Chasing shadows, over my walls
with myself hardly sleeping
Dwarfs and giants, twenty feet tall
fill the room with their creeping
Deep Purple, 1969
H err Horvath und Herr Goldmann«, sagte Oberkommissar Haselbacher gefährlich liebenswürdig, »was haben wir denn da?«
Er knallte vor den beiden eine Dose auf den Tisch. Vitus Veitschegger, der an der schmalen Seite dieses Tisches beinahe kauerte und ein Protokoll anzufertigen hatte, schrieb befangen mit. Er war der Einzige im Wachzimmer Grubergasse, der leidlich stenographieren konnte. Der Kotelett-Toni lehnte mit verschränkten Armen an der Wand.
Jack und Walter erkannten naturgemäß die Dose mit den Trips, die der Schamane von ihnen gekauft und die man bei ihm gefunden hatte, und von denen er jetzt nichts mehr haben würde.
»No, schauen wir ein bisserl betroppezt 87 , gell«, ätzte Haselbacher, »kennen wir nicht, haben wir noch nie gesehen …«
Jack sagte: »Woher sollen wir das kennen? Wir haben nichts damit zu tun, Herr Inspektor.«
»Herr Kommissar heißt das«, korrigierte ihn Haselbacher. »Herr Jakob Goldmann, sind Sie in Österreich geboren oder in Israel?«
»Wieso, Herr Gauleiter … oh, Verzeihung … Herr Kommissar?«
Haselbacher schwieg, nahm dann seinen Kugelschreiber und zeigte mit seiner Spitze wie mit einem Dolch auf Jack. »Wieso?« Der Kommissar musste mit aller Gewalt an sich halten. »Weil das ein Verhör ist und ich das wissen möchte!«
»Ich bin im vierten Bezirk geboren, in Wieden … ganz ordnungsgemäß!«
Walter mischte sich ein, um die Situation zu entschärfen. »Das stimmt, Herr Kommissar. Und ich bin in Ottakring geboren, im Liebhartstal, in der Funkengerngasse.«
Haselbacher legte verkrampft den Kugelschreiber weg. »Sie hab’ ich nicht gefragt. Reden’S, wenn Sie gefragt sind, junger Mann.«
Er wandte sich wieder Jack zu. »Also, Sie wissen nicht, was das für kleine, orangene Pillen sind?«
»Nein«, sagte Jack. »Woher auch?«
»Woher?« Haselbacher klang triumphierend. »Sie beide waren also nicht vor einer Woche zu nachtschlafender Zeit bei der Minoritenkirche?«
»Nein«, log Walter.
»Aha«, feixte Haselbacher. »Sie erinnern sich also nicht an einen Herrn, der zweimal mit seinem Dackel ebendort vorbeigegangen ist und Sie beide und das neuerliche Mordopfer erkannt hat?«
»Natürlich nicht«, antwortete Jack, »weil …«
»Weil …?«
»Weil wir eben gar nicht dort waren.«
»Und wenn ich Ihnen sage, dass der Herr mit dem Dackel ein Kollege vom Sicherheitsbüro ist und uns informiert hat?«
»Herr Kommissar, Ihr Kollege muss sich irren!«
»Aber Sie kennen doch den Toten, oder?«
»Nein!«, log Walter abermals.
»Nein?« Haselbacher grinste diabolisch und hielt Walter das Foto, das die Dienststelle von ihm seit seiner ersten Aussage hatte, unter die Nase.
»Der Kollege vom Sicherheitsbüro hat Sie identifiziert, und …«, der Kommissar legte ein verschwommenes Schwarz-Weiß-Foto wie das letzte Atout in einem Kartenspiel auf den Tisch, auf dem man mit gutem Willen den Schamanen erkennen konnte, »und diesen Herren da, das aktuelle Mordopfer … bei dessen Fund Sie komischerweise das zweite Mal in nächster Nähe des Tatortes aufgegriffen wurden.«
Walter schluckte.
»Und, Herr Horvath, der Beamte mit dem Dackel hat uns weiters dahingehend informiert, dass noch zwei oder drei Herren bei diesem Treffen dabei waren.« In diesem Augenblick hustete Vitus anfallsartig und ihm brach die Bleistiftspitze ab.
»Entschuldigung …«, murmelte er.
»Drücken Sie nicht so auf, Veitschegger«, rügte Haselbacher.
»Also, Herr Goldmann«, fuhr Haselbacher fort. »Waren vielleicht Sie vor Ort und können uns sagen, wer die andere Person oder die Personen waren?«
»Nein.« Jack brauchte seine ganze Kraft, um glaubwürdig zu wirken.
»Nein, was?«
»Nein, ich war nicht dort, und ich weiß auch nichts von irgendwelchen anderen Personen.«
Haselbacher drehte den Kopf ruckartig, wie eine Echse, Walter zu. »Aber Sie … Sie waren da, nicht wahr?«
Walter hatte sich so weit gefasst, dass er so etwas wie Entrüstung mimen konnte. Sagst du »nein«, gehst du heim; sagst du »ja« bleibst du da, schoss es ihm durch den Kopf. »Aber nein!«, sagte er. Ruhig legte Haselbacher das in einem durchsichtigen Plastikbeutel verpackte Stilett mit der blutigen Spitze vor sich hin.
»Und das? Das haben wir auch noch nie gesehen?«
Walter und Jack schüttelten ihre Köpfe.
Haselbacher deutete Altendorfer: »Abführen!«
Jack brauchte seine ganze verbliebene Energie, um mit einem Mindestmaß an Bestimmtheit sagen zu können: »Wir möchten einen Anwalt.«
Haselbacher kuderte 88 in sich hinein. »No, freilich. Gleich ziehe ich mir die Stoppelschuhe an, renne los und hole Ihnen einen!«
»Aber wir haben das Recht …«, äußerte Walter kraftlos, ehe er von Haselbacher unterbrochen wurde.
»Derweil habts ihr nur das Geschissene auswendig«, sagte der Kommissar kantig. »Sonst habts ihr gar nichts! Abführen!«
• • •
Dr. Weintritt sezierte gerade den Schamanen, dessen bürgerlicher Name laut Kärtchen am linken großen Zeh Ljumbomir Tur lautete, und war an der Blase der Leiche zugange, als er den Geruch von Muscimol bemerkte.
Er kannte ihn schon von der Leiche des vorigen Opfers mit entstelltem Gesicht, diesmal war er allerdings noch intensiver.
Das wird den Kommissar wieder beschäftigen, dachte er, gab die entnommenen inneren Organe in beliebiger Reihenfolge in den offenen Leichnam des Schamanen zurück, nähte ihn zu, entledigte sich seiner Arbeitsschürze, wusch sich die Hände und verließ das Geschäft , nicht ohne vorher das Licht abzudrehen. Am Gang begegnete er zwei hinter einer fahrbaren Trage schlurfenden Prosekturhelfern.
»Bei mir drinnen ist einer zum Abholen.«
• • •
Als das Telefon bei Haselbacher schrillte, schreckte dieser aus einer narkoleptischen Phase, die sich in letzter Zeit gehäuft hatten.
»Haselbacher«, meldete er sich mit trockenem Mund.
»Der Pathologe für Sie, Herr Kommissar.«
»Dr. Weintritt«, sagte er, »was hat Ihnen unsere Leich’ erzählt?«
»Na ja, dass man diesem … Irgendwas Tur … wieder das Genick gebrochen hat, das wissen Sie ja schon, dass er ein paar Mikrotumore in der Lunge hat, wird Sie nicht interessieren, aber …«
»Herr Doktor, machen Sie nicht immer so ein Theater mit Ihre Leichen, wenn’s geht … was aber?«
»Wir sind alle nur Leichen auf Urlaub, Herr Hasel…«
»No?«
»…bacher? Erinnern Sie sich, was ich Ihnen unlängst über die Fliegenpilze und den Wirkstoff Muscimol erzählt habe? Und über die Schamanen, die …«
»… die ihr eigenes Prunzlert trinken?«, vollendete Haselbacher den Satz. »Meinen’S das?«
»Genau. Und jetzt aufgemerkt: Ich habe in der Blase des toten Albinos genau dieses Muscimol gefunden. Wie bei der ersten Leiche, diesem Hofer oder wie auch immer er geheißen hat.«
»No, schau dir was an«, entfuhr es dem Kommissar. »Und haben Sie gewusst, dass der den Spitznamen ›Schamane‹ hatte?«, fragte Weintritt.
»Dass der auch dieses Muci…«
»Muscimol , Herr Kommissar, Muscimol …«
»… im Körper gehabt hat, weist darauf hin, dass er den Hofer wahrscheinlich gekannt hat. Blöd, dass wir ihn nicht mehr fragen können, dann wüssten wir, ob unsere erste Leiche der Hofer war oder nicht.«
»Hat diese Hausmeisterin, diese Potočnić, nicht gesagt, der aktuelle Tote wäre jetzt der Hofer?«
»Ach, Herr Dr. Weintritt«, seufzte Haselbacher, »was die schon alles gesagt hat … oder vielmehr nicht gesagt hat. Seinerzeit hätt’ ich gleich herausgekriegt, was wirklich los ist, aber heute?«
»Sind wir froh, Herr Hasel- … -bacher, dass heute nicht seinerzeit ist!«
»Ja, Sie können ruhig froh sein. Ihre Patienten sind schon tot.«
• • •
Jovanna Tur, die Frau, vielmehr die Witwe des Schamanen, saß trocken schluchzend in ihrem Ritualraum, der, wenn Kundinnen sie aufsuchten, mit wenigen Handgriffen zur Klinik umfunktioniert werden konnte.
