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Eine Pfanne als Waffe

Kim hetzte zu den Jungen und weckte sie. Leon und Julian waren sofort hellwach, und Kim berichtete, was vorgefallen war.

„Da ist noch etwas“, sagte sie zum Schluss. „Der Typ sah zwar aus wie ein Sioux, aber es war vermutlich keiner!“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Sioux tragen doch Mokassins. Aber an der Stelle, an der ich überfallen wurde, waren nur die Abdrücke von Stiefeln zu sehen. Und was sagt uns das? Der Täter hat sich als Sioux verkleidet, um den Verdacht auf die Indianer zu lenken.“

Leon stieß einen leisen Pfiff aus. „Das ist ja unglaublich! Ich frage mich nur, was der Mann überhaupt gewollt hat. War er ein Dieb?“

Julian zog die Pfeilspitze aus der Hosentasche und strich über die Spitze. „Ich frage mich noch etwas ganz anderes“, sagte er. „War der Angriff am Fluss etwa auch ein Täuschungsmanöver? Haben gar nicht die Sioux dahintergesteckt, sondern irgendwelche anderen Leute?“

Kim nickte. „Gut möglich. Vielleicht haben es die Typen auf das Hab und Gut der Siedler abgesehen. Lasst uns die Armstrongs alarmieren.“

Bob und Victoria waren entsetzt, dass Kim angegriffen worden war. Doch dass jemand anderes hinter den Überfällen stecken könnte als die Sioux, glaubten sie nicht.

„Wir wurden mit Pfeilen beschossen“, sagte Bob zu Kim. „Außerdem trug der Mann, der dich angriff, Indianerkleidung.“

„Aber keine Mokassins“, wandte das Mädchen ein.

Bob machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das besagt nichts. Vielleicht hat der Krieger die Stiefel bei einem anderen Überfall erbeutet. Und jetzt werde ich dafür sorgen, dass die Wachen verstärkt werden und wir keine weitere unangenehme Überraschung erleben.“

In der Nacht blieb es aber zum Glück völlig ruhig. Bei Tagesanbruch wurden die Gefährten geweckt. Zügig packten die Siedler zusammen. Dann machte sich der Treck auf den Weg.

Nach einigen Meilen tauchte ein schroffes Bergmassiv im Morgendunst auf.

„Das müssen die Black Hills sein“, meinte Bob.

Die Planwagen zuckelten aus dem weiten Grasland der Great Plains. Der Weg führte nun stetig bergauf und wurde deutlich schmaler. An einigen Steigungen mussten die Siedler von ihren Wagen steigen, damit sie leichter wurden. Die Zugtiere gaben alles, ihre Leiber dampften in der Sonne. Doch immer wieder war es nötig, dass die Siedler die Planwagen anschoben, damit sie eine steile Stelle meisterten. Rechts und links breiteten sich dunkle Kiefernwälder aus, und Leon verstand jetzt, warum diese Gegend Black Hills genannt wurde.

Es war eine wahre Tortur für Mensch und Tier. Kommandos wurden gebrüllt, Peitschen knallten. Im Schneckentempo schleppte sich der Treck bergauf. Mehrfach kamen sie an einfachen Holzkreuzen vorbei.

Ein Planwagen kippte in einer scharfen Kurve um und musste mit vereinten Kräften aufgerichtet werden. Bei einem anderen brach ein Rad. Bis es ausgetauscht war, verging eine Stunde. All das kostete nicht nur Zeit, sondern auch Kraft und Nerven.

Doch endlich gelangte der Treck auf eine Kuppe – und hier brüllte Bob: „Wir sind da, das muss Deadwood sein!“

Ein steiler Pfad führte mehrere hundert Meter hinunter in ein enges Tal, durch das sich ein Fluss zog. An den steilen Hängen rechts und links wuchsen neben Kiefern auch Weiden und Espen. Am nördlichen Ende des Tals befand sich eine Siedlung. Rauchfahnen standen kerzengerade über unzähligen Lagerfeuern. Aus den Wäldern hallten Axthiebe nach oben zur Kuppe.

„Ha, bald werde ich nach Gold schürfen!“, jubelte Calamity Jane, die mit ihrem Wagen neben dem von Bob aufgetaucht war, und deutete zum silbernen Band des Flusses.

Bob lachte. „Na, erst mal müssen wir hier heil runterkommen!“

Der Weg bergab entpuppte sich als noch anstrengender als der Anstieg. Immer wieder drohten sich die schweren Fuhrwerke selbstständig zu machen und die armen Zugtiere zu überrollen.

