Cook County, Illinois

Plus ça change«, sagt Abi. »Quebec, Massachusetts, Utah, Illinois – alles dasselbe. Das Einzige, was sich ändert, sind die Landesblumen auf den Nummernschildern.«

»Weil wir, egal wo wir hingehen«, antwortet Eli, »immer dieselben sind. Immer dieselben alten Jones.«

»Dieselben alten Jones im immer selben alten Jones-Town«, macht Abi weiter. »Wo wir den immer selben vergifteten Saft trinken.«1

Sie befinden sich in einer neuen Wohnung am Rand von Chicago, wo sie hingezogen sind, damit Pal wieder einmal einen neuen Job annehmen kann, dieses Mal in einer größeren, angeseheneren Thermoelektrik-Firma.

Es ist ein regnerischer Abend Mitte Dezember. Eli steckt künstliche Tannenzweige in Schlitze in einem Holzstab, der von einem dreizinkigen Metallständer gehalten wird. Am Nachmittag hat er den künstlichen Weihnachtsbaum in der Eisenwarenhandlung in einer nahegelegenen Ladenzeile gekauft. Dessen Nadeln sind schlumpfeisblau, eine grelle Farbe für einen Jungen mit Farbphobie, aber die grünen Bäume waren schon ausverkauft. Den großen Karton hat er in einem geklauten Einkaufswagen nach Hause gekarrt. Während Eli den Baum zusammensteckt, sitzt Abi, den Rücken an die Wand gelehnt, auf dem Boden, raucht eine Camel und beobachtet ihn ohne großes Interesse. Neben ihr tönt Elvis’ »It’s Now or Never« aus einem blechern klingenden Kofferradio und erinnert Eli an den Presley-Zauber, den er in sich trägt.

Über ihnen verbreitet eine Deckenlampe grelles, weißes Licht. Abgesehen von den klapprigen Feldbetten, auf denen sie schlafen, gibt es praktisch keine Möbel in der Wohnung. Ihre ganze Habe windet sich in einem Umzugswagen quer durchs Land, gelenkt von Pal, der dafür nach Utah zurückgefahren ist.

Die leeren Zimmer der Wohnung, noch unberührt von Joys horror vacui, wirken beruhigend auf Eli. Ohne die Horden von Keramik-Kätzchen, -Clowns und -Cowboys kann er leichter atmen. »Und was, wenn Pal sich volllaufen lässt, eine dreißig Meter hohe Felswand hinabrast und unsere ganzen Sachen hin sind?«, fragt er seine Schwester. »Vielleicht könnten wir dann jemand anders sein und ganz von vorn anfangen.«

»Würdest du irgendwas vermissen, wenn wir alles verlieren würden?«, fragt Abi zurück.

»Die Fotoalben«, sagt Joy, die in ihrem Frottee-Bademantel und ihren Plüsch-Pantoffeln aus der Küche hereinkommt, in der Hand eine fettfleckige Pappschachtel mit einer großen Pizza aus der Pizzeria an der Schnellstraße, in der sie arbeitet. »Wenn es brennt, rettet man als Erstes die Fotoalben«, sagt sie und stellt die Schachtel ab. »Sie enthalten die Vergangenheit. Ich würde unsere Vergangenheit nicht verlieren wollen.«

»Ich schon«, sagt Abi. »Ein paar Jahre zumindest.«

»Im Verdun-Album«, fährt Joy unbeirrt fort, »gibt es so schöne Fotos von euch beiden mit Santa Claus.« Sie hat alle Fotos in Alben geklebt, die nach den Orten benannt sind, in denen die Jones gelebt haben. »Ihr wart so verflixt süß, als ihr klein wart.«

»Leider sind wir dann größer und grottenhässlich geworden«, sagt Eli.

»Seid ihr nicht.«

»Schiefe Zähne, zusammengewachsene Augenbrauen, Triefaugen«, kommt es von Abi.

»Bloß nicht hinsehen«, ruft Eli und hält sich die Augen zu.

»Egal, wo wir hinkommen«, macht Abi weiter, »jagen uns die Einheimischen mit Mistgabeln durchs Dorf.«

»Nous sommes des monstres«, sagt Eli.

»Jesus Murph«, stöhnt Joy. »Ihr zwei macht mich fertig.« Sie holt Pappteller und Servietten aus der Küche, und als sie zurück ist, kommt Barney in seinem Laufball durch den Gang gekullert. Der Ball ist etwa so groß wie ein Fußball und besteht aus durchsichtigem Plastik mit kleinen Luftschlitzen. Er prallt von einem Fußleistenheizkörper ab und wird in das leere Esszimmer umgelenkt, wo eine weiße Kugellampe mondartig unter der Decke schwebt.

»Dein Baum ist schief«, sagt Joy zu Eli. Der Baum ist noch nicht fertig, auf der einen Seite fehlen noch die meisten Zweige. »Er sieht aus wie der schiefe Turm von Pizza.«

»Pisa, nicht Pizza«, korrigiert Eli, setzt sich zu seiner Schwester und Mutter auf den Boden und klappt die Pizzaschachtel auf.

»Als ihr noch klein und dumm wart«, sagt Joy, »konnte ich euch besser leiden. Das waren noch Zeiten.«

»Zeiten des Glücks«, nickt Abi.

Die Pizza ist dermaßen überladen, dass sie aussieht wie der Schauplatz einer Essensschlacht. Ehrfurchtsvoll wie eine Katholikin, die die Hostie empfängt, legt sich Abi eine Scheibe Salami auf die Zunge. Eli dagegen zupft die Leichenteile von seinem Stück und verteilt sie an seine Mutter und Schwester.

Draußen hat sich der Regen in Hagel verwandelt und prasselt gegen Fenster und Balkontür. Es klingt, als schleudere jemand Kieselsteine dagegen. Eli hofft inbrünstig, dass sich das Wetter bis zum Morgen beruhigt, denn dann muss er in der aus mehreren Dutzend niedriger Apartmenthäuser bestehenden Siedlung, die sie jetzt ihr Zuhause nennen, die Chicago Tribune austragen. Abi hat der Siedlung den Spitznamen »der Komplex« verpasst, kurz für »Minderwertigkeitskomplex«, und behauptet, so vernachlässigt und heruntergewirtschaftet wie alles hier aussieht, müsse die Siedlung unter Minderwertigkeitskomplexen leiden.

»Hast du auch was gekauft, womit wir den Baum schmücken können?«, will Joy von Eli wissen.

»Ich mag ihn kahl.«

»Du hast nicht mal einen Stern für die Spitze?«

»Ich bin Minimalist.«

»Und ich Maximalistin«, sagt Joy und lacht schallend. Sie ist guter Stimmung, was gelegentlich vorkommt, wenn Pal nicht da ist. »Sobald euer Vater mit unserem Weihnachtsschmuck zurück ist, werde ich mich austoben.«

»Wenn du den Baum schmückst«, gibt Eli zurück, »sieht er immer aus wie diese Stadtstreicherinnen, die alles auf einmal anziehen, was sie an Klamotten und Schmuck besitzen.«

»Ja, stimmt, meine Bäume glitzern und funkeln«, entgegnet Joy. »Weißt du noch, Abi? Als du noch klein warst, hast du Lametta gehasst und gesagt, der Baum sieht damit aus wie eine Trauerweide. Bloß hast du ›Trauerwitwe‹ gesagt und erklärt, er sieht aus wie eine Witwe, die um ihren toten Mann weint.«

Abi stellt ihren Pappteller auf den Boden. Sie hat nur den Belag ihrer Pizza gegessen, sodass der Käse jetzt pockennarbig aussieht. Mit einer Serviette tupft sie sich anmutig den Mund ab. »Würdest du weinen«, fragt sie Joy mit ihrer liebenswürdigsten Stimme, »wenn Pal mit dem Laster in einen Abgrund stürzen und in einem Feuerball verglühen würde?«

Joy wirft ihr einen eisigen Blick zu. »Keine Ahnung. Würdest du weinen?«

»Ich wäre schließlich nicht die Witwe –«

Witwer Barney rollt in seinem Laufball vorbei und kachelt in den Weihnachtsbaumständer. »Baum fällt!«, schreit Eli, springt auf und erwischt die künstliche blaue Tanne, bevor sie ihnen auf die Köpfe krachen kann.

