LI. Ein großer Herrenhof

Der alte Herr und der junge Herr

Vor einigen Jahren lebte in einem Kirchspiel in Westgotland eine prächtige, liebe kleine Volksschullehrerin. Sie unterrichtete nicht nur vorzüglich, sondern sie verstand es auch, Ordnung zu halten, und die Kinder hatten sie so lieb, dass sie niemals zur Schule kamen, ohne ihre Aufgaben gelernt zu haben. Auch die Eltern schätzten sie sehr. Es gab nur einen einzigen Menschen, der nicht wusste, was sie wert war, und das war sie selbst. Sie glaubte, dass alle anderen klüger und tüchtiger seien als sie, und sie grämte sich darüber, dass sie nicht so werden konnte wie sie.

Als die Lehrerin einige Jahre an der Schule angestellt gewesen war, machte ihr die Schulbehörde den Vorschlag, einen Kurs in dem Nääser Seminar für Handfertigkeit durchzumachen, damit sie künftig die Kinder nicht nur lehren könne mit dem Kopf, sondern auch mit den Händen zu arbeiten. Niemand kann sich vorstellen, wie überrascht sie war, als sie diese Aufforderung erhielt. Nääs1 lag nicht weit von ihrer Schule entfernt. Sie war gar manches Mal an dem schönen, stattlichen Gebäude vorübergegangen, und sie hatte über den Handfertigkeitskurs, der auf dem alten Herrenhof abgehalten wurde, viele Lobreden gehört. Dort kamen Lehrer und Lehrerinnen aus dem ganzen Lande zusammen, um ihre Hände gebrauchen zu lernen, ja sogar aus dem Auslande kamen Leute dorthin. Sie wusste im Voraus, wie entsetzlich verzagt sie sich unter so vielen ausgezeichneten Menschen fühlen würde. Das stand ihr so schwer bevor, dass sie nicht wusste, wie sie es ertragen sollte.

Sie wagte jedoch nicht, der Schulbehörde eine abschlägige Antwort zu geben, sondern reichte ihr Gesuch ein. Sie wurde als Schülerin angenommen, und an einem schönen Juniabend, an dem Tage bevor der Sommerkurs beginnen sollte, packte sie ihre Habseligkeiten in eine kleine Reisetasche und wanderte nach Nääs. Und wie oft sie auch unterwegs stehen blieb und sich weit weg wünschte, sie gelangte doch schließlich an ihr Ziel.

Auf Nääs war Leben und Bewegung. Allen Teilnehmern des Kurses, die, jeder aus seiner Richtung, eintrafen, mussten in den Häusern und Villen, die zu dem großen Besitz gehörten, Zimmer angewiesen werden. Allen war ein wenig wunderlich zumute in den ungewohnten Umgebungen, aber die kleine Lehrerin glaubte wie gewöhnlich, dass nur sie allein sich töricht und ungeschickt benehme. Sie hatte sich in eine solche Angst hineingeredet, dass sie weder hören noch sehen konnte. Es war auch sehr schwer, was sie alles durchmachen musste. Man wies ihr ein Zimmer in einer schönen Villa an, in dem sie mit ein paar jungen Mädchen wohnen sollte, die sie gar nicht kannte, und sie musste mit siebzig fremden Menschen zusammen essen. An ihrer einen Seite saß ein kleiner Herr, der ganz gelb im Gesicht war, und von dem es hieß, dass er aus Japan sei, und an der anderen Seite hatte sie einen Schullehrer aus Jockmock hoch oben in Lappland. Und gleich von Anfang an herrschten Lachen und Fröhlichkeit an den langen Tischen! Alle schwatzten und machten Bekanntschaften. Sie war die einzige, die nicht den Mut hatte, etwas zu sagen.

Am nächsten Morgen ging es an die Arbeit. Der Tag begann hier wie in allen Schulen mit Morgengebet und Gesang; dann sprach der Vorsteher des Seminars einige Worte über Handfertigkeit und gab einige kurze Verhaltungsmaßregeln, und dann, ohne dass sie eigentlich wusste, wie es zugegangen war, stand sie an einer Hobelbank, ein Stück Holz in der einen und ein Messer in der anderen Hand, während ein alter Handfertigkeitslehrer ihr zeigte, wie sie einen Blumenstab schnitzen müsse. Eine solche Arbeit hatte sie noch nie versucht. Sie kannte die Handgriffe nicht, und war obendrein in diesem Augenblick so verwirrt, dass sie nichts verstehen konnte. Als der Lehrer weitergegangen war, legte sie das Messer und das Holz aus die Hobelbank nieder und starrte in die Luft hinein.

Ringsumher im Saal standen Hobelbänke, und an allen sah sie Menschen, die mit frischem Mut an die Arbeit gingen. Ein paar von ihnen, die schon ein wenig bewandert in der Kunst waren, kamen zu ihr, um ihr zu helfen. Aber sie war nicht fähig, ihrer Anleitung zu folgen. Sie stand da und dachte nur daran, dass nun alle die vielen Leute sähen, wie ungeschickt sie sich benahm, und das machte sie so unglücklich, dass sie wie gelähmt war.

Dann kam die Frühstückszeit, und nach dem Frühstück wurde wieder gearbeitet. Zuerst hielt der Vorsteher einen Vortrag, dann folgte eine Turnstunde, und darauf begann der Handfertigkeitsunterricht von neuem. Hierauf wurde Mittagspause gemacht. Das Mittagsessen mit nachfolgendem Kaffee nahm man in dem großen, hellen Versammlungssaal ein, und der Nachmittag war dann wieder dem Handfertigkeitsunterricht gewidmet. Singübungen und Spiele im Freien machten den Beschluss des Tages. Die Lehrerin war den ganzen, langen Tag in Bewegung, war mit den anderen zusammen, fühlte sich aber immer noch ebenso unglücklich.

Wenn sie später an die ersten in Nääs verlebten Tage zurückdachte, war es ihr, als sei sie in einem Nebel umhergegangen. Alles war dunkel und verschleiert gewesen, und sie hatte nichts von alledem, was um sie her vorging, gesehen oder verstanden. Dieser Zustand währte zwei Tage, aber am Abend des zweiten Tages fing es plötzlich an, hell um sie zu werden.

Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, begann ein alter Volksschullehrer, der schon mehrmals auf Nääs gewesen war, einigen neuen Schülern zu erzählen, wie das Handfertigkeitsseminar entstanden war, und da sie ganz in der Nähe saß, hatte sie notgedrungen zuhören müssen.

