Turn off your mind
Relax and float down stream
It is not dying
It is not dying
Lay down all thoughts
Surrender to the void
It is shining
It is shining
The Beatles, 1966
D er Botschafter und Dragan Zaradicz saßen einander auf der erst neulich gelieferten Wohnlandschaft im Amtsraum seiner Exzellenz Gojko Cnidericz gegenüber. Sie tranken türkischen Kaffee, den Milana Potočnić in einer Kupferkanne serviert hatte, rührten bedächtig mit Holzstäbchen in ihren Tassen um, auf dass sich der dazu gereichte Kandiszucker auflösen möge.
Sie rauchten jugoslawische Zigaretten der Marke Filter 57 und tranken Rakija aus Cokanji-Schnapsgläsern. Der Botschafter schluckte ruckartig seinen Rakija hinunter und stieß einen gutturalen Laut aus, der Behagen simulieren sollte.
»Auf den General!«
»Auf den General«, echote Dragan und kippte ebenfalls tollkühn sein Glas.
»Ich danke Ihnen, Zaradicz, Sie haben diese ganze Affäre sehr elegant erledigt.«
»Stets der Ihre«, sagte Dragan.
»Was glauben Sie, wurde dieses Attentat tatsächlich vom KGB angeordnet? Die beiden Russen wurden zwar auf Betreiben Moskaus ausgeliefert, aber wenn das eine konzertierte Aktion des russischen Geheimdienstes gewesen wäre, säße ich … säßen wir wahrscheinlich heute nicht hier.«
Dragan nahm einen großen Schluck Kaffee, denn der Kandiszucker hatte sich aufgelöst. Er zog an seiner Filter 57 .
»Exzellenz, soweit ich das beurteilen kann, waren die zwei Russen nicht von der ersten Garde. Die waren, scheint mir, nur zur Kontrolle da. Dieser Potočnić war ein fanatischer Stalinist, der auf eigene Faust gehandelt und den Kreml sozusagen nur der Ordnung halber informiert hat.«
»Die haben sich gesagt, lassen wir ihn machen … schaden kann es nicht.« Der Botschafter nickte.
»Und damit der besessene Serbe keinen Blödsinn macht, haben sie diese beiden Schmalspuragenten geschickt, um auf ihn aufzupassen.«
»Trotzdem, ich muss dem General berichten. Nur, sagen Sie, Dragan, dieser Savo Potočnić, heißt es, soll merkwürdigerweise tiefgläubig serbisch-orthodox gewesen sein und besonders in die heilige Jungfrau verliebt?«
Dragan holte aus seiner Sakkotasche eine Halskette hervor, an der ein Medaillon in der Größe eines Schillings hing.
»Das«, sagte er und ließ den Deckel des Anhängers aufspringen, »das habe ich ihm abgerissen, als ich die Sache erledigt habe.«
Der Botschafter blickte auf das etwas vergilbte, aber erkennbare, zarte Gesicht eines jungen Mädchens auf der einen Seite des geöffneten Medaillons, auf der anderen stand winzig klein: Sveta Djevo . 120
»Hm«, machte er, »schönes Mädchen.«
»Das ist seine Frau … seine Witwe … Milana, der Sie freundlicherweise die Stelle hier in der Botschaft gegeben haben.«
»Die Milana?«, fragte der Botschafter und deutete auf die Kaffeekanne. »Für die Sie sich verwendet haben ist … war das? Bei aller Schlechtigkeit dürfte er sie geliebt haben, wie man meinen könnte.«
»Für ihn war sie die Madonna. Trotzdem hat er sie immer wieder geschlagen und behandelt wie eine Leibeigene«, entgegnete Dragan.
Von seiner Liebelei mit der jungen Milana, damals in den Tagen des Kampfes, sagte er nichts.
Der Botschafter trank seine Tasse aus und goss beiden Rakija nach.
»Wie auch immer«, sagte er. »Nebenbei, Dragan, hat unser Lieferant frische Ware? Ich fliege Anfang übernächster Woche hinunter.«
»Leider nein, Exzellenz, der ist, soviel ich weiß, nach Indien verschwunden.«
»Das ist schlecht, Zaradicz, mein Taschengeld wird langsam knapp.«
Dragan wusste, dass mit »mein Taschengeld« auch das seine gemeint war.