Eli quält sich aus seinem Schlafsack, als der Wecker um sechs Uhr klingelt. Als stellvertretender Zeitungsjunge hat Eli Jones die Route des eigentlichen Zeitungsjungen übernommen, der im selben Gebäude lebt wie sie und, wie der Zufall es so will, ebenfalls Jones heißt, genauer gesagt Eugene Jones junior. In dieser Woche besucht er seine Mutter in Brooklyn. Am gestrigen Abend ist Eli schon früh ins Bett gegangen, um an diesem Morgen ausgeschlafen und hellwach zu sein. Nachdem er sich ein graues Sweatshirt übergezogen hat, spritzt er sich im Badezimmer Wasser ins Gesicht und geht durchs Wohnzimmer zur Wohnungstür.

Zigarettenrauch ringelt sich wie eine Girlande um die Zweige des kahlen Weihnachtsbaums. Hinter dem Baum, da, wo erstes Dämmerlicht durch die Balkontür fällt, ist ein Schniefen zu hören. Dort sitzt Joy in einem Rechteck aus verwaschenem Licht, das Gesicht zerknittert, die Augen verquollen und tränennass.

»Mum?« Es ist ein Wort, das er nur selten benutzt, aber er sieht seine Mutter auch nur selten weinen. Er kniet sich neben sie, während sie, ähnlich wie ein Zauberer, einen langen Streifen Papiertücher aus dem Ärmel ihres Hausmantels zieht, und sich damit die Augen betupft. Ist ein Bundespolizist an die Tür gekommen, während er geschlafen hat, und hat ihr mitgeteilt, dass Pal tot ist? Sein Herz fängt an zu hämmern.

Mit verschleimter Stimme sagt Joy: »Ich durfte nie zum Ballettunterricht.«

»Ballettunterricht?«

»Ich habe es mir so sehr gewünscht, aber dein Großvater hat sich strikt geweigert, die Stunden zu bezahlen. Der alte Geizhals hat nie auch nur einen Cent rausgerückt.«

Ihre Haare sind nicht wie sonst auf Lockenwickler aufgedreht. War sie überhaupt im Bett? Neben ihr qualmt eine Kool in einem Aschenbecher aus bernsteinfarbenem Glas vor sich hin.

»Ich habe Abi angemeldet, sobald sie richtig sprechen konnte. Obwohl wir pleite waren, habe ich ihr Schühchen und Strumpfhosen und Ballettkleidchen gekauft. Du hast die Fotos im Album gesehen. Abi als Ballerina. Ständig wollten irgendwelche Leute sie fotografieren, weil sie so bezaubernd aussah. Ein richtiges kleines Püppchen.«

Joy putzt sich unter lautem Getöse die Nase.

»Ich habe sie mit der Metro zur Ballettschule gebracht und draußen gewartet, bis die Stunde zu Ende war, und dann haben wir uns auf der Wellington ein Root Beer mit Vanilleeis genehmigt.«

Die Wellington ist die Hauptstraße von Verdun. Urplötzlich hat Eli furchtbares Heimweh nach Montreal. Wieso sind sie nicht dorthin zurückgezogen, statt in noch einem verdammten amerikanischen Staat wieder einmal neu anzufangen? Einzig und allein als er noch klein war und sie in Verdun lebten und Pal zwar trank wie ein Fisch, aber eher wie ein kleiner, hat er sich sicher gefühlt.

»Sie ist vielleicht fünfmal zum Unterricht gegangen, dann fing sie an, mir Bauchschmerzen vorzuspielen«, fährt Joy fort. »Und hat einfach aufgehört. Dasselbe mit Gymnastik zwei Jahre später. Ein paarmal ist sie hingegangen, dann hat sie alles wieder hingeschmissen.«

Abi ist so wendig wie eine Akrobatin und hat extrem biegsame Finger und Gelenke. Sie hat Eli das Radschlagen und das Sitzen im Lotussitz beigebracht.

»Sie weiß einfach nicht zu schätzen, was ich ihr gebe. Was ich aufgebe.«

Joy, die nur selten weint, hat jetzt, um sechs Uhr morgens, Tränen in den Augen, weil Abi vor Jahren mit Ballett und Gymnastik aufgehört hat. Es ergibt keinen Sinn.

»Irgendwas stimmt nicht mit dem Mädchen. Findest du nicht auch? Du kennst sie besser als irgendwer. Findest du nicht, dass mit ihr irgendwas nicht stimmt? Tief im Inneren?«

Er nickt kaum merklich und kommt sich vor wie der schlimmste Judas aller Zeiten.

Joy wirft ihm einen langen, kriegsmüden Blick zu. Aber obwohl sie ihren Sohn ansieht, sind ihre Gedanken ganz woanders, flattern wie Motten im Zimmer umher. Schließlich tätschelt sie sein Bein. »Geh«, sagt sie. »Geh und kümmere dich um deine Zeitungen.«

Er rennt praktisch aus der Wohnung und trägt seine Zeitungen aus, zermürbende Arbeit an einem Samstag, an dem die Tribune viel dicker und schwerer ist als an Werktagen. In seinem geklauten Einkaufswagen, dessen Räder dauernd blockieren, schiebt er die Zeitungsstapel über die vereisten, mit Split gestreuten Bürgersteige. Von der Titelseite strahlt ihn das zuversichtliche Hollywood-Grinsen des aus Illinois stammenden Ronald Reagan an. »Kopf hoch, Mann«, scheint der Präsident zu sagen.

Die mehrere Dutzend Backsteingebäude des Komplexes haben je drei Stockwerke und unterscheiden sich durch nichts von dem, in dem die Jones wohnen. »Falls Pal besoffen ist, wenn er heimkommt«, hat Joy vorhergesagt, »wird er seinen Schlüssel in fünfzig verschiedene Türen stecken, bevor er unsere Wohnung findet.«

Elis Kleider sind feucht vor Schweiß und vom feinen Niesel, der an diesem Morgen fällt. Seine Hände in den dünnen Handschuhen sind lila vor Kälte, und seine Handflächen und Handgelenke sind druckerschwärzeverschmiert. Trotzdem ist er gern so früh morgens unterwegs, wenn kaum jemand anderes draußen ist.