Doch der Treck schaffte es ohne jegliche Verluste hinunter ins Tal und schließlich hinein in den Ort.

Leon staunte, als sie über die Main Street fuhren, die parallel zum Fluss verlief. Deadwood war eine chaotische Ansammlung von Zelten, Blockhäusern, armseligen Hütten und stattlichen Häusern mit breiten Fronten und gezimmerten Balkonen. Es gab Hotels, Werkstätten, Kaufhäuser, Spielhöllen, Drugstores, Saloons, eine Schmiede sowie mehrere Sägemühlen und Zimmereibetriebe. Nichts schien geplant und durchdacht, alles dem Zufall oder der Willkür überlassen. Einige der Gebäude standen auf Pfählen, weil sich die schmutzstarrenden Bewohner darunter auf der Suche nach Gold in den schlammigen Boden wühlten wie Maulwürfe.

Niemand begrüßte die Neuankömmlinge, mancher warf ihnen sogar eher feindselige Blicke zu.

Wahrscheinlich sehen die Siedler uns als Konkurrenten bei ihrem Kampf um ein paar Krümel Gold, dachte Leon.

Sie kamen kaum vorwärts, weil zahllose Fuhrwerke die Straße verstopften. Arbeiter wuchteten Säcke und Kisten von den Ladeflächen und schleppten sie über schmale Stege, die sich über den Schlamm spannten wie mickrige Bürgersteige, in die Läden. Dort, wo die Männer mit gebeugten Rücken schufteten, staute sich hinter ihnen der Verkehr.

Die anderen Kutscher kamen nicht vorbei, ließen ihre sechs Meter langen Peitschen zischen und verfluchten die störrischen Tiere, den Zustand der Main Street und vor allem die menschlichen Bremsklötze vor ihnen.

Fliegende Händler wuselten durch das Durcheinander und boten Süßigkeiten oder geröstete Erdnüsse an. Aus einem Saloon drangen Musik und raues Gelächter.

„Seht, hier ist noch Platz!“, rief Bob unvermittelt, als sie kurz vor der Kreuzung waren, wo die Main Street auf die Shine Street traf. „Hier bleiben wir!“

Mit einiger Mühe steuerte er den Planwagen auf eine freie Stelle zwischen einem dreckverkrusteten Zelt und einer schmucklosen Blockhütte.

Bob sprang vom Kutschbock, holte einen Pfosten unter der Plane hervor und rammte ihn mit ein paar wuchtigen Hammerschlägen in den Boden. Dann hängte er ein Blechschild daran: Eisenwaren Armstrong.

„Der Pfosten mit dem Schild markiert jetzt unseren Besitz!“, lachte er und rief seiner Familie zu: „Kommt, packt mit an. Wir werden mit dem Bau eines Hauses beginnen. Noch heute werde ich Holz kaufen und zuschneiden lassen. Parallel werden wir unsere Waren vom Wagen herunter verkaufen, damit Geld reinkommt.“

„Irre, wie einfach das hier geht“, flüsterte Leon seinen Freunden zu.

„Tja, hier gibt es kein Gesetz, keine Behörden, kein Rathaus oder Grundbuchamt oder wie das heißt“, meinte Julian grinsend. „Alles scheint erlaubt. Und wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“

Da fiel Bobs Blick auf die Gefährten. „So – und ihr sucht jetzt am besten eure Eltern. Vielleicht sind sie ja schon da.“

Leon wechselte Blicke mit seinen Freunden. Dann meinte er: „Natürlich, das hatten wir ohnehin vor.“

In diesem Augenblick zuckelte Calamity Jane an ihnen vorbei. „Nicht schlecht, Bob, aber das sieht mir nach verdammt viel Arbeit aus“, rief sie ihm zu. „Ich stecke mir lieber einen Claim ab. Na ja, vielleicht höre ich mich auch mal in den Saloons um, ob die ’ne hübsche Lady brauchen, die gut tanzen kann. Hü!“

Langsam verschwand sie, und Leon sah ihr nach.

Hm, mit ihr könnten sie eher nach Gold schürfen als mit den Armstrongs …

Da tauchte der nächste Planwagen auf, diesmal mit Wild Bill auf dem Kutschbock.

