo kennt sich sicher aus mit sowas«, sagte Walter, und als wäre es nicht ohnehin schon festgestanden, dass man sich für die Variante »Herr Theo« entscheiden würde, für das schnelle Geld sozusagen, so galt es jetzt als beschlossen.
»Der Vitus kennt sich sicher auch mit sowas aus«, sagte Jack. »Wenn wir den treffen, zeigen wir ihm die Kanone. Der hat zwar schon einmal geplaudert bei den Kieberern, dass der Hofer nicht der Hofer ist … und diese Sachen. Aber mir ist lieber, der Vitus erklärt uns die Waffe als der Theo. Der braucht das gar nicht zu wissen.«
»Ob der Revolver dem Hofer gehört? Oder gar diesem Berserker?«
»Zu was hätte denn der Hofer einen Revolver gebraucht?«
»No, hörst? Als Dealer?«
»Ah, da fallt mir ein«, unterbrach Walter, suchte in den Taschen seiner Jeansjacke herum und zeigte den anderen ein zerwuzeltes, ungeöffnetes Kuvert mit eigentümlichen, fremdartigen Stempeln. »Das war heute bei mir in der Post, die Marken dürften türkisch sein oder sowas.«
Edna nahm ihm den Brief aus der Hand, drehte ihn hin und her, schaute auf den Absender. »Gottfried Gröbel und drunter ist ein Stempel. Was heißt das? Hapishane 41 Ankara … ja, das dürfte Türkisch sein.« Sie nahm einen schmuddeligen Zettel aus dem Kuvert. »Sitze in Ankara im Häfen wegen Rauschgiftschmuggel«, las sie laut vor. »Weiß nicht, was die Türken mit mir vorhaben. Passt mir auf den 4. Stock auf! Österreichische Botschaft scheißt sich nichts um mich. Hofer.« Schweigen.
»Hat das also doch gestimmt, dass er in der Türkei ist«, sagte Suskia.
»Und eing’naht 42 haben’s ihn auch gleich«, meinte Walter.
»Den Brief muss er irgendwie rausgeschmuggelt haben.«
»Das hat sicher ein Schweinegeld gekostet.«
»Na ja, Geld wird er ja haben«, mutmaßte Jack. »Überhaupt dürfen die sicher ein paar Briefe schreiben.«
»Ah, der Hofer heißt also in Wirklichkeit Gottfried Gröbel«, rief Suskia. »Der hat sich immer nur Hofer genannt … Deckname … gar nicht blöd.«
»Da hätten die bei uns lang nach dem suchen können«, sagte Walter anerkennend, »aber die werden ihn doch nicht wirklich erschießen, oder?«
»Nu«, sagte Jack, »vielleicht hängen sie ihn auch auf, die Türken? Hast du nicht Midnight Express gesehen? In der Türkei steht die Todesstrafe auf Dealen und Schmuggeln.«
»Wirklich?«, fragte Edna, und sie erschauderte ein zweites Mal.
»Im Film war’s so«, sagte Jack.
»Nein«, sagte Walter, »im Film bricht der Typ irgendwie aus und bringt vorher noch den Wärter um, der ihn die ganze Zeit gequält hat.«
»Ja, im Film schon. Aber in Wirklichkeit? Die Wirklichkeit läuft nicht nach einem Drehbuch.«
»Was kann man denn da machen?«, wollte Walter wissen.
»Wir? Gar nichts«, versetzte Jack.
»Vor allem, was machen wir, wenn er zurückkommt und checkt, dass wir seinen Stoff verkauft haben?«, stellte Suskia in den Raum.
In der drauffolgenden Stille lag unhörbar ein Gedanke: Der kommt nicht zurück. Wiederum erschauderte Edna.
• • •
Hofrat Oberst Ableitinger nahm einen großen Schluck saurer Milch. Er wischte sich mit seinem Stofftaschentuch gerade die Krümel des zuvor verzehrten Butterbrotes aus den Mundwinkeln, als sein Telefon läutete.
»Ableitinger. Was gibt’s?«
»Der Herr Polizeipräsident für Sie, Herr Hofrat, ich verbinde.« Ableitinger gab seinem zur Schlaffheit neigenden Körper ein wenig Spannung.
»Schönen Vormittag, Herr Präsident.«
Am anderen Ende wurde zunächst gehüstelt.
»Grüß’ Sie, Herr Oberst, wie ist das werte Wohlbefinden?«
»Danke, Herr Prä…«
»Hauptsache, Sie fühlen sich wohl. Wissen Sie, wer vor ein paar Tagen bei mir war?«
»Wer?«
»Der Herr Innenminister. Der Staatsbesuch vom Tito ist abgesagt.«
»Ah so?«
»Und wissen Sie, warum?«
»Nein«, wollte Ableitinger nicht sagen, denn das hätte keinen schlanken Fuß gemacht, also beschloss er, zu schweigen.
Aber der Polizeipräsident hatte ohnehin keine Antwort erwartet.
»Ich hab’ mir was anhören können vom Minister«, fuhr er nahtlos fort. »Der jugoslawische Botschafter war bei ihm und hat die Meinung geäußert, dass die Polizei, ›also Ihr Verein‹, hat er gesagt, nicht in der Lage ist, die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zu garantieren, die für so einen … heiklen … Besuch obligat wären. Was ich dazu sage und wie ich mir das weiter vorstelle, wollte er wissen. Es war, wie Sie sich denken können, kein angenehmes Gespräch. Und jetzt frage ich Sie«, die Stimme des Polizeipräsidenten nahm einen maliziösen Ton an, »ich frage Sie, Ableitinger, was sagen Sie dazu, und wie stellen Sie sich vor, wie das weitergeht?«
Der Oberst und Hofrat hasste es, wenn Vorgesetzte nicht nur seine Titel, sondern auch das »Herr« vor seinem Namen wegließen. Noch dazu, wo dieser neue Polizeipräsident lächerlicherweise im Zuge der Ämterübernahme der SPÖ durch ihre absolute Mehrheit vom Feuerwehrkommandanten zum obersten Polizisten Österreichs avanciert war. Seitdem kursierte der Witz in den Gängen der Polizeireviere: Warum gehen so viele junge Männer zur Feuerwehr?
Sie trainieren auf Polizeipräsident.
»Herr Präsident, ich wüsste nicht, wie der Herr Botschafter darauf kommt, dass wir …«
»Herr Oberst«, unterbrach der Präsident, »ich hab’ ein bisserl meine Fühler ausgestreckt. Was ist das für eine G’schicht? Ein noch immer nicht identifizierter Toter mit einem verwüsteten Gesicht? Übrigens, ich hab’ mir sagen lassen, dass das Zerschneiden von Gesichtern bei den serbischen Partisanen seinerzeit Brauch gewesen ist, um jemanden zum Verräter zu stempeln. Eben wie bei dieser Leiche, diesem gewissen … äh …«
Eine andere Stimme flüsterte in den Hörer: »Hofer, Herr Präsident.«
»… einem gewissen Hofer? Soviel ich weiß, wissen Sie ja nicht einmal den Vornamen.«
»Bitte, ich bin in …«
»Im Bericht steht, der zuständige Gerichtsmediziner hätte gemeint, vom Hauttyp her könnte das Opfer Südländer sein. Sehr aufschlussreich, unheimlich erhellend, finden’S nicht? Und gestern Abend ist noch was gekommen von diesem …«
Wieder die Flüsterstimme: »Doktor Weintritt, Herr Präsident.«
»Weintritt, er hätt’ irgendein Pilzgift in der Blase des Opfers gefunden.«
»Herr Präsident, ich bin in engem Kontakt mit dem ermittelnden Kommissariat, ich hab’ eine Hausdurchsuchung bei der Hausmeisterin genehmigt, die behauptet hat, das Opfer zu kennen …«
»Großartig, Ableitinger, eine Hausmeisterin also! Da ist es natürlich kein Wunder, wenn die jugoslawische Botschaft Zweifel an unseren Sicherheitsstandards hat.«
»Ich werde mich umgehend …«
»Umgehend, ja, das möcht’ ich meinen! Machen’S Ihren Leuten Dampf unterm Allerwertesten und … Ableitinger … ich möcht’ ab jetzt über jeden Ihrer Schritte, Ihrer erfolgreichen Schritte, informiert werden.«
»Selbstverständlich, Herr Präsident. Ich werde …«
»Also, reißen Sie sich am Riemen und … und auf Wiederhören.«
»Auf Wiederhören, Herr …«
Das »Präsident« sprach Ableitinger bereits ins Leere, denn am anderen Ende wurde aufgelegt.