In seiner Tasche steckt die zusammengefaltete Liste der Kunden samt Adressen. Er geht durch eins der niedrigen Gebäude und legt die Zeitungen leise vor Wohnungstüren. Bei ihm werden die Tribunes nicht hingeschmissen oder hingedonnert. Falls es eine Fußmatte gibt, platziert er die Zeitung perfekt mittig, und richtig herum, sodass die Kunden, wenn sie die Tür öffnen, sofort die Schlagzeile lesen können. Er verlässt das Gebäude, geht zurück zu seinem Einkaufswagen und hat plötzlich das unbezwingbare Bedürfnis, zurückzugehen und sich zu vergewissern, dass er die Zeitungen vor die richtigen Wohnungen gelegt hat. Manchmal kontrolliert er sich dreimal. Folglich braucht er für die Arbeit länger, als er sollte.

Als er um viertel nach neun nach Hause kommt, steht ein Umzugswagen vor dem Gebäude. Direkt hinter der Tür, im kleinen Eingangsbereich, sitzt Abi in Nannys räudiger alter zweireihiger Pelzjacke, die angeblich Persianer ist, aber mehr an Pudel erinnert, unter den Briefkästen. Ihre Füße stecken in schwarzen Gummistiefeln. Als Eli hereinkommt, steht sie auf. Er ist inzwischen gute zehn Zentimeter größer als sie.

»Du siehst aus wie einem Dickens-Roman entsprungen«, sagt sie. »Dein ganzes Gesicht ist tintenverschmiert.«

»Pal ist zurück?«, fragt er und reibt sich über die Wangen. Seine Armmuskeln schmerzen, auf keinen Fall kann er eine Couch nach oben schleppen. »Müssen wir den Laster ausladen?«

»Nicht gleich.«

»Wann dann?«

»Vielleicht nie.«

»Ach?« Er ist hundemüde. Sogar seine Fußballen in den alten, abgelatschten Turnschuhen tun weh. »Was ist gestern Abend passiert, als ich schon im Bett war?«, fragt er. »Hatten Joy und du wieder einmal Streit?«

Abi kaut auf ihrer Lippe herum und sagt schließlich: »Ich habe ihr nur ein paar Sachen gesagt.«

»Was für Sachen?«

»Hauptsächlich, dass sie sich von dem Dreckskerl scheiden lassen soll.«

Normalerweise redet sie nicht schlecht über Pal. Vielmehr findet sie ständig Entschuldigungen für ihn: Er hat tapfer in Korea gekämpft, Alkoholismus ist eine Krankheit, er ist ein verkanntes Genie, das eines Tages vielleicht eine thermoelektrische Apparatur erfindet, die sie alle stinkreich machen wird.

»Seit ich zehn bin, sage ich ihr, sie soll sich von ihm scheiden lassen«, sagt er. »Aber sie hört nicht. Sie gibt mehr auf ihre Kools als auf ihre Kinder.«

»Dieses Mal wird sie hören. Und falls nicht, ist es wirklich hoffnungslos.«

Auf Abis Vorschlag hin gehen die Geschwister zum Frühstücken ins Doris, ein Diner an der Schnellstraße, ein kleines Stück von dem Italiener entfernt, bei dem Joy arbeitet. Eli verschwindet erst einmal in der Toilette, um sich die Druckerschwärze von Wangen und Händen zu schrubben. Die nach Kiefern duftende Flüssigseife ist so intensiv, dass seine Haut sich davon mumifiziert anfühlt. Als er ins Restaurant zurückkommt, sitzt seine Schwester in einer der Nischen und starrt auf den Parkplatz hinaus, auf dem Gesicht einen Ausdruck so abgrundtiefer Angst, dass er auch hinsieht, in Erwartung – wessen eigentlich? Eines Manson-Mordes? Nichts ist zu sehen, nur ein überquellender Mülleimer. Als er sich zu Abi setzt, nimmt ihr Gesicht wieder seine übliche Ausdruckslosigkeit an.

Die Kellnerin nennt sie »Kindchen«. »Was möchtest du, Kindchen? Und du, Kindchen?«

Abi verlangt schwarzen Tee und Toast ohne Butter. Eli, der halb verhungert ist, bestellt Blaubeerpfannkuchen, eine Schale Froot Loops und eine Tasse heiße Schokolade.

»Er will es unbedingt zum Diabetiker schaffen, bevor er sechzehn ist«, erklärt Abi der Kellnerin, die Eli für sich Doris nennt, obwohl »Nadine« auf ihrem Namensschild steht.

Als Doris weg ist, fragt Eli, ob Abi wieder mit ihrer Mannequin-Diät von höchstens fünfhundert Kalorien am Tag angefangen hat.

»Ich will kein Fotomodell mehr werden.«

»Dann wirst du gleich Dermatologin?«

»Ich werde von Glück reden können, wenn ich im Pseudo-Laborkittel hinter einer Clinique-Theke stehen darf.«

Was für eine Blasphemie! Er würde gern die Große Flucht ansprechen, wenn er nicht so viel Angst hätte, Abi könnte den ganzen Plan kippen.

Sie bemerkt seine Enttäuschung. »Jedenfalls wirst du uns in Manhattan ernähren. Du wirst nämlich Schriftsteller.«

»Ich kann nicht schreiben.«

»Du schreibst ständig.«

»Aber nur Listen und Tabellen und so.«

»Du arbeitest an Büchern.«

»Ich schreibe die Bücher anderer Leute Wort für Wort ab. Oder übersetze Comics. Struppi und Asterix zu übersetzen ist nicht das Gleiche, wie selbst Bücher zu schreiben.«

»Eines Tages wirst du selbst welche schreiben.« Ihr vielsagendes Lächeln und das langsame Nicken erinnern ihn an den Fuchs, den er vor ewigen Zeiten auf der Wiese gesehen hat.

Kurz darauf bringt Doris ihnen ihr Frühstück. Beim Anblick der riesigen Pfannkuchen denkt Eli: Die sind so groß wie Radkappen. Zu dumm, dass er kein Notizbuch dabeihat, um sich diesen schriftstellerischen Vergleich zu notieren.

Die Geschwister bleiben drei Stunden im Doris. Abi bestellt immer wieder Tee und Toast nach, während Eli sein Essen herunterschlingt und anschließend mehrere Tassen heiße Schokolade trinkt, bis seine Zähne kurz davor sind, sich aufzulösen. Er ist gleichzeitig müde und zappelig und beobachtet den auf der Schnellstraße vorbeirasenden Verkehr, während Abi eine Camel nach der anderen raucht. Irgendwann fragt er, wann sie gehen können.

»Gib uns noch ein paar Minuten.«

»Worauf warten wir eigentlich?«, fragt er genervt.

»Darauf, dass die Bullen kommen.« Ihr Gesicht nimmt wieder seinen versteinerten Ausdruck an. »Wir können erst nach Hause, wenn sie den Arsch mitgenommen haben.«

Sein Herz hämmert. »Was hat er denn jetzt wieder gemacht?«

»Du willst die grausigen Details nicht hören.«

Er ist kurz davor zu sagen, dass er sie sehr wohl hören will, aber nein, er will nicht. Ihm ist schlecht vor Angst, und wenn Abi noch ein Wort sagt, wird ihm das Essen hochkommen. Aber da werden sie von Doris unterbrochen.

»Meine Schicht ist zu Ende, Kinder«, sagt sie und legt ihnen die Rechnung hin.

Eli zieht seine Geldbörse aus der Manteltasche. Alles, was er mit Zeitungsaustragen verdient hat, wird für das Frühstück draufgehen.

»Seid ihr zwei Geschwister?«, will Doris wissen. »Ihr seht euch ähnlich.«

»Ja, Ma’am«, sagt er, dankbar für die Unterbrechung. Abi sieht aus dem Fenster.