»Ich werde mich umgehend nach jemand Neues umschauen. Ich habe da schon wen im Auge.«
Seine Exzellenz hob das Glas. »Živeli.«
»Živeli«, sagte Dragan.
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»Haselbacher, Sie sind eine Heimsuchung …«, sagte Hofrat Oberst Ableitinger.
Der Kommissar nahm den Hörer ein Stück weit vom Ohr.
»… haben Sie die Zeitung gelesen? Haben Sie’s gelesen?« Und der Oberst las vor: »›Der erst knapp 20-jährige Walter H. (Name der Redaktion bekannt ) lag entseelt‹ – entseelt , Haselbacher, haben Sie’s gelesen? – ›in seinem Blut.‹ Das macht einen Eindruck, was?«
»Herr Oberst, was hätten wir denn machen sollen, bitte?«, fragte Haselbacher.
»Ich sehe durch die Glastür den Burschen mit einer Pistole in der Hand vor dieser Schamanin stehen … Gefahr in Verzug … sage sofort: ›Zugriff‹, wir gehen rein, der Bezirksinspektor Faustenhammer ruft: ›Waffe weg!‹, der Kerl sagt: ›Haha, Pistole kaputt, schießt nicht‹, haltet sich die Krachen an die Schläfe, grinst noch blöd, drückt ab … und bumm … liegt er da.«
»Ja, ich weiß, so steht’s im Bericht. Es steht aber auch im Bericht, dass die drei in der Waffe verbliebenen Patronen alle Blindgänger waren … also müsste die eine ja auch ein Rohrkrepierer gewesen sein, weil wieso sagt er sonst: ›Schießt nicht‹? Die Polizei stellt den Vorfall als irrtümlichen Selbstmord dar …«
Haselbacher schaute auf die vor ihm liegende Zeitung. »Herr Hofrat«, stammelte Haselbacher, »so blöd das auch klingt … der hat sich unabsichtlich erschossen!«
»Das erklären Sie einmal dem Joschi und der Presse! Vor allem den ganzen hysterischen Langhaarigen, die seit gestern demonstrieren und ›Fuck the Police‹ schreien.«
»Herr Oberst, ich kann nichts anderes sagen als die Wahrheit.«
»Die Wahrheit ist eine Keule, mit der man andere erschlägt.«
»Bitte, wie?«
»Nichts, Haselbacher. Aber dass das Ganze ein Nachspiel hat, ist Ihnen schon klar?«
»Herr Oberst, was glauben Sie, was los wäre, wenn ihn einer von uns, also zum Beispiel ich, erschossen hätte?«
»Dann, Haselbacher«, sagte Ableitinger, »dann könnte ich Sie einfach suspendieren, ein Disziplinarverfahren einleiten und Sie einsperren, wenn’s blöd hergeht. Das wäre einfacher!«
»Herr Oberst«, versuchte der Kommissar abzulenken, »ich möchte Ihnen nachträglich zu Ihrer Ehrung gratulieren … wegen Disziplin und Besonnenheit … Herr Oberst …?«
Hofrat Ableitinger hatte aufgelegt und nahm einen Mundvoll saurer Milch. Der Kommissar hatte vor sich den Akt HOFER liegen und blätterte gedankenverloren darin herum, ehe er ihn mit einem Seufzer schloss.
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Alle Bewohner des Hauses Speckbachergasse 20, die über Fenster verfügten, die in den Hinterhof hinausgingen, hatten sich die Nasen an den Scheiben plattgedrückt, damit ihnen ja nichts vom Einzug der neuen Hausmeisterfamilie entging. Frau Milana Potočnić sollte, wurde gemunkelt, einen schönen Posten in der Stadt samt Dienstwohnung bekommen haben.
Als nach knapp einem Monat der neue Hausmeister begann, den Holzverschlag, der windschief neben der Platane im Hinterhof an der Wand kauerte, systematisch abzubauen und das Gerümpel zu einem Haufen auftürmte, auf den er zum Abschluss scheppernd das Blechschild 4. STOCK warf, nahm kaum jemand davon Notiz.