Sie hockte auf einem der Holzschemel, die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, den Kopf in den hohlen Händen.
Sie zitterte.
Das war dieses geisteskranke stalinistische Monster, der dem Ljubomir den Hals umgedreht hat, dachte sie und schaute mit weit geöffneten Augen vor sich hin. Ich werde zu den Geistern der Toten mit ihren heulenden Wölfen reisen und sie auf ihn hetzen, dass sie ihn in die finsterste Ecke des Jenseits zerren, schwor sie sich, als sie das dreiste Klopfen an die Tür des Restoran Trabicz vernahm und die ungeduldigen Rufe hörte.
»Polizei! Machen Sie auf, Frau Tur, wir wissen, dass Sie da sind!«
Kommissar Haselbacher, Rayonsinspektor Anton Altendorfer und Vitus Veitschegger traten aus der Abenddämmerung ein, als sie ihnen endlich die Tür geöffnet hatte.
Heute war das Lokal leer. Wäre nicht der Geruch von kaltem Rauch in der Luft gehangen, hätte man meinen können, es wäre noch nie ein Gast da gewesen.
Die Herren gingen auf Jovanna zu, die schweigend und mit rot unterlaufenen Augen dastand und ein bisschen zitterte.
»Frau Tur«, begann der Rayonsinspektor routiniert sachlich in ungeniertem Wienerisch und raschelte mit einem amtlichen Schriftstück, »wir haben da eine Haussuchungserlaubnis, gestatten Sie uns also, Ihre Räumlichkeiten zu inspizieren, und bedenken Sie, dass ein etwaiges Behindern der Amtshandlung Ihrerseits strafbar ist.«
Haselbacher drängte sich vor. »Äh … wegen dem Gatten … Beileid, gell«, murmelte er. »Da kommen’S her, setzen wir uns, derweil die Kollegen sich ein bisserl umschauen, ich brauch’ von Ihnen ein paar Auskünfte. Verstehen Sie mich, oder sollen wir einen Übersetzer zuziehen?«
»Nein, geht schon«, sagte Jovanna und gab sich einen Ruck. »Sie wollen sicher hören, ob ich weiß, wer hat umgebracht meine Mann?«
»Ja, wissen Sie denn das?«, fragte Haselbacher verwundert.
»Ja, weiß ich«, sagte Jovanna, »der partisanische Teufel hat gemordet meine Mann, bricht Hals, zerschneidet Gesicht, ganz sein rukopis . 89 «
»Und, gute Frau«, sagte Haselbacher, einen Ermittlungserfolg erhoffend, »wer ist dieser Teufel?«
»Savo Potočnić.«
Haselbacher war zumute, als leuchte ein Scheinwerfer in sein sonst so trübes Gemüt. »Der Mann von Milana Potočnić, der Hausmeisterin? Speckbachergasse 20?«
»Ja.«
»Und hat der meistens eine gelbe Jacke an?«, fragte Vitus Veitschegger, was ihm einen missmutigen Seitenblick Haselbachers eintrug. Er konnte es nicht und nicht leiden, wenn sich jemand, noch dazu ein rangniedrigerer, in seine Verhöre einmischte.
»Stehn’S da nicht herum, Veitschegger, was bilden Sie sich ein«, sagte Haselbacher barsch. »Die Verhöre führe ich. Gehen’S zum Kollegen Altendorfer nach hinten in die Wohnung und schauen Sie sich aufmerksam um … hopp, hopp.«
»Ja«, sagte Jovanna, »trägt gelbe Jacke, Jacke aber ist nicht immer gelb!«
»Was?«
»Kann Jacke umdrehen, dann ist grau. Kann immer davonlaufen. Alle suchen gelbe Jacke, aber er in Grau … ist weg.«
»Aha!« Haselbacher musste an sich halten, um nicht zu jubilieren. Das waren Ermittlungsergebnisse, die sich sehen lassen konnten! Da durfte sich der Herr Oberst nicht beklagen. Im Gegenteil.
»Und was macht Sie so sicher, dass dieser Savo Potočnić der Mörder Ihres Mannes ist?«
»Potočnić war Partisan in Krieg und serbische Partisan dreht um Hals und zerschneidet Gesicht von Verräter. Vergewaltigt jeden Tag arme Blanca, wenn putzt in die Frühe, der Schwein! Und überhaupt, ich weiß mehr als andere Menschen. Ich bin Schamanin, verstehen?« Haselbacher wäre beinahe aufgesprungen und hätte gefragt: »Und? Trinken Sie auch Ihr eigenes Lulu?«, hielt aber an sich.
»Zwei Fragen noch, Frau Tur. Zunächst: Wir haben bei dem Opfer ein langes, spitzes Messer gefunden, eine Art … wie sagt man …«
»Eine Stiletto «, sagte Jovanna. »Ja, Ljubomir wollte diesen Hund totstechen, leider nicht gegangen …«, presste sie, vor Hass weinend, heraus.
Haselbacher war von der Unbefangenheit, mit der sie das trotz der Tränen sagte, verwirrt. »Ah ja. Und was geben Sie an, wenn ich Sie frage, warum ihr Mann eine Dose mit LSD-Tabletten bei sich hatte?«
»No, was schon, verkaufen hat er wollen.«
»Ah ja«, sagte der Kommissar noch einmal, wiederum überrumpelt von der Selbstverständlichkeit, mit der sie das sagte. Er versuchte weiter sein Glück. »Handeln Sie vielleicht auch mit LSD, also mit … Drogen?«
»Nein, keine Zeit.«
»Hat der Savo Potočnić auch das erste Opfer mit zerschnittenem Gesicht und gebrochenem Genick, Sie wissen schon, diesen Hofer … oder so … auf dem Gewissen?«
»Sicher. Wer sonst denn? Und Hofer? Hofer heißt der keineswegs!«
Während Haselbacher sich noch wunderte, dass die Serbin in ihrem so gar nicht perfekten Deutsch eine Vokabel wie »keineswegs« kannte, kam Altendorfer aus der Wohnung nach vorn ins Lokal.
»Herr Kommissar, kommen’S einmal. Wir haben was.« Bevor Haselbacher dem Kotelett-Toni nach hinten in die Wohnung folgte, fragte er: »Und wie heißt der dann, wenn er keineswegs Hofer heißt?«
»Nix Genaues waas da«, sagte Jovanna. »War, ich glaube, Kroate oder Bosnier. Aber wenn Hals gebrochen und Gesicht geschnitten, dann Mörder ist Savo.«
»Herr Kommissar, wir haben da was gefunden«, wiederholte Altendorfer.
Er führte den Kommissar nach hinten und zeigte auf ein Glas mit mundgerecht geschnittenen Fliegenpilzen darin.
»Und? Was soll das sein?«
»Das sind Pilze, Herr Kommissar«, sagte Vitus altklug. »Pilze mit halluzinogener Wirkung.«
»Was?«
Veitschegger erklärte, was genau unter »halluzinogen« zu verstehen war. Woher weiß denn der Bengel sowas, fragte sich Haselbacher. Wurscht, das gibt eine Beförderung.
»Frau Tur, gehen’S, kommen’S einmal her!«, rief er in die Gaststube. »Sie haben also nie Drogen verkauft?«
»Nein, nur Mann hat.«
»Und was ist das?« Haselbacher zeigte auf die Pilze.
Jovanna machte große Augen. »Muhara «, 90 sagte sie gelassen, »nix Droge!«
»Und mit denen handeln Sie auch nicht?«
»Nein, nur Mann, aber wenig. Brauchen wir für uns selber, für Reisen.«
»Für was?«
»Schamanisch reisen, verstehen?«
»Äh … ja …«, entgegnete Haselbacher und fügte, mehr zu sich selbst, hinzu: »Nein.«
• • •
»Und wenn wir das Kind kriegen?«, fragte Edna.
Der Abend war bereits angebrochen, als Walter und Jack von der Wachstube Grubergasse zurückkamen. Edna und Suskia hatten unruhig auf sie gewartet. Jetzt saßen sie alle in Jacks Wohnung in der Reizenpfenniggasse, rauchten einen Joe 91 und hörten »Cry Baby« von Janis Joplin. »Spinnst du?«, fragte Walter derartig ablehnend, dass Edna die Tränen in die Augen traten.
»Geh, Walter, sei nicht so aggressiv«, entrüstete sich Suskia, dann umarmte sie Edna und strich ihr über das Haar. »Du darfst mit meiner Schwester nicht so reden, verstehst? Schon gar nicht in ihrem Zustand«, sagte Jack. Walter stand auf und ging in dem Zimmer auf und ab, während Janis Joplin heiser fragte:
Who’ll take all your pain
And your heartache too?
»Ja, tut mir leid. Aber was fangen denn wir mit einem Kind an? Sie hat grad einmal die Matura, und ich steh’ mit meiner Musikmacherei auch nicht gerade vor dem Durchbruch. Und das Geld, das ich auf der Bank hab’, reicht doch nicht.«
»Du müsstest halt hackeln gehen«, sagte Suskia.
