Leseprobe

LESEPROBE

Das Rätsel des Orakels
Fabian Lenk
ISBN 978-3-473-47472-1

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Kim, Julian, Leon und Kija – die Zeitdetektive

Die schlagfertige Kim, der kluge Julian, der sportliche Leon und die rätselhafte ägyptische Katze Kija sind vier Freunde, die ein Geheimnis haben …

Sie besitzen den Schlüssel zu der alten Bibliothek im Benediktinerkloster St. Bartholomäus. In dieser Bücherei verborgen liegt der unheimliche Zeit-Raum „Tempus“, von dem aus man in die Vergangenheit reisen kann. Tempus pulsiert im Rhythmus der Zeit. Es gibt Tausende von Türen, hinter denen sich jeweils ein Jahr der Weltgeschichte verbirgt. Durch diese Türen gelangen die Freunde zum Beispiel ins alte Rom oder nach Ägypten zur Zeit der Pharaonen. Aus der Zeit der Pharaonen stammt auch die Katze Kija – sie haben die Freunde von ihrem ersten Abenteuer in die Gegenwart mitgebracht.

Immer wenn die drei Freunde sich für eine spannende Epoche interessieren oder einen mysteriösen Kriminalfall in der Vergangenheit wittern, reisen sie mithilfe von Tempus dorthin.

Tempus bringt die Gefährten auch wieder in die Gegenwart zurück. Julian, Leon und Kim müssen nur an den Ort zurückkehren, an dem sie in der Vergangenheit gelandet sind. Von dort können sie dann in ihre Zeit zurückreisen.

Auch wenn die Zeitreisen der vier Freunde mehrere Tage dauern, ist in der Gegenwart keine Sekunde vergangen – und niemand bemerkt die geheimnisvolle Reise der Zeitdetektive …

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Eine Welt ohne Licht

Julian schloss die Augen. Warum nur hatte er sich breitschlagen lassen, warum war er in dieses Gefährt gestiegen, das geradewegs in den endlos blauen Himmel über Siebenthann zu rasen schien? Doch jetzt konnte er nicht mehr zurück. Ein massiver Bügel aus Metall drückte ihn in seinen Sitz. Julians Hände schlossen sich fest um diese Stange. Der Wagen, in dem er saß, rumpelte über eine Unebenheit und der Wind zerrte an seinen Haaren. Julian schluckte.

„Na, alles klar?“, rief Kim, die neben ihm in der Achterbahn saß.

Julian nickte angestrengt.

„Mach die Augen auf, wir haben eine tolle Sicht auf Siebenthann!“, schrie Kim begeistert. „Ach, ich liebe Achterbahnfahren!“

„Ich auch!“, brüllte Leon, der hinter den beiden saß. „Jetzt sind wir gleich ganz oben!“

Julian wagte es, ein Auge zu öffnen. Er schaute auf das Jahrmarktsgelände mit dem Riesenrad und der Wasserbahn, erhaschte einen Blick auf das alte Bartholomäuskloster und die Stadtmauer, er sah ihre Schule, den Sportplatz, das Schwimmbad … Dann schien der Zug urplötzlich ins Nichts zu fallen. Julian schrie auf, während er in einem Höllentempo in eine Senke schoss. Schon ging es wieder bergauf, sie jagten auf den nächsten Gipfel aus Stahl zu – und Julian war sich sicher, dass der Zug auf der Kuppe abheben und geradewegs durch das Riesenrad fliegen würde wie eine Raubkatze, die durch einen Ring springt. Doch er nahm eine halsbrecherische Kurve, drehte sich in einer Spirale mehrfach um die eigene Achse, sauste eine weitere Anhöhe hinauf und stürzte sich dann in einen Looping. Nun folgte eine längere Gerade, dann wieder eine scharfe Kurve, hinter der die Umrisse des Kassenhäuschens auftauchten. Eine Bremse jaulte auf und der Zug wurde so abrupt abgebremst, dass Julians Kopf nach vorn flog. Endlich stand der Höllenzug. Es zischte, und Julian konnte den Sicherheitsbügel nach oben drücken. Er atmete einmal tief durch und sprang aus dem Wagen.

„Noch mal!“, rief Leon vergnügt.

Julian tippte sich an die Stirn. „Ne, mir reicht’s.“ Er war froh, die Fahrt heil überstanden zu haben, und würde um nichts in der Welt noch einmal einen Fuß in die Achterbahn setzen. „Außerdem habe ich kaum noch Geld!“, fügte er hinzu.