»Ihr seid total niedlich.«

»Ist nicht angeboren«, antwortet er. »Sie würden nicht glauben, wieviel Arbeit Niedlichkeit erfordert.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen? Willst du Nadine auf den Arm nehmen?«

Die Kellnerin hat ein sanftes Lächeln, Grübchen an den Armen und mütterliche Hüften, ganz anders als die rappeldürre Joy, deren Schlüsselbeine aussehen wie Wünschelruten. Bitte, nimm mich mit nach Hause, Doris-Nadine, fleht er sie um ein Haar an.

Als die Rechnung beglichen ist, verlassen die Geschwister das Restaurant, überqueren die Schnellstraße und schlagen den Heimweg ein. Abi schlurft vor sich hin wie eine Schlafwandlerin oder ein Zombie. Eli überlegt, ob er die grausigen Details noch einmal ansprechen soll, bringt den Mut aber nicht auf. Er stellt sich Streifenwagen mit flackerndem Blaulicht vor dem Gebäude vor, aber als sie näherkommen, sehen sie nur den Umzugslaster, dessen Hecktüren jetzt offenstehen. Im Inneren befinden sich Dutzende von wahllos hineingestopften Pappkartons, ihre karierte Couch, ihre fleckigen Matratzen und ihre billigen Kommoden und Schränke.

Wortlos nimmt Abi Elis Hand. Ihr gestreifter Handschuh schmiegt sich in seinen druckerschwärzefleckigen. Sie haben sich nicht mehr an den Händen gehalten, seit sie klein waren und in der Nähe ihres ersten Hauses in Middlesex durch den Wald wanderten und so taten, als seien sie Hänsel und Gretel, die von ihrem Holzhackervater in einem Zauberwald ausgesetzt worden waren. Sie sprachen mit gespieltem deutschem Akzent, benutzten Wörter wie »Gesundheit« und »Lederhose« und legten mit weißen Steinen Spuren, die nirgendwohin führten.

Als sie, immer noch Hand in Hand, den Laster erreichen, treten ihre Eltern, beide in identischen erbsengrünen Jogginganzügen mit doppelten weißen Streifen an den Seiten, gerade aus dem niedrigen Gebäude. Die Erbsen kommen zur Straße, wobei Pal den Geschwistern einen kurzen Blick zuwirft, sich dann aber ohne ein Wort der Begrüßung abwendet. Er sieht aus wie nach einer Sauftour – kleinlaut, grün um die Nase, hundemüde –, bewegt sich aber, anders als sonst, wenn er verkatert ist, nicht so ruckhaft wie eine Marionette. Er steigt in den Laster und kramt darin herum.

Joy lässt ihre Kool auf den Boden fallen und tritt sie aus. Ihr Gesicht ist rot angelaufen, ob vor Kälte oder Wut, kann Eli nicht mit Sicherheit sagen. »Steht nicht so blöd in der Gegend rum«, sagt sie zu den beiden. »Schnappt euch die Kartons und helft gefälligst.«

Abi drückt Elis Hand so fest, dass er fast aufschreit, und sagt leise: »Es ist hoffnungslos.«

Die psychiatrische Klinik in Chicago, in die sich Pal am zweiten Weihnachtstag selbst einweist, heißt nicht »Douglas«, trotzdem nennen die Geschwister sie so. Eli denkt, dass Pal dort einen Entzug machen will, aber Joy behauptet, er habe kurz vor einem »Nervenzusammenbruch« gestanden.

An einem verschneiten Sonntagnachmittag im neuen Jahr, an dem die Äste der Bäume in Weiß gehüllt sind, soll Eli mit dem Bus ins Douglas fahren, um nach Pal zu sehen. Joy, die eine Sonderschicht in der Pizzeria übernehmen musste, hat ihn mehr oder weniger dazu gezwungen. Aufklärungsmission, nennt Abi diesen Besuch. Eli hätte gern, dass sie ihn begleitet, aber sie lässt sich durch nichts dazu überreden. »Ich spiele nicht mehr das Kindermädchen für diesen Palkoholiker«, sagt sie. »Jetzt bist du an der Reihe.«

Die Geschwister sitzen im Lotussitz auf dem Boden des vollgestopften Wohnzimmers und spielen Mau Mau. Neben ihnen steht die Trauerwitwe, der inzwischen durch die Massen an Lametta, die Joy hineingehängt hat, verwandelte Baum. In letzter Zeit hat sich ihre Mutter eigenartig verhalten, eigenartiger als sonst. Vor ein paar Abenden hat Eli sie erneut beim Weinen ertappt, dieses Mal vor dem Fernseher. Hat sie sich irgendeinen Tränendrüsenfilm angeschaut, vielleicht über Kinder mit Krebs? Nein, eine Wiederholung der harmlosen Sitcom One Day at a Time. Und am gestrigen Abend hat sie beim ebenso harmlosen Cheers ganze Streifen abgestorbener Haut von den Sohlen ihrer Hobbit-Füße abgepellt und darauf herumgekaut wie auf Beef Jerky.

Auch Abi verhält sich seltsam. Beim Kartengeben zittern ihre Hände. »Leidest du jetzt etwa an Entzugserscheinungen?«, fragt Eli. »Stellvertretend für Pal?«

»Pal hat größere Probleme als den Alkohol.«

»Ach ja? Und welche?«

Sie sieht ihn lange durchdringend an. Obwohl sie so extrem dünn ist, ist sie schön. Vor ein paar Tagen hat ihr Nachbar, Eugene Jones junior, sie »Barbie« genannt, weil sie so blond und dünn ist und mit dieser Babypuppenstimme spricht, und sie hat geantwortet: »Ich bin absolut keine Barbie, Junior. Sondern ein Sturmtruppler.« Eine zutreffende Einschätzung, denn sie ist von einer Art Schutzpanzer umgeben, einer weißen Hülle, die niemand durchdringen kann, nicht einmal Eli.

Sie legt die Karten hin und sagt: »Als Pal etwa zwanzig war, hat er einen Mann umgebracht.«

»Was? Wen?«

»Irgendeinen Kerl in Montreal. Er hatte beim Snooker einen Haufen Knete an Pal verloren und wollte nicht zahlen. Das Komische ist, sagt Pal, dass der Typ nachts in einer Bäckerei gearbeitet und dort den Teig geknetet hat.« Sie sieht Eli kopfschüttelnd an. »Jedenfalls geht der Bäcker eines Nachts gegen drei hinten raus, um eine zu rauchen, und da wartet Pal. Mit einem in eine Socke gestopften Backstein.«

»In eine Socke? Muss ja eine riesige Socke gewesen sein. War wohl eher ein Strumpf.«

»Jesus Murph, an was für Details du dich aufhängst. Okay, sagen wir, es war ein Strumpf, meinetwegen ein verdammter Weihnachtsstrumpf. Jedenfalls holt Pal aus und schlägt den Typ zu Boden. Dann holt er nochmal und nochmal aus – er kann sich nicht erinnern, wie oft. Und haut ab, bevor jemand kommt. Am nächsten Tag hört er, dass der Typ tot ist.«

In einer Gasse verspritzte Gehirnmasse, Blut, das sich in einem Schlagloch ansammelt – das sind die grausigen Details, die Eli vor seinem inneren Auge sieht. Und ein Tatortfoto, auf dem die Leiche ausgeweißt wurde, wie in Helter Skelter. »Mannomann«, sagt er. »Und niemand hat es je herausgefunden?«

»Nein. Ich bin die Einzige, der Pal es erzählt hat. Nicht einmal Joy hat es gewusst.«

Jetzt weiß sie es, vermutet Eli. Abi muss es ihr gesteckt haben. Das erklärt die Tränen. Aber ihre Mutter hat den Vater nicht angezeigt, sondern hält zu ihm.