Er erzählte, Nääs sei ein sehr altes Gut, aber es sei nie etwas anderes gewesen als ein schöner, großer Herrenhof, wie so viele andere, bis der alte Herr, dem es jetzt gehörte, dort ansässig geworden war. Er war ein reicher Mann, und die ersten Jahre, die er dort wohnte, hatte er dazu verwendet, das Schloss und den Park zu verschönern und die Wohnungen seiner Untergebenen zu verbessern.

Aber dann starb seine Frau, und da er keine Kinder hatte, fühlte er sich gar manches Mal einsam auf dem großen Gut. So überredete er denn einen jungen Neffen, den er sehr lieb hatte, zu ihm zu kommen und bei ihm auf Nääs zu wohnen.

Ursprünglich war man von der Voraussetzung ausgegangen, dass der junge Herr sich an der Bewirtschaftung des Gutes beteiligen solle, als er aber aus diesem Anlass bei den Leuten auf dem Gute umherging und sah, wie sie in den ärmlichen Hütten lebten, kamen ihm ganz wunderliche Gedanken. Er beobachtete, dass in den meisten Häusern weder die Männer noch die Kinder, ja selbst nicht einmal die Frauen, sich während der langen Winterabende mit Handarbeit beschäftigten. In früheren Zeiten waren die Leute gezwungen gewesen, die Hände fleißig zu rühren, um Kleider und Hausgerät und Werkzeuge anzufertigen; aber jetzt konnte man ja alle diese schönen Dinge kaufen, und deswegen hatten sie diese Arbeiten eingestellt. Und dem jungen Herrn wollte es nun scheinen, dass in den Häusern, wo man die Arbeiten im Hause eingestellt hatte, auch die Gemütlichkeit und der Wohlstand ihrer Wege gegangen waren.

Ausnahmsweise konnte er wohl einmal in ein Haus kommen, wo der Mann Tische und Stühle zusammenzimmerte, und die Frau webte, und es war über jeden Zweifel erhaben, dass die Leute dort nicht nur wohlhabender, sondern auch glücklicher waren als die in den anderen Häusern.

Er sprach mit seinem Oheim hierüber, und der alte Herr sah ein, dass es ein großes Glück sein würde, wenn die Leute sich in müßigen Stunden mit Handarbeit beschäftigen wollten. Aber um soweit zu gelangen, war es offenbar notwendig, dass sie von Kindheit an ihre Hände gebrauchen lernten. Die beiden Herren kamen zu der Erkenntnis, dass sie zu der Förderung ihrer Sache nichts Besseres tun könnten, als eine Handfertigkeitsschule für Kinder zu errichten. Sie sollten dort lernen, einfache Gegenstände aus Holz anzufertigen, denn diese Art Arbeit würde, nach Ansicht der beiden Herren, allen am leichtesten werden. Sie waren überzeugt, dass, wer einmal gelernt hatte, das Messer gut zu gebrauchen, auch lernen würde, den großen Schmiedehammer und den kleinen Schusterhammer zu führen. Wer aber nicht von Jugend auf seine Hand an Arbeit gewöhnt hatte, würde vielleicht niemals auf den Gedanken kommen, dass er in der Hand ein Werkzeug besaß, das mehr wert ist als alle anderen.

So hatten sie denn auf Nääs angefangen, Kinder in Handfertigkeit zu unterrichten, und sie sahen bald, dass es nützlich und gut für die Kleinen war, und wünschten nun, dass alle Kinder in Schweden einen solchen Unterricht erhalten möchten.

Aber wie ließ sich das machen? Es wuchsen ja Hunderttausende von Kindern in Schweden auf. Man konnte sie doch nicht alle nach Nääs kommen lassen, um ihnen Handfertigkeitsunterricht zu geben. Das war ganz unmöglich.

Da kam der junge Herr mit einem neuen Vorschlag. Wie, wenn man, statt die Kinder zu unterrichten, ein Handfertigkeitsseminar für ihre Lehrer einrichtete? Wie, wenn die Lehrer und Lehrerinnen aus dem ganzen Lande nach Nääs kämen, dort Handfertigkeit erlernten und dann nachher mit allen den Kindern, die sie in ihren Schulen hatten, Handfertigkeit trieben? Aus die Weise würde es vielleicht gelingen, dass die Hände aller Kinder in Schweden ebenso geübt würden wie ihr Gehirn.

Als dieser Gedanke erst einmal in ihnen wachgerufen war, konnten die beiden Herren ihn gar nicht wieder loswerden, sondern suchten ihn zur Ausführung zu bringen.

Sie halfen einander getreulich. Der alte Herr ließ Arbeitssäle, ein Versammlungshaus und einen Turnsaal bauen und sorgte für die Wohnung und Verpflegung aller, die die Schule besuchten. Der junge Herr wurde Vorsteher des Seminars. Er machte den Plan für den Unterricht, leitete die Arbeit und hielt Vorträge. Und nicht genug damit. Er lebte beständig mit den Schülern zusammen, machte sich mit den Verhältnissen jedes einzelnen bekannt und wurde ihnen ein aufrichtiger und treuer Freund.

Und wie viele Schüler strömten nicht gleich von Anfang an herbei! In jedem Jahr wurden vier Kurse abgehalten, und zu allen meldeten sich mehr Schüler, als aufgenommen werden konnten. Auch im Ausland wurde die Schule bald bekannt, und Lehrer und Lehrerinnen aus aller Herren Länder kamen nach Nääs, um zu lernen, wie sie es anfangen mussten, um die Hand zu erziehen. Kein Ort in Schweden war so bekannt im Auslande wie Nääs, und kein Schwede hatte ringsumher auf der ganzen Welt so viele Freunde wie der Vorsteher des Nääser Handfertigkeitsseminars.

Die kleine, schüchterne Lehrerin saß da und hörte dies alles an, und je mehr sie hörte, umso lichter ward es um sie her. Sie hatte bisher gar nicht gewusst, warum die Handfertigkeitsschule auf Nääs war, sie hatte nicht gewusst, dass sie von zwei Männern ins Leben gerufen war, die ihrem Lande nützen wollten, sie hatte keine Ahnung davon gehabt, dass diese alles opferten, was sie opfern konnten, um ihren Mitmenschen zu helfen, besser und glücklicher zu werden.

Wenn sie nun an die große Güte und Nächstenliebe dachte, die dem allen zugrunde lag, ergriff sie das so sehr, dass sie nahe daran war, zu weinen. So etwas hatte sie noch nie erlebt.