Er spülte seinen Mund mit einem weiteren Schluck saurer Milch, tat dann einen tiefen Atemzug und kläffte in die Gegensprechanlage: »Machen Sie mir sofort eine Verbindung mit diesem Kommissar, diesem … wie heißt der Vogel in der Grubergasse?«
»Haselbacher, Herr Hofrat.«
»Genau. Mit diesem Kommissar Haselbacher, dem Blunzenstricker.«
• • •
Im Restoran Trabicz saßen der Schamane und Savo Potočnić an einem Tisch bei je einem Glas Rakija und schauten ratlos vor sich hin.
Der Schamane näselte aufgrund seiner verklebten Nase.
»Was willst du denn jetzt machen, Savo? Die Geschichte mit der halbseitigen Lähmung ist fertig erzählt, wenn die bei euch eine Hausdurchsuchung gemacht haben. Wahrscheinlich haben’s die Milana verhaftet. Da musst du höllisch aufpassen, und nach Hause gehen kannst du auch, wenn überhaupt, nur zum Schlafen.«
»Ich muss mit Moskau telefonieren. Die Polizei hat jetzt das Funkgerät. Ich brauche Hilfe vom KGB, um die Tito-Sache zu erledigen«, sagte Savo und fügte süffisant hinzu: »Hier habe ich ja keine Landsleute, die anständige Kommunisten sind.«
»Warum willst du den Tito überhaupt hochgehen lassen? Willst du, dass es in Serbien genau so wird wie in der UdSSR?«
»Der Kommunismus«, dozierte Savo, »der Kommunismus muss eine einheitliche Ausrichtung haben, um die Weltrevolution schaffen zu können. Dieser ›eigene Weg‹, dieser Blümchenkommunismus, ist konterrevolutionär und muss weg!«
Die Entwicklung dieses eigenen Wegs war eine Reaktion auf die Ablehnung durch den sowjetischen Stalinismus gewesen. Anfangs strebten die Ideologen der jugoslawischen kommunistischen Partei lediglich danach, gewählten Arbeiterräten in der kollektiven Führung der Betriebe weitreichende Mitsprache zu geben. In einer Art evolutionärer Weiterentwicklung, so das utopische Ziel, sollte die gesellschaftliche Selbstverwaltung auf allen Ebenen von Wirtschaft und Gesellschaft so weit ausgebaut sein, dass die Lenkung durch den Staat überflüssig würde und dieser schließlich »absterben« könnte. Das mit der Zeit aufgebaute System wurde nach verschiedenen ideologischen Grundprinzipien weiterentwickelt. In späteren Zeiten sollten dann als politische Losungen vor allem die vier Ds gelten: Dezentralisierung, Deetatisierung, Depolitisierung und Demokratisierung.
Der Schamane fuhr sich durchs dünne weiße Haar.
»Ich halte den Titoismus für die zurzeit modernste Spielart des Kommunismus’.«
Savo sprang auf und der Schamane war drauf und dran, ebenfalls aufzuspringen, allerdings, um die Flucht anzutreten.
»Der Kommunismus ist kein Spiel!«, schrie Savo erzürnt.
»Erinnere dich, was wir mit den Nazis erlebt haben! Wer weiß, was ohne unseren Partisanenkampf gewesen wäre.«
»Wir waren aber auch nicht gerade zimperlich, nicht einmal gegen unsere eigenen Leute. Ich möchte nicht wissen, wie vielen allein du das Gesicht zerschnitten hast.«
»Gib dem Verrat kein Gesicht!«, zitierte Savo aus der Partisanen-Ideologie.
»Die Zeiten sind aber jetzt andere, Savo, du bist kein Partisane mehr.«
»Einmal Partisan, immer Partisan!«, predigte Savo. »Und streng genommen seid ihr beide Verräter, weil ihr das viele Geld, das ihr mit euren ausbeuterischen Geschäften verdient, nicht der Weltrevolution zur Verfügung stellt!«
»Da wären wir schön blöd«, entgegnete der Schamane. »Wir haben hier ein gutes Auskommen, und außerdem haben wir immer geholfen, wenn ihr Schmiergeld gebraucht habt oder so. Selbstlos, also ganz im Sinne des Sozialismus’!«
»Das ist ja wohl das Mindeste«, antwortete Savo und ergänzte lapidar: »Genosse.«
»Der Tote, den sie vor einer Woche oder zwei in der Speckbachergasse vor eurem Haus gefunden haben, mit dem entstellten Gesicht, wer war denn das überhaupt?«
Savo nahm einen kräftigen Schluck Rakija und knallte das Glas auf den Tisch.
»Weiß ich nicht. Und geht dich nichts an.«
»Der hat, glaube ich, ein-, zweimal Pilze bei uns gekauft.«
»Ja«, sagte Savo bedeutungsschwer und nickte. »Die Drogen haben schon so manchem das Genick gebrochen.«
• • •
»Alsdann«, sagte Kommissar Haselbacher gefährlich liebenswürdig, »keine Rettungsgesellschaft weiß was von einem Einsatz betreffend Herrn Savo Potočnić, und im Wilhelminenspital ist auch niemand dieses Namens eingeliefert worden. Sie haben uns also angelogen, gute Frau.«
Milana Potočnić blickte schweigend auf das Funkgerät, das am Schreibtisch vor Haselbacher lag.
»Red schon!«, sagte Bezirksinspektor Franz Faustenhammer, den Mund mit den wulstigen Lippen, die von seinem ins Kraut schießenden Oberlippenbart überwuchert waren, ganz nah am Ohr der Hausmeisterin, die sie vor einer Stunde abgeholt hatten.
»Nix waas da«, sagte sie, ohne den Blick zu heben.
»Wenn du noch einmal ›nix waas da‹ sagst, dann lass’ ich dich …«, brauste Haselbacher auf und dachte nach, was er ihr androhen, und vor allem, was er ihr auch tatsächlich antun konnte. Damals, vor dreißig Jahren, da hätte es Mittel und Wege gegeben, aus so einer die Wahrheit herauszuprügeln; aber heute? Gerade mal einen nassen Fetzen um die Ohren hauen hätte er ihr können.
Der Fluch der milden Justiz.
»Es hat doch keinen Sinn, dass du lügst, Milana«, sagte der Rayonsinspektor Anton Altendorfer plump vertraulich.
»Sollen wir dich gar erst einsperren, bis du niederlegst 43 ?«
»Ihr kennt mich gar nix. Gehen lassen müsst ihr mich, ihr hätt’ mich gor nicht mitnehmen dürfen, ohne Haftbäfehl!«
Haselbacher hob spontan die Hand, um ihr eine ›Verkehrte‹ zu geben, besann sich aber, vor allem als er sah, dass die Unterlippe der Hausmeisterin eine unschön erhabene Verkrustung aufwies. So beugte er sich nur vor und bellte Frau Potočnić an.