»Hackeln? Was denn? Ich kann doch nichts außer Gitarre spielen!«
»So richtig können tust du Gitarre spielen auch nicht«, sagte Jack pragmatisch.
»Der Walter spielt echt gut Gitarre«, sagte Edna in Suskias Achselhöhle hinein.
»Liebe macht blind, gell? In dem Fall sogar taub auch noch«, ätzte Jack.
»Du musst was reden«, konterte Walter, »deine Gedichte sind doch auch ein Schaß!«
Obwohl nur leicht dahingesagt, traf es Jack, wenn jemand, noch dazu Walter, seine Dichtung beleidigte. Er wusste selbst, dass seine Hervorbringungen, die er großspurig »lyrische Prosa« nannte, außer pathetisch oft genug auch peinlich waren. Wahrscheinlich nur, weil er mit Walter hin und wieder beim Ottakringer Friedhof, der sich fast die ganze Gallitzinstraße entlangzog, spazieren ging, waren ihm Sachen eingefallen wie:
Ihr, die ihr da liegt, beschattet von den Trauerweiden ,
und vermodert unter grasbedeckter Erde .
Abgeschüttelt habt des Lebens Bürde
und lächelt nun ob uns’res Firlefanz …
Aber was und vor allem worüber sollte er sonst schreiben? Er hatte doch nichts zu erzählen! Irgendetwas Außerordentliches musste man schon erlebt haben, bei irgendeiner Teufelei musste man schon dabeigewesen sein, um einen Grundstock für das Schreiben zu haben. Dann erst konnte die Fantasie anfangen zu spinnen. Und Dinge wie der so unspektakulär abgewickelte Haschisch-Deal waren für Jack nicht das, worüber er schreiben wollte.
Bei Jack war alles nach Plan gelaufen: Vater Notar, Mutter Hausfrau, Vierzimmerwohnung in Wien, vierter Bezirk. Sohn maturierte ordnungsgemäß, die Tochter, Edna, absolvierte die HBLA, die »Höhere Bildungslehranstalt«, wo Mädchen handarbeiten, kochen und das ganze andere Zeugs lernten und zu der man geringschätzig auch »Knödelakademie« sagte.
Jack wusste nicht, was er studieren sollte, aber daran, dass er studieren würde, daran gab es in der Familie keinen Zweifel. Seine Eltern hatten nie Druck gemacht. Sein Vater bezeichnete ihn bloß manchmal als »Bummelstudent«, obwohl er gar nicht inskribiert war. Ewig konnte das zwar nicht so weitergehen, aber alles in allem hatte er eine intakte Familie und war rundum behütet.
Im vierten Jahr der Mittelschule – Walter Horvath, der nur seine Gitarre und Liedermachen im Kopf hatte, war in der Parallelklasse gewesen – hatte es dann doch eine Zeit gegeben, wo Jack plötzlich auf sich allein gestellt war. In der Klasse war ruchbar geworden, dass er jüdische Wurzeln hatte, obwohl er im katholischen Religionsunterricht saß. Weder seine Eltern noch er waren in irgendeiner Weise religiös, aber Religion war ein Pflichtfach, und so musste er sich taufen lassen, um am Unterricht teilnehmen zu können. Der Religionsprofessor ließ Jack spüren, dass er ihn wegen seiner Abstammung, die er mit der Konfession gleichsetzte, verabscheute. Dabei war Jack nicht einmal beschnitten. Wenn es um das Alte Testament ging, entblödete sich der Geistliche nicht, als Ersten immer Jack provokant zu befragen, etwa zu den Makkabäern.
»Na, Goldmann, wie war das mit den Makkabäääeern? Das sind doch deine Vorfahren … das auserwählte Volk.«
Die Klasse bestand aus lauter Buben, die das witzig fanden, und pubertäre antisemitische Sticheleien waren an der Tagesordnung. Jack litt. Er litt in einer Form, die nicht zur Wut gedeihen wollte.
Bis ihm eines Tages der Wortführer der mittlerweile fast täglichen Herabwürdigungen unter Beifall der übrigen Schüler ein Blatt Zeichenpapier übergab, auf dem penibel und seitenfüllend eine Maschine abgebildet war, in die er, Jack, oben links hineingeworfen wurde und aus der er unten rechts als ein Stück Seife herauskam.
Jack starrte zuerst fassungslos auf das Bild und dann, endlich, kochte die Wut in ihm hoch. Er trat dem Mitschüler kommentarlos und mit Wucht in die Eier.
Der stieß keuchend die Luft aus, krümmte sich, worauf ihn Jack, noch immer voll Zorn, rüde zu Boden warf. An diesem Tag war Jack zwar nicht beliebter geworden, aber die steten Beleidigungen hörten auf.
Die Eltern des getretenen Buben hatten gefordert, Jack der Schule zu verweisen, und es dauerte einen Monat, bis die Sachlage er- und geklärt war, was dazu führte, dass der betreffende Schüler von seinen Eltern empört von der Schule genommen wurde.
Aber das reichte ja nicht, das war höchstens eine Episode in einem Roman, nicht einmal eine Kurzgeschichte war das, dazu war die Schlusspointe zu schwach.
Obwohl … Jack war damals ein anderer geworden. Er wusste, dass man sich auf »behütet sein« nicht verlassen konnte. Seine Eltern schonten ihn mehr als sie ihn behüteten, kam ihm vor. Sie hatten bis heute noch nie mit einem Wort erwähnt, wie und wo sie die Zeit von 1938 bis 1945 verbracht, respektive überstanden hatten.
Als Jack vor ein paar Jahren einmal unbefangen gefragt hatte, hatten Vater und Mutter erst einen Blick gewechselt, dann strich ihm die Mutter über den Kopf und … schwieg.
»Überhaupt«, unterbrach Walter seine Gedanken, »was ist, wenn wir ein deppertes Kind kriegen?«
»Wieso soll die Edna ein deppertes Kind kriegen?«, fragte Suskia.
»Bitte, wir rauchen so gut wie jeden Tag Haschisch, auch wenn du«, er berührte Edna sanft an der Wange, »auch wenn du heute großartig nicht mitrauchst. Wir nehmen Trips, trinken Alkohol … und diese Sachen. Glaubt ihr nicht, dass die Möglichkeit besteht, dass wir sehr wohl ein behindertes, ein zurückgebliebenes Kind kriegen könnten?«
Darauf wusste niemand etwas zu erwidern. Alle schwiegen und widmeten sich den verstörenden Bildern in ihren Köpfen.
In der Stille verhallte die Stimme von Joplin:
When you only gotta do one thing well
You only gotta do one thing well to make it in this world
• • •
Durch das diesige, herbstnächtliche, nur diffus beleuchtete Alt-Ottakring gingen vier Männer, von denen drei mit verhaltenen Stimmen Russisch sprachen. Sie hatten ihre Mantelkrägen aufgestellt, blieben immer wieder stehen und einer, nämlich Savo Potočnić, übersetzte das Besprochene für Dragan Zaradicz, der in einigem Abstand neben den anderen herging, ins Serbische. Sie hätten nicht so gedämpft reden müssen, denn außer ihnen befand sich niemand in der Gasse.
»Wir brauchen dich, ohne dich kommen wir nicht an ihn heran«, sagte Savo gerade.
»Ich weiß, du bist ein überzeugter Kommunist, Dragan, du hast dafür gekämpft, genauso wie ich dafür gekämpft habe, also mach mit. Wir haben schon weitaus gefährlichere Aktionen zusammen durchgezogen.«
Während Savo übersetzte, standen die beiden Russen, die Hände tief in den Manteltaschen, daneben und sahen sich um, nur um festzustellen, dass nach wie vor weit und breit niemand zu sehen war.
»Wir sind zu viert«, wandte Dragan ein, »es sind noch drei andere telohranitelja 92 um ihn herum, und die sind bestens ausgebildet und trainieren zweimal die Woche, wie soll ich die täuschen oder ausschalten?«
Savo wechselte mit den beiden Russen ein paar Worte, dann wandte er sich wieder an Dragan. »Ja, aber dir vertraut er, du bist der Chef der anderen drei. Du musst den Sprengstoff nur unter dem Wagen anbringen und bei der nächsten Ausfahrt zünden. Du brauchst bloß einen guten Grund, um nicht mitfahren zu müssen. Das ist doch ein Leichtes für dich. Wenn der Wagen dann samt dem Botschafter in die Luft geflogen ist, steigen wir in einen russischen Flieger nach Moskau. Und vergiss nicht, ich habe dir am Mokra Gora das Leben gerettet, du schuldest mir was!«
Daraufhin redeten die Russen auf Savo ein, und der übersetzte.
»Und in Moskau, sagen sie, wartet ein anständiges kommunistisches Leben auf dich. Der KGB ist sehr großzügig zu loyalen Männern. Du wirst in Russland mehr sein als nur ein gemeiner Leibwächter. Weit mehr!«
Dragan trat von einem Fuß auf den anderen. »Also gut«, sagte er schließlich. »Ich werde mich bei dir melden, wenn ich herausbekommen habe, wann der Botschafter wieder ausfährt. Und das Weitere erledigen wir dann Zug um Zug.«
Das übersetzte Savo den beiden Russen mit lauter Stimme, worauf die beiden Dragan die Hände reichten. »Brawo, towarischtsch. Da zdravstvuyet revalyutsiya! Spasiba .« 93
• • •
Jovanna Tur nahm mit einer blitzschnellen Bewegung das Glas mit den Fliegenpilzen und drückte es an sich, als Haselbacher sagte: »Die müssen wir beschlagnahmen …«
»Sie müssen gar nichts!«
»Es wäre besser für Sie, Sie zeigten sich kooperativ, Frau Tur. Wir nehmen diese Schwammerln …«
»Fliegenpilze«, warf Vitus Veitschegger ein.