Nur das Fenster von Frau Lintschi Letovsky stand offen.
»Ferdl«, sagte sie und hob den Blick zum Himmel, »Ferdl, schau, sie reißen die alte Holzhütte unten im Hof ab.«
Dann schloss sie das Fenster und murmelte: »Hast recht, Ferdl. Das geht mich nichts an.«
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Vitus und Franzi hatten in einem Gasthaus, Ecke Österleingasse und Mariahilfer Straße, 1150 Wien, äußerst preiswert gegessen, stand das Lokal doch im Touristenführer für amerikanische Studenten »Vienna for 1 Dollar a day«, welches sich allerdings nur auf Verpflegung und öffentlichen Transport bezog.
Ihre erotische Frequenz hatte sich mit verstreichender Zeit naturgemäß verringert.
Darum saßen Franzi und Vitus jetzt nicht so wie in den ersten zwei, drei Monaten ihrer Beziehung nackt auf dem Bett und teilten sich eine Wurstsemmel, nur um nach dem Verzehr hastig die Semmelbrösel von Leintuch und Bettwäsche zu wischen und gleich darauf wieder kichernd unter die Decke zu schlüpfen.
»Wir müssen da raus«, hatte Franzi eines Tages gesagt, »wir können ja nicht ein Leben lang in diesem Loch hausen. Stell dir vor, wir kriegen ein Kind in nächster Zeit!«
»Ich habe uns eh angemeldet bei der Genossenschaft ›Heim‹, für eine Wohnung im Liebhartstal«, beruhigte sie Vitus. »Und wir sind auch schon vorgemerkt: Funkengerngasse, 21a, Tür 7. Wenn wir heiraten, können wir mit den 15.000 Schilling vom Kreisky locker die Einschreibgebühr zahlen, dann ist die Geschichte fix.« Er küsste sie auf die Wange. »Zwei Zimmer, Kabinett, Bad … sogar ein eigenes Klo gibt’s«, schwärmte er Franzi vor. »Und ich mach’ in nicht ganz einem Jahr die Organmandatsprüfung, nach achtzehn Monaten die Dienstprüfung, und dann bin ich Inspektor. Du brauchst dir also keine Sorgen machen.«
Als sie das Gasthaus verließen und die Mariahilfer Straße Richtung Westbahnhof gingen, fragte Franzi: »Du, weiß man inzwischen vielleicht, wer dieser erste Tote in der Speckbachergasse war? Der soll ein Rauschgifthändler gewesen sein, oder?«
Obwohl der Fall »Hofer« bereits zu den Akten gelegt worden und aus dem Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt war, fragte Franzi Vitus manchmal, ob neue Erkenntnisse aufgetaucht waren.
»Gar nichts weiß man«, antwortete Vitus dann und zuckte mit den Schultern. »Das Einzige, das man weiß, ist, dass der nicht der Hofer war, wie am Anfang alle geglaubt haben. Einen Hofer hat es praktisch nie gegeben. Und dass der erste Tote was mit Rauschgift am Hut gehabt hat, ist auch eher unwahrscheinlich.«
»Kann uns ja auch wurscht sein. Aber eines versprichst du mir …« Franzi nahm Vitus’ Hand in die ihre. »Du lässt die Finger von dem Zeug, hörst du?«
»Geh, das ist doch harmlos. Überhaupt wüsste ich gar nicht, wo ich es herkriege.«
Dass Vitus erst vergangene Woche mit einem gewissen Dragan Zaradicz gesprochen und dieser ihn gefragt hatte, ob er, Vitus, selbstverständlich gegen ein angemessenes Taschengeld, von in Zukunft konfiszierten Suchtmitteln etwas abzweigen könnte, davon sagte er nichts.
»Harmlos? Dein Freund da hat sich erschossen, so harmlos ist das!«
»Franzi«, Vitus fasste sie zärtlich am Kinn, »das eine hat doch gar nichts mit dem anderen zu tun.«
»Vitus«, entgegnete sie und blickte ihm ernst in die Augen, »unser Kind braucht einen Vater.«
Dann küsste sie ihn zart.
»Und ich, ich brauche dich auch, verstehst du?«
Vitus lächelte sie an. Dabei machte sich, wie von Zeit zu Zeit, eine Frage in seinem Kopf breit: Warum hat der Walter sich eigentlich erschossen?