»Du Zigeunerin sagst uns nicht, was wir dürfen und was nicht! Und was ist mit dem Funkgerät da? Gehört das deinem gelähmten Mann? Was macht er damit? Tut er gar spionieren, oder was? Sollen wir dich an den DSN 44 überstellen? Die haben dort ihre Methoden, dass du speibst 45 , du Jugo-Schlamp’n.«
Altendorfer drückte ihn behutsam auf seinen Sessel zurück. »Machen Sie sich nicht unglücklich, Herr Kommissar, das ist die doch nicht wert. Überhaupt, schauen Sie sich der ihre Papp’n an. Wenn die sagt, die hat sie von Ihnen, dann habe d’Ehre.«
Haselbacher fasste sich ein wenig. »Das Funkgerät da, für was gehört das, und was steht auf dem Zettel da? Sind das … äh … Geheimcodes, oder was? Red schon!«
Frau Potočnić schaute Altendorfer an, der weiterhin an seinen Koteletten drehte. »Ich vasteht das net und nix waas da, Gospodin Komesar , 46 vielleicht hat gehärt die Hofär …«
Haselbacher nahm den Wiegehobel aus einer Schreibtischlade und knallte ihn vor Milana auf den Tisch. »Und was ist das? Brauchst das zum Gesichter zerschneiden?«
Frau Potočnić blickte auf das Küchengerät, wollte es an sich nehmen, doch der Kotelett-Toni haute ihr auf die Finger.
»Pfoten weg!«
»Das brauch’ ich in der kuhinja . 47 «
Bezirksinspektor Faustenhammer nahm den Wiegehobel an sich und betrachtete ihn von allen Seiten. »Vielleicht sollten wir den untersuchen lassen? Fingerabdrücke können wir zwar vergessen, aber vielleicht Blutspuren?«
»Kümmern Sie sich darum«, ordnete Haselbacher an, wandte sich an die Hausmeisterin und krächzte: »Und wehe dir, wir finden was …«
»Ich versteh nix gut Deitsch. Ich schneid’ nur Gemise mit das«, wunderte sich die Potočnić.
Haselbacher erhob sich schneller, als man es seiner Korpulenz zugetraut hätte. »Bringt sie weg, sonst …« Dann schnauzte er Rayonsinspektor Altendorfer an: »Schauen Sie sich noch einmal in der Speckbachergasse 20 um, und zwar in dem Schupfen, ich hab’ den starken Verdacht, dass wir vielleicht was übersehen haben. Und hören’S mit der Krabblerei an Ihren Koteletten auf!«
»Soll ich die Hausmeisterin mitnehmen, wenn ich eh hinfahre?«
»Auf keinen Fall! Die soll zu Fuß gehen.«
• • •
»Herr Theo!«, rief Walter lauter als üblich im Café Savoy nach dem geschmeidigen Kellner, der zunächst so tat, als hörte er nicht, sich aber dann, wie von ungefähr, dem Tisch, an dem Walter, Edna und Jack saßen, zuwandte.
»Was kann ich gegen euch tun?«
Jack schaute ihn feindselig an. Er fühlte sich darin bestätigt, dass er Suskia, ihre Proteste ignorierend, nicht mitgenommen hatte ins Savoy . Dieser suspekte Kellner sollte keine mokanten Blicke mehr auf sie werfen.
»Gegen uns kannst du gar nichts tun«, sagte er, »du kannst höchstens was für dich tun.«
»Wie darf ich das verstehen, die Herren?«, fragte Herr Theo schmissig. Walter setzte sich auf und sagte breitschultrig: »Wir haben es!«
»Was?«
»Dem Hofer sein Zeug!«
Herr Theo machte eine gallige Verbeugung, murmelte etwas, das klang wie: »Scheiß’ mich an«, und entfernte sich, gar nicht mehr so selbstsicher.
»Was hat er denn?«, fragte Edna. »Wieso geht er weg?«
»Taktik«, antwortete Jack. »Der kommt gleich wieder.«
Herr Theo widmete sich einigen anderen Gästen, riskierte dabei jedoch keinen Blick auf den Tisch der drei. Walter sagte: »Passts auf, ich zeig’ euch was.« Er hob die Hand wie ein Volksschüler und rief dann abermals ein wenig energischer, als es im Savoy Sitte war, nach dem Ober: »Zahlen, bitte!«
»Wollen wir schon gehen?«, fragte Edna.
»Nein, aber auf ›Zahlen, bitte‹ reagiert er für gewöhnlich.«
Und tatsächlich, Herr Theo wandte sich um und kam in seinem elastischen, ein wenig hüpfenden Gang näher.
»Zahlen gewünscht, bitte sehr, bitte gleich«, sagte er, nahm den Fleck heraus, schlug ihn sich in die Handfläche und fuhr dann leiser fort, indem er nur den linken Mundwinkel bewegte: »Wir treffen uns, wenn ich hier zusperre, so gegen eins, halb zwei hinter dem Vanilla bei der Minoritenkirche unter den Arkaden. Und bringts das Piece mit!«
In normaler Lautstärke sagte er dann: »Zwei kleine Bier, eine Melange und eine Esterházyschnitte … zu bringen in bar … 15 Schilling achtzig, die meisten geben zwanzig.«
Nachdem sie gezahlt hatten, saßen die drei zunächst noch einige Augenblicke stumm da, bis Walter sich entschlossen erhob und grinste. »Fahren wir zu Jack und besprechen das Ganze. Lagebesprechung in Verbindung mit einer weiteren Qualitätskontrolle der Ware.«
• • •
Haselbacher sah vor sich hin und ließ wie so oft sein Leben bruchstückhaft vor sich ablaufen. Er erinnerte sich, wie er seinerzeit im Zuge seiner Arisierung zu der geräumigen und repräsentativ eingerichteten Wohnung gekommen war und wie sich seine von ihm vergötterte Frau darüber gefreut hatte. Er lebte in ständiger Furcht, dass man ihm die Wohnung wegnehmen oder vielleicht gar den Zins empfindlich erhöhen könnte.
Es käme für ihn einer persönlichen Niederlage gleich, wäre er gezwungen, in eine Gemeindebauwohnung zu übersiedeln, die, so stand es auf diesen Gemeindebauten, von der Sozialistischen Partei Österreichs errichtet worden waren. Nicht auszudenken, wenn er, umzingelt von Sozis, von Volksverrätern, dort wohnen und so tun müsste, als wäre er ein Roter.
Obwohl er manchmal sinnierte, dass es zurzeit gar nicht so verkehrt wäre, einen auf Genosse zu machen, wo doch seit gut einem Jahr dieser Kreisky, ein Sozialist und noch dazu ein Jude, regierte, und das sogar mit der Duldung der Freiheitlichen Partei, die ihm nach dem Krieg immer politische Heimat gewesen war.
Die schnarrende Stimme der Gegensprechanlage riss ihn aus seinen Gedanken. »Herr Kommissar, der Hofrat Ableitinger für Sie.«
Forsch quarrte die Stimme des Obersten aus dem Hörer: »Haselbacher, sagen Sie, was tun Sie mir an?«
»Wie bitte …?«
»Ich hab’ vorhin mit dem Polizeipräsidenten telefoniert, und der war gar nicht glücklich, wie das mit dem Fall Hofer läuft! Übrigens, wissen’S schon, wie der mit Vornamen heißt?«
»Noch nicht, Herr Oberst, ich …«
»Sehen Sie, das macht zum Beispiel kein gutes Bild, Herr Kommissar«, unterbrach Ableitinger.
»Und der Staatsbesuch vom Tito ist auch abgesagt worden, weil …«
»Wie? Bitte, Herr Hofrat, was hat denn der Tito mit dem Hofer zu tun?«
»… weil wir, also in dem Fall Sie, nicht die nötigen Sicherheitsstandards gewährleisten können! Herrschaftszeiten, schlafts ihr da in der Grubergasse? Übrigens, haben Sie gewusst, dass es die serbischen Partisanen waren, die einem Verräter das Gesicht zerschnitten haben?«
»Nein, Herr Hofrat, bis jetzt nicht.«
»Jetzt wissen Sie’s, Haselbacher, also klären Sie den leidigen Fall auf, aber schnell!«
»Herr Oberst, wir ermitteln schon in alle Richtungen und …«
»Sie sollen nicht in alle, sondern in die richtige Richtung ermitteln. Ich möcht’ wegen Ihnen nie wieder so ein Telefonat führen müssen, Haselbacher. Es war, wie Sie sich denken können, kein sehr angenehmes Gespräch. Ich möcht’ von jedem Ihrer Ermittlungsschritte informiert werden, haben’S verstanden? Überhaupt: Ist da was rausgekommen bei der Durchsuchung dieser Hausmeisterwohnung?«
»Wir haben eine Funkausrüstung sichergestellt und herausgefunden, dass der angeblich halbseitig gelähmte Gatte offenbar quietschfidel ist …«
»Was soll das heißen, ›quietschfidel‹?«
»Er wurde in seinem Pflegebett nicht vorgefunden und ist vermutlich untergetaucht«, erklärte Haselbacher mit leiser Stimme.