»Genau, denn der Besitz und vor allem die Weitergabe von Fliegenpilzen fallen unter das Suchtgift- und Betäubungsmittelgesetz.«
»Zabokrecine nicht. Fliegenpilz ist nicht Suchtgift. Fliegenpilz ist Fliegenpilz und fertig! Fragen Sie Anwalt.«
Haselbacher, der in Rechtsfragen mitnichten sattelfest war, sah Altendorfer an. Der Kotelett-Toni zuckte, wie meistens, mit den Achseln. Vitus beugte sich zu dem Kommissar.
»Ich glaube, sie hat recht«, sagte er leise.
Rayonsinspektor Altendorfer neigte sich ebenfalls zu Haselbacher. »Fragen Sie sie doch, was das überhaupt für ein Raum ist«, wisperte er dem Kommissar ins Ohr. »Keine Fenster und lauter so Kramuri wie fürs Theater oder so. Und für was ist der Fauteuil da in der Ecke und diese Zangen … diese Dinger da auf dem Stockerl.«
»Altendorfer«, unterbrach Haselbacher, »sagen Sie mir nicht, was ich fragen soll, wenn ich bitten darf.« Er sah die Schamanin an. »Wofür gehören denn diese ganzen Sachen da? Und vor allem, für was ist der Fauteuil da im Eck?«
Mit diesen Worten zog Haselbacher das offenbar frisch gewaschene Tuch von dem thronartigen Sitzmöbel. Darunter wurden ein etwas abgewetzter Kunststoffbezug und je eine ausklappbare Fußstütze sichtbar, ähnlich einem gynäkologischen Stuhl.
»Und für was ist das?«, fragte Haselbacher.
Jovannas Körper spannte sich. »Für Beratung von Frauen«, antwortete sie mit bemüht fester Stimme. »Schamanische Beratung und Behandlung.«
»Aha!«, knurrte Haselbacher.
»Fragen Sie sie, ob sie eine Engelmacherin ist, Herr Kommissar«, sagte Altendorfer undeutlich mit zusammengekniffenen Lippen.
»Eine was?«
»Ob sie vielleicht Abtreibungen vornimmt!«, erklärte Vitus.
»Geh, hörts auf … die ist doch keine Ärztin!«
»Eben«, sagten Altendorfer und Vitus synchron.
Daraufhin baute sich Haselbacher vor der Schamanin auf. »So, gute Frau, Sie geben uns jetzt Ihren Pass und halten sich zu unserer Verfügung. Und über die narrischen Schwammerln reden wir noch.«
• • •
Bezirksinspektor Franz Faustenhammer und Rayonsinspektor Anton Altendorfer fuhren in einem grünen VW-Käfer mit Blaulichtgalerie beinahe im Schritttempo ihre Route der Nachtstreife ab. Ziemlich eng saßen sie nebeneinander, was in erster Linie dem stämmigen Bezirksinspektor geschuldet war, der raumgreifend den Beifahrersitz ausfüllte, während Altendorfer hinter dem Lenkrad kauerte. Als sie in die Speckbachergasse einbogen, stieß Faustenhammer den Rayonsinspektor an.
»Bleib’ da beim 20er-Haus stehen. Schauen wir einmal, was unsere saubere Hausmeisterin macht.«
»Kommissar Zufall?«
Faustenhammer grinste.
»Red’ nicht so vom Haselbacher.«
Sie parkten den Dienstwagen ungeniert am Gehsteig, stiegen aus und rüttelten am Haustor, doch es war versperrt.
Faustenhammer läutete fordernd in kürzer werdenden Abständen, bis fahles Licht durch die Unterkante des Tors fiel und eine mürrische Frauenstimme auf Serbisch vor sich hin räsonierte.
Altendorfer klopfte. »Aufmachen, Polizei!«
»Was wollen schon wieder? Zehne auf’d Nacht!«
»Wir wollten nur routinemäßig nachschauen, ob der verschwundene bettlägerige Gatte vielleicht plötzlich doch wieder im Bett liegt.«
»Mann fort, nix waas da wo.«
»Wir schauen ja nur, Frau …«
Was die beiden Polizisten nicht ahnen konnten, war, dass hinter der Hausecke der nächsten Seitengasse versteckt drei Männer standen, die stumm warteten. Als die beiden Ordnungshüter oder Organe, wie man auch sagte, nach einer kurzen Kontrolle die Haustür der Hausmeisterwohnung hinter sich schlossen, ein wenig herablassend salutierten, sich in ihren polizeilichen Kleinwagen quetschten, langsam wegfuhren und ohne zu blinken am Ende der Gasse links abbogen, verharrten die drei Männer noch einige Momente, bis sie sich gemessenen Schrittes in Bewegung setzten. Auch sie läuteten stürmisch die Hausmeisterin heraus, die alsbald, diesmal laut fluchend, aufsperrte.
»Wos is wieder, kreteni ?« 94
»Kush! «, sagte Savo Potočnić und schob sich und die beiden Russen in den Hof, um mit ihnen hastig in der Hausmeisterwohnung zu verschwinden.
»Savo«, sagte Milana Potočnić, »was willst du da? Die Polizei war vor nicht einmal fünf Minuten da und hat gefragt …«
»Sehr gut, die kommen heute nicht mehr.« Er deutete einem der Russen. Dieser stellte eine Art Turnsack auf den Wohnzimmertisch und packte diverse Utensilien aus, die Milana, als Partisanengeliebte, gleich als Bombenbausatz erkannte.
»Savo!«, rief sie. »Was willst du machen?«
Savo packte sie an den Haaren und riss ihren Kopf hin und her.
»Ucuti! 95 Ich mache Ordnung.« Dann wechselte er ins Russische und baute mit den beiden Russen die Bombe, die den Wagen samt dem jugoslawischen Botschafter in die Luft sprengen sollte.
Während sie vor sich hinarbeiteten, fragte einer der Russen, eine russische Zigarette im Mundwinkel: »Hat dir dieser Dragan gesagt, wann der Botschafter im Wagen sitzt?«
»Ja. Übermorgen, zehn Uhr Vormittag. Er fährt von der Botschaft weg. Das gefällt mir besonders!«
»Ist dieser Dragan zuverlässig?«
»Ich würde es ihm anraten! Ich habe ihm vor dreißig Jahren das Leben gerettet.«
»Ladna, kharasho .« 96
»Während er mit meiner späteren Frau geschlafen hat«, setzte Savo nach und deutete auf die Tür, durch die Milana das Zimmer soeben verlassen hatte. »Kavaler «, 97 sagte der Russe grinsend.
Sweet surreeender!
Tim Buckley von der LP »Greetings From LA« schlich sich erregend und tröstend zugleich über die Ohren in die Seelen von Edna und Walter, die aneinandergeschmiegt auf der psychedelisch ausgeleuchteten Tanzfläche des Voom Voom standen und sich nur ganz sachte in dem suggestiven Rhythmus wiegten. Edna hatte ihren Kopf auf Walters Schulter gelegt. Sie weinte.
And when they tangoed
It’d send their hearts a flutter
»Was machen wir nur?«, schluchzte sie leise. »Was machen wir nur?«
Walter schwieg und umfasste sie enger, um ihr Zuversicht zu vermitteln.
Als die beiden in die halbdunkle Koje neben dem Tanzboden zurückkehrten und sich neben Jack und Suskia setzten, deutete Jack auf Vitus, der mit einem fast um einen halben Kopf größeren Mädchen tanzte und sich mit diesem während des langen Fade-outs von »Sweet Surrender« zu ihnen setzte. Vitus bemerkte die verweinten Augen Ednas und wandte sich an Jack.
»Was ist mit ihr?«
Jack schwieg, aber Suskia flüsterte: »Sie ist schwanger.«
Vitus ließ die Hand des Mädchens los und sagte: »Um Gottes willen.«
»Und bis jetzt hat sich niemand gefunden, der es ihr wegmacht.«
Vitus blickte das ein wenig umfangreichere Mädchen neben sich an, nahm ihre Hand wieder in die seine und versuchte, ihr ungeschickt näher zu kommen, was von ihr ungeschickt erwidert wurde. »Du, ich weiß was«, sagte er zu Suskia. »Bei einer Hausdurchsuchung in der Seeböckgasse, da war eine Jugoslawin, die sich Schamanin nennt … ich glaube, die macht sowas.«
»Was?«, fragte Jack.
»Abtreibungen.«
Walter wurde hellhörig. »Wieso glaubst du das?«
»Wir haben bei der in einem Raum so einen Stuhl entdeckt, der ausgeschaut hat, als ob er für sowas gebaut ist.«
»Wie bei einem Frauenarzt?«, fragte Suskia.