Am nächsten Tage ging sie in einer ganz anderen Gemütsverfassung an die Arbeit. Wenn das alles aus Güte gegeben wurde, musste sie es ja auf ganz andere Weise hinnehmen als bisher. Sie vergaß, an sich selbst zu denken und ging ganz auf in ihrer Arbeit und dem großen Ziel, das dadurch erreicht werden sollte. Und von dem Augenblick an machte sie ihre Sache ausgezeichnet, denn alles Lernen wurde ihr leicht, sobald ihre Schüchternheit sie nicht lähmte.

Jetzt, wo ihr die Schuppen von den Augen gefallen waren, sah sie überall die große, wunderbare Güte. Sie sah, wie sorgfältig alles für die Besucher des Seminars geordnet war. Die Teilnehmer des Kurses erhielten weit mehr als nur den Unterricht in Handfertigkeit. Der Vorsteher hielt ihnen Vorträge über Erziehung, sie turnten miteinander, gründeten einen Gesangverein und kamen fast jeden Abend zu Vorlesungen und musikalischen Aufführungen zusammen. Und außerdem waren da Bücher, Badehäuser und Klaviere, alles zu ihrer Verfügung. Der Zweck des Ganzen war, dass sich alle glücklich und wohl befinden und fröhlich sein sollten.

Allmählich wurde es ihr klar, wie unschätzbar es war, die schönen Tage des Sommers auf einem großen schwedischen Herrenhof verbringen zu dürfen. Das Schloss, in dem der alte Herr wohnte, lag auf einem Hügel, der fast von allen Seiten von einem See umgeben und nur durch eine schöne steinerne Brücke mit dem Lande verbunden war. Sie hatte nie etwas so Schönes gesehen wie die Blumengruppen auf der Terrasse vor dem Schloss, wie die alten Eichen im Park, wie den Weg am See entlang, wo die Bäume über das Wasser hinabhingen, oder wie den Aussichtspavillon auf der Felsenklippe über dem See. Die Schulgebäude lagen dem Schloss gerade gegenüber auf grünen schattigen Wiesen, aber es stand ihr frei, im Schlosspark zu lustwandeln, sooft sie Zeit und Lust hatte. Es war ihr, als habe sie nie gewusst, wie schön der Sommer sei, bis sie ihn an einem so herrlichen Ort verbringen durfte.

Nicht dass eine große Veränderung mit ihr vorgegangen wäre. Mutig und selbstbewusst wurde sie nicht, aber sie fühlte sich froh und glücklich. Sie wurde förmlich durchwärmt von all dieser Güte. Sie konnte sich ja nicht unglücklich fühlen an einem Ort, wo alle es gut mit ihr meinten und ihr zu helfen bemüht waren. Als der Kurs beendet war und die Schüler Nääs verlassen sollten, war sie ganz neidisch auf alle, die dem alten und dem jungen Herrn richtig zu danken und mit schönen Worten das auszudrücken vermochten, was sie fühlten. Soweit würde sie es nie bringen.

Sie kehrte heim und nahm die Arbeit an der Schule wieder auf und tat es mit ebenso viel Freude wie bisher. Sie wohnte nicht weiter von Nääs entfernt, als dass sie da hinübergehen konnte, wenn sie einen Nachmittag freihatte, und das tat sie in der ersten Zeit auch ziemlich oft. Aber da waren immer neue Kurse, neue Gesichter, ihre Schüchternheit stellte sich wieder ein, und sie wurde ein immer seltenerer Gast in der Handfertigkeitsschule. Aber die Zeit, die sie selbst als Schülerin auf Nääs zugebracht, lebte in ihrer Erinnerung immer als das beste, was sie erlebt hatte.

An einem Frühlingstage hörte sie, dass der alte Herr auf Nääs gestorben sei. Da dachte sie an den schönen Sommer, den sie auf seinem Gut hatte verweilen dürfen, und es betrübte sie, dass sie sich nie so recht bei ihm bedankt hatte. Er hatte sicher Danksagungen genug von hoch und niedrig erhalten, aber sie würde sich glücklicher gefühlt haben, wenn sie ihm mit ein paar Worten erzählt hätte, wie viel er für sie getan hatte.

Auf Nääs wurde der Unterricht auf dieselbe Weise fortgesetzt, wie vor dem Tode des alten Herrn. Er hatte nämlich der Schule das ganze schöne Gut geschenkt und sein Neffe blieb auch fernerhin Vorsteher und leitete das ganze Unternehmen. Jedes Mal, wenn die Lehrerin nach Nääs kam, war da etwas Neues zu sehen. Jetzt war da nicht nur der Handfertigkeitskurs, sondern der Vorsteher wollte auch gern die alten Gebräuche und die alten Volksvergnügungen wieder ins Leben rufen, und er errichtete daher einen Kurs für Singspiele und viele andere Arten von Spielen. In einer Hinsicht aber blieb alles beim alten: so wie früher durchwärmte auch jetzt die Güte alle Menschen, sie fühlten, wie alles so geordnet und eingerichtet war, dass sie sich freuen und nicht nur Kenntnisse einheimsen, sondern auch Arbeitsfreudigkeit mit heimnehmen sollten, wenn sie zu den kleinen Schulkindern ringsumher im Lande zurückkehrten.

Nur wenige Jahre nach dem Tode des alten Herrn hörte die Vorsteherin eines Sonntags, als sie die Kirche besuchte, dass der Vorsteher auf Nääs ertrankt sei. Sie wusste, dass er in der letzten Zeit wiederholt an Herzschwäche gelitten hatte, aber sie hatte nicht geglaubt, dass er in Lebensgefahr schwebe. Und das, hieß es, sei diesmal der Fall.

Von dem Augenblick an, als sie dies hörte, konnte sie an nichts anderes denken, als dass nun vielleicht auch der Vorsteher so wie der alte Herr sterben würde, ehe es ihr möglich gewesen war, ihm zu danken. Und sie überlegte hin und her, was sie nur tun solle, damit ihr Dank zu ihm gelangen könne.

Am Sonntagnachmittag ging die Lehrerin zu allen Nachbarn und fragte, ob die Kinder sie nach Nääs begleiten dürften. Sie habe gehört, dass der Vorsteher krank sei, und sie glaube, es werde ihn freuen, wenn die Kinder ihm ein paar Lieder sängen. Es sei ja freilich schon ein wenig spät am Tage, aber der Mondschein sei an diesen Abende so hell und klar, dass man wohl nach Nääs hinauswandern könne. Die Lehrerin hatte ein Gefühl, dass sie noch an diesem Abend dahinaus müsse. Sie fürchtete, dass es am nächsten Tage zu spät sein könne.