»Also, mit einem Wort, Sie haben gar nichts, Haselbacher! Schauen’S, dass Sie vom Hocker kommen, ja? Sie stehen im … ding … im Rampenlicht! Der Joschi 48 hat ein Aug’ auf Sie!«
»Herr Oberst, wir werden verschärft ermitteln und jeder Spur nachgehen, das kann ich Ihnen versprechen, und ich persönlich werde …«
»Hopp auf, Haselbacher, hopp auf! Freundschaft!«
»Wie meinen, Herr Oberst …?«
Den letzten Satz sprach Haselbacher schon ins Leere, denn am anderen Ende wurde aufgelegt.
»Tsss, Freundschaft!«, sagte der Kommissar. »G’sindel!«
• • •
Suskia hatte gerade in Jacks Eckküche eine Kanne indischen Chai Tee gemacht, ein meisterlich gerollter Joint ging reihum. Außer anerkennenden Bemerkungen über die Rauchware, unterbrochen von gepresstem Husten, wurde nicht viel gesprochen. Vor allem nicht darüber, wie man das Treffen heute Nacht abwickeln wollte.
»Wollts ihr den ganzen Stoff zur Minoritenkirche mitnehmen?«, fragte Edna. »Wir wissen doch noch gar nicht, was wir verlangen sollen für das Ganze.«
»Also, wir holen sicher nicht das ganze Zeug aus dem vierten Stock «, sagte Jack. Er prüfte, wie viel von dem Piece, das sie zwecks Qualitätskontrolle abgebrochen hatten, noch da war. »Das genügt für eine Warenprobe.«
Die vier saßen da und schauten vor sich hin. In Bild und Ton liefen in ihren Köpfen alle Varianten der bevorstehenden Kontaktaufnahme ab, die möglichen Probleme und gleich darauf ihre Lösungen. Wie das so ist, wenn man schön eingeraucht ist. Und so kam es, dass Walter in die Stille, in der nur ein Titel der Langspielplatte »Phantasmagoria« von Curved Air namens »Marie Antoinette« schwang, einen Gedanken hineinwarf.
»Ich hab’ eine Idee!«
• • •
Rayonsinspektor Anton Altendorfer wollte die Holztür zu der alten Hütte aufmachen, als er innehielt: Das Polizeisiegel war zerrissen! Er griff instinktiv zu seiner Dienstwaffe, öffnete, vorschriftsmäßig nach allen Seiten sichernd, die Tür und trat in Combat-Stellung blitzschnell ins Innere, um … niemanden vorzufinden.
Er kramte nochmals in den Regalen, zog Laden heraus, entleerte sie, indem er sie umdrehte, fand aber außer Klumpert 49 nichts in ihnen. Da hörte er, wie draußen die Haustür geöffnet wurde. Sofort zog er wieder seine Dienstpistole, eine Glock 17/Gen5, stellte sich so dicht wie möglich an die Seitenwand der Tür, blickte in den Hof und sah den gedrungenen, vierschrötigen Mann, der auf die Hütte zuging, kurz stutze, offenbar, weil die Tür offenstand, dann aber entschlossen weiterging und plötzlich dem Kotelett-Toni und seiner auf ihn gerichteten Waffe gegenüberstand.
»Hände in die Höh’ und nicht deppert sein!«
Savo Potočnić starrte mit zusammengekniffenen Augen in den Lauf der Waffe, hob seine Arme an und kam dabei langsam und mit kurzen Schritten näher.
»Stehenbleiben!«
Aber Savo ignorierte Altendorfer und schritt in Zeitlupe auf den Inspektor zu.
»Wer sind Sie und was machen Sie da?«
Savo griff langsam in seine Jacke …
»Keinen Blödsinn machen, sonst …!«
… und nahm einen zerfledderten Ausweis heraus. Er hielt ihn dem Rayonsinspektor hin, der versuchte, das Dokument zu prüfen und gleichzeitig aber den gespenstisch stummen Mann nicht aus den Augen zu lassen.
Da öffnete sich das Haustor ein weiteres Mal und Milana Potočnić, die zu Fuß vom Kommissariat Grubergasse hergegangen war, trat in den Hof, blickte für einen Moment mit Unverständnis in Richtung der beiden Männer, ging dann auf Savo zu und rief: »Savo, šta je bilo? « 50
Altendorfer, von der Situation überfordert, in der einen Hand den Ausweis, in der anderen die Dienstwaffe, den Blick zwischen Savo und Milana hin- und herpendelnd, merkte erst, dass die Geschichte für ihn vorbei war, als Savo unmittelbar vor ihm stand, ihm die Waffe aus der Hand geschlagen hatte und ihn die Fingerspitzen von Savos rechter Hand übergangslos in die Kehle stachen, sodass er nach Luft japsend und hustend zu Boden ging. Kaum lag der Beamte am Boden, trat Savo ihm straff in die Nieren. Altendorfer erbrach sich ein wenig und konnte gerade noch unscharf wahrnehmen, wie der Kerl Richtung Haustor lief. Dabei rief er seiner Frau zu: »Milana, vratiču se! « 51
Dann verlor Altendorfer das Bewusstsein.
Bevor Savo wie ein flüchtender Bär den Hinterhof verließ, zeigte er auf den Holzverschlag.
»Funkausrüstung?«, fragte er Milana.
»Polizei!«
»Verbrecher!«
Im zweiten Stock wurde ein Fenster geöffnet, das auf den Hof hinausging und eine Frau mit einem um den Kopf geschlungenen Handtuch beugte sich hinaus.
»Ferdl, im Hof unten …«, meldete sie nach hinten.
»Mach’s Fenster zu, Lintschi, das geht uns nix an«, sagte, nicht sichtbar, ihr Mann.
• • •
Herr Theo war bereits in Zivil , wie er sagte, wie immer, wenn er sich seiner stets leicht schmierigen Kellnerjacke entledigte, löschte die Deckenleuchten im Café Savoy und gab dem Albino einen Wink.
»Komm, Schamane.«
Der ausgemergelte Mann mit dem langen, weißen Haar und den rotstichigen Augen erhob sich, griff in die Tasche seiner schwarzen Jeansjacke, nahm ein Springmesser heraus, drückte kurz auf den metallischen Knopf am Knauf, sodass es mit dem charakteristischen Klacken aufsprang, betrachtete die Klinge, fuhr prüfend mit dem Daumen die Schneide entlang und steckte es, während die Klinge einrastete, wieder ein.
Er stand vor der Eingangstür des Savoy neben Herrn Theo, diesen um eineinhalb Haupteslängen überragend, und sah, nur scheinbar sich vorbeugend, zu, wie der das Caféhaus zusperrte.
Scheinbar deshalb, weil sich der Schamane nicht wirklich vorbeugte. Durch seine Größe musste er seit über zwei Jahrzehnten auf normalgroße Menschen hinabblicken und hatte dabei einen veritablen Rundrücken entwickelt, der sich langsam zu einem Buckel auswuchs.
Den zwanzigminütigen Fußweg zur Minoritenkirche nutzten die beiden, um das Procedere der Übernahme des 10.000er-Pieces nochmals durchzusprechen.
»Pass auf«, sagte Herr Theo, »reden tu ich, du stehst nur wie ein Menetekel im Finstern neben einer Säule und … nur für den Fall … eh schon wissen.«
»Wie ein was?«, fragte der Schamane mit eckigem Akzent.
