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S ehr geehrter Herr Professor Doktor Ruben Blum [hob der arg zerknickte Brief im fremdländischen Format an, der kurz vor Thanksgiving in meinem Postfach lag ], mein Name ist Peretz Levavi und ich bin Dozent für Assyriologie, Indo-Arianologie und indoeuropäische Linguistik und Philologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem.

Ich möchte mich für diesen Brief entschuldigen. Ich war mir nicht sicher, ob ich Ihnen schreiben sollte oder nicht, und debattierte mit mir selbst darüber, als ich feststellte, dass ich mich bereits hingesetzt und meinen Füllfederhalter befüllt hatte, und ich bin sicher, dass ich immer noch debattieren werde, ob ich die fertigen Seiten abschicken soll, selbst nachdem ich sie zusammengefaltet, den Umschlag adressiert und versiegelt und mich bei der Post für die entsprechenden Briefmarken angestellt habe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich an diesen inneren Dämon à la mode glaube, der »Unbewusstes« geheißen wird, obwohl mir seine Existenz unendlich viel plausibler erscheint als die von Asmodäus oder Belial oder gar Satan, dem Engel, der stürzte, als er keine Festanstellung bekam. Vielleicht stehe ich unter dem Einfluss von ihnen allen. Vielleicht bin ich einfach nur verantwortungsbewusst. Ich überlasse es Ihnen und Ihren eigenen Engeln, das zu entscheiden.

Ich schreibe Ihnen wegen Ben-Zion Netanjahu, oder, wie er jetzt anscheinend genannt werden soll, Dr. Ben-Zion Netanjahu, der, wie ich erfahren habe, für eine Professur in Geschichte an Ihrer Institution in Betracht gezogen wird. Diese Information erhielt ich von Netanjahu selbst, der die Fakultät hier seit Wochen mit Telegrammen eindeckt, in denen er um Empfehlungsschreiben bittet, die an Sie als Schriftführer der Berufungskommission geschickt werden sollen. Ich weiß nicht, wie viele meiner Kollegen ihn abgelehnt haben … Ich hoffe, ich bin nicht der Einzige, der es ihm nicht verweigert hat … Bei meinen Nachforschungen über Sie stellte ich erfreut fest, dass Sie an der City University of New York studiert haben, Heimat so vieler lieber alter Kollegen, die mich schon als Peter Lügner an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin kannten (Dr. phil. habil., 1930). Vielleicht kennen Sie Dr. Max Gross? Oder Dr. Eric Pfeffer? Die können für mich bürgen. Ich habe den einzigen Artikel von Ihnen aufgespürt, der in unserer Bibliothek vorhanden ist – über die Finanzpolitik Ihres Präsidenten Andrew Jackson, der mir, wie ich gestehen muss, bisher unbekannt war –, und nach der Lektüre Ihrer faszinierenden Untersuchung über die Finanzierung der Indianerumsiedlung bin ich überzeugt, dass Sie ein leidenschaftlicher und intelligenter Mann sind, ein Mann mit Ohren, die hören, und Augen, die sehen können, sowie mit zusätzlichen seelischen Empfindungen, die über die animalischen Sinne hinausgehen. Deshalb zögere ich nicht, Ihnen direkt zu schreiben, in vollem Vertrauen auf Ihre Diskretion.

Ich möchte zunächst feststellen, dass kaum jemand von uns hier an der Hebräischen Universität – nicht einmal die, die sich geweigert haben, ihn offiziell mit einem Schreiben zu unterstützen – etwas dagegen hätte, wenn Netanjahu einen Posten an einer amerikanischen Hochschule bekäme; ja, an jedem Lehrinstitut außerhalb der Grenzen Israels. Darüber hinaus würden viele nicht nur in allen Bereichen der akademischen Welt Israels, sondern auch auf allen Ebenen der israelischen Regierung eine weitere Beschäftigung Netanjahus im Ausland der Aussicht auf seine Rückkehr vorziehen. Wägen Sie diese meine Aussagen einen Augenblick im Geiste und überlegen Sie sich, was Sie an meiner Stelle tun würden. Wenn Sie möchten, dass ein Mann eine Stelle in einem fernen Land erhält, würden Sie ihn dann über seinen Verdienst hinaus loben und dabei Ihre Ehre verlieren? Oder würden Sie nichts sagen und Ihre Ehre bewahren? Und wenn ihm die Stelle wegen Ihres unverdienten Lobes angeboten würde, wie groß wäre dann Ihre Verantwortung? Und wenn er die Stelle wegen Ihrer Weigerung, falsch Zeugnis abzulegen, oder wegen Ihrem Beharren auf Ehrlichkeit nicht bekäme, welche Schuld würden Sie dann auf sich laden?

Aber das sind rabbinische Fragen, und ich bin kein Rabbiner … Ich bin nur ein Dozent, der, um in seiner Arbeit wahrhaftig zu bleiben, in jeder Situation wahrhaftig bleiben muss, ungeachtet der Konsequenzen … Im Folgenden hoffe ich, Ihnen eine zuverlässige Einschätzung zu geben. Im Folgenden finden Sie die Fakten, dargeboten mit wenig Absichten und noch weniger Boshaftigkeit.