„Geht mir auch so“, sagte Kim. „So’n Mist, dass die Achterbahn immer so teuer ist!“

Die drei Freunde begannen, über den Jahrmarkt zu schlendern, der jedes Jahr im Juni in dem mittelalterlichen Städtchen Siebenthann stattfand.

An einem Stand mit Süßigkeiten kaufte Kim sich Zuckerwatte. Julian entschied sich für einen Paradiesapfel, Leon für eine mit Schokolade überzogene Banane.

„Seht mal da drüben“, sagte Kim und deutete auf einen kleinen Wohnwagen, der dunkelblau gestrichen und mit einer Kristallkugel verziert war. Er kauerte unscheinbar zwischen einem glitzernden Autoskooter und einer riesigen Losbude. „Ein Blick in die Zukunft – fragen Sie Fatima“ stand in goldenen Buchstaben auf einem Schild neben der Tür.

„Eine Wahrsagerin.“ Leon grinste. „Jemand, der in die Zukunft schaut oder dir aus der Hand liest. Dass es so was überhaupt noch gibt …“

„Warum denn nicht?“, fragte Kim. „Ich finde das so richtig schön altmodisch.“

„Wer glaubt denn schon an so was?“, erwiderte Leon.

Gerade stieg ein Mädchen die vier Stufen zum Eingang hinauf und klopfte an die Tür.

Kim sah Leon herausfordernd an. „Na, siehst du?“

Leon schüttelte nur den Kopf und biss in seine Banane.

„Früher hatte die Wahrsagerei einen höheren Stellenwert“, meldete sich Julian zu Wort. „Denkt nur an das Orakel von Delphi im antiken Griechenland!“

Leon winkte ab. „Ach, das war bestimmt genauso ein Hokuspokus wie heute“, sagte er geringschätzig.

„Na ja“, widersprach Julian. „Immerhin haben damals sogar Könige den Sprüchen des Orakels vertraut!“

Kim sah ihn interessiert an. „Echt?“

„Klar“, entgegnete Julian. „Irgendwo habe ich mal gelesen, dass selbst Alexander der Große auf das Orakel gehört hat.“

Leon verdrehte die Augen. „Also, das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen! Alexander der Große war doch nicht nur ein großer Feldherr, sondern bestimmt auch so gebildet, dass er sich nicht von einem solchen Blödsinn beeinflussen ließ.“

„Warum überprüfen wir das nicht einfach?“, fragte Kim. „Geld für die Achterbahn haben wir sowieso keins mehr – und der Tag hat gerade erst angefangen!“

Julians Augen begannen zu leuchten. „Du meinst, wir sollten uns ein wenig in unserer Bibliothek umsehen?“

„Genau das! Was meinst du, Leon?“

Leon nickte. „Ich bin dabei!“

„Prima!“, rief Kim. „Lasst uns nur noch schnell Kija holen. Ihr ist bestimmt schon langweilig!“

Eine Stunde später liefen Kim, Leon, Julian und die Katze Kija über das Kopfsteinpflaster der Straße, die hinauf zum Bartholomäuskloster führte. Vor den Wirtshäusern und der Eisdiele „Venezia“ saßen Einheimische und Touristen und genossen das schöne Wetter. Doch für einen der sensationellen Eisbecher im „Venezia“ hatten die Freunde jetzt weder Zeit noch Geld. Kurz darauf standen sie vor den mächtigen Klostermauern, die auch die uralte Bibliothek beherbergten, zu der Julian einen Schlüssel besaß. Es war Sonntag, und die Säle lagen verlassen im Licht der frühsommerlichen Sonne, das durch die Fenster flutete.

Julian legte einen Finger auf die Lippen. „Hm, die Bände über Griechenland müssten eigentlich da hinten sein – bei den Büchern über die Antike.“ Zielstrebig führte er seine Freunde zu einem hohen Regal.

„Bingo!“, rief er wenig später zufrieden und zog einen dicken Wälzer über Alexander den Großen heraus.