Die Sage von Westgotland

Sonntag, 9. Oktober

Die Wildgänse hatten Bohuslän verlassen und standen in dem westlichen Teil von Westgotland in einem Teich und schliefen. Der kleine Nils Holgersson war, um im Trockenen zu sein, auf den Rand eines Grabens hinaufgekrochen, der quer über die sumpfige Wiese lief. Er war gerade im Begriff, sich einen Platz zum Schlafen zu suchen, als er eine kleine Schar Menschen die Landstraße daherkommen sah. Es war eine junge Lehrerin mit einem Dutzend Kinder um sich. Sie kamen in einem dichten Haufen gegangen, die Lehrerin in der Mitte und die Kinder ringsum sie her. Sie plauderten so munter und vertraulich, dass der Junge Lust bekam, eine Strecke Weges mit ihnen zu laufen und zu hören, was sie miteinander sprachen.

Die Sache machte keine Schwierigkeiten, denn wenn er sich am Rande des Weges im Schatten hielt, war es fast unmöglich, ihn zu sehen. Und wo fünfzehn Menschen ans einem Wege entlang gingen, da war ein solcher Lärm von Fußtritten, dass niemand den Kies unter seinen kleinen Holzschuhen knirschen hören konnte.

Um die Kinder auf der Wanderung in guter Laune zu halten, hatte die Lehrerin ihnen alte Sagen erzählt. Sie war gerade mit einer Sage fertig, als der Junge sich der Schar anschloss, aber die Kinder baten sie sofort, noch eine zu erzählen. »Habt ihr die Sage von dem alten Riesen in Westgotland gehört, der nach einer Insel hoch oben im nördlichen Eismeer zog?« fragte die Lehrerin. Nein, die hatten die Kinder nicht gehört, und so begann denn die Lehrerin:

Es geschah einmal, dass ein Schiff in einer dunklen und stürmischen Nacht hoch oben im nördlichen Eismeer an einer kleinen Schäre scheiterte. Das Schiff zerschellte an den Klippen, und von der ganzen Besatzung retteten sich nur zwei Mann an Land. Dort standen sie auf der Schäre, klatschnass und von Kälte erstarrt, und sie freuten sich natürlich sehr, als sie ein großes Feuer am Ufer flammen sahen. Sie eilten auf das Feuer zu, ohne an eine Gefahr zu denken. Erst als sie ganz dicht herangekommen waren, sahen sie, dass dort am Feuer ein schrecklich alter Riese saß, so groß und grobknochig, dass sie nicht darüber in Zweifel sein konnten, dass sie hier einem Mann aus dem Riesengeschlecht gegenüberstanden.

Sie blieben stehen und überlegten, aber der Nordwind fuhr mit fürchterlicher Kälte heulend über die Schäre hin. Sie würden bald erfroren sein, wenn sie sich nicht an dem Feuer des Riesen erwärmen durften, und so beschlossen sie denn, sich zu ihm hin zu wagen.

»Guten Abend, Vater,« sagte der Ältere von ihnen, »Wollt Ihr zwei schiffbrüchigen Seeleuten erlauben, sich an Eurem Feuer zu wärmen?« Der Riese fuhr aus seinen Gedanken auf, und richtete sich halbwegs auf und zog sein Schwert aus der Scheide. »Was für Kerle seid ihr denn?« fragte er, denn er war alt und sah schlecht und wusste nicht, was für Wesen es waren, die ihn angeredet hatten.

»Wir sind beide aus Westgotland, wenn Ihr das wissen wollt,« antwortete der Ältere von den beiden Seeleuten. »Unser Schiff ist hier draußen im Meer untergegangen, und wir haben das Ufer verfroren und halb nackt erreicht.«

»Ich pflege sonst keine Menschen hier auf meiner Schäre zu dulden, aber wenn ihr aus Westgotland seid, so ist das eine andere Sache,« sagte der Riese und steckte sein Schwert wieder in die Scheide. »Dann dürft ihr euch hier niedersetzen und erwärmen, denn ich bin selbst aus Westgotland und habe viele Jahre in dem großen Hünengrab bei Skalunda gewohnt.«

Die Seeleute setzten sich nun auf ein paar Steine. Sie wagten nicht, mit dem Riesen zu sprechen, sondern saßen still da und starrten ihn an. Und je länger sie ihn betrachteten, umso größer, schien es ihnen, wurde er, und umso kleiner und schwächer wurden sie selbst.

»Meine Augen sind nicht mehr so gut, wie sie gewesen sind,« sagte der Riese, »Kaum, dass ich euch erkennen kann. Sonst könnte es mich wohl belustigen, zu sehen, wie ein Westgote heutzutage aussieht. Einer von euch reiche mir aber wenigstens die Hand, damit ich fühlen kann, ob da noch warmes Blut in Schweden ist.«

Die Männer sahen erst die Fäuste des Riesen und dann ihre eigenen Hände an. Keiner von beiden hatte Lust, seinen Händedruck kennenzulernen. Dann aber erblickten sie eine eiserne Stange, mit der der Riese das Feuer zu schüren pflegte; sie war im Feuer liegen geblieben und an dem einen Ende glühend rot. Mit vereinten Kräften hoben sie die Stange auf und hielten sie dem Riesen hin. Er umfasste die Stange und presste sie so, dass das Eisen ihm zwischen den Fingern herablief. »Ja, ich kann merken, dass es noch warmes Blut in Schweden gibt,« sagte er ganz vergnügt zu den verblüfften Seeleuten.

Dann wurde es wieder still um das Feuer, aber diese Begegnung mit seinen Landsleuten führte die Gedanken des Riesen nach Westgotland zurück. Eine Erinnerung nach der anderen tauchte in ihm auf.

»Ich möchte wohl wissen, was aus dem Skalundaer Hünengrab geworden ist?« fragte er die Seeleute.

Keiner von den Männern wusste etwas von dem Hünengrab, nach dem der Riese fragte. »Es wird wohl sehr eingefallen sein,« meinte der eine zögernd. Er hatte ein Gefühl, als könne man einem solchen Frager keine Antwort schuldig bleiben. – »Freilich, freilich, das dachte ich mir wohl,« sagte der Riese und nickte zustimmend. »Es war ja nicht anders zu erwarten, denn den Hügel trugen meine Frau und meine Tochter einmal in einer frühen Morgenstunde in ihren Schürzen zusammen.«

Wieder saß er da und grübelte und suchte Erinnerungen wachzurufen. Er hatte ja nicht gerade kürzlich in Westgotland gewohnt, und es währte eine ganze Weile, bis er tief genug in seine Erinnerungen eindringen konnte.