Zur Einführung in unser Thema möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine gewisse berühmte Figur aus dem heute erloschenen europäischen jüdischen Leben lenken – eine Figur, die Sie sicher kennen, wenn auch nur aus der jiddischen Literatur –, nämlich den einsamen Gelehrten-Weisen, die bärtige Eminenz, deren intellektuelle Mühen von der Gemeinschaft getragen werden. Das ist der Mann, der forscht. Der Mann, der im Studierhaus lebt. Umgeben von Büchern. Umgeben vom Geist. Weil diese Figur eine solche Aura an sich hat wachsen lassen, eine nach der Tragödie des europäischen Judentums besonders heilige Aura, ist es schwierig geworden, nach seiner Herkunft zu fragen. Wie ist dieser Mann in die Welt gekommen? Und warum? Oder, um es unverblümter zu sagen, wie hat er seine Position erlangt? Warum wurde dieser Mann über alle anderen Menschen gestellt, durfte in der schummrigen Ecke der Jeschiwa sitzen und den ganzen Tag unbehelligt studieren? Wer oder was gestattete ihm dies? Welche besonderen Talente hatte er, welche besonderen intellektuellen Fähigkeiten besaß er, die ihn aus den Reihen eines bereits außergewöhnlichen Volkes als außergewöhnlich heraushob? Als ich jung war und selbst jüdische Religionswissenschaft studierte, begegnete ich nicht wenigen dieser Persönlichkeiten und glaubte, sie hätten ihre Stellung nur aufgrund ihrer Verdienste erlangt – ich glaubte, dass der geistig fähigste Mann in jeder Gemeinschaft aufgrund seiner sprachlichen Fähigkeiten oder seiner kognitiven Begabung oder seines Gedächtnisses ausgewählt wurde und das Vorrecht erhielt, die heiligen Schriften im Namen der Gemeinschaft zu betrachten, um für die Gemeinschaft die Anerkennung Gottes und einen Anteil am Himmelreich zu verdienen.

Dann aber wurde ich erwachsen, und als ich in die akademische Welt eintrat, erkannte ich die Wahrheit: Diesen Männern wurde die Ehre ihrer sorgenfreien Stellung nur zuteil, um sie vom Lehren abzuhalten – oder vielmehr, um sie davon abzuhalten, die Jugend falsch zu unterrichten und zu verderben.

Was sollte man sonst mit ihnen machen? Was konnte man sonst mit diesen stolzen, halsstarrigen Männern anfangen, die nicht in der Lage oder nicht willens waren, ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Wäre es nicht die beste Lösung, ihnen eine dunkle Nische und ein Pergament zum Betrachten zu geben, nicht aus Mitleid, sondern als Präventivabwehr? Denn wir alle wissen, was mit gebildeten Menschen geschieht, wenn sie vernachlässigt, unversorgt bleiben: Sie entzünden sich. Und wir alle wissen, welche Folgen solche schwärenden Entzündungen haben können: Ketzerei, Apostasie, falscher Messianismus. Die jüdische Geschichte ist voll von brillanten Männern, deren verletzte Hybris sie dazu brachte, sich gegen die Tradition zu wenden.

Netanjahu ist ein solcher Mann mit der Hybris einer verwundeten Intelligenz. Sein Temperament, das ihn vielleicht für Geschichte qualifiziert hätte, disqualifiziert ihn als Geschichtslehrer. Leider kenne ich keine Position in der Geschichtswissenschaft, die nicht auch mit der von Netanjahu als trivial und unter seiner Würde empfundenen Lehrtätigkeit und bürokratischen Aufgaben einherginge.

Dagegen eignen sich sein Geist und seine Natur am besten für individuelle Wissenschaft, für Forschung ohne die Last von Sprechstunden und Papierkram, ja sogar ohne die Last von Veröffentlichungen. Bedauerlicherweise hat die akademische Welt solche Posten nur selten zu bieten, außer für Ingenieure und Physiker, die Waffen entwickeln. Und bestimmt kann ein obskurer, streitsüchtiger, ausländischer Geisteswissenschaftler mit so etwas nicht rechnen.

Ein Wort zur Forschung: Wie so oft bei einsamen Gelehrten, die sich in Isolation abmühen, ist seine Forschung nicht fehlerfrei. Immer wieder neigt Netanjahu dazu, die jüdische Vergangenheit zu politisieren und ihre Traumata in Propaganda zu verwandeln.

Damit meine ich Folgendes: Gehen wir ruhig davon aus, dass seine Fakten, z.B. über die Pogrome der Kreuzzugzeit und die Inquisitionen, stimmen, und gehen wir auch davon aus, dass sich mit den Interpretationen, die er aus diesen Fakten entwickelt, etwas anfangen lässt: Interpretationen etwa zur Aufteilung staatlicher Macht im Mittelalter im stets sich wandelnden Dreiecksverhältnis zwischen Monarchie, Adel und aufstrebendem Bürgertum; oder zum Beispiel über die große Zahl von Juden, die, befreit von der Gewaltherrschaft der Muslime, im Laufe des Reconquista genannten Kreuzzuges dankbar zum Katholizismus konvertierten, und wie ihr Aufstieg in der katholischen Gesellschaft die Kirche dazu veranlasste, das Judentum von einer Religion zu einer Rasse umzudefinieren, um so eine Säuberung vom jüdischen Blut der Konvertiten zu rechtfertigen. Schön. Gut. Wunderbar. Aber in fast jedem seiner Texte wird irgendwann deutlich: Eigentlich geht es nicht um Antisemitismus im frühmittelalterlichen Lothringen oder spätmittelalterlichen Iberien, sondern um Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts; und plötzlich wird aus der Beschreibung einer spezifischen Tragödie und ihrer Folgen für eine spezifische Diaspora eine Tirade über die allgemeine Tragödie der jüdischen Diaspora und dass diese Diaspora – als solle Geschichte nicht beschreiben, sondern vorschreiben – mit der Gründung des Staates Israel enden muss. Ich bin nicht sicher, ob eine solche Politisierung des jüdischen Leidens in der amerikanischen Wissenschaft die gleiche Wirkung hätte wie bei uns, aber wenn man schon Pogrome zur Zeit der Kreuzzüge mit der iberischen Inquisition und der Naziherrschaft in Verbindung bringt, muss man egal in welchem Kontext feststellen, dass hier mehr als nur eine schlampige Analogie gezogen, sondern eine zyklische Form jüdischer Geschichte behauptet wird, die dem Mystizismus gefährlich nahekommt.