Gleich daneben stieß Kim auf ein schmales Büchlein, das sich speziell mit dem Orakel von Delphi beschäftigte. Mit ihrer Beute verzog sie sich an ein Lesepult am Fenster. Kija sprang auf den Tisch und schaute ihr interessiert dabei zu, wie sie die ersten Seiten aufschlug. Dort stand zunächst einiges über die geografische Lage der Orakelstätte. Sie thronte am Südhang des Parnassos, einem 2457 Meter hohen Gebirgsmassiv in der mittelgriechischen Landschaft Phokis. Kim blätterte weiter. Plötzlich wurden ihre Augen groß. Laut las sie vor: „Das Orakel galt bei den alten Griechen als der Mittelpunkt der Welt. Zunächst wurde dort die Erdgöttin Gaia verehrt, ab dem 8. Jahrhundert vor Christus dann der mächtige Gott Apollon.“

Julian nickte. „Apollon, der Gott des Lichts …“

„… und der Weissagung, der Musik, der sittlichen Reinheit, des Rechts, des Frühlings und der Dichtkunst“, ergänzte Kim. „Dieser Gott war offensichtlich für viele Bereiche zuständig.“

„Allerdings“, bestätigte Julian. „Apollon war ein sehr wichtiger Gott. Dennoch war er nur einer von vielen. Die Griechen hatten jede Menge Götter.“ Dann vertiefte er sich wieder mit Leon in die Biografie über Alexander den Großen.

„Habt ihr gewusst, dass nur Frauen die Sprüche des Orakels verkündeten?“, ließ sich Kim nach einer Weile wieder vernehmen.

„Nö“, gaben Julian und Leon zu.

„Steht hier“, sagte Kim zufrieden. „Das Orakel wurde immer von einer Priesterin, einer Pythia, gesprochen! Der Gott Apollon nutzte die Pythia sozusagen als Medium, um den Menschen etwas mitzuteilen!“

„Warum durften nur Frauen weissagen?“, hakte Julian nach.

Kim las ein Stück weiter, bevor sie antwortete: „Nun, scheinbar galten bei den alten Griechen nur die Frauen als rein und gut genug, um die Worte des Gottes zu empfangen.“

„Na ja“, grummelte Julian.

„Aber nur Männer durften das Orakel befragen“, fuhr Kim mit einem Lächeln fort. „Denn sie waren, so steht es hier jedenfalls, im antiken Griechenland der Herr im Hause und für das Wohlergehen der Familie verantwortlich. Also durften auch nur sie einen Blick in die Zukunft der Familie wagen. Und noch etwas: Das Orakel wurde von einem Mann geleitet – einem Oberpriester, der auch so eine Art Bürgermeister von Delphi war.“

Julian, Kim und Leon lasen weiter.

„Ha!“, stieß Julian kurz darauf hervor und rammte Leon spielerisch den Ellenbogen in die Seite.

„Aua, was soll das?“, rief dieser ärgerlich.

Triumphierend las Julian vor: „Alexanders Vater Philipp wurde ermordet und Alexander stand plötzlich an der Spitze des Königreichs Makedonien. Damals war er erst 20 Jahre alt.“ Sein Finger huschte über die Zeilen und machte dann bei einem Satz halt. „Gleich nach der Machtübernahme suchte der tiefreligiöse König im Jahr 336 vor Christus das berühmte Orakel auf, um sich beraten zu lassen!“

Leon war überrascht. „Das hätte ich nun wirklich nicht gedacht …“

„Hier steht, dass Alexander wirklich auf die Pythia gehört hat“, erklärte Julian. „Er soll wichtige Entscheidungen von ihren Worten abhängig gemacht haben!“

„Toll!“ Kim war begeistert. „Diese Pythien müssen sehr einflussreiche Frauen gewesen sein! Denn sie waren es wohl, die über das Schicksal des griechischen Volkes entschieden haben! Mal sehen, ob ich noch was über sie in meinem Buch finde.“

„Ich weiß nicht“, murmelte Leon. „Das klingt mir alles viel zu sehr nach Hokuspokus.“

Julian schwieg und las weiter.

„Mann!“, rief Kim plötzlich so laut, dass Kija, die sich auf dem Pult zusammengerollt hatte, aufsprang. „Ein Fluch, es gab einen Fluch des Orakels. Die Pythien mussten ihr Leben dem Gott Apollon weihen. Sie durften nicht heiraten. Wer gegen dieses Gesetz verstieß, den traf der Fluch des Orakels …“ Kims Stimme bebte, als sie fortfuhr: „Apollon war der Gott des Lichts. Wer ihn hinterging, den schickte er in die ewige Schattenwelt, in das grauenvolle Reich von Erebos. Erebos war der Gott der Finsternis! In seiner Welt gab es kein Licht, kein Leben, nur Tod und Verderben …“

Julian zog die Augenbrauen hoch. „Klingt reichlich gruselig.“ Nachdenklich streichelte Kim die Katze. Kija miaute leise und warf ihr einen unergründlichen Blick aus ihren smaragdgrünen Augen zu.