»Kann gut sein. Ich war noch nie bei einem Frauenarzt, aber der hatte so …«
Und Vitus, der mittlerweile die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen hatte, begann, den Stuhl, der in dem Zimmer bei der Schamanin in der Ecke stand, zu beschreiben. »Klar«, sagte Suskia, »ein gynäkologischer Stuhl, eindeutig.«
»Und?« Walter wirkte überfordert. »Wie soll das gehen … ich meine, wie tun wir da? Kennst du diese Schamanin?«
»Nein, nicht wirklich, aber ich weiß, wo das ist.«
»Und?«, fragte Edna und wischte sich ein paar Tränen fort, doch die Hoffnung kehrte noch nicht in ihr Gesicht zurück.
»Ich bring’ euch hin«, sagte Vitus, »aber reingehen kann ich nicht mit euch.«
Im Gegensatz zu Edna klang Walter erleichtert.
»Super. Dann gehen wir morgen oder übermorgen hin.«
»Das kostet aber sicher einen Haufen Geld«, wandte Vitus ein.
In die entstandene Stille hinein sagte Jack: »Geld spielt keine Rolle.« Edna seufzte.
• • •
»Na also, Haselbacher, das sind ja einmal gute Nachrichten«, sagte Hofrat Oberst Ableitinger jovial und sprudelte seine saure Milch.
Haselbacher sprach diesmal persönlich bei seinem Vorgesetzten vor, denn er dachte, wenn er seine Ermittlungserfolge diesem von Angesicht zu Angesicht mitteilte, so könnte sich das eventuell auf eine höhere Gehaltsstufe auswirken oder gegebenenfalls eine Beförderung nach sich ziehen. Er saß ihm mit Selbstbewusstsein gegenüber und blickte befremdet auf das Glas Milch.
»Wollen’S vielleicht ein Glas saure Milch, Herr Kommissar?«
»Danke, lieber nicht«, sagte er, »aber wenn ich mir eine Zigarette …«
»Von mir aus, aber machen’S das Fenster da hinten ein bisserl auf. Schamanen, haha, was es nicht alles gibt. Und wie schauen wir aus mit dem mutmaßlichen Täter, diesem …«
»Savo Potočnić, Herr Hofrat …«
»Haben’S den schon?«
»Noch nicht«, gab Haselbacher zu, »ich lasse aber das Gasthaus in der Dorotheergasse observieren, in dem er verkehrt, und es dürfte nur mehr eine Frage der Zeit sein, bis ich …«
»Sehr gut, sehr gut, und haben wir Beweise? Kann ich dem Präsidenten sagen, dass wir den demnächst verhaften werden?«
Haselbacher ärgerte sich über das ständige »wir« des Hofrates und berichtete bewusst in der Ich-Form weiter.
»Ich habe die Aussage dieser Frau Tur, der Schamanin, und wenn ich ihn einmal in Gewahrsam habe, dann wird der schon reden.«
»Lassen Sie sich nicht wieder zu Übergriffen hinreißen, Haselbacher! Wenn ein Anwalt Ihre Verhörmethoden bemäkelt, dann haben wir den Scherben auf. Es hat ja, wie Sie wissen, schon zwei Beschwerden diesbezüglich gegeben, gell … wir schreiben 1971 und nicht …«
»Herr Oberst, ich …«
»Schon gut, ich möcht’ nicht mit Ihrer Vergangenheit auch noch zu tun haben, wenn Sie wissen, was ich meine.« Der Oberst beugte sich ein wenig vor. »Ich weiß, von was ich rede …«
»Noch einmal, Herr Oberst, meine Vergangenheit ist makellos, ich …«
»Jaja.« Ableitinger winkte ab und ließ sich zu einem Scherz hinreißen. »Vergangenheit makellos, Zukunft aussichtsreich, Gegenwart lästig. Schwamm drüber! Wir haben also nur die Aussagen dieser Frau Tur?«
»Einstweilen ja, aber die kennt ihn. Die weiß, wie er ausschaut, die kann ihn identifizieren. Und die kleine Serviererin, diese Franzi, auch.« Von Altendorfer, der Savo ja auch gesehen hatte, sagte er nichts, denn dass dieser von jenem geradezu übertölpelt worden war, brauchte der Oberst nicht zu wissen.
»Alsdann!«, sagte der Oberst gut gelaunt. »Übrigens, Haselbacher, die Geschichte mit den Pilzen können wir vergessen, die sind nach dem Suchtmittelgesetz nicht relevant. Und noch was, Haselbacher: Das Innenministerium hat von unserem Nachrichtendienst zwar nichts Genaues, aber doch was läuten gehört, dass zwei Russen, zwei KGBler, in Wien sein sollen und irgendwas vorhaben! Der Tito kommt zwar jetzt nicht, aber trotzdem … wir sollten die Augen offenhalten, gell.«
»Werde das in meine Ermittlungen einfließen lassen, Herr Oberst!«
»Apropos einfließen«, sagte Ableitinger abschließend, »wollen’S nicht doch einen Schluck Milch?«
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Rayonsinspektor Altendorfer, der Kotelett-Toni, der Savo Potočnić einmal Auge in Auge, in einer hochnervösen Grenzsituation gegenübergestanden hatte, saß nun schon den dritten Tag in Zivil, zusammen mit Vitus Veitschegger, dem Provisorischen, im Gasthaus Reiterer . Sie warteten, dass der quadratische Serbe, wie Altendorfer sagte, auftauchte. Franzi, die burschikose Kellnerin, hatte ihre Mitarbeit zugesagt und ging mit Vitus immer wieder vor das Wirtshaus, um einen Mann in gelbem oder grauem Kurzmantel zu entdecken, sollte dieser sich nähern.
Damit, so Altendorfer, würden sie Zeit gewinnen, um über das Telefon – Funkgeräte passten nicht zu einer Zivilfahndung – das Überfallskommando zu rufen.
In diesen drei Tagen hatte sich herausgestellt, dass sich Vitus zu Franzi hingezogen fühlte und diese ihn durchaus ermutigte. Vitus war aus Zwettl und Franzi stammte aus Groß Gerungs, sie waren also beide Waldviertler. Altendorfer sah das mit Missmut und schickte Vitus unverhältnismäßig oft vor die Tür, konnte aber die Zeit seiner Abwesenheit nicht nutzen, um selbst bei Franzi zu reüssieren.
Während ihrer Observierung kamen einmal die drei Neo-Nazis ins Reiterer , verhielten sich aber unauffällig, weil Franzi, noch bevor der mit der Runenjacke unangenehm werden konnte, diesem zuraunte: »Nicht deppert sein. Polizei!«, und ihre Augen Richtung Altendorfer und Vitus verdrehte.
Nach fünf Tagen des Wartens ging dann alles sehr schnell. Zu schnell. Und doch zu langsam.
Vitus und Franzi blickten einander voll Zuneigung in die Augen und Altendorfer versuchte (vergeblich), Franzis Aufmerksamkeit von Vitus abzuziehen, als Franzi aufblickte und bemerkte, dass die drei Nazis sich anschickten, hastig das Lokal zu verlassen.
»Das ist er!«, flüsterte sie, beinahe ohne die Lippen zu bewegen.
Altendorfer blickte sich verstohlen um, sah den Serben und erhob sich mit abgewandtem Gesicht, um zum Telefon zu schleichen. Die junge Kellnerin und Vitus vermieden es, in Richtung Potočnić zu schauen, und spielten ungeschickt, aber nicht unerfreut, flirten. Altendorfer musste warten, bis ein Gast sein Telefonat beendet hatte, griff dann hastig zum Hörer, wählte hektisch und … knallte den Hörer auf die Gabel. Versuchte es noch einmal und noch einmal, bekam aber keine Verbindung. Mit Panik in der Miene blickte er zu Franzi, doch die zuckte nur die Achseln und formte die Lippen zu dem Wort: »Vierteltelefon.« 98
Savo saß in einer Ecke an einem Einzeltisch, seinen grauen Mantel neben sich auf einen Haken gehängt, und wartete arglos auf den Zander serbisch, den er bestellt hatte. Noch bevor er das Restaurant betreten hatte, war er mit dem Kerl in der Runenjacke zusammengestoßen und hatte ihm scheinbar unbeabsichtigt einen Rempler gegeben, so höflich wie möglich »Oprosti « 99 gesagt und sich hingesetzt.
Altendorfer hatte endlich eine Verbindung bekommen und sprach, die hohle Hand über die Muschel haltend, aufgeregt, fast tonlos in den Hörer.
Obwohl sich der Kotelett-Toni so unauffällig wie möglich zu verhalten versuchte – oder gerade deswegen – fiel er Savo und dessen geschärften Sinnen auf. Er erkannte in Altendorfer, trotz seiner zivilen Kleidung, den uniformierten Polizisten, den er damals im Hof der Speckbachergasse 20 ruckzuck zu Boden geschickt hatte, bemerkte auch die versteckten Blickkontakte zwischen ihm, Franzi und Vitus, legte das Besteck weg, nahm seinen Mantel vom Haken und sprang auf, um aus dem Wirtshaus zu rennen. Franzi rief: »Herr Chef, da geht einer mit der Zeche durch!«
Altendorfer brüllte ins Telefon: »Kommts schnell, der geht stiften!«
Vitus streckte ein Bein aus, Savo wäre beinahe darübergefallen, erfing sich aber, holte aus, eine gewaltige Ohrfeige verfehlte Vitus nur um Haaresbreite, und stürzte ins Freie. Er nahm denselben Weg wie an dem Tag, als er die beiden Jungnazis niedergeschlagen hatte, und verschwand im Gasselwerk der Wiener Innenstadt. Als das Überfallskommando mit Trari-Trara geräuschvoll vor dem Wirtshaus bremste, war Savo Potočnić bereits unauffindbar untergetaucht.