»Aber Kinnekulle und Billingen und die anderen kleinen Berge, die über die große Ebene zerstreut lagen, die stehen doch wohl noch?« fragte der Riese, »Ja, die stehen noch,« antwortete der Westgote, und um dem Riesen zu zeigen, dass er merkte, er habe es mit einem tüchtigen Mann zu tun, fügte er hinzu: »Ihr habt vielleicht diese Berge aufbauen helfen?«

»Ach, das gerade nicht,« erwiderte der Riese, »aber ich kann dir erzählen, dass du es meinem Vater zu verdanken hast, wenn die Berge da stehen. Als ich noch ein kleiner Knirps war, gab es in Westgotland keine große Ebene, sondern da, wo sich jetzt die Ebene ausbreitet, lag ein Bergland, das sich vom Wetternsee bis zum Götaelf erstreckte. Aber dann hatten einige Elfe sich vorgenommen, das Gebirge zu zerbröckeln und es an den Wenernsee hinabzutragen. Es waren keine richtigen Granitberge, sie bestanden hauptsächlich aus Kalkstein und Schiefer, daher wurde es den Elfen leicht, damit fertig zu werden. Ich entsinne mich noch, wie sie ihre Flussbetten und Täler breiter und breiter machten, und schließlich erweiterten sie sie zu Ebenen. Mein Vater und ich gingen zuweilen aus und sahen der Arbeit der Elfe zu, und der Vater war gar nicht so recht damit einverstanden, dass sie das ganze Gebirge zerstörten. ›Sie könnten uns doch wenigstens ein paar Ruhestätten übriglassen!‹ sagte er, und im selben Augenblick zog er seine steinernen Schuhe aus und stellte den einen der Länge nach gen Westen und den anderen der Länge nach gen Osten auf. Seinen steinernen Hut legte er auf eine Bergkuppe am Wenernsee, meinen steinernen Hut schleuderte er weiter nach Süden zu, und seine steinerne Keule warf er in derselben Richtung von sich. Was wir sonst an gutem, hartem Stein bei uns hatten, legte er an verschiedenen Stellen nieder. Und dann ereignete es sich, dass die Flüsse fast das ganze Gebirge wegspülten. Aber die Stellen, die mein Vater mit seinen steinernen Sachen bedeckt hatte, wagten sie nicht anzurühren; die blieben stehen. Da wo mein Vater seinen einen Schuh hingesetzt hatte, blieb der Halleberg unter dem Absatz und der Hunneberg unter der Sohle stehen. Unter dem anderen Schuh war Billingen versteckt. Des Vaters Hut hatte Kinnekulle bewehrt, unter meiner Mütze lag der Mösseberg und unter der Keule der Alleberg. Alle die anderen kleinen Berge auf der Westgotaebene wurden Vater zuliebe ebenfalls verschont, und ich möchte wohl wissen, ob es jetzt in Westgotland noch viele Männer gibt, vor denen die Leute so großen Respekt haben, wie vor ihm.«

»Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten,« sagte der Seemann. »Aber ich will doch sagen, wenn Elfe und Riesen zu ihrer Zeit so mächtig gewesen sind, so bekomme ich gleichsam größere Achtung vor den Menschen, denn jetzt haben sie sich doch zu Herren über Berge und Ebenen gemacht.«

Der Riese rümpfte die Nase ein wenig. Er schien nicht gerade sehr zufrieden mit der Antwort zu sein, aber er nahm die Unterhaltung bald wieder auf. »Wie steht es denn jetzt mit dem Trolhätta?« fragte er.– »Der braust und donnert, wie er es immer getan hat,« sagte der Seemann. »Ihr seid vielleicht mit dabei gewesen, als der große Wasserfall in Gang gesetzt wurde, so wie Ihr geholfen habt, die Westgotaberge zu erhalten?« – »Ach, das gerade nicht,« erwiderte der Riese. »Aber ich erinnere mich noch, dass meine Brüder und ich, als wir kleine Knirpse waren, ihn als Rutschbahn zu benutzen pflegten. Wir stellten uns auf einen Balken, und dann ging es den Gullöfall, den Toppöfall und die anderen drei Fälle hinab. Wir kamen so rasch dahergesaust, dass wir kurz davor waren, ganz in das Meer hineinzurutschen. Ich möchte wohl wissen, ob es heutzutage in Westgotland noch irgendjemand gibt, der sich auf diese Weise belustigt.« – »Das ist nicht gut zu wissen,« sagte der Seemann. »Aber ich finde fast, es ist eine noch weit wunderbarere Leistung, dass wir Menschen imstande gewesen sind, einen Kanal an den Wasserfällen entlang zu bauen, sodass wir nicht nur den Trolhätta hinabfahren können, so wie Ihr es in Euren jungen Jahren tatet, sondern dass wir ihn auch in Booten und auf Dampfschiffen hinauffahren.«

»Es ist merkwürdig, das zu hören,« entgegnete der Riese, und es schien, als habe die Antwort ihn ein wenig verstimmt. »Kannst du mir nun auch sagen, wie es mit der Gegend am Bejörsee steht, die sie Hungerland nannten?« – »Ja, die hat uns viel Kummer gemacht,« sagte der Westgote. »Es ist vielleicht Euer Verdienst, dass sie so mager und trostlos daliegt?« – Ach, das gerade nicht,« antwortete der Riese. »Zu meiner Zeit wuchs an der Stelle ein prächtiger Wald. Aber da geschah es, dass eine meiner Töchter Hochzeit machte und wir viel Holz nötig hatten, um den Backofen zu heizen. Da nahm ich ein langes Tau, schlang es um den ganzen Wald im Hungerland, riss ihn mit einem einzigen Ruck aus und trug ihn nach Hause. Ich möchte wohl wissen, ob es heutzutage jemand gibt, der einen solchen Wald auf einmal ausreißen kann?« – »Die Frage wage ich nicht zu beantworten,« sagte der Westgote. »Eins aber weiß ich, in meiner Jugend lag das Hungerland kahl und unfruchtbar da, und jetzt haben die Bewohner die ganze Fläche mit Wald bepflanzt. Das nenne ich auch eine männliche Tat!«

