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Am Pokertisch

Der Mann lächelte kalt und gab den anderen ein Zeichen. Seine beiden Freunde und auch Tacker, der sich wieder aufgerappelt hatte, begannen, sich bei den Waren der Armstrongs zu bedienen.

„Hilfe!“, schrie Victoria, doch sie erntete allenfalls ein paar gleichgültige Blicke von eilig vorbeihastenden Passanten.

„Nicht schlecht“, meinte Tacker und wollte eine Tabakdose einstecken.

Doch da packte ihn eine große Gestalt von hinten.

Wild Bill!, erkannte Leon und sein Herz machte einen Sprung.

Tacker wand sich unter dem stählernen Griff.

„Leg das wieder hin, du Wurm, wenn dir irgendetwas an deinem armseligen Leben gelegen ist“, knurrte Wild Bill, der einen Kopf größer war als der Dieb.

„Was bildest du dir ein, du Dreckskerl? Was mischst du dich hier ein?“, rief einer von Tackers Komplizen. Doch dann machte er einen Schritt zurück. „Oh, du bist es … Wild Bill.“

„Richtig, der bin ich“, erwiderte er. „Wolltest du noch etwas sagen?“

Eilig schüttelte Tackers Freund den Kopf und machte sich mit den anderen aus dem Staub.

„Lass mich los, bitte!“, flehte Tacker.

„Gern, denn du bist schmutziger als die Main Street“, erwiderte Wild Bill. „Und jetzt pass mal auf.“

Er hob eine alte Büchse auf, die halb im Schlamm der Straße steckte, warf sie hoch und zog blitzschnell einen seiner Colts.

Ein Schuss krachte, dann fiel die Dose wieder zu Boden.

Wild Bill hob sie auf und hielt sie Tacker unter die Nase.

„Siehst du das? Glatter Durchschuss.“

Tacker nickte mit Schweiß auf der Stirn. „Du bist wirklich der beste Schütze weit und breit“, versuchte er ihm zu schmeicheln.

„Ja, vermutlich“, gab der Revolverheld zurück und ließ die Büchse achtlos fallen. „Und weißt du, was es bedeutet, wenn ich diese kleine Dose im Flug treffe? Das bedeutet, dass ich ein großes Rindvieh wie dich ganz sicher ebenfalls erwische. Hast du das verstanden?“

Tacker nickte heftig und endlich ließ Wild Bill ihn los. „Hau ab!“

Das ließ sich der Mann nicht zweimal sagen und verschwand in der Menge.

In diesem Augenblick tauchte Bob mit seinem Planwagen auf. Aufgeregt sprang er vom Kutschbock und rief: „Seht, was ich schon alles bekomme habe – ein paar erste Balken und …“

Er brach ab, als er die verstörten Gesichter seiner Familie sah. „Was ist passiert?“

Seine Frau berichtete.

„Großer Gott“, murmelte Bob. Dann luden sie erst einmal ab. Wild Bill half ihnen. Kurz darauf hockten sie hinter dem Tresen zusammen.

„Was für eine Stadt“, sagte Bob nachdenklich. „Und was für ein Pack, das sich hier herumtreibt … jedenfalls zum Teil.“

Ja, dachte Julian. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn wir nicht hierhergekommen wären.

Er warf einen sehnsüchtigen Blick zu dem Planwagen, durch den Tempus sie in den Wilden Westen geschickt hatte.

„Deadwood ist eine Stadt ohne Gesetz, ohne Sheriff, ohne Gericht, ohne Gefängnis, ohne Bürgermeister“, meinte Wild Bill. „Kein Wunder, dass Deadwood viele Kriminelle anzieht, die woanders steckbrieflich gesucht werden – denn hier sind sie vor der Verfolgung sicher. Das muss sich schleunigst ändern.“

„Mit dir als Sheriff wird das schon klappen!“, rief Benjamin.

„Aber wer soll mich denn wählen?“, sagte Wild Bill betrübt. „Dazu braucht es eine Verwaltung, wie es sie in normalen Städten ja auch gibt. Aber so etwas fehlt in Deadwood. Ich habe mich gerade in einem der Saloons ein wenig umgehört. Es gibt hier lediglich Miners’ Courts.“

„Was ist das?“, wollte Julian wissen.