Er stand in einem der kleinen Antiquitätengeschäfte, deren Auslagen so angeräumt waren, dass man von draußen nur schwer ausnehmen konnte, ob jemand und vor allem wer drinnen war, von drinnen aber recht gut sah, was auf der Gasse vor sich ging. Savo besah sich scheinbar interessiert die Nippes-Figuren, die im Geschäft im Schaufenster standen, und wartete, bis die Polizisten, die draußen planlos herumrannten, sich unverrichteter Dinge wieder zurückzogen. Dann trat er auf die Straße.
Das Problem, wo er seine Tage verbringen sollte, wurde ihm wieder deutlich bewusst. Ins Restoran Trabicz konnte er nicht mehr gehen, denn die Schamanin würde Zeter und Mordio schreien, wenn er, der Mörder ihres Mannes, auftauchte.
Also wohin?
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Das Savoy hatte Ruhetag, also stand Herr Theo im Trabicz , genauer in der Wohnung der Schamanin, und die erstaunlich gefasste Jovanna Tur bot ihm einen Platz an.
»Was willst du, Theo?«
Herr Theo bemühte sich redlich, ein Mindestmaß an Pietät in seinen Ton zu legen. »Jovanna, es ist so … ich bräuchte für einen … äh … Großabnehmer dringend Ware. Habt ihr … ich meine, hast du …« Er griff in seine Jacke und nahm eine Rolle Tausender heraus.
»Du zahlst jetzt und alles?«
Herr Theo nickte.
Jovanna bedeutete ihm zu warten, ging in die Klinik, schloss die Tür hinter sich und kam nach ein paar Minuten wieder heraus. Sie hielt ein Plastiksackerl in der Hand, nach dem Theo begehrlich griff. Sie aber zog die Hand zurück.
»12.000«, sagte sie und ließ Theo einen Blick in das Sackerl werfen.
»Das sind doch alles einzeln verpackte Hunderter-Pieces, was soll ich mit denen?«
»Sind hundert Hunderter-Pieces!«
»Also maximal 10.000 Schilling.«
»Du brauchst dringend, hast du gesagt … darum 12.000.«
Theo versuchte zu verhandeln. Vergeblich. Er zählte zwölf Tausend-Schilling-Scheine von der Rolle. »Muss ich nachzählen?«
Jovanna sah ihn abfällig an.
»Ich zähle ja auch nicht nach.«
Sie gingen ins Lokal, wo gerade Dragan Zaradicz an die Glastür klopfte. Er war draußen Schmiere gestanden, nicht, weil sie die Polizei fürchteten, sondern um gegen einen eventuellen dreisten Besuch Savo Potočnićs gewappnet zu sein. Als Herr Theo gegangen war, trat Dragan zu Jovanna, warf einen Blick in das Sackerl und murmelte: »Bolje išta nego ništa .« 100
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»Ihr seids mir vielleicht Versager«, polterte Haselbacher. »Jetzt schicken wir euch schon das Überfallskommando und ihr lassts den einfach so davonrennen. Wenn ich das dem Hofrat sag’, der lasst mich suspendieren. Wir schreiben diesen Scheiß-Jugo zur Fahndung aus. Veitschegger, lassen’S einen Phantomzeichner kommen, wir hängen dem seinen Ponem 101 in ganz Wien auf!«
»Wo kann denn der den ganzen Tag sein?«, fragte Altendorfer.
»Und vor allem, wo schläft er?«, ergänzte Vitus.
»Zu Hause, bei seiner Frau, der Milana? Der Hausmeisterin?«
»Gut möglich«, sagte Vitus.
»Aber wo!«, ereiferte sich Haselbacher.
»Der ist doch nicht blöd, dass er nach Hause zu seiner Frau geht. Der muss ja glauben, dass wir die Speckbachergasse beobachten.«
»Und?«, fragte Vitus Veitschegger provokant. »Tun wir das?«
»Werden’S jetzt nicht pampig! Das steht Ihnen nicht zu, haben’S verstanden? Nein. Ich hab’ ohnehin keine Leute!«
Es dauerte gut eine Woche, bis der Zeichner, nach den oft verwirrenden Beschreibungen des Gesichtes von Savo Potočnić, endlich etwas zu Papier gebracht hatte, mit dem schließlich alle übereinstimmen konnten.
Altendorfer hatte beispielsweise auf die Frage des Zeichners: »Ist seine Gesichtsform rund, oval oder eher länglich?«, geantwortet: »Quadratisch.«
• • •
»Dragan Zaradicz«, sagte der jugoslawische Botschafter, beugte sich in seinem repräsentativen Amtssessel vor, öffnete eine Lade in dem nicht weniger repräsentativen Schreibtisch und nahm ein Kuvert heraus, »Dragan Zaradicz, für dich. Dein Taschengeld.«
»Danke, Exzellenz«, erwiderte der, warf einen kurzen Blick in das Kuvert, in dem wie immer eine stattliche Anzahl Fünfzig-Dollar-Noten steckte. Und wie immer ging ihm dabei nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: Mit wie viel Gewinn hat er das Zeug wohl in Belgrad losgeschlagen?
Dann griff er in die mitgebrachte Aktentasche, nahm ein Plastiksackerl heraus und leerte dessen Inhalt auf dem Schreibtisch des Botschafters aus. Der schaute ein wenig erstaunt und schob die vielen in Stanniolpapier verpackten Haschisch-Stückchen vor sich auf einen Kreis zusammen.
»Das sind aber mehr als hundert Stück.«
»Es sind ungefähr zweihundert Stück. Ich habe es aufstrecken lassen.«
»Vrlo dobro « 102 , sagte der Botschafter, »lass es für den Transport ordentlich verpacken. Ich fliege Ende nächster Woche wieder hinunter.«
»Verstanden, Exzellenz. Ich werde Sie diesmal nicht mit dem offiziellen Dienstwagen nach Schwechat fahren.«
»Spinnst du, Dragan?«
»Nein, Exzellenz, gar nicht.«
Und dann berichtete Dragan von Savo Potočnić, den beiden Herren vom KGB und dem geplanten Attentat, für das er die Bombe platzieren und so einstellen sollte, dass sie, noch bevor sie losfuhren, vor der Botschaft im Auto detonierte. Der Botschafter schwieg.
Dann musste er fast schmunzeln. »Zuerst wollen sie Josip Broz Tito umbringen und jetzt, weil er nicht kommt, wollen sie mich umbringen. Noch dazu spektakulär, gleich vor der Botschaft!«
»Exzellenz«, sagte Dragan Zaradicz, »ich habe einen Plan.«
»Vrlo dobro «, sagte der Botschafter.
• • •
Savo Potočnić sah sein Konterfei zum ersten Mal durch die Scheibe des Fensters einer Straßenbahn.
Er fuhr sich durch sein dunkelgraues Haar, verwüstete seine Frisur und senkte instinktiv den Kopf. Er war auf dem Weg zu den beiden KGB-Männern, die sich in einem Arbeiterquartier nahe der alten Donau versteckt hielten.
»Bist du wahnsinnig?«, fragte der eine, als Savo in einem bestimmten Rhythmus an die Tür der Baracke geklopft hatte. »Deine Fresse hängt an allen Ecken.«
»Habe es gerade gesehen. Ich muss verschwinden, bis alles erledigt ist und wir nach Moskau fliegen. Soll ich mich unter diesen Umständen untertags vielleicht in irgendwelche Lokale setzen oder in einen Park?«
»Los, komm herein und mach die Tür zu«, sagte der andere und setzte sich auf eines der sechs Stockbetten in der notdürftigen Behausung, in der es nach saurem Schweiß und Elend roch.
Einer der Russen nahm aus einer Art Sporttasche eine Flasche mit Wodka und reichte sie herum. Jeder nahm hastig zwei, drei ausgiebige Schlucke. Nachdem die Flasche wieder verstaut war, sagte der andere: »Wir müssen auf die Baustelle, Schichtwechsel, verstehst du? Du bleibst so lang hier, und wenn die anderen kommen, erzählst du ihnen, dass du neu bist, dein Gepäck erst holen musst … lass dir etwas einfallen. Es sind außer uns ohnehin nur Jugos. Schlafen kannst du hier nicht, weil alles belegt ist. Sag, wir hätten dich hereingelassen, damit du nicht in der Kälte warten musst, bis du wo unterkommst … du weißt schon. Es interessiert sich da sowieso keiner für den anderen.«
»Wo schläfst du denn?«, fragte der andere Russe.
»Zu Hause, bei meiner Frau in Ottakring.«
»Ottakring?« Er hatte Mühe, das Wort auszusprechen.