»Aber da unten in dem südlichen Westgotland, da kann wohl kein Mensch sein Auskommen finden?« meinte der Riese. – »Habt Ihr auch geholfen, das Land einzurichten?« fragte der Westgote. – »Nicht gerade das,« sagte der Riese, »aber ich entsinne mich, dass, als wir Riesenkinder dort unsere Herden hüteten, wir uns viele steinerne Häuser bauten und durch alle die Steine, die wir umherwarfen, den Boden so unbestellbar machten, dass es mich deucht, es müsse schwer sein, die Erde dort in der Gegend zu bearbeiten.«

»Das ist freilich wahr, es lohnt sich nicht sonderlich, dort Ackerbau zu betreiben,« sagte der Westgote, »aber die Bevölkerung hat sich auf die Weberei und die Herstellung von Holzwaren gelegt, und ich sollte meinen, es zeugt von größerer Tüchtigkeit, sein Auskommen in einer so ärmlichen Gegend zu finden, als bei der Zerstörung des Bodens behilflich zu sein.«

»Jetzt habe ich nur noch eine Frage an euch zu richten,« sagte der Riese. »Wie habt ihr euch unten an der Küste eingerichtet, da, wo der Götaelf sich ins Meer ergießt?« – »Habt Ihr auch da die Hand mit im Spiel gehabt?« fragte der Seemann. – »Das nicht gerade,« erwiderte der Riese. »Aber ich entsinne mich, dass wir oft an den Strand hinabgingen, uns einen Walfisch heranlockten und auf seinem Rücken durch die Fjorde und Schären ritten. Ich möchte wohl wissen, ob ihr jemand kennt, der noch heute so etwas tut?« – »Die Frage will ich unbeantwortet lassen,« antwortete der Seemann. »Aber ich halte es für eine ebenso große Tat, dass wir Menschen unten an der Mündung des Potaelfs eine Stadt gebaut haben, von der Schiffe nach allen Meeren der Welt ausgehen.« Darauf erwiderte der Riese nichts, und der Seemann, der selbst in Gotenborg2 beheimatet war, begann nun, ihm die reiche Handelsstadt mit ihrem großen Hafen, mit ihren Brücken und Kanälen und den langen, schnurgeraden Straßen zu beschreiben; er erzählte, es wohnten dort so viele tüchtige unternehmende Kaufleute und kühne Seeleute, dass es nicht ausgeschlossen sei, dass sie Gotenborg zu der hervorragendsten Stadt des Nordens machen könnten.

Bei jeder neuen Antwort, die der Riese erhielt, wurden die Runzeln auf seiner Stirn tiefer und tiefer. Es war leicht zu sehen, wie missvergnügt er darüber war, dass sich die Menschen zu Herren über die Natur gemacht hatten. »Ich merke, es hat sich vieles in Westgotland verändert,« sagte er, »und ich würde gern einmal wieder dahinunterkommen und dies und jenes in Ordnung bringen.« – Als der Seemann das hörte, erschrak er. Er glaubte nicht, dass der Riese in guter Absicht nach Westgotland kommen würde, aber er wagte natürlich nicht, sich das merken zu lassen. – »Ihr dürft überzeugt sein, dass man Euch mit offenen Armen empfangen würde,« sagte er. »Wir wollen alle Kirchenglocken Euch zu Ehren läuten lassen.« – »Es gibt also noch Kirchenglocken in Westgotland?« fragte der Riese und sah ein wenig bedenklich aus. »Sind denn die großen Klingelwerke in Husaby, Skara und Varnhelm noch nicht in Stücke geläutet?« – »Nein, sie sind noch immer da, und sie haben seit Eurer Zeit viele Schwestern bekommen. Es gibt jetzt keinen Ort in Westgotland, wo man keine Kirchenglocken hört,« – »Ja, dann muss ich wohl lieber bleiben, wo ich bin,« sagte der Riese, »denn die Glocken sind schuld daran, dass ich aus der Heimat wegzog.«

Dann versank er in Gedanken, bald aber wandte er sich wieder an die Seeleute: »Nun könnt ihr euch ganz ruhig am Feuer niederlegen und schlafen,« sagte er. »Morgen früh werde ich dafür sorgen, dass ein Schiff hier vorüberfährt, das euch aufnimmt und in eure Heimat zurückbringt. Aber für die Gastfreundschaft, die ich euch erwiesen habe, fordere ich von euch nur die Gefälligkeit, dass ihr, sobald ihr nach Hause kommt, zu dem besten Mann in ganz Westgotland geht, und ihm diesen Ring gebt. Grüßt ihn von mir und sagt ihm, wenn er den an seinen Finger steckt, wird er noch viel mehr werden, als er jetzt ist.«

Sobald die Seeleute nach Hause gekommen waren, gingen sie zu dem besten Mann in Westgotland und gaben ihm den Ring. Aber der war zu klug, um ihn gleich an den Finger zu stecken. Statt dessen hängte er ihn an eine kleine Eiche, die auf seinem Hofe stand. Und sofort begann die Eiche so gewaltig zu wachsen, dass alle es sehen konnten. Sie trieb neue Schößlinge und sandte Zweige nach allen Richtungen aus, der Stamm wurde dicker und die Rinde immer härter. Der Baum bekam neue Blatter und warf sie wieder ab, setzte Blüten und Früchte an und wurde in kurzer Zeit so groß, dass niemand eine gewaltigere Eiche gesehen hatte. Aber kaum war sie ausgewachsen, als sie ebenso schnell zu verwelken begann. Die Zweige fielen ab, der Stamm wurde hohl, und der Baum verfaulte, sodass bald nichts weiter von ihm übrig war als ein Stumpf.

Da nahm der beste Mann in Westgotland den Ring und warf ihn weit weg. »Dies Geschenk des Riesen hat die Macht, dass es einem Mann große Kräfte verleihen und ihn für kurze Zeit hervorragender machen kann als alle anderen,« sagte er. »Aber es wird ihn veranlassen, sich zu überheben, sodass es mit seiner Tüchtigkeit und seinem Glück bald ein Ende hat. Ich will nichts mit dem Ring zu schaffen haben, und ich will nur hoffen, dass niemand ihn findet, denn er ist uns nicht in guter Absicht gesandt.«

Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass jemand den Ring gefunden hat. Sooft sich ein guter Mensch über seine Kräfte anstrengt, Nutzen zu schaffen, kann man nicht umhin, daran zu denken, ob er nicht etwa den Ring gefunden hat, und ob es nicht dieser Ring ist, der ihn zwingt, so zu wirken, dass er sich vor der Zeit aufreibt und sein Werk unvollendet hinterlassen muss.