»Es muss noch vor Korea gewesen sein«, spekuliert Eli. »Also hatte Pal schon vor dem Krieg eine Schraube locker. Er ist ein Mörder!« Er empfindet Grauen, aber auch Ehrfurcht, als sei sein Vater ein berühmter Gangster und seine Mutter eine Gangsterbraut.

Abi zieht mit gekräuselten Lippen an ihrer Zigarette, stößt einen perfekten Rauchring aus und schiebt ihr schmales Handgelenk hindurch, sodass er sich wie ein zartes Armband darum schmiegt. »Wäre aber auch möglich, dass er sich die ganze Geschichte nur ausgedacht hat«, sagt sie.

»Wer denkt sich denn einen Mord aus?«

»Vielleicht wollte er, dass ich Mitleid mit ihm habe. Ach, der arme Pal! Muss mit der Schuld leben, einen anderen armen Kerl umgebracht zu haben. Ist doch eine praktische Entschuldigung für seine Trinkerei, oder für die anderen üblen Sachen, die er macht.«

Sie reißt ein Streichholz an, um sich die nächste Camel anzustecken, und sengt sich dabei eine Haarsträhne an. Hektisch schlägt sie mit den Händen auf die Flamme ein. Ein Geruch nach verkokelten Pop-Tarts wabert durch die Wohnung.

Die Busfahrt nach Chicago dauert eine halbe Stunde. Eli hat Le Petit Prince dabei und ein Notizheft mit seiner neuen überarbeiteten Übersetzung, die er im Bus korrigieren will. Aber er kann sich nicht konzentrieren. Auf der ersten Seite des Büchleins ist die Zeichnung einer Schlange zu sehen, die einen Elefanten gefressen hat. Für Eli sieht sie inzwischen aus wie ein in einen Strumpf gestopfter Backstein. Ein Bild von Pal, der mit vermummtem Gesicht in einer Gasse lauert, drängt sich in seinen Kopf.

Pal sollte hinter Gittern sitzen, denkt Eli. Nicht in einer Klapsmühle. Ihm ist schlecht vom Schaukeln des Busses, die Buchstaben verschwimmen vor seinen Augen, deshalb steckt er die beiden Prinzen, den französischen und den englischen, zurück in seine Büchertasche aus Segeltuch.

Er rechnet damit, dass das falsche Douglas ebenso nach Disneyland aussieht wie die Montrealer Nervenheilanstalt, aber wie sich zeigt, ist es ein Betonkasten mit winzigen Schießschartenfenstern.

Nachdem er sich angemeldet und ein falsches Alter angegeben hat, nimmt er den Aufzug in den vierten Stock und wird einen Gang entlang geschickt. Er geht zu weit und muss wieder zurück, bis er das richtige Zimmer gefunden hat. Pal sitzt auf dem Bett, den Rücken ans Kopfteil gelehnt, unrasiert, mit rotgeränderten Augen und schweren Lidern. Ein beiger Morgenmantel ist um seine Taille gezurrt, an den Füßen hat er abgewetzte Kunstlederpantoffeln. Er steht nicht auf, sondern hebt nur langsam den Arm und begrüßt seinen Sohn mit einem kleinen Königin-Elizabeth-Winken.

»Salut«, sagt Eli. »Comment vas-tu?«

Pal verrät ihm nicht, wie es ihm geht. Aber er bemerkt die Büchertasche und fragt: »Hast du deine Hefte mitgebracht, Junge?« Seine Stimme klingt sandpapierkratzig.

»Habe ich.«

»Dann setz dich doch und arbeite ein bisschen.« Pal deutet mit dem Kopf auf einen Tisch vor dem kleinen Fenster. »Mir ist nicht nach Reden zumute. Ich würde gern einfach hier sitzen und dir beim Schreiben zusehen. Ich sehe dir gern beim Schreiben zu.«

Ach ja? Das ist Eli neu. Er zieht seine Steppjacke aus, hängt sie über die Rückenlehne eines Schalenstuhls aus Plastik und setzt sich an den wackelnden Schreibtisch. Draußen ist in der Ferne eine lange Hochgleisstrecke zu sehen, die Chicagoer »L«.

Mit dem Rücken zu seinem Vater zu sitzen, fühlt sich ungut an. Nicht etwa, dass er damit rechnet, einen Backstein auf den Hinterkopf zu bekommen, aber trotzdem. Er dreht sich um. »Soll ich dir vielleicht meine Übersetzung vorlesen?«, fragt er.

Pal sabbert ein bisschen. Er fährt sich mit dem Ärmel des Morgenmantels über den Mund. »Okay.«

Eli dreht den Stuhl zum Bett um und reicht seinem Vater die französische Version des Buchs, damit er sich die farbigen Illustrationen ansehen kann, die der Autor, Antoine de Saint-Exupéry, selbst angefertigt hat.

Als Eli noch ein Kind war, hat Pal ihm nie vorgelesen, weder vor dem Schlafengehen noch sonst, folglich sind die Rollen jetzt nicht wirklich vertauscht. Aber als Eli von dem blonden Jungen liest, der auf einem von Johannisbrotbäumen und einer Rose bewohnten Asteroiden lebt, kommt er sich väterlich vor, oder zumindest beschützerisch diesem Mann gegenüber, dessen dunkle, fettige Haare in Büscheln hochstehen und dessen Hände so schlimm zittern, dass er, als er die Teetasse vom Nachttisch nimmt, um zu trinken, etwas von der Flüssigkeit über seinen Versager-Hausmantel verkleckert.

Elis Lesestimme – ruhig, ausdrucksvoll –, lockt andere Patienten an, die in der offenen Tür zu Pals Zimmer stehenbleiben und gelegentlich nicken, als würde die Geschichte sie anrühren. Einer von ihnen, ein alter Mann mit einer geblümten Mütze, die an einen Teewärmer erinnert, seufzt schwer, als die eitle Rose den Prinzen auffordert, sie allein auf Asteroid B 612 zurückzulassen, obwohl sie nur vier spitze Dornen hat, um sich zu verteidigen.

Er liest bis zu der Szene, in der der Prinz auf seiner Reise von Planet zu Planet einem Säufer begegnet. Der Prinz fragt den Mann, wieso er trinkt. »Um zu vergessen, dass ich mich schäme«, gesteht der Mann und lässt den Kopf hängen.

Auch Pal lässt den Kopf hängen. Oder versucht er nur, sich die Zeichnung des Säufers genauer anzusehen? Der Kerl mit der roten Nase und dem geröteten Gesicht trägt einen Berghut und sitzt an einem Tisch voller Flaschen. Pal sabbert wieder, und Eli hofft inbrünstig, dass kein Sabberfleck auf seinem Buch zurückbleiben wird.

Am Ende dieser Episode angelangt, klappt Eli sein Heft zu. Eine Stunde ist verflogen. Die Patienten in der Tür sind weitergewandert. Pal hebt den Kopf vom Buch und sagt mit leicht lallender Stimme: »Ist es nicht komisch, Junge, dass du von allen Jones derjenige bist, der am besten Französisch kann, obwohl du am kürzesten in Montreal gelebt hast? Wieso magst du Französisch so sehr?«

Eli denkt über die Frage nach. »En français, je peux être quelqu’un d’autre«, sagt er.