»Egal. Wird eh nix sein. Das sind ja so Hippies. Die haben noch nie einen Deal durchgezogen.«
»Und was machen, wenn Problem?«, fragte der Schamane.
»Dann lasst deinen Feitl aufschnappen und die scheißen sich eh gleich in die Hosen.« Nach diesen großspurigen Worten zuckte Herr Theo zusammen, denn in der Kärntner Straße fuhr ein Polizei-VW, die wenigen anderen PKWs vertreibend oder stoppend, mit Blaulicht und Folgetonhorn an ihnen vorbei.
• • •
Mehr oder weniger zur gleichen Zeit saßen Jack, Walter, Suskia, Edna und der unrund wirkende provisorische Wachmann Vitus Veitschegger in einer Ecke des Vanilla auf den abgenutzten Styroporklötzen und besprachen ihrerseits die bevorstehende Geschäftsanbahnung. Vitus hatte mit gemischten Gefühlen zugesagt, bei der Aktion mitzumachen.
»Wenn das rauskommt, dann flieg’ ich bei der Polizei raus, dann ist mein Leben verpfuscht und eingesperrt werd’ ich auch noch.«
»Und ein Leben bei der Polizei ist für dich leiwand?«, fragte Walter.
»Kannst du dich noch an das Mädel aus dem Savoy erinnern, bei der dir beinahe die Augen aus dem Gesicht g’fallen sind? Glaubst du, die steht auf Kieberer?«, fragte Jack.
»Auf den Jerry Cotton sicher«, trotzte Vitus.
Den Ausschlag gaben dann die beiden Mädels, die mit Engelszungen und, man muss es sagen, perfiden Schmeicheleien auf ihn einredeten, wie sehr sie ihn brauchten und wie sicher sie sich mit ihm fühlten und wie progressiv es wäre, wenn er mitmachte. Walter zeigte ihm verstohlen die Pistole aus dem vierten Stock .
»Die steckst du ein, verstehst? Nur für den Ernstfall. Du kennst dich doch mit sowas aus!«
»Muss ich mir anschauen«, hatte Vitus gemurmelt.
Er steckte die Waffe in den Hosenbund, ging aufs Klo, kam nach einer Weile zurück und sagte gedämpft: »Das ist eine alte Kanone. Ob die noch schießt, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall sind vier Patronen im Magazin …«
»Wir werden’s gar nicht brauchen«, sagte Jack zu Vitus. »Der Theo ist ja eh so ein Zniachtl 52 . Überhaupt, solang er den Stoff nicht hat und nicht weiß, wo er ist, wäre er ja blöd … reden tun eh wir, du stehst nur stumm da und schaust gefährlich drein.«
Nach einem Blick in Vitus’ Bubengesicht fragten sich alle, wie das funktionieren sollte mit dem gefährlich Dreinschauen. Aber immerhin war Billy the Kid auch imstande gewesen, Furcht einzuflößen.
»Habts die Kostprobe eing’steckt?«, fragte Suskia.
Walter klopfte auf die Innentasche seiner Jacke. »Gemma!«
Edna und Suskia blieben im Vanilla . Sie hatten zwar zuerst protestiert, aber Walter und Jack hatten dezidiert erklärt, dass Frauen bei ›sowas‹ nichts verloren hätten; das wäre, wie Walter abschließend sagte, Männersache.
Als die beiden allein waren, sagte Suskia: »Männer! Dass ich nicht lach’!«
»Hoffentlich machen sie keine Narrischkeiten .«
»Keine was?«
»Keine Blödheiten«, sagte Edna.
• • •
Rayonsinspektor Anton Altendorfer saß in seinem in verblassten Farben gehaltenen längsgestreiften Privat-Schlafrock im Besucherzimmer der HNO-Station des Wilhelminenspitals mit Kommissar Ludwig Haselbacher und Bezirksinspektor Franz Faustenhammer zusammen.
Sie rauchten.
»Keine Erinnerung an den Aggressor?«
»Wenn ich euch sag’«, krächzte Altendorfer. Er war nach der Kehlkopfattacke Savos noch immer heiser, und das Sprechen tat ihm weh. »Wie ein nach oben hin bisserl verzogenes Quadrat hat er ausg’schaut. Wie du, Franz«, er deutete auf Faustenhammer, »nur kleiner. Mit so Knopfaugen … mit denen er dreing’schaut hat wie ein hysterischer Saubär.«
»Ich schau’ doch nicht wie ein Saubär!«, protestierte Faustenhammer. »Der muss eine solide Kampfausbildung haben, der Hund …«
»Und die Stimme«, drängte Haselbacher, »würden Sie die Stimme wiedererkennen?«
»Der hat doch kein Wort geredet«, winkte Altendorfer ab.
»Einen Polizisten so zu überrumpeln, ja geradezu zu übertölpeln«, setzte Faustenhammer fort, in einem Tonfall, der sich auf den Saubär bezog.
»Ich muss noch einen Bericht schreiben«, fiel Altendorfer ein.
Haselbacher erinnerte sich an das Telefonat mit Oberst Hofrat Ableitinger.
»Jetzt schaun’S einmal, dass Sie wieder halbwegs dienstfähig werden, dann können’S immer noch einen Bericht schreiben«, beschwichtigte er. »Den zeigen Sie mir aber, gell, bevor wir ihn … offiziell aktenkundig machen.«
Das hätte ihm gerade noch gefehlt, nach dem Anschiss durch den Hofrat jetzt auch noch melden zu müssen, dass ein Beamter seines Wachzimmers so mir nichts, dir nichts überwältigt worden war.
»Ob das eventuell der Mann von dieser Hausmeisterin war?«, sinnierte Faustenhammer. Altendorfer zündete sich eine weitere Zigarette an.
»Der Gelähmte?«, fragte er hustend.
»Blödsinn«, winkte Haselbacher ab, »wenn der gelähmt ist, bin ich der Nurmi . 53 «
»Eine gackerlgelbe Jacke hat er ang’habt«, erinnerte sich Altendorfer.
»Eine gelbe Jacke, no super«, spottete Faustenhammer, »jetzt haben wir ihn.«
»Einen Moment.« Haselbacher blies den Rauch seiner Johnny geräuschvoll aus, bevor er sie ausdämpfte.
»Da war doch was, fällt mir ein … eine Schlägerei in der Stadt. In dem Kurzprotokoll ist doch sowas gestanden von einem vermutlich jugoslawischen Gastarbeiter in einem senfgelben Kurzmantel. Der hat zwei Burschen demoliert. Vielleicht nutzt uns das was.«
»Genau, vor dem Wirtshaus in der Dorotheergasse, neben dem Hawelka war das.«
»Bestellen’S uns da noch diese Woche einen Tisch, Faustenhammer.«
• • •
Walter und Jack gingen nicht gerade entschlossen durch die Strauchgasse Richtung Minoritenplatz. Vitus blieb ein paar Meter hinter den beiden zurück. Hastig versuchte er, seinen rechten Schuh vom Hundekot zu befreien, in den er getreten war.
»Pfui Teufel«, sagte er angewidert, »ganz Wien ist von den Hundsviechern zug’schissen. Sowas gibt’s in Zwettl nicht.«
Die »Hundstrümmerln« zogen tiefe Gräben durch die Wiener Bevölkerung. Es herrschte null Toleranz, ganz gleich mit welchen teils skurrilen Plakatmotiven die Stadt Wien versuchte, die Wogen zu glätten. Eine emotionslose Diskussion dieses Themas war nicht möglich.
»Die Hund’ gehören alle erschossen«, sagten die Hundegegner. Vertreter des militanten Flügels fügten meist hinzu: »Und die Besitzer gleich mit!«
Sah jemand aus diesen Kreisen, wie sich ein Hund öffentlich erleichterte, und stänkerte die Person am anderen Ende der Leine an, so antwortete diese trotzig: »Sie müssen doch auch auf’s Klo!«
»Ja, aber nicht mitten am Gehsteig!«
In den Bezirksgerichten stapelten sich Ehrenbeleidigungsdelikte und Anzeigen wegen leichter bis mittelschwerer Körperverletzung, wobei die eine oder andere einem Hundebiss geschuldet war. Im Kabarett sang man damals zur Melodie von »Ana hat imma das Bummerl«:
Ana steigt immer ins Trümmerl ,
Ana hat’s immer am Schuh .