Der Gesang

Die kleine Lehrerin war die ganze Zeit, während sie erzählte, schnell die Landstraße entlang gewandert, und als sie ihre Geschichte beendet hatte, sah sie, dass sie fast am Ziel angelangt war. Sie konnte schon die großen Wirtschaftsgebäude sehen, die wie alle anderen Häuser dort auf dem Gut im Schatten schöner Bäume lagen, und noch ehe sie daran vorübergekommen war, sah sie das Schloss hoch oben auf der Terrasse hervorschimmern.

Bis zu diesem Augenblick war sie glücklich über ihren Plan gewesen und hatte keinerlei Bedenken gehabt, aber jetzt, wo sie den Hof sah, begann ihr Mut zu sinken. Den Fall gesetzt, dass ihr Vorhaben ganz verkehrt war! Sie war ja so gering und unbedeutend, da war wohl niemand, der sich um ihre Dankbarkeit kümmerte! Vielleicht würden sie nur über sie lachen, wenn sie in später Abendstunde mit ihren Schulkindern dahergewandert kam. Sie sangen ja auch gar nicht so schön, dass sich jemand etwas daraus machen konnte.

Sie begann langsamer zu gehen, und als sie an die Treppe kam, die zu der Schlossterrasse hinaufführte, bog sie vom Wege ab und ging die Stufen hinauf. Sie wusste sehr wohl, dass das große Schloss seit dem Tode des alten Herrn leer stand. Sie ging nur da hinauf, um in Ruhe zu überlegen, ob sie weitergehen oder umkehren sollte. Als sie auf die Terrasse hinaufkam und das Schloss sah, das schimmernd weiß im Mondschein dalag, als sie die Hecken und die Blumengruppen und die Balustrade mit den Urnen und die stattliche Treppe erblickte, wurde sie immer kleinmütiger. Es erschien ihr alles so prachtvoll und vornehm, dass sie einsah, hier hatte sie nichts zu tun. »Komm mir nicht zu nahe!« schien ihr das feine, weiße Schloss zu sagen, »Du wirst dir doch nicht einbilden, dass du und deine Schulkinder dem, der gewohnt ist, in einem solchen Schloss zu wohnen, Freude zu bereiten vermögen?« Um diese Unschlüssigkeit, die sie mehr und mehr beschlich, in die Flucht zu jagen, erzählte die Lehrerin nun ihren Schulkindern alles von dem alten und dem jungen Herrn, so wie sie es gehört hatte, als sie Schülerin auf Nääs gewesen war. Und das machte ihr ein wenig mehr Mut. Es war ja doch wirklich wahr, dass das Schloss und das ganze Gut dem Handfertigkeitsseminar geschenkt worden war. Es war geschenkt worden, damit Lehrer und Lehrerinnen eine glückliche Zeit aus einem schönen Herrenhof verleben und danach ihren Schulkindern Kenntnisse und Freude mit heimbringen sollten. Aber diejenigen, die einer Schule ein solches Geschenk gemacht, hatten doch dadurch bewiesen, dass sie die Schullehrer zu schätzen wussten. Sie hatten hier offen bekannt, dass sie die Erziehung der schwedischen Kinder für wichtiger hielten als alles andere. Und hier durfte sie, die junge Lehrerin, sich am allerwenigsten mutlos und verzagt fühlen.

Diese Gedanken trösteten sie ein wenig, und sie beschloss, ihren Plan nun doch auszuführen. Und um ihren Mut zu stärken, ging sie in den Park hinab, der den Abhang zwischen dem Schlosshügel und dem See bedeckte. Als sie unter den schönen Bäumen dahinschritt, die so finster und geheimnisvoll im Mondschein dastanden, erwachten viele frohe Erinnerungen in ihr. Sie erzählte den Kindern, wie es zu ihrer Zeit auf Nääs gewesen war, und wie glücklich sie sich als Schülerin hier gefühlt hatte, wo sie jeden Tag in dem schönen Park lustwandeln durfte. Sie erzählte von Festen und von Spiel und Arbeit, vor allem aber erzählte sie von der großen Güte, die ihr und so vielen anderen diesen stolzen Herrenhof erschlossen hatte. Auf diese Weise hielt sie ihren Mut aufrecht, und sie gelangte durch den Park und über die alte steinerne Brücke und erreichte die Wiese unten am See, wo die Villa des Vorstehers mitten zwischen den Schulgebäuden lag.

Dicht an der Brücke lag der grüne Spielplatz, und als sie daran vorüberkam, beschrieb sie den Kindern, wie schön es hier an den Sommerabenden war, wenn die Rasenfläche von hellgekleideten Menschen wimmelte und Singspiele und Ballspiele einander ablösten. Sie zeigte den Kindern das »Freundesheim«, in dem der Versammlungssaal war, die Villen, in denen sich die Unterrichtssäle und der Turnsaal befanden. Sie ging schnell und sprach unaufhörlich, als wolle sie sich keine Zeit lassen, ängstlich zu werden. Als sie aber schließlich so weit gekommen war, dass sie die Villa des Vorstehers sehen konnte, blieb sie plötzlich stehen.

»Wißt ihr was, Kinder, ich glaube, wir gehen nicht weiter,« sagte sie. »Ich habe bisher nicht daran gedacht, aber der Vorsteher ist vielleicht so krank, dass wir ihn durch unsern Gesang stören könnten. Es wäre ja schrecklich, wenn wir ihn noch kränker machten.«

Der kleine Nils Holgersson war die ganze Zeit mit dabei gewesen und hatte alles gehört, was die Lehrerin erzählte. Er wusste also, dass sie ausgegangen waren, um jemand, der da drüben in der Villa krank lag, etwas vorzusingen, und er begriff jetzt, dass aus dem Gesang nichts werden würde, weil sie fürchteten, den Kranken zu stören und zu beunruhigen.