Pal ist nicht très bilingue, von daher ist Eli unsicher, ob sein Vater ihn verstanden hat. Aber das hat er: »Du kannst jemand anderes sein?«

»Ja.«

»Willst du das denn?«

»Will das nicht jeder? Du etwa nicht?«

Pal senkt den Blick in den Schoß, richtet ihn auf den Säufer und seine Flaschen und klappt das Buch zu.

Eli zieht seine schwarze Jacke, die hellgraue Mütze und den dunkelgrauen Schal an. Er sieht zu Pal hinüber.

Wässrige Augen, verkniffenes Lächeln, Spucke im Mundwinkel. »Vielleicht könnte ich du sein«, sagt Pal, hebt den Arm und deutet auf seinen Sohn. »Du scheinst ein guter Mensch zu sein.«

Es ist das Netteste, was Pal je zu ihm gesagt hat, aber Eli fühlt sich unbehaglich und will nur noch weg. Er holt sich den kleinen Prinzen von Pal zurück, reißt ihm das Büchlein fast aus den Händen, und steckt es in seine Tasche.

»Du musst nächsten Sonntag unbedingt wiederkommen«, sagt der Mann. »Woher soll ich sonst wissen, wie die Geschichte ausgeht?« Als Eli sich auf den Weg macht, hebt sein Vater wieder die Hand, dieses Mal wie ein Baby, das winke, winke macht.

Junior nennt die Geschwister »Bruder« und »Schwester«, weil sie denselben Nachnamen haben wie er. »Bruder, kannst du morgen die Tribune übernehmen?« »Schwester, zeigst du mir, wie man Pickel ausdrückt?« Junior ist ein Jahr älter als Eli und ein Jahr jünger als Abi. Oft steckt ein orangefarbener Afrokamm hinten in seinen Haaren. Er ist hoch aufgeschossene Eins neunzig groß und hat knubbelige Knie und Ellbogen. Trotz seiner Größe ist er kein guter Basketballspieler, und er bezeichnet alle Weißen, die der Meinung sind, er müsste einer sein, als Rassisten. Er wohnt zwei Stockwerke unter den Jones, zusammen mit seinem Vater und einem blauäugigen deutschen Schäferhund, der King genannt wird, so wie Elvis. Joy ist ganz vernarrt in den Hund.

Am ersten Tag nach den Ferien, einem arktisch kalten Wintermorgen, gehen die Geschwister zusammen mit Junior zu ihrer neuen Highschool. Im festgetretenen Schnee verursachen ihre Stiefel nur gedämpfte Geräusche. Die Schals, deren Wolle von ihrem Atem feucht wird, über die Münder gezogen, trotten sie vor sich hin. Der Wind in ihrem Rücken fühlt sich an, als würde jemand sie auf einer Schaukel fest anschubsen.

Jedes der niedrigen Gebäude des Komplexes hat zwei Eingänge, einen an jedem Ende, und die drei Jones gehen durch mehrere hindurch, weil es drinnen wärmer ist. Dabei kommen sie an Wohnungen vorbei, denen Eli an diesem Morgen die Zeitung gebracht hat, damit Junior einmal aussetzen konnte. Als Junior sieht, wie perfekt ausgerichtet die Zeitungen auf den Fußmatten liegen, fragt er: »Hattest du ein Lineal und ein Geodreieck dabei, Bruder?«

Junior ist erst fünf Monate vor den Zwillingen aus Brooklyn in den Komplex gezogen. Brooklyn ist zwar nicht Manhattan, aber immerhin nah dran. An diesem Tag löchert Abi ihn nach berühmten New Yorkern. Huldigt er der Königin, Grace Jones? Ist er ein Fan von Diane Arbus, Jean-Michel Basquiat, Cindy Sherman, Keith Haring? Hat er Letzte Ausfahrt Brooklyn gelesen? Wen findet er besser? Lou Reed mit oder nach Velvet Underground?

»Du findest Lou gut, Schwester, aber bist du schon auf der Wild Side gewalked?«

»Gewalked, gerannt, gekrochen, gestolpert – ich habe schon alles auf der Wild Side gemacht.«

Junior lacht schallend. Absolut übertrieben, denkt Eli, lacht aber auch, nicht über Abis Bemerkung, sondern weil ihm gerade eingefallen ist, woran ihn Juniors Gang erinnert: an Shaggy aus Scooby-Doo.

Sie trotten durch einen weiteren Flur, Abi voran, Junior in der Mitte, Eli bildet die Nachhut. Plötzlich bleibt Abi wie angewurzelt stehen, legt die Hand an die Wand und sinkt zu Boden wie eine Marionette, deren Fäden durchgeschnitten wurden.

»Was ist mit ihr?«, ruft Junior.

»Sie ist ohnmächtig geworden«, sagt Eli. »Das macht sie manchmal.«

Die Jungen knien sich neben sie. Eli dreht sie auf den Rücken und streicht ihr die Haare aus dem Gesicht.

Junior tätschelt ihre Wangen. »Hör auf, die Jungfrau in Nöten zu spielen, Schwester«, sagt er. »Auf die Art gewinnst du mein Herz nicht.«

Abis Lider flattern, ihre Augen öffnen sich: grünlich-braun mit dunkelbraunen Einschlüssen. Joy bezeichnet die Farbe als Grün mit braunen Scheißesprenkeln (Abi, Joy und Pal haben die gleichen grünlich-braunen Augen, während die von Eli blau sind).

Eli greift in eine Tasche von Abis Pudeljacke und bringt mehrere in Zellophan eingeschweißte Fig Newtons zum Vorschein, die mit Feigenpaste gefüllt sind. Abi hat oft irgendwelchen Süßkram bei sich. Statt etwas Vernünftiges zu essen, knabbert sie Fig Newtons, von denen sie behauptet, sie seien »Medizin«. Als sie noch Kinder waren, hat sie Eli in Bezug auf Essen ständig angelogen: von Orangen bekäme man Orangenhaut, Graham Cracker dämpften Masturbationsgelüste und das orangefarbene Zeug in den Käsemakkaroni von Kraft sei ein erstklassiger Kakerlakenkiller.

Abi setzt sich auf. Ihre geringelte Mütze, die aussieht wie die des Katers mit Hut, ist verrutscht. Eli reißt die Zellophanhülle eines der Fig Newtons auf und gibt ihn ihr. Dabei fällt ihm auf, dass der von ihren Stiefeln abschmelzende Schnee den Teppich durchnässt hat. Abi knabbert und starrt geradeaus vor sich, anscheinend fasziniert vom Wellenmuster der Tapete und ausschließlich aufs Essen konzentriert, so wie Barney, wenn Eli ihm Leckerlis gibt.

Junior rückt Abis Mütze zurecht und legt ihr die Hand auf die Stirn, um ihre Temperatur zu kontrollieren. »Alles okay mit dir?«, fragt er besorgt.

»Noch eine Schule halte ich einfach nicht aus!«, sagt sie schließlich. »Das Treuegelöbnis. Die Pultreihen. Den Geruch nach Kartoffelpüree in der Cafeteria. Die Lehrer, die helfen wollen, es aber nicht können.«

»Was willst du damit sagen?«, fragt Eli.

