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Auf Schatzsuche

„Das ist ein guter Platz, hier bleiben wir!“, rief Leon und stellte den prall gefüllten Korb auf der Lichtung ab, auf der einige Schmetterlinge tanzten. Sofort versuchte Kija, sie zu fangen, was ihr allerdings misslang. Dennoch gab die Katze nicht auf – ein schönes Spiel war es für sie allemal.

Kim nickte. „Stimmt. Hier kann man es wirklich aushalten.“

Auch Julian war begeistert. Die Freunde wollten heute grillen und hatten ein hübsches Plätzchen gesucht. Nun waren sie sehr schnell fündig geworden – ein Glück, denn sie hatten alle gewaltigen Kohldampf.

Die Lichtung lag an einem Flüsschen, das sich murmelnd durch Wiesen und Wälder zog. Die Sonne schien, es waren über zwanzig Grad und außerdem Sommerferien: Mehr ging nicht!

Sofort begannen die Freunde mit den Vorbereitungen. Kim und Julian bauten den kleinen Grill auf einer Sandbank am Fluss auf, während Leon die Getränke in das kalte Wasser stellte und ein Mäuerchen aus Steinen um die Flaschen herum errichtete, damit diese nicht von der Strömung mitgezogen wurden. Kija war nach wie vor damit beschäftigt, den bunten Schmetterlingen hinterherzuspringen.

Plötzlich stutzte Leon. Zwei oder drei Schritte von ihm entfernt glitzerte etwas im Wasser.

War das eine Münze?

Er krempelte die Hosenbeine hoch und stakste in das Flüsschen.

„O Mann, ist das kalt!“, rief er.

„He, Leon, gehst du schon baden?“, fragte Julian grinsend.

„Ne, der läuft wie ein Storch. Also sucht er bestimmt einen Frosch!“, meinte Kim. „Aber wir wollten doch eigentlich die Schweinenackensteaks grillen!“

Leon ließ sich nicht beirren. „Quatsch, ich hebe gleich einen Schatz!“

„Einen Schatz? Dann bist du vielleicht der Froschkönig, Leon, der die goldene Kugel der Königstochter gefunden hat. Ich komme!“, rief Kim sofort und kickte die Schuhe von den Füßen.

„Wenn du nicht gleich den Schnabel hältst, spritz ich dich nass!“, drohte Leon, während er sich hinabbeugte und ins Wasser griff. Das glitzernde Ding sah wirklich aus wie eine Münze!

„Uiuiui, das ist ja wirklich kalt“, jammerte Kim, als sie ihren großen Zeh ins Wasser getaucht hatte.

„Macht ihr mal“, meinte Julian, der lieber weiter den Grill aufbaute.

Leon zog den Fund aus dem Fluss. „Schaut, zwei Euro!“

Kim kam bibbernd näher. „Cool, im wahrsten Sinne des Wortes. Ob es hier noch mehr Münzen gibt?“

„Vielleicht“, antwortete Leon, der die Kälte an seinen Beinen zu ignorieren versuchte. „Und noch etwas: Du bewegst dich auch wie ein Storch.“

„Ach nee“, erwiderte Kim, während sie sich tief über das Wasser beugte. „Hm, wo ist die nächste Münze? Ich will auch eine. Oder gleich mehrere! Ich will einen riesengroßen Schatz!“

Leon lachte und suchte ebenfalls weiter.

Nach wenigen Minuten zwang die Kälte die beiden jedoch zum Aufgeben.

„Schade, keine weiteren Münzen mehr“, maulte Kim. Sie zog Kija zu sich und bat sie: „Kannst du dich mal kurz auf meine Füße legen?“

Die Katze blinzelte sie aus smaragdgrünen Augen an und tat ihr den Gefallen.

„Immerhin habe ich das hier“, meinte Leon und drehte und wendete seinen kleinen Schatz.

„Glückwunsch, aber jetzt lasst uns endlich grillen, ich habe Hunger!“, rief Julian.

Als die Freunde eine Stunde später pappsatt auf einer Decke in der Sonne lagen, meinte Kim: „Das war echt lecker! Wir sollten das öfter machen.“

„Gute Idee“, stimmte Leon ihr zu. „Das ist ein toller Ort. So schön ruhig, richtig idyllisch. Außerdem kann man hier Schätze finden. Wenn das Wasser nicht so kalt wäre, hätte ich echt Lust, den ganzen Fluss abzusuchen.“

„Wie die Goldsucher damals im Wilden Westen, was?“, lachte Kim.