Wo liegt der Ursprung dieses politisierenden Impulses? Ich werde es Ihnen sagen. Netanjahu ist der hebraisierte israelische Name einer Familie namens Mileikowski. Unzählige kleine Städte und Dörfer liegen wie Körner in den slawischen Ländern verstreut, deren Namen Variationen der proto-indoeuropäischen Wurzel melh , »mahlen«, darstellen: Mileijkovo, Milikow usw.: »Mühlstadt«. (Ich bin sicher, es gibt unzählige Milltowns in Amerika.) Von »Der Mann aus Mühlstadt« zu »Gottgegeben« (die großspurige Bedeutung von Netan-jahu ) ist es ein ziemlicher Sprung. Netanjahus Vater, Nathan Mileikowski, wurde im gewaltgeschüttelten, von blutigen Kosakenaufständen geprägten Jahr 1879 in Krewo, Weißrussland, nahe der litauischen Grenze geboren und ließ sich an der berühmten Jeschiwa von Waloschyn für das Rabbinat ausbilden, wo er unter zionistischen Einfluss geriet. Doch bei näherer Betrachtung ist dies vielleicht eine falsche Bezeichnung: Vielleicht ist »Zionist« inzwischen ein historisch falscher Begriff und das aktuelle Verständnis davon so übermächtig geworden, dass die ursprüngliche Verwendung zu einem Anachronismus wird. Die Geschichte des Zionismus ist schwer darzustellen, und alle Versuche verdampfen zu Metaphysik. Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, Zionisten – wie viele Identitäten Juden im Laufe der Neuzeit annehmen mussten, nur um das zu sein, was sie waren, um wieder Juden zu sein … aber diesmal in Freiheit …

Kurz gesagt, der Zionismus, der heute in den Lehrbüchern hier wie im Ausland gelehrt wird, war eine Schöpfung Westeuropas, eine Bewegung von Kosmopoliten wie Herzl, die wenig über das traditionelle Judentum wussten, aber viel über Journalismus und Cafébesuche; das waren Männer, die weder Hebräisch oder gar Jiddisch sprachen, sondern Deutsch, deren politische Erweckungserlebnisse das Debakel der Dreyfus-Affäre und jene nationalstaatlichen Unruhen waren, die den Niedergang Österreich-Ungarns beschleunigten. Dieser Zionismus strebte politische Autonomie für Juden an, wo immer er sie finden konnte: ein jüdischer Staat in Britisch-Ostafrika, in Niederländisch-Surinam, in Argentinien, eine jüdische Kolonie auf Zypern, Madagaskar oder Baja California. Es gab aber auch einen anderen, davon unterschiedenen Zionismus, dessen Anhänger zu Recht behaupten würden, er sei sowohl älter als auch reiner – obwohl Juden mit Reinheitsbehauptungen immer vorsichtig sein sollten. Dieser Zionismus war die Schöpfung Osteuropas und der Schtetl Galiziens, einer Bewegung der religiösen Armen, die das Land besiedeln wollten, das Gott ihren Vorfahren, den alten Israeliten, versprochen hatte. Die Besiedlung dieses Landes würde die Verheißung erfüllen und eine Art Paradies auf Erden erschaffen. Dies war der Zionismus von Rabbi Mileikowski, einem Wanderredner und Agitator, der seine Polemiken unter dem Tarnnamen »Netanjahu« schrieb. Ja, der Name Ihres Kandidaten, dieses Meisters der Pseudonyme, war einst selbst ein Pseudonym! Wenn wir uns verbergen wollen, sollten wir Sorgfalt walten lassen, denn die Tarnung einer Generation kann zur traurigen Berühmtheit der nächsten werden. In den Texten, die Rabbi Mileikowski als »Netanjahu« verfasste, ist seine Position eindeutig: Im Gegensatz zu den Zionisten Wiens, Budapests und der Schweiz wollte er nicht darauf warten, dass die Welt den Juden eine Heimstatt »gebe«, wann und wo es den Großmächten gefiele; Gott hatte den Juden mit Palästina bereits eine historische Heimat »gegeben«; sie war da, sie wartete auf sie (sie war Netan-jahu ); die Juden mussten sie nur noch einnehmen.

Die ersten Zionistenkongresse waren zwischen diesen gegensätzlichen Positionen gespalten – zwischen dem »politischen«, »evolutionären« Zionismus des Westens und dem »praktischen«, »revolutionären« Zionismus des Ostens, deren Differenzen sich um Geografie und Methode drehten: Um die Fragen, ob ein Land oder das Land Ziel von Verhandlungen oder von Besetzung sein solle. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Delegierten und Parteien waren heftig und wurden durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und den Kriegseintritt der Briten mobilisiert; die politischen Zionisten übten Druck auf die Regierung Seiner Majestät aus, einen jüdischen Nationalstaat in Palästina zu unterstützen, praktische Zionisten meldeten sich freiwillig zu den Royal Fusiliers, um in Palästina zu kämpfen. Doch die geografische Frage wurde erst endgültig gelöst – und damit der Streit auf die Methodologie beschränkt –, als Palästina aus der Oberhoheit des Osmanischen Reichs entlassen und unter britische Verwaltung gestellt wurde, wodurch die Briten sich über Nacht von Bundesgenossen in Gegner verwandelten.