»Dass ich nicht mitkomme.«

Nachdem Abi drei Fig Newtons gegessen hat, zieht Junior sie hoch, und er und Eli bringen sie nach Hause.

Im Lauf der Jahre haben die Geschwister schon so viele Schultage verpasst, dass einer mehr keinen Unterschied ausmacht. Im Spätherbst waren sie ganze drei Wochen nicht in der Schule. Drei Wochen, in denen sie mit dem Rambler quer durchs Land gefahren sind und dann in Cook County in billigen Absteigen herumgesessen haben, während Pal und Joy nach einer neuen Wohnung gesucht haben.

Auf dem Weg zurück zu ihrer Straße nehmen Junior und Eli Abi in die Mitte und halten sich dicht neben ihr, für den Fall, dass sie noch einmal ohnmächtig werden sollte. Die Scherzhaftigkeit von vorhin ist verschwunden. Als die drei Jones schließlich den schäbigen kleinen Eingangsbereich ihres Gebäudes betreten, fragt Abi: »Kann ich ein bisschen bei euch bleiben, Junior? Im Augenblick könnte ich Joy nicht ertragen.«

Junior schließt die Tür zu ihrer Wohnung auf, und King kommt neugierig angetrottet, den Kopf schiefgelegt, als wolle er sagen: »Wieso seid ihr Leutchen nicht in der Schule?«

Juniors Vater ist nicht zu Hause. Eli ist verrückt nach Eugene Jones senior, einem der Hausmeister des Komplexes, ein Job, den Eli bewundert. Eugene senior ist sogar noch größer als sein Sohn, allerdings ist sein Kopf absolut glattrasiert. Seiner Meinung nach geht Junior nicht oft genug mit King raus, und dann schimpft Eugene senior: »Wenn der Hund auf den Teppich pinkelt, Junior, reib ich deine Nase in der Pfütze.« Er schimpft, aber irgendwie nett, und er nimmt seinen Sohn oft in die Arme und drückt ihm Küsse auf die Wange, laute Schmatzer, die Junior gespielt angewidert wegwischt.

In der Wohnung ziehen Junior und die Geschwister ihre Mäntel, Mützen, Schals und Stiefel aus und gehen in Juniors Zimmer. Die Wohnung hat denselben Schnitt wie die der Geschwister, enthält aber weniger Möbel und Kram. Keinen Schnickschnack, keine Zierdeckchen, keine stinkenden, überquellenden Aschenbecher. Juniors Zimmer ist so sauber wie das von Eli. An der Wand hängt ein mit Reißnägeln befestigtes Poster des Remain in Light-Albums der Talking Heads, auf dem die Gesichter der vier Bandmitglieder mit roter Farbe überpinselt sind.

Abi setzt sich auf das Bett, an dessen Fußende eine zusammengefaltete Wolldecke liegt. Sie zieht sie über sich und legt sich hin, den Kopf auf Juniors Kissen. Ihr Gesicht ist fast so weiß wie die Laken.

»Abi«, mahnt Eli.

»Tut mir leid«, sagt sie zu Junior.

»Kein Problem, Schwester«, sagt Junior. »Ruh dich aus.«

»Geht jetzt in die Schule, ihr zwei«, sagt Abi. »Ich schlafe ein bisschen und gehe dann rauf.« Die Augen fallen ihr bereits zu.

Die Jungen tauschen einen Blick. Eli zuckt mit den Schultern, erst normal, dann ein Langzucken. Dann gehen die beiden leise aus dem Zimmer und machen die Tür hinter sich zu.

King kommt durch den Flur. Seine Zunge hängt heraus wie ein Stück Räucherfleisch. »Dem Mädchen geht es nicht gut«, scheint der Hund zu sagen. »Sie wohnt manchmal in mir, also muss ich es wissen.«

»Tut mir leid, Junior«, sagt Eli und kratzt den Hund zwischen den Ohren. »Abi ist ein bisschen … abinormal.«

»Abinormal gefällt mir«, sagt Junior halb flüsternd, um Abi nicht zu wecken. »Hör zu, Bruder, ich bleibe heute auch zu Hause. Aber du gehst hin und holst gute Noten für uns alle.«

Noch ein armer Trottel, der sich in Abi verliebt, denkt Eli. Pauvre con.

»Der kleine Prinz ist wieder da«, sagt eine Krankenschwester aus dem vierten Stock, als Eli das nächste Mal ins Douglas kommt. Sie sieht aus wie der schlaue der Drei Engel für Charlie. Der Engel lächelt den Jungen spitzbübisch an; er bedankt sich mit seinem Don-Juan-Lächeln. Wieder ist er allein hier, seine Mutter und seine Schwester tun immer noch so, als sei das Douglas ein Sanatorium, in dem lauter ansteckende Krankheiten lauern.

Charlies Engel teilt Eli mit, dass Pal im Aufenthaltsraum auf ihn wartet, und er geht durch einen langen Flur, an dessen Ende ein Fenster auf den mit vier Säulen bestückten Eingang einer Bank auf der anderen Straßenseite hinausgeht, und biegt links in den Aufenthaltsraum ab.

Pal sitzt im Hausmantel in einem Sessel. »Junge«, sagt er im Ton eines Menschen, der angenehm überrascht ist, dabei hat er gewusst, dass sein Sohn kommen würde. Obwohl sein Gesicht eingefallen aussieht, wirkt er dieses Mal weniger weggetreten, und er sabbert nicht. »Das hier sind meine Freunde«, redet er weiter und deutet auf die etwa sechs anderen, die ringsum auf Sesseln und Sofas sitzen. Alle starren Eli an.

Pal hat also doch Freunde, denkt der Junge. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.

Die Älteste der Freundesgruppe sieht aus wie eine in die Jahre gekommene Ballerina: Schlank, königliche Haltung, Haare so straff nach hinten gezurrt und zu einem Knoten geschlungen, dass ihr Gesicht wie geliftet wirkt. »Wir sind die Alkis«, teilt sie Eli mit. »Und die besten Freunde.« Sie hebt beide Hände und überkreuzt die Finger, um ihm zu demonstrieren, wie nah sie sich stehen.

Auch der Mann mit der Teewärmermütze ist da. An die anderen gewandt sagt er: »Geduld, Leute. Die Lesung geht gleich los.«

Eli zieht seine Steppjacke aus. Da es keinen freien Stuhl mehr gibt, über den er sie hängen könnte, nimmt Pal sie und legt sie über seine Knie, und da er unaufhörlich mit den Beinen wippt, sieht es aus, als würde er Hoppe-hoppe-Reiter damit spielen. Was er mit dem kleinen Eli nie gemacht hat.