„Klar, warum nicht?“, erwiderte Leon. Er blickte hoch zu den wenigen weißen Wölkchen. „Der Goldrausch … Wie das wohl damals war? Alles zu Hause aufgeben, den anderen Goldsuchern und Glücksrittern folgen, in einem Bach schürfen, in der Hoffnung, ein Nugget zu finden und mit einem Schlag reich zu sein? Was für ein Abenteuer!“

Julian wiegte den Kopf. „Ich weiß nicht. Das war doch alles reine Glückssache. Und wenn du wirklich etwas gefunden hast, haben bestimmt irgendwelche Schurken versucht, es dir zu stehlen.“

„Du musstest eben gut aufpassen und dich gegebenenfalls verteidigen. Also, ich fände es megaspannend, nach Gold zu suchen“, sagte Leon und schaute zu seinem Kumpel. „Wann war das eigentlich, der Goldrausch? Du weißt doch so etwas immer.“

„Öh …“ Julian musste scharf nachdenken. „Ich glaube, so etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts.“

Kim spielte mit ihren Haarspitzen. „Haben eigentlich auch Frauen nach Gold gesucht?“

„Bestimmt nicht“, meinte Leon und lächelte Kim an. „Die frieren beim Schürfen in den kalten Bächen viel zu schnell und können außerdem nicht mit Waffen umgehen.“

„Wie bitte?“, brauste sie auf und knuffte ihn in die Seite. „Du hast doch einen an der Murmel!“

„War doch nur ein Scherz“, antwortete er lachend. „Und hör auf, mich zu stoßen!“

Für einen Moment herrschte Stille auf der großen Decke. Kija hatte sich neben Kim in der Sonne zusammengerollt und ließ sich unter dem Kinn kraulen.

Schließlich meinte Leon: „Sollen wir heute Abend mal in unserer Bibliothek vorbeischauen? Ich will mehr über den Goldrausch erfahren.“

„Sehr gute Idee“, meinte Kim. „Dann können wir auch mehr über die coolen Frauen herausbringen, die damals im Wilden Westen lebten. Ah, jetzt fällt mir ein Name ein: Da gab es doch mal eine Frau, die hieß Calamity Jane, oder?“

Julian nickte. „Richtig, der Name sagt mir was. Aber ich habe keine Ahnung, ob die Gold gesucht hat.“

„Ich auch nicht“, gab Kim zu. „Aber Calamity Jane konnte gut schießen, soviel ich weiß.“

„Überprüfen wir es“, schlug Leon vor. „Aber nicht sofort. Jetzt muss ich erst mal chillen!“

Am frühen Abend betraten die Freunde die wunderschöne Bibliothek des uralten Benediktinerklosters St. Bartholomäus von Siebenthann. Diese hatte bereits geschlossen, aber Julian besaß ja einen Schlüssel zum Reich der Bücher.

Zielstrebig liefen die Gefährten in die Abteilung mit den Medien zum Thema Geschichte. In diesem Raum reihten sich hohe Regale aneinander, in denen man so gut wie alles finden konnte – Bücher und Fachzeitschriften über die Steinzeit oder die Antike ebenso wie Literatur über die jüngere deutsche Geschichte. Mitten im Raum standen Tische mit Computern. Dort ließen sich Julian und Kim nieder und fuhren die Rechner hoch. Leon spazierte an den Regalwänden entlang. Wo stand die Literatur über die Geschichte der USA?

Und Kija? Die rollte sich wie üblich auf einer der Fensterbänke zusammen. Von hier aus hatte sie ihre Freunde gut im Blick.

Einige Minuten herrschte konzentrierte Stille.

Kim wurde als Erste fündig. „Hier habe ich etwas über Calamity Jane. Ha, die muss echt eine Marke gewesen sein! Sie trank, kaute Tabak, griff gerne zur Waffe und fluchte fürchterlich“, berichtete Kim. „So verschaffte sie sich eine Menge Respekt im Wilden Westen und wurde zu einer Legende. Sie bewachte Postkutschen, arbeitete zeitweise als Saloondame und war als Goldsucherin unterwegs. Ich hab’s doch gewusst, Leon!“

Er lachte sie an. „Schon gut.“ Dann suchte er weiter.

„Und noch etwas: Calamity Jane soll mit einer weiteren Legende des Wilden Westens verheiratet gewesen sein – mit James Butler Hickok, genannt Wild Bill!“, ergänzte Kim. „Aber so genau weiß man das nicht.“

Julian schaute an seinem Bildschirm vorbei zu Kim. „Wild Bill? Den Namen kenne ich gut! Wild Bill war ein berühmter Revolverheld.“ Er gab den Namen in die Suchmaske ein und zeigte den anderen ein Foto des berühmten Westernhelden.

Dann wandte sich Leon wieder den Zeitschriften zu und überflog die Titel. „Wow, hier ist ein Magazin über den Wilden Westen“, freute er sich und nahm das entsprechende Heft aus dem Regal.

Er studierte das Inhaltsverzeichnis und sein Herz schlug höher. Gleich zwei lange Artikel befassten sich mit dem Goldrausch! Mit der Beute verzog sich Leon zu den Tischen, an denen seine Freunde saßen.

„Habt ihr gewusst, dass es eine ganz berühmte Goldgräberstadt gab?“, fragte er nach einer Weile.

Kim und Julian schüttelten die Köpfe.