Um das Jahr 1920 herum kam Rabbi Mileikowski zum ersten Mal ins Britische Mandatsgebiet Palästina, gründete einen Haushalt und reiste sofort wieder ab – womit er die Präzedenz für die Wanderschaft seines Sohnes schuf. Immerhin reist unser Netanjahu mit Familie im Schlepptau, doch sein Vater, der Rabbi, war den größten Teil der Zwanziger von seiner Ehefrau und seinen neun Kindern getrennt, während er um die Welt reiste, um Geld für die Gründung eines Staates aufzutreiben: Mittel für den Landankauf, für die Umsiedlung und Umschulung von Einwanderern und schließlich für die Bewaffnung und Ausrüstung der jüdischen Widerstandstruppen, des provisorischen militärischen Arms des praktischen Bewegungsflügels, der nun mit dem Namen »Revisionistischer Zionismus« bezeichnet wurde (während der politische Zionismus weiterhin nur »Zionismus« hieß). Diese Revisionisten wurden von einem charismatischen Mann aus Odessa namens Wladimir »Zeev« Jabotinsky angeführt, der mit Trumpeldor die Jüdische Legion gegründet und für die Briten gekämpft hatte, ehe er sich zu ihrem Todfeind erklärte. Oder vielmehr habe er, wie er selbst gern betonte, weniger für die Briten gekämpft als vielmehr gegen die Türken. Jabotinskys gesamte Bewegung war von einer fast militanten Gründlichkeit und Strenge geprägt; seine Revisionisten verabscheuten ihre zögerlichen jüdischen Brüder fast so sehr wie die Araber; Glaubensbrüder wie Weizmann und Ben-Gurion betrachteten sie als marxistische Beschwichtiger: kleinlaute, zaghafte Weichlinge, die um Land bettelten, das sie sich gewaltsam hätten nehmen sollen, und furiose Reden in Vortragssälen hielten, aber sich nicht die Finger schmutzig machen wollten. Revisionisten gaben kein Pardon und machten keine Kompromisse mit den Mandatsmächten – nicht mit der Krone, nicht mit dem Mufti, mit niemandem. In dieser Atmosphäre wuchs unser Netanjahu auf: Es war eine unstete und größtenteils vaterlose Kindheit, deren einzige Beständigkeit ideologischer Natur war. Im Jahr 1929 schrieb er sich an der ein Jahrzehnt alten Hebräischen Universität in Jerusalem ein, im Jahr der arabischen Unruhen um den Tempelberg, als die Revisionisten – die die jüdische Hoheitsgewalt über die Klagemauer beanspruchten – so gewaltsame Vergeltung übten, dass die Briten hart gegen die Bewegung vorgingen und Jabotinskys Aufenthaltsdokumente annullierten, womit sie ihn praktisch aus Palästina auswiesen. Das folgende Chaos ist womöglich zu schwierig zusammenzufassen; zu kompliziert, zu schmerzhaft und zu langweilig. Wenn ein Fremder einen familiären Streit erzählt bekommt, frage ich mich oft, wen es mehr schmerzt, die Familie oder den Fremden. Belassen wir es dabei, dass nun Unruhen zwischen den rivalisierenden jüdischen Fraktionen ausbrachen, und wenn Netanjahu an den Straßenkämpfen nicht teilnahm, dann nicht, weil er so fleißig studierte. Anstatt Hausarbeiten zu schreiben, schrieb er jetzt Leitartikel und fing an, als Kolumnist für Zeitschriften der Revisionisten zu arbeiten, die regelmäßig von den Briten zensiert und eingestellt wurden. Ich übersetze Ihnen hier einige Ausschnitte seines Gesamtwerks für Beitar (die er mitgründete) und Ha-Yarden (die er mitherausgab): »Die Linke hat eine Krise für das Land Israel herbeigeführt […] Die Linke bekämpft jeden Juden, der sich ihr nicht unterwirft […] Es muss eine jüdische Mehrheit in diesem Land hergestellt werden, sonst werden wir den Holocaust, der uns heute in Europa bevorsteht, morgen hier von den Händen der Araber, der Beduinen und der Drusen erleiden. […] So wie die Wilden Arabiens im 15. Jahrhundert jüdische Flüchtlinge aus Spanien jagten und aufspürten, so verjagen sie nun, im 20. Jahrhundert, diejenigen, die vor dem Inferno in der Diaspora fliehen und vor den Toren ihrer Heimat stehen.« Anderswo verzichtet er auf den Vergleich mit dem Mittelalter und stellt Israel Ihrem Land gegenüber, wobei er die Juden mit den »Angelsachsen« gleichstellt und die Araber mit »den Indianern«: »Die Eroberung des Bodens ist eines der ersten und fundamentalsten Projekte einer jeden Kolonisierung […] Ein Mitglied der angelsächsischen Rasse im ständigen Konflikt mit den Rothäuten war nicht damit zufrieden, lediglich die riesigen Metropolen New York und San Francisco zu gründen, an den Küsten der beiden Ozeane, welche die Vereinigten Staaten begrenzen. Vielmehr strebten die Weißen, sobald sie die beiden Städte erbaut hatten, nach einem sicheren Verbindungsweg zwischen den beiden […] Hätten die Eroberer Amerikas die landwirtschaftlichen Weiten in der Mitte in den Händen der wilden Indianer belassen, gäbe es heute höchstens ein paar europäische Städte in den USA , und das ganze Land würde von Millionen und Abermillionen unzivilisierter Rothäute bewohnt, denn der ungeheure Bedarf an Getreide, Lebensmitteln und anderen Rohstoffen in Europa hätte zu so einem ungeheuren natürlichen Bevölkerungswachstum bei den Eingeborenen in den ländlichen Gegenden geführt, dass sie dann unweigerlich auch die Küstenstädte überrennen würden.« 1 Ich habe genau zu dieser Zeit Deutschland verlassen und meine Laufbahn hier an der Universität begonnen und erinnere mich gut daran. Als Neuankömmling in einer kleinen Kolonie mit nur wenigen Pressepublikationen in einer kleinen, aber wachsenden Sprache las ich alles, was ich finden konnte, sogar diese trüben Druckwerke, die ich von Campusbänken einsammelte und in denen ich zu meinem Schrecken auf Formulierungen stieß, die womöglich selbst beim Völkischen Beobachter oder in Der Angriff Gefallen gefunden hätten. Mir war sofort klar, der »B. Netanjahu«, dessen Tiraden ich da las, musste derselbe »B. Netanjahu« sein, der meine Akkadisch- und Sumerisch-Seminare schwänzte, doch es brauchte ein wenig Zeit – und sich wiederholende Sätze, und Studententratsch –, bis ich merkte, dass er sich auch hinter »Ben Soker« und »Nitay« verbarg sowie hinter dem donnernden Jabotinsky-Jünger, der nur mit dem lateinischen Buchstaben »N« zeichnete, und noch weiteren Decknamen. Die provokativste Kolumne dieses höchst produktiven Aufwieglers richtete sich auf das universitäre Leben und attackierte mehrfach die Universitätsleitung, die dabei als Ersatzziel für die Staatsführung dienen musste. Mehrere Folgen verteufelten den Universitätskanzler, den in Amerika geborenen Judah Leon Magnes, und den ehemaligen Generalstaatsanwalt des Mandatsgebiets Palästina, Norman Bentwich, der anlässlich seiner Berufung zum Professor für Internationale Beziehungen einen Vortrag mit dem Titel »Wie Nationalismus zu einer Religion gemacht wird« halten wollte. Leider erfuhr ich nie, wie – niemand hörte es –, denn bevor Bentwich auch nur ein Wort sagen konnte, wurde eine Bombe in den Saal geworfen. Ich erinnere mich an den Knall – das Luftschnappen – das Zischen der Lunte – von meinem Platz in einer mittleren Reihe – und an das Panikgefühl, als Studenten und Kollegen ihre Differenzen vergaßen und wie Kakerlaken zum nächsten Ausgang hasteten. Ich weiß noch, dass ich bei meinem eigenen eiligen Abgang dachte, eine fehlgezündete Bombe müsse nicht heißen, dass die nächste nicht funktionieren könne, und in dem Augenblick umhüllte mich eine giftige Wolke, mir wurde schwindlig, ich stürzte und wurde niedergetrampelt (mein Knöchel ist immer noch nicht völlig geheilt). Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Schwefelbombe; eine Stinkbombe, die zu Hautverletzungen führt. Der Bombenwerfer war ein Student namens Abba Ahimeir; hergestellt hatte sie ein Mathematikstudent namens Elisha Netanjahu, der jüngere Bruder unseres Netanjahu, der (angebliche) Drahtzieher des ganzen Vorfalls.