Ana steigt immer ins Glück hinein
und vielleicht bist es morgen schon du .
Dass man in Wien Hundeexkremente als das Glück bezeichnete, mochte manchen nachdenklich stimmen.
Schweigend und vorsichtig betraten die drei den nicht mehr beleuchteten Arkadengang längsseits der Minoritenkirche und hatten den Eindruck, ihre Schritte hallten in der Dunkelheit, obwohl sie fast auf den Zehenspitzen gingen.
»Mir ist schlecht«, wisperte Vitus.
»Gusch jetzt!«, knurrten Jack und Walter beinahe gleichzeitig.
Als sie die Mitte des Kreuzganges erreicht hatten, zuckten sie zusammen, blieben wie zu Salzsäulen erstarrt stehen und sahen sich bange um. Vis-à-vis führte ein Herr seinen Hund Gassi. Das Vieh bellte plötzlich in die halbdunkle Stille hinein. Vitus umschloss wütend den Griff der Pistole in seiner Manteltasche.
»No?«, tönte direkt vor ihnen eine Stimme. Gleich darauf trat Herr Theo auf sie zu und schnupperte. »Hamma uns gerade ein bisserl ang’schissen?«
Den Schamanen, der in schwarzer Jeansjacke und ebensolcher Hose einen Meter hinter dem Herrn Theo an einer Säule lehnte, nahmen die drei zuerst nur als Silhouette wahr. Es vergingen einige Momente, ehe sie das lange, weiße Haar erahnten und die zwei kleinen, irrlichternden roten Punkte, die sich als Augen des Albinos herausstellten. Vitus hatte sich, ob aus Geistesgegenwart oder aus Furcht kann man nicht sagen, vollständig hinter einer Säule verborgen.
»Also, was ist mit dem Piece? Lassts es anschauen!«, sagte Herr Theo.
»Habts ihr das Geld?«, entgegnete Walter. Seine Stimme war zwar dünn, aber erstaunlich fest. »Lassts anschauen!«
»Ich renn’ doch nicht mit zehn Tausendern durch die Stadt.«
»Und wir rennen nicht mit einem Riesentrumm Kitt 54 herum!«
»Zu was haben wir uns dann getroffen?«, fragte Herr Theo spöttisch.
Jack fasste etwas Mut.
»Wir haben eine Kostprobe für euch mit.« Und zu Walter gewandt: »Zeig’s ihm.«
Walter griff in seine Jacke, da trat der Schamane dazu und ließ seinen Springer aufschnappen.
»Vorsicht!«, sagte er, gefährlich liebenswürdig mit slawischem Akzent. »Ganz langsam.«
Vitus machte einen Schritt nach vorn.
»Wer ist denn das?«, fragte Herr Theo amüsiert.
Walter zog ein in Silberfolie verpacktes Stück Haschisch hervor, das die Größe eines Vorverkaufsfahrscheines hatte, und versuchte, überlegen zu klingen. »Der ist unser starker Freund.«
»Der?«, fragte Herr Theo geringschätzig. »Darf der überhaupt so spät noch auf der Gasse sein?«
Für einige Sekunden herrschte Schweigen, ehe Vitus vielsagend seine Hand in der Manteltasche bewegte und verwegen antwortete: »Alt genug für meine Dienstwaffe!«
Herr Theo blickte zu dem Schamanen, der, als er ›Dienstwaffe‹ hörte, eine Art Kampfstellung einnahm oder sich auf die Flucht vorbereitete, es war schwer, auszumachen.
»Also, Burschen, jetzt seids nicht deppert«, sagte Herr Theo. Nun war Anspannung in seiner Stimme zu vernehmen. »Wir sind nicht in einem Jerry-Cotton-Film. Lass mich das Piece anschauen, und du steck den Fisch 55 ein, Langer!«
Walter gab ihm den Stoff, Herr Theo wickelte ihn aus, ging damit einen Schritt in das fahle Licht einer Straßenlaterne, drehte ihn hin und her und roch daran.
»Pfo! Kein Schmutz, nicht!«, entfuhr es ihm.
»Wo das herkommt, da gibt’s noch mehr«, versetzte Jack. »Viel mehr!«
»Wie viel mehr?«
»Neun 10.000er-Pieces!«
»Und an die fünfzig Yellow Sunshine! «, ergänzte Walter.
Herr Theo schwieg, mehr noch, es hatte ihm die Sprache verschlagen. Er wollte noch etwas sagen, doch da kam der Herr mit seinem erneut missbilligend kläffenden Köter zurück, schaute kurz, nichtsdestoweniger hochinteressiert, zu ihnen herüber und blieb stehen. Der Hund knurrte.
• • •
Savo Potočnić, in den Schatten des Haustores Speckbachergasse 20 gedrückt, läutete ungeduldig bei seiner Frau, der Hausmeisterin, und murmelte ausdruckslos: »Hajde, kurvo …« 56
Schließlich hörte er einen Schlüssel im Schloss, das schwere, alte Haustor wurde einen Spalt geöffnet.
»Jebote! « 57 , sagte Milana Potočnić, als sie sah, wer vor der Tür stand. Savo drängte in den Hof, schlüpfte in den vierten Stock und begann, zwar höchst unpenibel, aber jedes Geräusch vermeidend, zu stöbern und zu suchen. »Was suchst du?«, fragte Milana auf Serbisch.
»Meine Pistole«, antwortete Savo, »aus großer Zeit! Die hat die Polizei nicht gefunden, oder?«
»Die haben mir nur das Funkgerät gezeigt! Und mach nicht so einen Lärm, Savo, ich bitte dich. Die Leute hier haben Ohren so groß wie Elefanten!«
»Jebote, weg ist sie«, sagte Savo. »Wahrscheinlich haben sie diese zwei Burschen gefunden und mitgehen lassen. Was haben die überhaupt hier zu suchen gehabt?«
»Sind vielleicht Freunde von dem Hofer und …«
»Blödsinn … vom Hofer … ha!«, lachte Savo auf. »Die kauf’ ich mir, diese Wichser!«
Er schob seine Frau grob zur Seite, schloss vorsichtig die Holztür und schlich über den Hof zum Haustor.
• • •
Aus den Stereolautsprechern tönte »A Saucerful of secrets«, die zweite LP von Pink Floyd .
Im ›Allzweckzimmer‹ von Walters Zimmer-Küche-Wohnung in der Wurlitzergasse saßen am Tag nach dem Treffen mit Herrn Theo Jack, Suskia, Edna und Vitus teils am Boden, teils am ungemachten Bett, nur Vitus saß auf dem freien der zwei altdeutschen Sessel, der andere war, wie Edna sagte, zu einer ›Gewandinsel‹ umfunktioniert worden, und ein Joint machte die Runde.
»Willst du wirklich den Vitus mitnehmen?«, hatte Edna vor ein paar Tagen noch gefragt, als beschlossen wurde, zu besprechen, wie das alles weitergehen sollte, wie der Deal durchzuziehen war, ohne dass sie von Herrn Theo beschissen werden würden.
»Ich glaub’ nicht, dass das ein Problem ist«, hatte Walter gemeint, »die Polizei weiß ohnedies, wo ich wohne. Und je mehr wir den Vitus einbinden, desto mehr gehört er uns.«
Als der Joint zu Vitus kam, wusste er zuerst nicht so recht, wie und vor allem ob er sich gütlich tun sollte. Aber die anderen ermutigten ihn einerseits und gaben ihm andererseits zweckdienliche Anweisungen, sodass Vitus den Rauch mutig einzog, ihn eine Weile lang unten behielt und ihn dann mit einem lautem Husten ausstieß. Als die Reihe zum zweiten Mal an ihm war, hustete er bereits weniger, und beim dritten Mal fast gar nicht mehr.