Der Revolverheld deutete auf einen Hain aus Fichten und Kiefern, der sich etwa fünfzig Meter oberhalb der Stelle befand, die Bob gerade besetzt hatte, und meinte: „Das scheint mir ein recht ruhiges Plätzchen zu sein, dort werde ich meinen Planwagen hinstellen.“

„Willst du auch ein Haus bauen? Sollen wir dir helfen?“, fragte Bob.

„Ach was, ein Haus brauche ich nicht. Ich schlafe ganz wunderbar auf meinem Wagen“, lachte Wild Bill.

Dann war auch er verschwunden und die Freunde brachen auf, angeblich um ihre Eltern zu suchen. Staunend liefen sie durch die chaotische Stadt, die jeden Moment ihr Aussehen änderte. Nach einer halben Stunde kehrten sie zu den Armstrongs zurück.

„Leider haben wir sie nicht gefunden“, meinte Leon und gab sich größte Mühe, niedergeschlagen zu klingen.

Victoria versuchte, ihn und seine Freunde zu trösten: „Vielleicht kommen sie ja mit dem nächsten Treck.“

„Und was machen wir mit euch bis dahin?“, fragte Bob das Trio mit der Katze.

„Na ja, wir packen gern mit an und können uns nützlich machen beim Hausbau“, sagte Leon schnell. „Da wird doch sicher jede Hand gebraucht, oder?“

Kim nickte heftig. „Genau, wir sind sehr fleißig! Und unsere Katze kann die Mäuse fernhalten.“

Da mussten Bob und Victoria lachen.

„Gut, ihr habt gewonnen“, rief Bob. „Ihr helft uns und wir helfen euch. Ihr dürft weiter unter dem Wagen schlafen, bis das Haus steht. Und dann finden wir schon ein besseres Plätzchen für euch.“

„Ach ja, zu essen bekommt ihr natürlich auch etwas bei uns!“, ergänzte Victoria.

Die Freunde bedankten sich für die Gastfreundschaft und packten mit an, um den Armstrongs zu helfen.

Zunächst wurden die Planwagen entladen. Schon bald stapelten sich Waren, Werkzeuge und persönliche Dinge auf dem kleinen Flecken Land der Familie.

Dann fuhr Bob los, um Baumaterial zu besorgen. Währenddessen sorgte Victoria dafür, dass aus mehreren nebeneinanderstehenden Fässern, auf die sie Bretter legte, ein provisorischer Verkaufstresen am Straßenrand entstand.

Schon blieben die ersten Passanten stehen und beäugten kritisch die Teekessel, Pfannen, Messer, Schaufeln oder das Zaumzeug. Die Waffen und die Munition blieben aber zunächst unsichtbar auf dem Planwagen.

„Pass auf, dass niemand etwas klaut“, sagte Victoria zu Leon, der ihr gerade am nächsten stand.

„Mach ich“, erwiderte er und bezog Posten neben einem der Fässer. Immer mehr Menschen kamen zu dem neuen Verkaufsstand auf der Main Street, und Leon war wirklich gefordert. Viele der Leute, die sich um den Stand drängten, machten einen abgerissenen Eindruck. Es handelte sich fast ausnahmslos um Männer, die alles anfassten und in den Händen wogen, als wollten sie den Wert über das Gewicht bestimmen. Auch Jack McCall, der Spieler, war darunter.

Doch niemand kaufte etwas. Wortlos gingen die Leute weiter. So verging eine geschlagene Stunde.

Da fiel Leons Blick auf die nahe Kreuzung zur Shine Street. Gerade stieg dort Wanderprediger Franklin mit seiner Bibel auf eine Holzkiste. Er räusperte sich laut und vernehmlich und begann, das Wort Gottes zu verkünden. Dabei wetterte er gegen das Glücksspiel, die losen Sitten und das Laster in der Stadt.

„Jeder, der sündhaft handelt, begeht damit auch eine Gesetzlosigkeit, und die Sünde ist die Gesetzlosigkeit“, rief er und klopfte auf die Heilige Schrift. „Hier steht es geschrieben. ‚Du sollst nicht stehlen!‘, heißt es im achten Gebot. Und im zehnten Gebot ist zu lesen: ‚Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.‘“

Leon runzelte die Stirn. Die Leute liefen oder ritten an Franklin vorbei und schenkten ihm kaum Beachtung.

„Was geht ihr einfach weiter?“, schleuderte Franklin den Leuten entgegen. „Warum haltet ihr nicht inne und lauscht dem Wort Gottes? Glaubt mir, ihr könnt es vertragen.“

Unbeirrt machte der Prediger weiter. Doch es nützte nichts, auch als er noch lauter sprach. Einige machten sogar einen weiten Bogen um Franklin.