Der Schwefelgestank hing mir noch in den Haaren und in meinem einzigen Anzug, als Chaim Arlosoroff, der Kopf der politischen Abteilung der von den Briten anerkannten Jewish Agency , am Strand von Tel Aviv erschossen wurde. Drei Männer wurden verhaftet, darunter auch Ahimeir. Der Fall war eine Sensation: Juden, die Juden umbrachten, war in vieler Hinsicht die Erfüllung von Jabotinskys Prophezeiung, dass ein jüdischer Staat erst dann ein normaler Staat wie jeder andere werden würde, wenn er – neben jüdischen Bankiers, jüdischen Zimmerleuten und jüdischen Schneidern – auch jüdische Mörder hätte. Netanjahu sprang dem Verhafteten unter seinen verschiedenen Pseudonymen sofort zur Seite, wie auch sein Vater, der betagte Rabbi, der kurz nach einem Besuch bei ihm im Gefängnis verstarb. Laut den revisionistischen Nachrufen seines Sohnes starb Rabbi Mileikowski nicht an den zahlreichen chronischen Krankheiten, an denen er litt, sondern am Kummer darüber, dass Männer, die sich so hingebungsvoll der Sache eines Judenstaates widmeten, so schlecht behandelt wurden. In seiner Trauer wurden Netanjahus Angriffe nur noch schärfer, und er sandte seinen Zorn unterschiedslos gegen alle Juden, die mit irgendeiner von den Briten anerkannten Organisation zusammenarbeiteten, darunter gerade auch die Universität, deren Fakultäten, Dekane und Rektor er »Affen«, »Schädlinge«, »verräterische Feiglinge« und »Zionisten, die den Zionismus unbedingt scheitern lassen wollen«, nannte. Ich möchte den Wahnsinn dieser Haltung unbedingt unterstreichen: Vergessen Sie nicht, dass Netanjahu damals noch Student dieser Hochschule war.