»Egal. Am anderen Ende der Stadt.«
»Hast du Geld?«
»Geht so. Die Frau hat Hausmeisterposten.«
»Wann wird sich dieser Dragan melden? Weißt du schon was?«
»Noch nicht, das hängt davon ab, wann der Botschafter wieder ausfährt.«
»Du sagst sofort Bescheid, wenn du was weißt«, sagte der Größere. »Wir müssen den Flug bei unserer Botschaft anfordern. Wenn der Wagen explodiert, werden wir schon am Flugplatz sein.«
»Wenn du nach Hause kommst«, warf der andere ein, »packe gleich, damit wir nach Erledigung so schnell wie möglich in den Flieger kommen.«
Die beiden verabschiedeten sich.
»Also, in Gottes Namen!«, sagte Savo.
»Gott?«, fragte der Kleine und lachte. »Gott ist konterrevolutionär.«
Als die Tür hinter ihnen zufiel, faltete Savo die Hände zusammen und wiederholte mit fester Stimme: »In Gottes Namen!«
• • •
»So. Da ist es«, sagte Vitus Veitschegger, blieb vor dem serbischen Spezialitätenrestaurant Trabicz stehen und wandte sich gleich wieder zum Gehen.
»Was ist?«, fragte Walter. »Kommst du wirklich nicht mit?«
»Spinnst? Ich bin in Uniform, und überhaupt kennt mich die Frau von der Hausdurchsuchung.«
Walter nahm Edna, die ihm nur zögerlich folgte, beim Arm und betrat das Trabicz . Die Tische waren etwa zur Hälfte besetzt. Walter wendete sich an Zoran, den Chauffeur, der gleichzeitig kellnerierte.
»Ist Frau Tur zu sprechen?«
Zoran grinste. »Zu sprechen? Reden wollen Sie mit ihr, oder?«
Walter nickte.
»Sie ist hinten in der Wohnung, nehmen Sie Platz. Muss kommen jeden Moment. Vielleicht essen etwas? Haben frische D̄uveč . 103 «
»Danke, wir wollen nichts essen«, sagte Edna.
»Vielleicht einen Sjlivovica ?«
»Warum nicht«, sagte Walter, »und ein Bier.«
»Und junge Dame?«
»Ein Coca-Cola.«
»Wir haben nur Club Cola , Fräulein.«
»Nisht keyn khiluk « 104 , sagte Edna.
Walter kippte den Sliwowitz, spülte mit Bier nach und nahm Ednas Hand. »Das wird schon, Liebling, wir … äh … du kriegst das hin. Augen zu und durch.«
Edna fragte mechanisch: »Und Kind … Kind wollen wir keines?«
»Edna, bitte, das haben wir doch besprochen. Wir wollen kein Kind! Das wär … das wär …«
Walter suchte noch nach der passenden Vokabel, als die Schamanin hinter der Schank hervor ins Lokal kam, mit Zoran ein paar Worte wechselte und sich dann zu Walter und Edna an den Tisch setzte. Bevor die beiden etwas sagen konnten, legte sie ihre Hand ganz leicht auf Ednas Wange.
»Du bist schwanger.«
Edna nickte.
Die Schamanin stand auf, reichte Edna die Hand und wollte sie nach hinten führen, doch Edna blieb ein wenig störrisch sitzen. Walter erhob sich.
»Komm, Edna.«
»Du bleibst sitzen. Frauensache.«
Zu Edna sagte sie: »Nimm ruhig mit dein Cola.«
Edna winkte ab. »Zu warm.«
• • •
Die schwarze Limousine mit den getönten Scheiben stand abfahrbereit vor dem hohen Eisentor der jugoslawischen Botschaft, allerdings waren die zwei Polizisten nirgends zu sehen, die das Fahrzeug gewöhnlich begleiteten.
Nur die beiden botschaftseigenen Sicherheitsleute standen zwischen der Limousine und einem Kastenwagen mit laufendem Motor, der mit der Frontseite in Richtung Einfahrt des Botschaftsgebäudes geparkt war.
Der Botschafter, dicht gefolgt von Dragan Zaradicz, ging auf die Limousine zu. Dragan hielt ihm die rechte hintere Tür auf und schickte sich an, am Fahrersitz Platz zu nehmen.
Wenige Sekunden später setzte sich der Kastenwagen in Bewegung und fuhr durch das offene Tor auf das Grundstück der Botschaft. Die beiden Sicherheitsleute sahen sich um, vergewisserten sich, dass der Platz vor der Botschaft menschenleer war, und gingen dann zurück in das Gebäude, dessen Tore sich hinter ihnen sofort schlossen.
Die Limousine stand da und plötzlich ertönte ein dumpfes Geräusch. Sie hob mit den Hinterrädern leicht vom Boden ab, eine gut zwei Meter hohe Stichflamme stieg auf, die Scheiben barsten. Es vergingen mehrere Minuten ohne irgendeine Reaktion seitens des Sicherheitsdienstes der Botschaft. Das Auto brannte fast aus, bis endlich die beiden Leibwächter, gefolgt von Männern, die für diesen Anlass lächerlich kleinformatige Handfeuerlöscher trugen, herbeieilten und den Brand unfachmännisch zu löschen begannen.
Erst endlose Minuten später hörte man Feuerwehr und Rettung.
• • •
»Um Gottes willen, Herr Botschafter«, hatte der Innenminister drei Tage zuvor gesagt, »woher wissen Sie von dem geplanten Attentat?«
»Ich weiß eben«, hatte der Botschafter geantwortet. »Sie sehen, unser Nachrichtendienst arbeitet … äh … wie sagt man … echauffierter als Ihre Leute.«
»Echauffierter? Sie meinen vielleicht ›effizienter‹?«
»Wenn es Sie sagen.« Der Botschafter nickte. »Übermorgen wird mein Dienstwagen vor der Botschaft in die Luft gehen, aber ich werde nicht sitzen darinnen. Verlassen Sie an, dass Ihre Polizei nicht anwesend ist, sondern schicken Sie Ihre Männer auf den Flughafen in die General Aviation und lassen Sie zwei Russen festnehmen, die nach der Explosion mit einer russischen Maschine nach Moskau fliegen wollen. Mit großer Sicherheit ist ein dritter bei ihnen, ein Serbe, Savo Potočnić. Das ist der, der Josip Broz Tito umbringen hat gewollt und jetzt, weil der nicht kommt, mich killen möchte.«
»Selbstverständlich, Herr Botschafter, ich werde alles in die Wege leiten, um die Sache nach Ihren Wünschen über die Bühne gehen zu lassen.«
»Wie? Bühne? Wieso?«
»Ach, das sagt man so.«
• • •
»Ja, Herr Minister«, sagte der Polizeipräsident, »natürlich, Herr Minister, wird erledigt, Herr Minister. Ich schicke sofort meine besten Leute nach Schwechat …«
»Morgen Abend genügt, Joschi, und wenn es so weit ist … kein Aufsehen, keinen Wirbel und vor allem keine Presse!« Darauf telefonierte der Polizeipräsident mit Hofrat Oberst Ableitinger.
»Hören Sie zu, Ableitinger, wir haben ab morgen einen Spezialeinsatz in Schwechat, General Aviation. Schauen Sie, dass Ihre Leute da im Kommissariat Grubergasse keinen Blödsinn machen. Lassen Sie diesen Potočnić in Ruhe, der wird samt zwei KGB-Leuten am Flugplatz festgenommen. Haben Sie verstanden?«
»Herr Präsident, ich verstehe nur Bahnhof …«
»Flugplatz, Ableitinger, Flugplatz!«
• • •
»Wie bitte, Herr Oberst?«, fragte Haselbacher verdutzt. »Wir sollen den Potočnić laufen lassen? Von dem hängen Phantombilder in fast ganz Wien.«
»Ah so?«, sagte Ableitinger. »Mir ist noch nichts aufgefallen. Hat sich schon wer gemeldet, der weiß, wo er sich aufhält?«
»Nein, noch nicht, Herr Hofrat. Aber der ist praktisch überführt und muss nur noch gefasst werden, die Fahndung läuft auf Hochtouren, ich werde …«
»Sie werden gar nichts, Haselbacher, hören Sie? Gar nichts! Bis Sie einen anderslautenden Befehl erhalten.«
»Ja, aber, Herr Oberst, was sollen wir denn machen, wenn wir den erwischen? Der hat zwei Leute umgebracht und furchtbar zugerichtet. Von dem einen wissen wir noch immer nicht, wer er ist … war!«
»Haben Sie mich nicht verstanden, Haselbacher? Sie machen derweil nichts. Ich sag’ nur: KGB. Da geht’s um weit mehr als um zwei patscherte Morde!«
»Patschert , sagen Sie, der hat …«
»Haselbacher!«, sagte der Oberst scharf. »Tun’S nicht nachreden! Das ist ein dienstlicher Befehl!«
»Jawohl, Herr Oberst.«
• • •
Edna saß mit Jovanna Tur, der Schamanin, in ihrer Klinik und hörte ihr mit einer Verwunderung zu, die sich langsam in Bestürzung verwandelte.
»Du bist Mitte zweite Monat, Edna … das ist gute Zeitpunkt für Abbruch. Und du willst kein Kind? Du bist sicher?«
»Mein Freund, der Walter, der draußen sitzt, der will jedenfalls keines …«
»Was Freund will, wurscht jetzt. Was willst du?«
Edna zögerte etwas mit der Antwort. »Nein … ich will eigentlich auch nicht …«
Die Schamanin strich ihr über das Haar. »Eigentlich ist komisches Wort in Deutsch … gibt’s nicht in Serbisch … ist Wort, das nichts heißt. Wie spät ist eigentlich? Genau so spät wie nicht eigentlich … also, du auch: kein Kind? Denn wenn Abbruch gemacht, es gibt kein … wie sagt man … gibt kein rückwärts.«
Edna zuckte die Achseln und nickte dann.