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»Herr Kommissar«, sagte der Kotelett-Toni, »wollten wir nicht bei dieser Schamanin vorbeischauen … illegale Schwangerschaftsunterbrechung mit Todesfolge? So weit sind wir doch damals nicht gekommen, wegen diesem unabsichtlichen Selbstmord.«
»Gehen’S, Altendorfer, das bringt gar nichts«, antwortete Haselbacher. »Wir haben keine schlagenden Beweise, soll heißen, keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Tätigkeit dieser Tschuschenhex’ und dem Tod von dem Fräulein, dieser …«
»Edna Goldmann«, half ihm Altendorfer.
»Und selbst wenn wir ein paar Indizien zusammenkriegen … in eineinhalb Jahren haben wir die Fristenlösung von diesem Kreisky, da kriegen’S heute wahrscheinlich von keinem Staatsanwalt mehr eine Anklage.«
Haselbacher zündete sich eine Johnny ohne Filter an, blies den Rauch aus und dachte: ein roter Bundeskanzler. Und obendrein ein Jud.
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Dragan Zaradicz saß mit Milana Potočnić im Spezialitätenrestaurant Trabicz in der Seeböckgasse. Sie hatten zusammen Mittag gegessen und stießen gerade mit zwei Rakija an, die Jovanna Tur besplatno 121 spendiert und die Zoran serviert hatte.
Milana hatte sich etwas zurechtgemacht und Dragan entdeckte in Spuren wieder das Anmutige ihres Gesichtes, in das er damals so lang hatte blicken können. Er beugte sich vor und umschloss mit einer Hand ihre beiden. »Du machst deine Sache gut, Milana, der Botschafter ist sehr zufrieden mit dir.«
Sie lächelte. Zum ersten Mal seit Jahren unverkrampft. »Ich danke dir, Dragan.«
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In der Wurlitzergasse 19, im dritten Stock, führte Frau Summer ihren seit dem Schlaganfall gehbehinderten Mann auf das Klo am Gang, das jetzt ihnen allein gehörte. Herr Summer, in seine Frau eingehakt, kläffte durch seine vom Schlaganfall bedingte, halbseitige Gesichtslähmung mehr als er sprach und deutete mit seinem Kopf auf die nun schon seit Monaten leerstehende Nachbarwohnung.
»Eine heilige Ruh’, seit sie diese katilinarische Existenz erschossen haben«, wobei er die Vokabel »katilinarisch« nur mit Mühe hervorbrachte.
»Ja«, antwortete Frau Summer, »ein Segen. Und setz’ dich hin beim Lullen, sonst muss ich wieder zusammenwischen.«
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Im Genossenschaftsbau in der Reizenpfenniggasse nahm Jakob »Jack« Goldmann ein Schreiben der Hausverwaltung und eine Ansichtskarte aus seinem Postfach, ging in den zweiten Stock und setzte sich an seinen »Schreibtisch«, wie er die eine Hälfte des Wohnzimmertisches nannte. Die andere hieß »Esstisch«.
Die Ansichtskarte zeigte, in einstmals üppigen, mittlerweile blassen Farben, irgendeinen hinduistischen Gott.
Auf der Rückseite stand: »Lieber Jacky, kisses from India«, und in einer anderen Handschrift: »Ein Gedeck kostet hier umgerechnet 2 Schilling. Suskia und Theo.«
Dann öffnete er den Schrieb der Hausverwaltung, überflog ihn – irgendetwas über Betriebskosten – drehte den Brief um und kritzelte auf die Rückseite:
»Schau, da liegt a Leich’ im Rinnsal …«
Er wollte das Blatt Papier schon zerknüllen, hielt dann jedoch inne und baute sich erst einmal einen Spliff.
Er blickte dem Rauch nach und dachte: Alles ist anders geworden und trotzdem ist es wie immer.
Als der Spliff geraucht war, schaute er noch einmal auf die Zeile, die er gerade geschrieben hatte.
Lyrische Prosa war das zwar keine, aber …
120 Serbisch: Heilige Jungfrau
121 Serbisch: auf’s Haus, gratis