Keinem Studenten, wie brillant er auch sein mochte, würde man ein solches Verhalten verzeihen, und Netanjahu war nur nach ausländischen Maßstäben brillant – und das stelle ich mit allem gebotenen Respekt fest. An jedem amerikanischen College wäre er ein »Star« gewesen, aber bedenken Sie bitte, dass die historischen Umstände es mit sich brachten, dass in Israel ein höherer Standard galt. In jedem Jahr, das Netanjahu an der Hebräischen Universität verbrachte, strömten weitere Flüchtlinge herein, bis die Hochschule am Vorabend des Zweiten Weltkriegs ein ungeheures Gewimmel der größten Geister der besten Fakultäten Europas war, die sich gegenseitig den Rang abliefen. Allein am Historischen Seminar hatten wir Baer, Koebner und Tscherikower, die zusammen so etwas wie 22 Sprachen fließend beherrschten; Polak, der gern behauptete, er könne zwei Bücher gleichzeitig lesen, mit jedem Auge eines, und sein Todfeind Dinur, der gern behauptete, er könne zwei Bücher gleichzeitig schreiben, mit jeder Hand eines; die beiden stritten sich um Vorlesungszeiten und Büromaterial mit Shlomo Dov Goitein, der gerade anfing, die Dokumente der Kairoer Geniza zu entziffern; es war keineswegs ungewöhnlich, auf dem Gang verstaubte Gestalten wie Leo Aryeh Mayer und Eleasar Sukenik zu treffen, zwei Archäologen, die während einer Pause ihrer Ausgrabungen der Mauern Jerusalems die Archive konsultierten; und es war keineswegs ungewöhnlich, auf dem Weg zum Luftschnappen Martin Buber oder Gershom Scholem die Tür aufhalten zu müssen (einmal vergaß ich, Buber die Tür aufzuhalten, und er lief geradewegs dagegen). Die meisten dieser Männer waren Genies, aber einige waren auch traumatisiert, gebrochene Emigranten, die froh waren, wieder ein bisschen atmen zu können, am Leben zu sein. Einige hatten nichts gegen die Briten, mochten britische Kultur und Manieren sogar, denn sie waren ihnen vertraut, ein paar Spuren europäischer Eleganz in diesem warmen, entfremdenden Klima. Andere waren tatsächlich Linke, oder behaupteten es zu sein, auch wenn sie Marxisten mit bürgerlichem Geschmack waren. Doch egal welche politische Orientierung, ihr Zionismus war im Grunde literarisch, poetisch. Sie versuchten das Leben auferstehen zu lassen, von dem sie als Jugendliche in Europa geträumt hatten, und wären gern für immer unter der Herrschaft von König George V. in Jerusalem geblieben. Das waren Männer der Bibliothek, gerade vor einem Blutvergießen geflohen, nach dem sie nicht gerufen hatten, und man konnte kaum von ihnen erwarten, dass sie nun ein weiteres anzettelten. Und so ungenügend ihre psychische Verfassung war, so untauglich waren sie auch körperlich, ein tuberkulöser Haufen, absolut ungeeignet für einen bewaffneten Aufstand. Und Netanjahu, der Eiferer, konnte das nicht akzeptieren. Er konnte ihre politische Trägheit nicht ertragen. Und er hielt es nicht aus, wenn jemand fähiger und qualifizierter war als er. Womöglich war seine lautstarke ideologische Ablehnung der Universität sogar so eine Art Angriffsschlag gegen die Ablehnung seiner Talente durch die Universität. Wie soll sich auch in dieser Atmosphäre, wo jeder ein welthistorischer Experte in Tanach, Talmud, Kabbala, Chassidismus, Keilschrift, modaler Logik, Materie, Antimaterie und Quantendynamik war, wo nach jedem ein Theorem benannt war, wo jeder fachprägende, ins Esperanto übersetzte Publikationen vorzuweisen hatte, dazu einen ganzen Berg höchster Abschlüsse von Universitäten in Berlin, München, Paris, Basel, Zürich, Wien, St. Petersburg und Moskau – wie soll sich unter diesen Bedingungen eine Stellung finden lassen für einen in Israel ausgebildeten Querulanten ohne Doktortitel, ohne Veröffentlichungen, mit einer Vorgeschichte der Aufwiegelung zu terroristischer Gewalt? Welche dunkle, stille Ecke konnte man für ihn an unserer kleinen Universität in unserem kleinen Land ohne Budgetmittel finden, wo alle Ecken schon besetzt waren?