»Na?«, fragten sie ihn interessiert. »Spürst schon was?«
Vitus schüttelte den Kopf. »Gar nichts!«
Walter hielt entgegen: »Du merkst nur nicht, dass du was spürst.«
Alle lachten. Syd Barretts Stimme vermischte sich mit dem Rauch des Joints:
And I never knew the moon could be so big
And I never knew the moon could be so blue
Nach einigen Sekunden lachte Vitus mit und wollte gar nicht mehr aufhören, er gluckste immer wieder, von Lustigkeit überwältigt.
»Haha … du merkst nicht, dass du was spürst … haha.«
»Da schau her, der Herr Inspektor ist eingeraucht.« Jack schmunzelte.
»Also«, rief Suskia zur Ordnung, »wie gehen wir das Ganze an?«
Allen war bewusst, dass das kein Bemmerl war, wie Walter sagte, sondern eine große Sache, noch dazu eine, mit der sie keinerlei Erfahrung hatten. Eines war allerdings von Anfang an klar: Sie würden für alles zusammen 100.000 Schilling verlangen und sich auf 90.000 runterhandeln lassen. Nur, wie wollten sie das Ganze durchziehen?
Sie spielten etliche Varianten durch, zogen zwei, drei davon in Betracht, einigten sich dann darauf, dass sie sich noch einmal mit Herrn Theo und dem Schamanen treffen mussten, denn die würden naturgemäß auch gewisse Bedingungen stellen, was die Modalitäten betraf.
»Sag«, sagte Jack, »der weißhaarige Lulatsch, der Lange, war das nicht der, dem der mit der gelben Jacke auf die Nase gehauen hat?«
»Kann gut sein.« Walter stand auf, nahm den Kloschlüssel vom Türstock, trat auf den Gang, wo er seinem Nachbarn Herrn Summer begegnete. Als er die Tür hinter sich schloss, stahlen sich die Töne der Trompeten von »Jugband Blues« auf den Gang.
And what exactly is a dream
And what exactly is a joke
»Was ist denn da los bei Ihnen?«, fragte Herr Summer aufgebracht. »Machen’S leicht eine Party? Drehn’S diese Dudelmusik gefälligst leiser, wir sind ja nicht bei die Wilden!«
»Bei den Wilden«, verbesserte Walter und machte die Wohnungstür ganz schnell hinter sich zu, damit der Haschischgeruch nicht auf den Gang dringen konnte, doch zu spät.
»Was riecht denn da so intensiv?« Herr Summer schnupperte misstrauisch.
»Wir machen uns nur einen indischen Tee«, beschwichtigte Walter, ließ Herrn Summer stehen und ging aufs Klo.
Frau Summer kam auf den Gang heraus und klopfte gegen die Klotür.
»Und brunzen’S nicht wieder alles an!«
»Ich brunz’ nichts an«, rief Walter.
»Alle Mannsbilder brunzen alles an!«
»No, no!«, protestierte Herr Summer.
»Weil’s wahr ist«, murmelte Frau Summer.
Als Walter zurück in seine Wohnung kam, saßen die anderen vier noch immer auf dem Boden und warfen sich beinahe weg vor Lachen, denn Vitus erzählte mit ernster Miene von einer Halle in Zwettl, die unter der Erde in der Luft hängt.
»Aber Hauptsache er spürt nichts«, sagte Jack.
• • •
Kommissar Haselbacher blätterte in seinen Amtsräumen im Akt »Hofer«, ohne wirklich darin zu lesen, und trotz der dumpf einschläfernden Geräuschkulisse des Verkehrs vor den geschlossenen Fenstern erlebte er diese Zeit als Stille.
Als sein Telefon schrillte, zuckte er darum unverhältnismäßig zusammen. Er hob ab. »Haselbacher.«
»Herr Kommissar, der Doktor Weintritt von der Gerichtsmedizin für Sie.«
»Was gibt es, Herr Doktor, können Sie vielleicht endlich gar etwas zur Identität dieses Hofer sagen, der wahrscheinlich gar nicht der Hofer ist?«
»Herr Kommissar«, sagte Weintritt mit grandiosem Phlegma, »ich habe die Leiche freigegeben, das wollte ich Ihnen der guten Ordnung halber nur mitteilen …«
»Viel haben’S ja nicht aus dem rausbekommen, das muss ich Ihnen schon sagen.«
»Mehr war leider nicht drin. Wir haben auch dieses Küchengerät, dieses Wiegemesser oder wie das heißt, das Sie mir schicken haben lassen, untersucht …«
»Und, ist ihm damit jetzt das Gesicht zerschnitten worden?«
»Wahrscheinlich, ja«, sagte Weintritt. »Wir haben Blut auf den Schneiden nachweisen können, aber so wenig, dass wir nicht einmal die Blutgruppe bestimmen können. Soll ich es Ihnen zurückschicken für die Asservatenkammer, oder …«
»Behalten’S das Kreibel 58 und schneiden Sie sich von mir aus ein paar Gurken damit.«
»Danke, sehr freundlich Herr … äh …«
»Ersparen Sie mir das, Weintritt …«
»Was denn, Herr Haselhofer?«
Der Kommissar knallte den Hörer erbost auf die Gabel.
»Altendorfer, Faustenhammer … Veitschegger!«, rief Haselbacher, worauf Faustenhammer in wuchtiger Feistheit eintrat, dahinter in seinem Windschatten Vitus Veitschegger.
»Wo ist der Altendorfer?«, fragte Haselbacher.
»Der steht am Schuhmeierplatz, Kreuzung Thaliastraße/Wattgasse und wach… und regelt den Verkehr.«
»Übrigens, Veitschegger«, sagte Haselbacher, »dieser Wiegehobel, den Sie gefunden haben, dürfte wirklich das Gerät gewesen sein, mit dem sie unserem Toten das Gesicht zerschnitten haben. Das soll bei den serbischen Partisanen üblich gewesen sein, haben Sie das gewusst, meine Herren?«
Die Herren schüttelten den Kopf.
»Hätte mich auch gewundert«, sagte der Kommissar altklug, »und Faustenhammer, haben’S schon einen Tisch bestellt in diesem Wirtshaus neben dem Hawelka ?«
»Jawohl, Herr Kommissar, nächste Woche, Dienstag. Montag haben’s Ruhetag.«
• • •
»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist, dass du immer wieder bei uns im Geschäft herumsitzt. Das fällt auf. Schließlich sucht dich die Polizei, Savo«, sagte der Schamane mit scheinbar unnötiger Körperspannung, aber er war dadurch stets bereit, aufzuspringen und einen Sicherheitsabstand zwischen sich und Savo herzustellen, falls dieser ausrasten sollte.
»Polizei!«, rief Savo.
»Die Polizei weiß nicht einmal, wie ich ausschau’, also scheiß dir nicht ins Kleid.«
»Aber die Polizei weiß, dass ein bis dato halbseitig Gelähmter wie durch ein Wunder wieder gehen kann. ›Nimm dein Bett und wandle‹, oder so, Johannes 5 .«
»Keine Witze über die Religion, hörst du!«, fauchte Savo. Der Schamane war drauf und dran, in Deckung zu gehen, denn Savo war serbisch-orthodox und ziemlich heikel, wenn es um die Religion ging, Partisan hin, Stalinist her.
Aber Savo wurde abgelenkt durch ein junges, vielleicht 20-jähriges Mädel, blass und auf wackeligen Beinen, das, am Arm der Frau des Schamanen gestützt, von ihr zu einem Tisch geführt und behutsam auf einen Sessel in größtmöglicher Entfernung von den beiden Männern gesetzt wurde.