„Äh, Jungs“, sagte Kim. „Was haltet ihr davon, wenn wir …“

„… der Sache auf den Grund gehen?“, vollendete Leon den Satz aufgeregt. „Das ist eine sehr gute Idee. Denn ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass dieses Orakel so wichtig und mächtig war.“

Auch Julian war einverstanden. „Gut, wir werden herausfinden, ob sich Alexander tatsächlich von der Pythia beeinflussen ließ. Dazu sollten wir in das Jahr 336 vor Christus reisen.“

„Und wenn wir schon mal da sind, können wir auch gleich überprüfen, was es mit diesem Fluch auf sich hat“, ergänzte Kim.

Julian zögerte. Ein mächtiger Gott, ein verheerender Fluch, eine Welt ohne Licht …

Leon, Kim und Kija liefen bereits in den angrenzenden Raum. Dort befand sich der Zugang zu Tempus, dem unheimlichen Zeit-Raum. Er war das Tor zur Geschichte, zu geheimnisvollen Welten, zu neuen Abenteuern. Julian gab sich einen Ruck und lief den anderen hinterher.

Gemeinsam schoben die Freunde das schwere Bücherregal auf der im Boden verborgenen Schiene zur Seite. Dahinter erschien das finstere Portal von Tempus. Es war übersät mit dämonischen Fratzen. Hinter dem Portal heulte ein Sturm.

Kim drückte die Klinke hinunter und das Tor schwang auf. Augenblicklich ergriff ein scharfer Wind die Freunde und zog sie in die bläulich schimmernde Welt des Zeit-Raums. Der Boden pulsierte schneller als sonst, es war ein rasender Herzschlag, wie der eines fliehenden Tieres. Die Freunde hatten Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Nur Kija glitt elegant und sicher über den unruhigen Untergrund. Eilig lief sie durch den wabernden Nebel an den unendlich vielen Türen mit den einzelnen Jahreszahlen vorbei und führte die Freunde zu dem Tor, das sie suchten, aber vermutlich ohne Kijas Hilfe nicht gefunden hätten: Über dieser Tür prangte die Zahl 336 vor Christus! Ohne zu zögern, zog Leon die Pforte auf. Dahinter war nichts als Schwärze, als hätte Leon das Fenster zu einer mondlosen Nacht geöffnet.

Die Welt der Finsternis, die Welt von Erebos, dachte Julian erschrocken. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter und zuckte zusammen. Es war Kim, die ihm zuzwinkerte. Julian hatte sich wieder im Griff, er wusste, was zu tun war. Die Freunde fassten sich an den Händen und konzentrierten sich intensiv auf Delphi. Nur so war gewährleistet, dass Tempus sie auch an den richtigen Ort brachte. Dann schritten sie mit klopfenden Herzen durch die Tür – und stürzten ins Bodenlose.

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Glossar

Apollon (griechisch = der Goldhaarige) griechischer Gott des Lichts, des Frühlings, der sittlichen Reinheit, der Musik, des Gesangs, der Dichtkunst, der Weissagung und der Heilkunst. Beschützer der Herden, Helfer im Krieg. [zurück]

Delphi altgriechische Orakelstätte. Delphi liegt nördlich des Golfs von Korinth in einer Höhe von 700 Metern am Fuße des Parnass-Gebirges. Zur Küste sind es etwa 15 Kilometer. [zurück]

Erebos griechischer Gott der Finsternis. Laut der griechischen Mythologie gab es zu Beginn der Welt nur eine große Dunkelheit, der das Chaos entsprang.

Das Chaos paarte sich mit der Dunkelheit – aus dieser Verbindung entstanden die Nacht (Nyx), der Tag (Hemera), die Luft (Aither) und Erebos als Verkörperung der Finsternis und Erdentiefe. [zurück]

Gaia griechische Göttin der Erde (die Erde in Göttergestalt), Mutter des Drachen Python [zurück]

Makedonien heute zumeist Mazedonien (Hauptstadt Skopje), nördlich des heutigen Griechenlands gelegen. In der Antike von den Makedonen besiedelt, einem mit den Griechen verwandten Stamm [zurück]

Orakel Weissagung; auch der Ort, an dem eine Priesterin oder ein Priester Weissagungen verkünden [zurück]

Parnassos Bergmassiv bei Delphi, 2457 Meter hoch. Das Massiv ist laut der griechischen Mythologie dem Gott Apollon geweiht. Heute ist die Region ein bekanntes Skigebiet. [zurück]

Phokis mittelgriechische Landschaft, rau, gebirgig, wenig ertragreich für Landwirtschaft [zurück]

Pythia, Pythien Priesterin, Priesterinnen im altgriechischen Delphi [zurück]

LESEPROBE ENDE