Die Antwort lautete: keine – oder nur eine im Ausland. Die Antwort lautete: Zeev Jabotinsky. Kurz vor dem deutschen Einmarsch in Polen verließ Netanjahu die akademische Welt und schloss sich ganz dem verrückten Alten aus Odessa an, der seit seiner Ausweisung durch Europa wanderte, so wie Netanjahus Vater, der Rabbi, früher gewandert war: Hinfällig, zittrig, verloren sprach er, wo immer er konnte, sprach wie ein sich opfernder Prophet, warnte die anderen Juden vor der drohenden Völkermord-Katastrophe und versuchte eine jüdische Armee ohne Land aufzustellen. Die Juden mussten zuerst eine Armee gründen und dann ein Land; das Land würde aus der Armee folgen, lautete seine feste Überzeugung. Jabotinskys Methoden mögen seltsam gewesen sein, doch seine Ahnungen waren korrekt, die Bedrohung durch die Nazis war real, sie war wirklich und gegenwärtig, und seine alten zionistischen Gegenspieler verschlossen die Augen davor. Rückblickend war er womöglich der Einzige, der das Gemetzel kommen sah … er und einige jiddische Dichter vielleicht, aber andererseits sehen Dichter ständig Gemetzel … 1940 ernannte Jabotinsky Netanjahu zum Kopf der Revisionisten in den Vereinigten Staaten. In dieser Rolle war Netanjahu im Wesentlichen ein Stellvertreter Jabotinskys, der nicht nur wusste, welches Blutvergießen zu erwarten war, sondern auch, dass die Juden, wenn sie überleben und danach wieder aufblühen wollten, auf die Hilfe der Amerikaner angewiesen waren. Für Zeev Jabotinsky, aber auch für den jüngeren Netanjahu war Europa am Ende: Europa brachte den Tod – und Amerika die Zukunft. In Großbritannien konnte man die Außenpolitik nur verändern, indem man das Denken jener Erb-Elite änderte, aus der sich die Regierung rekrutierte, deren Ausbildung auf Judenhass gründete und die keine Veranlassung hatte, ihre Klasse zu verraten. In Amerika jedoch konnte man Außenpolitik durch Popularität beeinflussen, durch Werbung und Informationskampagnen, die auf die einfachen Wähler und Wählerinnen zielten. Darum war Amerika nach Netanjahus Ansicht so entscheidend: Es war das einzige Land der Welt, wo jegliche Außenpolitik in erster Linie eine innere Angelegenheit war; das einzige Land der Welt, in dem – wegen der Einwanderer-Gesellschaft und des demokratischen Systems – das Fremde nicht existierte. Wenn sich genug Amerikaner vom Traum eines jüdischen Staates inspirieren ließen, würden sie genug Amtsträger wählen, um diesen Traum wahr werden zu lassen – mit Verträgen, Hilfsvereinbarungen und Schutz vor den Sowjets. Das war Netanjahus Plan, für den er auf Tournee durch die gesamten Vereinigten Staaten ging – und nicht bloß amerikanische Juden in ihren Synagogen besuchte, sondern auch amerikanische Christen in ihren Kirchen, wo er die Botschaft des revisionistischen Zionismus predigte und Mittel auftrieb, um europäische Juden nach Palästina umzusiedeln und zu Soldaten auszubilden. Doch nur kurze Zeit nachdem Netanjahu mit dieser Arbeit begonnen hatte, traf Jabotinsky selbst in New York ein, absolvierte einige öffentliche Auftritte und zog dann in ein militärisches Trainingslager irgendwo in den Catskills im Bundesstaat New York – irgendwo in der Nähe Ihrer Hochschule übrigens, glaube ich –, wo ihn ein tödlicher Herzinfarkt ereilte.

Mit Jabotinskys Tod verlor Netanjahu seinen Förderer. Er sah sich verlassen in einem fremden Land, und in Palästina warteten nichts als Schmach und Schande auf ihn. Europa stand derweil in Flammen. Netanjahu zog sich in seine akademische Arbeit zurück und fand eine Möglichkeit, seine Doktorarbeit an einem seltsamen kleinen Rabbinerseminar in Philadelphia fertig zu schreiben, in dem seltsame kleine Rabbiner auf die Leitung Ihrer »Tempel« vorbereitet werden. Darüber wissen Sie wahrscheinlich mehr als ich. Aber man stelle sich vor! Während der größten Tragödie, die sein Volk jemals heimsuchte, war Ben-Zion Netanjahu weder in Europa noch in Palästina, sondern in Philadelphia, Pennsylvania, und schrieb über das mittelalterliche Spanien! Während des Holocaust über die Inquisition zu schreiben … darüber zu schreiben, dass die iberischen Juden unfähig waren, sich zu retten, stellvertretend für seine eigene Unfähigkeit, die europäischen Juden zu retten … Was für ein Wahnsinn! Wie sollte er sich nach dem Krieg fühlen? Selbst nach der Fertigstellung seiner Dissertation, was konnte er feiern? Sicher nicht die Gründung des jüdischen Staates, die von Netanjahus Feinden als Sieg gefeiert wurde, aber Millionen Tote gekostet hatte. Eines Staates, der nicht genommen, sondern gegeben worden war, nicht freiwillig, sondern schuldbewusst, als Wiedergutmachung für die Katastrophe. Für ihn war es ein Staat, der von Versöhnlern, Kompromisslern, kaum wirklich jüdischen Wiedergängern Neville Chamberlains geführt wurde: Ben-Gurion, Weizmann, Männer, die auf Jabotinskys Grab spuckten und seinen Leichnam nicht einmal von Long Island, wo er begraben liegt, nach Israel zurückkehren lassen wollten. Kein Revisionist wurde aufgefordert, Teil der neuen israelischen Regierung zu werden. Die Bewegung hatte keinerlei Einfluss in der Knesset. Es gab nur noch einen Zionismus, und der Revisionismus war in Vergessenheit revidiert worden. Dessen ungeachtet kehrte Netanjahu dorthin zurück – er musste trotz allem zurückkehren –, um eine politische Rolle, eine militärische Rolle, eine geheimdienstliche Rolle, irgendeine Rolle zu finden, wenn nötig sogar eine akademische. Oder vielleicht kehrte er auch nur zurück, um Israel scheitern zu sehen. Aber natürlich scheiterte es nicht. Ist noch nicht gescheitert. Und doch blieb Netanjahu hartnäckig, wartete fast ein Jahrzehnt, dass ihn jemand, irgendjemand hereinholte aus der Kälte. Ein Historiker, der von der Historie außen vor gelassen wurde, Nachfahr eines frustrierten Rabbi-Diplomaten, der selbst aus den Annalen des Staates getilgt worden war. Es war tragisch. Wenn ihm die Universitätskollegen zuvor wegen seiner politischen Haltung aus dem Weg gegangen waren, so taten sie es nun wegen seiner Tragödie. Wegen seiner Verbitterung, seines Grolls, seines Zorns. Ich gebe zu, dass ich ihn selbst auch mied. Man konnte nichts tun. Zu der Zeit war unsere Universität ein Verwaltungschaos; wir hatten Dutzende Gelehrte, die Atome spalten und Relativität darlegen konnten, doch niemanden, der ein Büro leiten und Bücher führen konnte. Wir hatten unseren Campus auf dem Skopusberg verlassen müssen, denn der lag nach dem Unabhängigkeitskrieg in einer von den Vereinten Nationen kontrollierten Exklave, umgeben von jordanischem Gebiet, und arbeiteten nun in einem unrenovierten Kloster im Zentrum von Jerusalem, das der katholischen Kirche gehörte. Der Einzige unter meinen Universitätskollegen, der Netanjahu helfen konnte, war der großzügige, aber auch hinterlistige Prof. Dr. Joseph Klausner, der ihn dem Verleger Alexander Peli empfahl, da dieser einen Herausgeber für die Encyclopedia Hebraica brauchte. Doch Sie sollten nicht glauben, dass dies aus Freundlichkeit geschah. Oder jedenfalls nicht nur aus Freundlichkeit. Denn es war in gewisser Weise zugleich eine Beleidigung. Es war, um ehrlich zu sein, eine der kreativsten Beleidigungen, die mir je zu Ohren gekommen ist. Stellen Sie sich vor: Man überträgt Ihnen die Aufgabe, für Ihr neues Land eine neue Enzyklopädie seiner Entstehung und Ursprünge zu erstellen; stellen Sie sich vor, Sie tragen die Verantwortung für das ehrgeizigste und umfassendste Wissensprojekt hebräischer Sprache, seit diese Sprache durch Ben-Jehudas modernes Hebräisches Wörterbuch wiederbelebt wurde, doch dann vergessen Sie nicht: Als Herausgeber einer Enzyklopädie können Sie Einträge zu allem und jedem hineinnehmen, was Sie wünschen, außer sich selbst. Der Herausgeber ist die einzige Person, die auf jeden Fall ausgeschlossen bleibt. Netanjahu musste also Einträge aller seiner alten Feinde und Widersacher redigieren – er selbst schrieb den Eintrag zu Antisemitismus –, doch er durfte sich selbst nicht erwähnen. Wie beleidigend das gewesen sein muss, mit dieser Selbstauslöschung seinen Lebensunterhalt zu bestreiten! Juden ersinnen wirklich brillante Rachestrategien. Ich hatte gedacht, Netanjahu würde hierbleiben und an diesem lobenswerten und sicherlich endlosen Projekt weiterarbeiten, aber vielleicht war der Schmerz, den das hervorrief, doch zu stark; vielleicht war die tägliche Mahnung zu beschämend. Ich hörte von Klausner und meinem Kollegen Prof. Dr. Jeschajahu Leibowitz und anderen, die für ihn Einträge verfassten, dass er wieder ins Ausland gegangen sei, um eine Anstellung zu finden, doch ich hatte dafür keine Bestätigung erhalten, bis die Telegramme eintrafen: an Klausner, an Leibowitz, an die Hälfte aller Historiker hier, und schließlich auch an mich, mit der dringenden Bitte um eine Empfehlung.