»Also gut, Kind, ich werde dich jetzt auf eine kleine schamanische Reise mitnehmen, dir geben dein Schutztier und deinen Geist vorbereiten …«
Sie nahm sich eine der flachen Trommeln und begann, einen langsamen Takt zu klopfen, wobei sie mit kleinen Schritten um Edna herumging. Der Rhythmus wurde kontinuierlich schneller und Jovanna summte kehlige Laute vor sich hin. Edna saß auf einem der Holzschemel in der Mitte des Raumes und schloss die Augen, blinzelte. Die Zeitspanne, in der sie ihre Augen geschlossen hielt, wurde immer länger, bis sie sie gar nicht mehr oder nur einen schmalen Spalt weit öffnen konnte.
Die Schamanin fingerte aus dem Glasbehälter ein Stückchen Fliegenpilz, schluckte es hinunter und schob ein weiteres, kleineres Stück Edna in den Mund. Sie spürte, dass ihre Patientin damit nicht ganz einverstanden war, aber das heidelbeergroße Stück Pilz dennoch schluckte. Edna fand die Prozedur lächerlich, doch mit jedem Trommelschlag und dem langsamen Anschwellen des gutturalen Gesanges wurde dieses Gefühl schwächer, bis es schließlich ganz verschwunden war.
• • •
Walter saß beim zweiten Bier und dem dritten Šljivovica draußen im Lokal. Er traute seinen Augen nicht, als der Herr Theo das Lokal betrat und von Zoran wie ein alter Freund begrüßt wurde. Auch Herr Theo machte kein Hehl aus seiner Verwunderung, Walter hier zu treffen.
»Was machst denn du da?«
»Ich? Gar nichts. Meine Freundin hat was mit der Chefin zu bereden.«
»Aaaaahh, ja«, sagte Theo, »toi, toi, toi.«
»Und was willst du da?«
»Ich hab’ auch was mit der Chefin zu bereden.«
Zoran trat zu Theo mit diesem fragenden Blick des Servierpersonals, der sich stumm nach der Bestellung erkundigte.
»Veliko pivo 105 «, sagte Theo.
Zoran sah auf die Uhr. »Sie muss gleich herauskommen.«
Das Gespräch zwischen Walter und Theo verlief außerhalb der Kellner-Gast-Situation, die im Savoy herrschte, schleppend, immer wieder unterbrochen von peinlichen Pausen. Walter bestellte aus Verlegenheit noch einen Šljivovica , kippte die Hälfte hinunter und spürte jetzt erst ganz deutlich, wie sich wohltuende Wärme in ihm ausbreitete.
»Deinen Freund mit den langen, weißen Haaren haben sie umgebracht«, sagte Walter, um überhaupt irgendetwas zu sagen.
»Weiß ich doch«, antwortete Herr Theo trocken. »Und ich weiß auch, wer.«
»Ah, so?« In diesem Augenblick kam die Schamanin mit Edna am Arm ins Lokal. Beide, vor allem Frau Tur, hatten die Augen unnatürlich weit geöffnet. Die Schamanin sprach leise auf Edna ein, führte sie zu Walter und drückte sie sanft in den Sessel neben ihm. Dann nickte sie Theo zu und bedeutete ihm, ihr nach hinten zu folgen.
»Na, wie war’s?«, fragte Walter an Edna gewandt.
»Du stinkst nach Schnaps«, sagte Edna und drehte sich weg.
Walter zündete sich eine Zigarette an. »Also, erzähl!«
Edna schaute einen Moment ins Leere und sagte dann mit verhuschter Stimme: »Es war ziemlich … seltsam. Zuerst ist sie um mich herumgetanzt, hat auf eine flache, runde Trommel geschlagen und dabei gesungen. Mir ist dann irgendwie blümerant geworden, dann hat sie mir irgendwas in den Mund geschoben … und ab da weiß ich nichts mehr Genaues.«
»Was hat sie dir in den Mund geschoben?« Walter klang besorgt.
»Weiß ich nicht, irgendwas Bitteres …«
»Und hat sie … äh … hat sie’s weggemacht?«
»Aber nein. Ich muss in ungefähr einer Woche wiederkommen, dann erst … hat sie gesagt. Übrigens, mein Schutztier ist ein Reh.«
»Aha.« Walter wollte nicht in sie dringen, denn er bemerkte, dass sie nicht ganz bei sich war.
»Und wenn ich das nächste Mal aufs Klo muss, soll ich ein bisschen in ein Glas reinlullen und das dann trinken«, sagte Edna.
»Ist nicht wahr?«
»Hat sie gesagt!«
Walter kippte den Rest seines Šljivovica .
• • •
Herr Theo saß in dem Fauteuil in Jovannas Wohnzimmer, hielt sein Bier in der Hand und sagte in den leeren Blick der Schamanin hinein: »Ich weiß, wo der Hund ist, der den Ljubomir umgebracht hat.«
Theo hatte den Eindruck, dass sie ihn erst jetzt wirklich wahrnahm.
»Und?«
»Ich wohn’ doch unten an der Alten Donau, und da habe ich den Typ schon zweimal gesehen, wie er in so ein Arbeiterquartier hineingegangen, respektive herausgekommen ist.«
»Diese Bestie? Aber woher du weißt, wie der ausschaut?«
»Bitte, von dem hängen in halb Wien diese … wie heißt das … Phantombilder … und überhaupt habe ich ihn einmal bei dir im Lokal gesehen, wie ich mit dem Dragan da war. Dem seinen Quadratschädel vergisst man nicht so schnell. Der Dragan hat gesagt, der ist gemeingefährlich. Nicht nur, weil er einen religiösen Klamsch hat. Du musst sofort zur Polizei gehen und …«
»Ich nix Polizei«, wehrte Frau Tur ab. »Die waren bei mir, haben alles angeschaut, auch Behandlungsstuhl in Klinik … nein, besser gehst du … eine Mann glauben die mehr als Frau …«
»Ich? Ich soll zur Polizei gehen?«
»Besser gehst du hin, als Polizei kommt zu dir!«
• • •
Savo Potočnić, der es sich nicht hatte nehmen lassen, aus einer halbgeöffneten Haustür das Attentat zu beobachten, hielt, als die Bombe hochging, den Tragegriff seines kleinen Koffers so krampfhaft fest, dass die Knöchel seiner Faust weiß hervortraten.
»Gott schütze die Sowjetunion«, murmelte er.
Als die Limousine explodierte, aber danach nichts Besonderes geschah, keine Panik, keine Polizei, keine Presse, kein Heulen und Zähneknirschen, sondern sie nur gemächlich ausbrannte, wurde er misstrauisch. Seine Tagträume über ein Leben in Moskau als privilegierter KGB-Mann wurden mit einem Mal unscharf. Er vergaß jede Vorsicht und trat vor die Tür. Als die beiden Botschaftsangestellten mit den lächerlichen Handfeuerlöschern zu dem Wagen gingen und Feuerwehr und Polizei mit viel Trara, aber ohne Hast am Tatort vorfuhren, ahnte er, dass hier etwas faul war, und zog sich wieder zurück. Zorn stieg in ihm auf. Er ließ seinen Koffer los und biss sich in die blutleeren Knöchel.
Als die Feuerwehr unter Polizeiaufsicht das ausgebrannte Wrack abschleppte, musste er an sich halten, um nicht brüllend loszustürmen. Doch Savo riss sich zusammen, blieb auf seinem Posten und beobachtete, was weiter geschah. Nachdem die verkohlte Limousine vom Grundstück gebracht worden war, rollte aus dem Tor der Botschaft eine weitere schwarze Limousine heraus. Kaum eine Minute später stieg der Botschafter ein, bewacht von vier Männern in schwarzen Anzügen, die sich nach allen Seiten umsahen. Neben ihm Dragan Zaradicz.
Jetzt wurde Savo klar, dass Dragan den Botschafter und sich selbst in dem Kastenwagen in Sicherheit gebracht hatte. Die ganze Aktion war eine Falle gewesen. Vermutlich wartete bereits eine Polizeieskorte am Flughafen Schwechat auf ihn und die beiden Russen.
»Verräterschwein« knurrte Savo, »dich bring’ ich um.«
87 Bestürzt, verwirrt
88 Kindisch lachen
89 Serbisch: Handschrift
90 Serbisch: Fliegenpilz
91 Kurzwort für: Joint
92 Serbisch: Leibwächter
93 Russisch: Bravo, Kamerad. Es lebe die Revolution! Danke.
94 Serbisch: Ihr Trotteln
95 Serbisch: Halt’s Maul
96 Russisch: Gut, okay
97 Russisch: Kavalier
98 Ein Telefonanschluss, den man sich mit drei anderen teilte; es konnte immer nur eine Person telefonieren
99 Serbisch: Verzeihung
100 Serbisch: Besser als gar nichts
101 Jiddisch: Gesicht
102 Serbisch: Sehr gut
103 Serbischer Eintopf
104 Jiddisch: Egal
105 Serbisch: Ein großes Bier