„Sie hieß Deadwood. Komischer Name … Ah, hier steht auch, wo der Name herkommt. Die Stadt wurde in der Zeit des Goldrauschs in einer Schlucht voller umgestürzter Bäume gegründet. Deadwood galt damals als die härteste Stadt der Welt …“

Kim sah ihn interessiert an. „Warum?“

Leon las ein Stück weiter, bevor er antwortete: „Deadwood war eine illegale Goldgräbersiedlung. Wer dort lebte, lebte fern von Gesetz und Ordnung. Es gab zunächst keinen Sheriff und kein Gericht. Der Ort lag in den Black Hills im Reservat der Sioux. Dort gibt es ein Bergmassiv mit dunklen Kiefernwäldern, das von den Sioux Paha Sapa genannt wurde, was so viel bedeutet wie Schwarze Hügel – Black Hills eben. Für die Sioux war es ein heiliger Ort …“

Kim seufzte. „Die Goldsucher sind dort bestimmt eingedrungen und haben sich nicht darum geschert, oder?“

Wieder verging eine kurze Weile, bis Leon antwortete. „Ja, sieht so aus. Der damalige Präsident Ulysses Simpson Grant hat zunächst versucht, die vielen Goldsucher aus dem Reservat der Sioux fernzuhalten, weil sie dort nichts verloren hatten. Doch es wurden zu viele, steht hier. Die Armee wurde schließlich angewiesen, die Siedler und Goldsucher im Reservat der Sioux zu beschützen. So erlebte der Goldrausch im Sommer 1876 einen absoluten Höhepunkt – in der Stadt ohne Gesetz, in Deadwood.“

„Es gibt sogar eine große TV-Serie, die unter dem Namen der Stadt lief“, sagte Kim nun, die einen entsprechenden Link im Internet entdeckt hatte.

„Klar, das ist natürlich ein spannendes Thema. Goldrausch, Glücksritter, Stadt ohne Gesetz …“, meinte Leon und legte das Heft beiseite. „Ich hätte ja schon Lust, mich dort mal umzuschauen und nach Gold zu schürfen!“

Entsetzt sah Julian ihn an. „Eine Zeitreise mit Tempus nach Deadwood?“

Leon lächelte. „Warum nicht?“

Julian tippte sich an die Stirn. „Lieber nicht! Dort saß der Colt garantiert ziemlich locker!“

„Das glaube ich nicht. Deadwood hätte nicht einen solchen Boom erlebt, wenn jeder auf jeden geschossen hätte. Außerdem können wir doch jederzeit wieder zurückreisen“, erwiderte Leon. „Was meinst du, Kim?“

„Ich bin dabei“, sagte sie. „Und ich werde vor dir ein Nugget aus irgendeinem kalten Bach fischen, Leon.“

„Warten wir’s ab“, meinte er lachend.

Gemeinsam gelang es Kim und Leon, Julian zum Mitkommen zu überreden. Kurz darauf schoben sie das schwere Regal beiseite, hinter dem sich die mit magischen Zeichen verzierte Pforte zum geheimnisvollen Zeitraum Tempus befand.

Leon ging voran und betrat den unheimlichen Raum, der kein Ende und keinen Anfang hatte und in dem wie üblich bläulicher Nebel waberte.

Suchend tastete er sich über den pulsierenden Boden vorwärts, immer auf der Suche nach der Pforte mit der Zahl 1876.

Über eine Viertelstunde irrten die Gefährten umher, doch die richtige Tür konnten sie nicht entdecken.

Hilfe suchend schaute Leon zu Kija. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass das kluge Tier ihnen einen Hinweis gab.

Doch Kija maunzte nur, und in Leons Ohren klang es schon fast entschuldigend.

Gerade als er den Blick wieder auf die Türen heften wollte, fiel ihm etwas auf.

Der blaue Nebel hatte sich verändert, er sah jetzt aus wie ein Fluss, der auf Kniehöhe durch Tempus floss.

Instinktiv folgte der Junge der Strömung, die anderen im Schlepptau. Jetzt vernahm Leon ein Gurgeln und Plätschern, sodass er schon fürchtete, nasse Füße zu bekommen. Doch der blaue Nebelfluss blieb trocken, er floss mal langsamer, dann wieder schneller, wobei er sanfte Bögen beschrieb.

Plötzlich hielt Leon inne. Was war denn das?

„Schaut, da glitzert etwas!“, rief er seinen Freunden zu. „Wie im Bach, als wir gegrillt haben.“

Im Bett des Nebelflusses war ein goldener Schimmer zu sehen. Leon beugte sich darüber. Überrascht stieß er hervor: „Da ist eine Tür im Boden!“

Jetzt entzifferte er mit etwas Mühe die Zahl, die in goldenen Ziffern darüber stand: 1876!

„Irre, Tempus lässt sich immer wieder etwas Neues einfallen“, rief Leon. Er stellte sich seitlich neben die Tür und stemmte sie auf.

Der Nebel verzog sich und nun sahen die Freunde ein dunkles Loch.

„Sollen wir wirklich?“, fragte Julian.

„Na klar“, erwiderten die anderen beiden.

Kim nahm Kija auf den Arm.

Nun fassten sich die Freunde an den Händen und konzentrierten sich ganz auf Deadwood. Denn nur so konnte Tempus sie auch an den gewünschten Ort bringen.

Schließlich wagten sie den einen entscheidenden Schritt und fielen in ein schwarzes Nichts aus Zeit und Raum.

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