»Es ist doch schade, dass sie wieder von dannen gehen, ohne zu singen,« dachte er. »Es wäre ja die leichteste Sache von der Welt, zu erfahren, ob der Kranke wirklich zu schwach ist, um ein wenig Gesang hören zu können. Warum geht die Lehrerin nicht nach der Villa und erkundigt sich?«

Aber auf diesen Gedanken schien die Lehrerin gar nicht zu kommen; sie kehrte im Gegenteil um und ging schweigend heimwärts. Die Schulkinder erhoben ein paar Einwendungen, aber sie brachte sie zum Schweigen. »Nein, nein,« sagte sie. »Es war dumm von mir, dass ich hierher gehen und singen wollte, jetzt, wo es schon dunkel geworden ist. Wir könnten leicht stören.«

Da meinte Nils Holgersson, wenn kein anderer es tun wollte, so müsste er zu erfahren suchen, ob der Kranke wirklich zu schwach war, um ein wenig Gesang zu hören. Er entfernte sich von den anderen und lief nach dem Hause hinüber. Vor der Villa hielt ein Wagen, und neben den Pferden stand ein alter Kutscher und wartete. Der Knabe war kaum bis an den Eingang des Hauses gelangt, als die Tür aufging und ein Mädchen mit einem Teebrett heraustrat. »Sie werden wohl noch ein wenig auf den Herrn Doktor warten müssen, Larsson,« sagte sie. »Da hat mir die gnädige Frau gesagt, ich sollte Ihnen etwas Warmes bringen.«

»Wie geht es denn dem Herrn?« fragte der Kutscher.

»Er hat keine Schmerzen mehr, aber es ist, als wenn das Herz still steht. Der Herr Vorsteher hat schon eine ganze Stunde da gelegen, ohne sich zu rühren. Wir wissen kaum, ob er noch lebt oder schon tot ist?«

»Hat der Doktor gesagt, dass da keine Hoffnung mehr ist?«

»Man muss auf alles gefasst sein, Larsson, ja, man muss auf alles gefasst sein. Es ist, als lausche der Herr Vorsteher nach etwas. Wenn ein Ruf an ihn von oben kommt, so ist er bereit.«

Nils Holgersson lief schnell den Weg entlang, um die Lehrerin und die Kinder einzuholen. Er dachte daran, wie es gewesen war, als sein Großvater starb. Der war Seemann gewesen, und als er in den letzten Zügen lag, hatte er gebeten, man möchte das Fenster öffnen, damit er noch einmal den Wind brausen höre. Und wenn nun der Kranke hier es so über alles geliebt hatte, von Jugend umgeben zu sein, und ihren Liedern und Spielen zuzuhören …?

Die Lehrerin ging unschlüssig die Allee hinab. Jetzt, wo sie sich von Nääs entfernte, empfand sie ein Verlangen, umzukehren, und als sie vorhin auf dem Wege dahin gewesen, war sie auch kurz davor gewesen, wieder umzukehren. Sie war noch immer gleich unschlüssig und unsicher.

Sie sprach nicht mehr mit den Kindern, sondern ging ganz stumm dahin. In der Allee, durch die sie ging, war der Schatten so tief, dass sie nichts sehen konnte. Es war ihr, höre sie eine Menge Menschen und Stimmen um sich her. Es war ihr, als erklängen angstvolle Rufe von tausend verschiedenen Seiten. »Wir sind soweit weg, alle wir anderen!« sagten die Stimmen. »Aber du bist ganz nahe. Geh’ hin und singe du, was wir alle fühlen.«

Und sie dachte an den einen und den anderen, dem der Vorsteher geholfen und dessen er sich angenommen hatte. Es war übermenschlich, wie er sich angestrengt hatte, allen, die in Not waren, zu helfen. »Geh’ hin und singe ihm etwas vor!« flüsterte es ringsum sie her. »Lass ihn nicht sterben, ohne einen letzten Gruß von seiner Schule zu empfangen! Denk’ nicht daran, dass du gering und unbedeutend bist! Denk’ an die große Schar, die hinter dir steht! Lass ihn, ehe er von uns geht, verstehen, wie innig wir alle ihn lieben!«

Die Lehrerin ging immer langsamer. Da hörte sie etwas, was nicht nur Stimmen und mahnende Rufe in ihrer eigenen Seele war, sondern was aus der äußeren Welt um sie herkam. Es war keine gewöhnliche menschliche Stimme. Es war wie das Zwitschern eines Vogels oder das Zirpen eines Heimchens. Aber es rief trotzdem ganz deutlich, sie solle wieder umkehren.

Und mehr gehörte nicht dazu, um ihr Mut zu machen, ihr Vorhaben auszuführen. – – –

Die Lehrerin und die Kinder hatten ein paar Lieder vor dem Fenster des Vorstehers gesungen. Sie fand selbst, dass ihr Gesang so wunderbar schön geklungen hatte in dieser Abendstunde. Es war, als hätten unbekannte Stimmen mitgesungen. Der ganze Raum war gleichsam von Tönen und Lauten angefüllt gewesen. Sie hatten den Gesang nur anzustimmen brauchen, dann hatten ihre Stimmen einen Klang und eine Kraft erhalten, die sie sonst nicht besessen hatten.

Da tat sich plötzlich die Tür auf, und jemand kam schnell heraus. »Jetzt kommen sie, um mir zu sagen, dass ich nicht mehr singen soll,« dachte die Lehrerin. »Wenn ich ihm nur nicht geschadet habe!«

Aber das war nicht der Fall. Es war die Bitte, sie möchte ins Haus hineinkommen und etwas ausruhen und dann noch ein paar Lieder singen. Da drinnen kam ihr der Doktor entgegen. »Die Gefahr ist für diesmal vorüber,« sagte er. »Er lag besinnungslos da, und das Herz schlug schwächer und schwächer. Aber als Sie zu singen begannen, war es, als erhalte er einen Gruß von allen denen, die seiner Hilfe bedürfen. Er fühlte, dass für ihn die Zeit, Ruhe zu suchen, noch nicht gekommen sei. Singen Sie ihm noch etwas vor! Singen Sie und freuen Sie sich, denn ich glaube, Ihr Gesang hat ihn ins Leben zurückgerufen! Jetzt dürfen wir uns vielleicht Hoffnung machen, ihn noch ein paar Jahre zu behalten.«


1 Schloss Nääs liegt in der Gemeinde Lerum etwa 25 km nordöstlich von Göteborg, Schweden. Das Schloss, das hoch über dem See Sävelången liegt, stammt aus dem 16. Jahrhundert, aber wurde am Beginn des 19. Jahrhunderts in klassizistischem Stil umgebaut. 1868 kaufte August Abrahamsson das Schloss und begann, es neu einzurichten. Zusammen mit seinem Neffen Otto Abrahamsson gründete er 1872 eine Handwerksschule, die sich auf die Ausbildung von Handwerkslehrern spezialisierte und am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen internationalen Ruf für seine neue Pädagogik genoss.

2 Göteborg