„Er wird sich hier schwertun“, sagte Victoria, die plötzlich neben Leon aufgetaucht war. „Gerade in einer solch gottlosen Stadt … Hier gibt es ja noch nicht einmal eine Kirche! Aber vielleicht gelingt es Männern wie ihm und Wild Bill, hier für mehr Gottesfürchtigkeit, Respekt und Anstand zu sorgen. Ich wünsche es mir so sehr.“ Seufzend blickte sie zu ihren Kindern. „Schließlich möchte ich auch nicht, dass Benjamin und Sally für immer in einem solchen Umfeld leben müssen.“

Sie straffte die Schultern. „Womöglich können auch wir Armstrongs unseren kleinen Beitrag leisten, indem wir beweisen, dass man mit ehrlicher, harter Arbeit Geld verdienen kann.“

Dann wurden ihre Augen schmal. „He, was soll das?“, blaffte sie einen Mann mit einem fleckigen schwarzen Hut an. „Leg das sofort wieder zurück!“

Leon sah, dass der Kerl ein Messer der Armstrongs in der Hand hatte.

„Will’s mir ja nur mal anschauen …“, erwiderte der Mann mit den eng zusammenliegenden Augen und dem struppigen Bart. Er grinste schief und Leon bemerkte, dass dem Kerl mehrere Zähne fehlten. Die, die ihm geblieben waren, waren dunkle Ruinen.

„Nein, du wolltest das Messer unter deiner Weste verschwinden lassen, ich hab’s genau gesehen!“, zischte Victoria.

Leon erschrak – das war ihm entgangen. Er nahm sich vor, künftig viel besser aufzupassen.

„Red keinen Unsinn, Weib“, knurrte der Kerl und winkte drei andere Männer heran. „Die böse Lady behauptet, ich sei ein Dieb.“

Schallendes Gelächter erklang. „Du, Tacker, sollst ein Dieb sein? Aber nicht doch!“

Der Mann, der offenbar Tacker hieß, beugte sich über den einfachen Tresen und sagte zu Victoria: „Hast du das gehört? Ich bin ein ehrenhafter Mann!“

Victoria schnaufte verächtlich. „Du doch nicht!“

Jetzt kamen auch Julian, Kim sowie die Armstrong-Kinder zum Tresen und bauten sich um Victoria auf. Kija sprang auf das Brett mit den Pfannen.

„Oh, ich bin beeindruckt“, höhnte Tacker. „Was für eine tolle Truppe! Ein böses Weib mit einem losen Mundwerk, ein paar dumme Kinder und eine vermutlich noch blödere Katze!“

In Leon kochte die Wut hoch. Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Doch er hütete seine Zunge, schließlich hatten sie es mit vier Männern zu tun.

Ganz anders Kim: „Wer ist hier blöd? Du doch wohl. Denn du kannst offensichtlich noch nicht mal auf deine Zähne aufpassen. Hat man sie dir geklaut?“

Erneut lachten Tackers Freunde. „Der war gut!“

Doch Tacker fand das gar nicht lustig. Er holte aus und wollte Kim eine schallende Ohrfeige verpassen.

In dieser Sekunde traf ihn eine schwere Pfanne seitlich am Kopf.

„Fass sie nicht an!“, blaffte Victoria und holte erneut aus.

Klong! Diesmal traf sie die andere Seite von Tackers Kopf, der durchgeschüttelt wurde wie ein dünner Baum im Sturm.

„Aua!“, schrie er und taumelte benommen nach hinten in die Arme seiner Freunde.

Die hörten auf zu lachen und gingen zum Gegenangriff über. Leon packte ein Paar Steigbügel und schleuderte sie den Kerlen entgegen.

Treffer!

Auch die anderen Kinder benutzten die Waren als Wurfgeschosse.

„Feuer frei!“, rief Benjamin mit glühenden Wangen, während seine Mutter die Pfanne schwang wie ein Schmied den Hammer.

Klong, klong, klong!

Doch es nützte nichts, die Männer wichen den Hieben aus, und als einer von ihnen auch noch den Colt zog, zogen sich die Verteidiger voller Angst vom Tresen zurück.

„Wage es nicht!“, schrie Victoria und stellte sich schützend vor die Kinder.

Voller Panik schaute sich Leon um – warum half ihnen niemand?

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