Wenn dieser Brief zu lang ausgefallen ist, nehmen Sie das als Zeugnis meiner Offenheit: Ich habe Ihnen das meiste von dem berichtet, was ich weiß, und viel zu viel von dem, was ich denke, doch nichts davon ist in sabotierender Absicht geschrieben. Mir als Flüchtling ist sehr wohl bewusst, dass Menschen sich ändern können, dass in jedem Menschen viele Menschen stecken und dass sie unterschiedliche Gesichter zeigen können; tragisch im einen, komisch im nächsten Moment, gnadenlos, mitleidig, verwirrt. Ich hoffe für Sie, dass der Netanjahu, den Sie kennenlernen, ein anderer Netanjahu sein wird – ich hoffe, dass er wirklich ein anderer sein wird, der keine Ähnlichkeit mit dem Mann aufweist, den ich Ihnen beschrieben habe. Wenn das der Fall ist, dann sei Gott gepriesen, der jeglichen Wandel zu seiner Zeit hervorbringt, und gepriesen seien Sie, wenn Sie mir diesen Brief nicht ankreiden und meinem Charakter nicht die gleichen Makel zurechnen, die ich seinem zugeschrieben habe. Ich möchte mit einem weiteren Gebet schließen, das sich in keiner Liturgie findet, sondern bei Heine, glaube ich: Mögen Fremde über uns alle urteilen!

Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich ganz der Ihre,

Prof. Dr. Peretz Levavi (Peter Lügner)

Hebräische Universität

Jerusalem, Israel

1 Ich merke, dass derart belastete Worte nicht bloß eine Übersetzung, sondern auch eine Anmerkung erfordern, und weil Ausgaben dieser glücklicherweise eingegangenen Periodika sogar in Israel heutzutage schwierig zu finden sind, lege ich diesem Brief einige meiner eigenen bei – aus meiner Privatsammlung. Ich habe die zitierten Passagen unterstrichen, damit ein unabhängiger Sprachwissenschaftler leichter die Richtigkeit meiner Übertragungen überprüfen kann. Sollte die Kommission weiteres Material wünschen, könnte ich Ihnen das nur zu gern liefern, müsste dann allerdings um eine Postanweisung auf meinen Namen an die Israelische Postbank in Höhe von £ 3 (oder dem entsprechenden Betrag in US -Dollar) bitten. Ich zögere, darum nachzusuchen, doch ich würde gern zumindest einige meiner Originale behalten, und die Universität beschränkt den Zugang zum Vervielfältigungsapparat für ihre Dozenten und lässt sich jede außerordentliche Nutzung bezahlen … auch wenn in jüngster Zeit Grund zu der Hoffnung besteht, dass diese Politik sich ändern könnte …