„Das sind hastig zusammengerufene Gerichte aus Laien, die über Claim-Streitigkeiten, Wasserrechte oder Verbrechen entscheiden. Aber von denen hat niemand wirklich Ahnung von Gesetz und Ordnung.“

Bob blickte Wild Bill an: „Was wirst du nun tun? Doch nicht wieder gehen, oder?“

„Nein, auf keinen Fall. Ich werde versuchen, mit einigen ehrlichen Menschen eine Verwaltung aufzubauen, um mich später zum Sheriff wählen zu lassen. Und dann werden in Deadwood andere Zeiten anbrechen, das verspreche ich euch. Bis dahin werde ich mich notfalls als Pokerspieler durchschlagen.“

„Andere Zeiten …“, murmelte Bob. „Hoffentlich. Aber bis dahin ist es vermutlich noch ein sehr weiter Weg.“ Er schaute zu seiner Frau. „Ich frage mich, ob es nicht besser wäre, wenn wir wieder wegziehen. Dieser Ort ist zu gefährlich für uns.“

„Nein!“, entschied Victoria. „In unserer alten Heimat haben wir alles aufgegeben und unser Land verkauft. Alles, was wir besitzen, befindet sich auf diesen beiden Planwagen. Und jetzt sind wir hier und haben einen Platz gefunden. Den will ich verteidigen. Ich bin nicht bereit, so schnell aufzugeben, Bob!“

Julian bewunderte Victorias Mut. Aber wie sah das ihr Mann?

Bob überlegte einen Moment und massierte seine Schläfen.

„Ich will ebenfalls hierbleiben“, sagte jetzt Benjamin leise.

„Ich auch“, stimmte seine Schwester zu.

Da lächelte Bob. „Gut, das nenne ich überzeugend. Dann wollen wir es versuchen. Kommt, es gibt noch eine Menge zu tun.“

Als es Abend wurde, hatte sich bei allen die Stimmung beträchtlich gebessert. Zum einen waren schon einige Pfosten für das Haus der Armstrongs eingeschlagen worden. Zum anderen war es Victoria gelungen, ein paar erste Dinge zu verkaufen.

Julian, Leon und Kim erhielten die Erlaubnis, sich in der Stadt umzuschauen. Natürlich ließ es sich Kija nicht nehmen, die Gefährten zu begleiten.

Sie marschierten über die nach wie vor überfüllte Main Street mit ihren Saloons und Läden und gelangten schließlich zum Cricket Saloon, einem bei den Bewohnern Deadwoods besonders beliebten Lokal, in dem jeden Abend eine Menge los war. Piano- und Geigenmusik drang auf die Main Street.

„Ob wir da mal einen Blick reinwerfen können?“, meinte Julian neugierig und trat an eines der Fenster, das wegen der sommerlichen Temperaturen weit geöffnet war.

Leon und Kim, die Kija auf den Arm genommen hatte, folgten ihm.

Sie schauten in einen rappelvollen Saal, der von Petroleumlampen erhellt wurde. Es gab eine lange, kunstvoll verzierte Theke, hinter der mehrere Männer standen, die Drinks ausschenkten und Gläser abspülten. Um blank polierte Tische saßen rauchende Männer, die Karten spielten. Alle waren bewaffnet.

Auf einem Podest gaben zwei Geiger und ein Klavierspieler ihr Bestes. Vor ihnen schmiss eine Frau in einem Kleid mit vielen roten Rüschen unter dem Gejohle der ausschließlich männlichen Besucher die Beine in die Höhe.

„Ha, da ist ja Calamity Jane! Sie kann ja wirklich gut tanzen!“, lachte Julian.

„Stimmt, sieht gar nicht so furchtbar aus“, erklang eine Stimme hinter ihnen.

Die Freunde fuhren herum.

„Oh, Wild Bill“, sagte Julian.

„Ja, ich will heute Abend noch mein Glück beim Draw Poker versuchen“, sagte er und lächelte. Dann deutete er auf einen Mann mit einem akkurat gestutzten Schnauzbart, der ein blütenweißes Hemd und eine schicke Weste trug.

„Das ist übrigens der Boss von dem Laden. Er heißt Al Swearengen. Er ist der König von Deadwood, der reichste Mann hier, habe ich heute Nachmittag gehört. Er ist dafür bekannt, dass er seinen Kunden das letzte Hemd abknöpft und gnadenlos durchgreift. Wer sich in seinem Schuppen nicht benimmt, bekommt einen Mickey Finn aufs Haus …“

„Mickey Finn?“, fragte Julian nach.