Die Schamanin holte ein Glas Wasser und stellte es vor das Mädel hin. »Taxi gleich kommt«, wisperte sie, nahm das Glas und hielt es ihr an die Lippen. »Pij devojko .« 59
»Ihr nennt mich Mörder und bringt währenddessen das Leben um, noch bevor es geboren wird«, sagte Savo missfällig, als er die Szene beobachtete. »Für Geld!«
Der Schamane wollte etwas sagen, aber das Nageln eines Dieselmotors hielt ihn davon ab. Die Frau des Schamanen führte das Mädchen zur Tür, der Taxifahrer war ausgestiegen, und beide halfen ihr auf den Rücksitz eines an Kilometern reichen Mercedes. Die Schamanin drückte dem Fahrer Geld in die Hand und deutete auf das Autodach.
»Zoran, vergiss nicht!«
Der Fahrer montierte das Taxischild ab, winkte in Richtung der beiden Männer und fuhr weg. Savo dämpfte missmutig seine russische Zigarette aus, schlüpfte in seine auf die graue Seite gewendete Jacke, stand auf und ging.
»Wohin gehst du?«, fragte der Schamane.
»Braucht ihr nicht zu wissen«, sagte er, wendete sich in der offenen Tür noch einmal um: »Ich komme wieder … towarischtsch 60 «, und grinste verächtlich.
Die Schamanin versperrte sofort die Tür hinter Savo und warf ihrem Mann einen Blick zu. Dieser folgte ihr in die Wohnung hinter dem Restaurant, in einen etwa fünfundzwanzig Quadratmeter großen, fensterlosen Raum mit allerlei rituellen Gegenständen wie Klangschalen, diversen Trommeln und Rasseln, gefiederten Traumfängern und einem nicht besonders sorgfältig geschnitzten und bemalten lebensgroßen Adler.
An den Wänden hingen Bilder von einem Bären, einem Reh, einem Wolf und einer Schlange. Die schamanischen Tiere der beiden, deren Geister sie auf ihren »Reisen« begleiten und vor allem beschützen sollten. In einem Regal, das fast bis zur Decke reichte, standen die unterschiedlichsten Behältnisse, in denen Blüten, zu Pulver zerriebene Pflanzen und etliche in mundgerechte Stücke geschnittene Pilze, aber auch leere, verschieden große Schüsseln, Schalen und Becher eingelagert waren.
Am Boden lagen auf einem Teppich mit eingewebten obskuren Symbolen unterschiedlich große Polster, daneben standen drei schlichte Holzschemel. In einer Ecke thronte ein Lehnstuhl, über den ein zerwühltes, weißes, von Blutflecken durchsetztes Leintuch geworfen worden war. Daneben stand ein Schemel, darauf eine Blechschale, gefüllt mit ebenfalls blutigen, medizinisch anmutenden Geräten.
Die beiden gingen stumm und konzentriert dreimal entlang der Wände im Zimmer herum, wobei sie aus einem sehr großen Glas mit kräftigen Schlucken fast zwanghaft Tee tranken. Dann nahm der Schamane ein gläsernes Gefäß mit Pilzen aus dem Wandregal.
Sie setzten sich einander gegenüber und er stellte die Pilze auf einen weiteren, etwas höheren Schemel und nahm mit spitzen Fingern fast feierlich zwei Portionen Pilze heraus.
Zeremoniell, mit geschlossenen Augen, eine fremdartige Formel monoton vor sich hersagend, den Kopf in den Nacken gelegt, begannen die beiden, die Pilze zu essen.
Danach legte sich der Schamane auf den Teppich, schob sich einen der Polster in den Nacken und atmete rhythmisch, während seine Frau eine der Klangschalen nahm und mittels eines Schlögels, dessen Kopf mit Stoff umwickelt war, durch anhaltendes Rühren in der Schale einen suggestiv schwingenden Ton erzeugte. Mit geschlossenen Augen und unbeweglicher Miene zugange, schien die Schamanin nach etwa zwanzig Minuten langsam aus dieser Welt hinauszudriften, während ihr Mann, hin und wieder zuckend und guttural seufzend, wie entseelt auf dem Teppich lag.
Dann erhob sich die Schamanin und griff sich mit gummigen Bewegungen eine der Trommeln. Langsam beginnend, steigerte sie sukzessive die Geschwindigkeit und die Intensität der Schläge, nahm eine der Rasseln, begann zu tanzen und kehlig eine nicht nachvollziehbare Melodie zu singen, was dazu führte, dass sich der Schamane spukhaft aufrichtete, sich theatralisch auf die Beine stellte und, ohne, dass er sich vom Fleck bewegte, zu verrenken begann. Beide ahmten pantomimisch ihre Schutztiere nach, er einen tapsigen Bären, sie, sich um ihn herumwindend, eine Schlange. Er imitierte die Laute eines Bären, brummte drohend, fletschte dabei gelegentlich die Zähne, während sie züngelte und immer wieder zischend den Mund aufriss und den Kopf vorschnellen ließ, um die Bissattacke einer Schlange zu symbolisieren. Nach einiger Zeit setzten die beiden sich wieder und verharrten wie versteinert im Kutschersitz . 61
Wie auf ein unsichtbares Kommando hin blickten sie einander an. Der Schamane ging zu dem Regal, reichte seiner Frau eine auf der Außenseite verzierte Schale und nahm sich selbst einen ebenfalls bemalten Becher.
Sie zog daraufhin ihre Unterhose aus, hockte sich, ihr Kleid über die Schale gestülpt, hin und urinierte zielsicher in diese. Er wiederum nahm sein Glied aus der Hose und tat desgleichen in einen Becher. Daraufhin führten beide Schale und Becher zum Mund und tranken sie aus.
Sie legten sich auf den Teppich und lagen regungslos nebeneinander, nur manchmal verfielen ihre Gesichtsmuskeln in heftige und unkontrollierte Zuckungen.
Nach einer Weile stand die Schamanin auf, nahm sich einen der Traumfänger, ging zu dem Stuhl mit dem blutigen Laken und den mittlerweile blutverkrusteten Geräten und schlug mit dem Traumfänger großflächige Zeichen in die Luft, während sie Unverständliches vor sich hin sang. Als ihr Mann zu ihr trat und das Leintuch vom Sessel zu ziehen begann, legte sie zuerst den gefiederten Gegenstand ohne Hast an seinen Platz zurück, nahm dann den blutigen Überwurf, trug ihn zur Waschmaschine, schaltete das Kochprogramm ein und lauschte, bis sie hörte, wie das Wasser in die Maschine floss. Danach nahm sie die Schale mit ihrem Werkzeug und stellte sie in der Küche in die Abwasch. Der Schamane entzündete in dem Zimmer etwas Räucherwerk und schloss die Tür.
Die Reinigung des Raumes war abgeschlossen.
38 Teil eines Wiener Wohnviertels
39 Gesprochen „törnt“ – wirkt ungeheuerlich
40 Spottbezeichnung für Polizisten, die in den 70ern unverhältnismäßig häufig aus Mistelbach kamen. Niemand weiß, warum.
41 Türkisch: Gefängnis
42 Wienerisch für „in Haft“
43 Wiener Polizeijargon für „gestehen“
44 DSN – Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst
45 Unterweltjargon für „aussagen“
46 Serbisch – Herr Kommissar
47 Serbisch – Küche
48 Spitzname des damaligen Polizeipräsidenten Josef Holaubek
49 Wienerisch – nutz- und wertloses Zeug
50 Serbisch – Was ist los?
51 Serbisch – Ich komme wieder
52 Wienerisch – schwächlich wirkender Mensch
53 Paavo Nurmi war ein finnischer Leichtathlet, der durch seinen unglaublichen Erfolg bei den Olympischen Spielen 1924 zur Legende wurde.
54 Insider Bezeichnung für Haschisch
55 Gaunersprache: Messer
56 Serbisch: Komm schon, Schlampe
57 Serbisches Universalschimpfwort, heute etwa »Fuck«
58 Wienerisch für unnützes Zeug, siehe auch „Klumpert“
59 Serbisch: Trink, Mädchen
60 Russisch: Genosse
61 Entspannungshaltung – Yoga