Wild Bill grinste breit. „Das soll ein Drink sein, der mit Chloralhydrat versetzt ist und jeden außer Gefecht setzt. Na, dann wollen wir mal.“

Er ließ die Freunde am Fenster zurück und betrat den Saloon durch die Schwingtüren.

Kurz schaute sich Wild Bill um und steuerte dann auf einen der Pokertische zu, an dem noch ein Stuhl frei war. Der Tisch befand sich ganz in der Nähe des Fensters, vor dem die Freunde standen.

Jetzt entdeckte Julian in der Spielerrunde ein weiteres bekanntes Gesicht. „Guckt mal, da ist dieser Jack McCall“, sagte er zu Leon und Kim.

„Stimmt“, meinte Leon. „Hoffentlich hat Wild Bill gute Karten.“

Kim grinste. „Die sind bestimmt gezinkt.“

Wild Bill ließ sich Whiskey bringen. Nachdem er an seinem Glas genippt hatte, ging es los.

Gebannt schauten die Freunde zu.

Zunächst wurden von den insgesamt sechs Spielern die Mindesteinsätze gemacht, dann verteilte der Dealer die ersten fünf Karten an jeden in der Runde.

Wild Bill warf einen flüchtigen Blick auf sein Blatt und legte es vor sich hin. Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske.

Nun setzten die Spieler weiteres Geld, nahmen Karten nach oder stiegen aus.

McCall blieb ähnlich gelassen wie Wild Bill, der seinen Einsatz verdoppelte. McCall zog nicht nur gleich, sondern erhöhte um das Dreifache.

Julian stieß einen leisen Pfiff aus. „Die wollen es aber wissen.“

Schließlich war es so weit: Die Karten mussten aufgedeckt werden.

Wild Bill hatte ein Full House aus drei Damen und zwei Neunen, McCall nur ein Trio – er hatte verloren.

„Verdammt“, knirschte er und kippte den Inhalt seines Glases hinunter.

Es ging weiter.

„Wild Bill hat eine Glückssträhne“, freute sich Julian nach einer Weile.

„Ganz im Gegensatz zu McCall“, meinte Leon.

Der Geldhaufen vor dem Berufsspieler schmolz wie Butter in der Sonne, und nun wurde McCall doch allmählich nervös. Er lockerte den obersten Hemdknopf, schob die Ärmel hoch, er zwinkerte und trommelte mit den Fingerknöcheln auf dem Tisch herum.

Als es wieder eine Runde gab, in der nur noch er und Wild Bill übrig waren, schob er sein letztes Geld in den Pot.

All in“, verkündete McCall heiser. Es klang wie ein Krächzen.

Wild Bill musterte ihn abschätzig und kühl. Er zögerte.

Julian schaute zu seinen Freunden. „Das ist eine Menge Geld. Hoffentlich macht Wild Bill jetzt keinen Fehler!“

Sekunden tröpfelten. Alle Blicke waren auf Wild Bill gerichtet.

„Und, traust du dich?“, fragte McCall lauernd. Auf seiner Stirn stand Schweiß.

Keine Antwort.

„Steig lieber aus“, stichelte McCall. „Ist besser für dich.“

Stattdessen zog Wild Bild beim Einsatz gleich. „Will sehen.“

McCalls Kehlkopf hüpfte wie ein Jo-Jo. Mit einem unsicheren Lächeln deckte er eine Karte nach der anderen auf: erst ein Ass, dann eine Zwei, eine Drei, eine Vier und schließlich eine Fünf.

Straight“, sagte er.

Julian warf einen bangen Blick zu Wild Bill.

Konnte er mithalten?

Nach wie vor verriet das Gesicht des Revolverhelden nichts.

„Da staunst du, was?“, fragte McCall giftig.

Wortlos blätterte Wild Bill seine Karten hin, und McCalls Kinnlade fiel herunter: Wild Bill hatte vier Damen, also einen Vierling, der mehr wert war als der Straight.

Ein Raunen ging durchs Rund, während Wild Bill sanft lächelnd den Pot an sich nahm.

„Irre“, freute sich Julian. „Der hat es echt drauf!“

In dieser Sekunde sprang McCall auf und richtete seinen Revolver auf Wild Bill: „Du verdammter Mistkerl, du spielst falsch!“

Wild Bills Bewegungen gefroren. Langsam richtete er den Blick auf die Waffe, die in McCalls Hand zitterte.

„Du hast mich ruiniert, du Betrüger, aber dafür wirst du jetzt bezahlen!“, schrie McCall.

Dann krachte ein Schuss.

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