Der Junge zieht Antoine de Saint-Exupérys illustriertes Büchlein aus seiner Büchertasche und reicht es der Ballerina, damit sie es herumgehen lassen kann. Charlies Engel kommt dazu und bleibt in der Tür stehen. Pal lächelt seinen Sohn an und nickt, das Zeichen dafür, dass er anfangen soll. Elis Achseln sind schweißnass. Er langzuckt. Du calme, sagt er zu sich selbst. Immer mit der Ruhe. Da er die zweite Hälfte des Buchs lesen wird, fasst er die erste kurz zusammen. Le Petit Prince, erklärt er, ist die Geschichte eines abgestürzten Piloten, der in der Wüste einem kleinen verirrten Jungen begegnet. Der Pilot ist an den Autor selbst angelehnt, der im Ersten Weltkrieg Flieger war. »Anders ausgedrückt«, sagt Eli, »hat er ein Buch geschrieben, in dem er selbst eine der Hauptrollen spielt.«

Er fängt an zu lesen. In der zweiten Hälfte des Kleinen Prinzen häufen sich die dunklen Vorzeichen und es geht immer surrealer zu. Die Patienten lauschen ehrfürchtig. In den späteren Szenen geht es um einen Rotfuchs, der dem Prinzen beibringen will, ihn zu zähmen. Während Eli liest, erinnert er sich erneut an den Fuchs, den er damals hinter dem Waggon gesehen hat. Der Fuchs im Buch ist weise; auch der Fuchs hinter dem Waggon hat diesen Eindruck erweckt. Wie Eli es sieht, verstehen beide Tiere Dinge, geheimnisvolle Dinge, die er selbst noch nicht begreift – über das Leben, die Welt, auch über sich selbst. »Du musst mit dem Herzen sehen«, liest er den Alkis vor. Diesen Rat gibt der Fuchs dem kleinen Prinzen. »Benutze nicht nur deine Augen.«

Am Ende des Buchs wird der Prinz von einer giftigen Schlange gebissen. Stirbt er? Oder flieht sein Geist zurück nach Hause, auf seinen Asteroiden B 612, wo er wieder gesund und munter sein wird? Man kann es so oder so interpretieren. Jedes Mal, wenn Eli seine Übersetzung überarbeitet, hofft er, sich der Wahrheit ein bisschen mehr anzunähern.

Als er zu Ende gelesen hat, klatschen die anderen und klopfen ihm auf die Schultern, und die alte Ballerina zwickt ihn in die Wange. Pal strahlt. Mehrmals sagt Eli: »Ich habe das Buch nicht geschrieben, sondern nur übersetzt.« Natürlich gibt es bereits eine englische Ausgabe des kleinen Prinzen, aber Eli hat sie nie zu Rate gezogen. Für ihn ist seine Version die einzig Wahre.

Anschließend erbietet sich Pal, ihn nach draußen zu begleiten. Immer noch in Hausmantel und Pantoffeln fährt er mit Eli im Aufzug hinunter in die Lobby. Dort treffen sie auf einen Mann in einem weißen Laborkittel, dessen langer, steifer Schnurrbart an den Bürstenaufsatz eines Staubsaugers erinnert. Der Mann kennt Pal und fragt: »Wer ist dieser junge Bursche?«

»Mein Sohn«, antwortet Pal. »Und mein Freund.«

Freund? Eli erstarrt. Er kommt sich vor wie ein Geisteskranker, der Stimmen hört, und kann Pal nicht ansehen.

Der schnurrbärtige Mann breitet die Arme aus und verfehlt mit dem Klemmbrett, das er in der Hand hält, einen Vorübergehenden nur um Haaresbreite. »Willkommen in unserer Einrichtung.«

»Ich will gerade gehen«, sagt Eli.

»Du kommst aber doch wieder? Nein?«

»Nein«, verspricht sich Eli. Und korrigiert sich: »Doch, ja, ich komme wieder.«

Im Bus nach Hause denkt er darüber nach, welches Buch er den Alkis nächstes Wochenende vorlesen soll. Nanny hat ihm eins zu Weihnachten geschickt, einen dünnen frankokanadischen Roman mit dem Titel La Belle Bête. Er könnte gleich mit der Übersetzung anfangen. Das Buch handelt von einem Bruder und einer Schwester und liest sich wie ein düsteres Märchen, ähnlich wie »Hänsel und Gretel«.

Zurück im Komplex öffnet er die Wohnungstür und hört einen lautstarken Streit. Er bleibt im kleinen Vorraum stehen und zieht seine Stiefel aus, während seine Mutter und seine Schwester sich in der Küche anbrüllen.

»Benutz dieses Wort nie wieder«, schreit Joy. »Das hat er nicht getan, und das weißt du ganz genau.«

»Du kannst es nicht für mich definieren«, schreit Abi zurück. »Ich entscheide, was es bedeutet, okay?«

»Wenn du dich nicht wehrst«, ruft Joy, »kannst du dieses Wort nicht benutzen. Mehr sage ich ja gar nicht.«

Er betritt die Küche. Seine Mutter und seine Schwester hören mit dem Geschrei auf, sehen aber aus, als würden sie sich im nächsten Augenblick an die Gurgel gehen. Joy fuchtelt mit einem Eisschöpfer herum, Abi hat einen Becher Eiscreme in der Hand (Eiscreme ist leicht zu erbrechen und gehört deshalb zu ihren Lieblingsspeisen).

Joy wirft ihrem Sohn einen wütenden Blick zu. »Ich weiß, dass ihr zwei mich hinter meinem Rücken ›blöde Kuh‹ nennt«, sagt sie zu dem Jungen, schleudert den Eislöffel ins Spülbecken, marschiert durch den Flur in ihr Zimmer und knallt die Tür zu.

»Tun wir nicht«, schreit Abi ihr hinterher. »Wir haben viel kreativere Bezeichnungen für dich.«

»Was zum Teufel ist hier los?«, will Eli wissen. Müde und erschöpft wie er ist, würde er am liebsten nach unten gehen und sich eine Weile in Juniors Bett legen. »Über welches Wort habt ihr euch gestritten?«

Sie sieht ihn lange finster an, die Augen halb hinter dem langen, goldenen Schleier ihrer Haare verborgen. Schließlich sagt sie es: »Vergewaltigung.«

»Oh«, macht er.

Damit dreht er sich von seiner Schwester weg. Nein, er wird nicht über die Bedeutung dieses Wortes nachdenken. Es stammt aus einer finsteren Parallelwelt, in die hineinzublicken er nicht ertragen kann. »Du musst mit dem Herzen sehen«, flüstert der Fuchs ihm zu, aber er beachtet seinen Freund nicht, sondern lässt Abi mit ihrem schmelzenden Eis in der Küche zurück, geht in sein Zimmer, macht die Tür zu, greift sich ein neues Spiralheft und seine Wörterbücher und fängt mit der Übersetzung des neuen Romans an.

»Im Vergleich zu denen sind wir Jones absolut durchschnittlich«, sagt Abi über die Familie in »Das schöne Biest«. Im Lauf der Wintermonate hat Eli das Buch übersetzt, das die gruselige Geschichte einer aus Schwester, Bruder, Mutter und Stiefvater bestehenden Familie im ländlichen Quebec erzählt. Das hässliche junge Entlein von Schwester im Teenageralter beneidet den jüngeren Bruder um seine Schönheit. Sie versucht erst, den zurückgebliebenen Jungen auszuhungern, und entstellt ihn schließlich, indem sie sein Gesicht in einen Kessel mit kochendem Wasser drückt. Der Stiefvater prügelt den Bruder brutal mit seinem Gürtel, der jedoch rächt sich später, indem er den Mann von einem Pferd zu Tode trampeln lässt. Die Mutter, eitel und hochnäsig, wird erst von einem nässenden Schorf auf der Wange verunstaltet und verglüht später zu einem Häufchen Asche, als die Schwester die Farm abfackelt. »Das schöne Biest«, verfasst von Marie-Claire Blais, übersetzt von Eli Jones, kann laut Abi nur auf einem Horrortrip entstanden sein. Die Protagonisten sind allesamt widerwärtig, und die Geschwister lieben sie alle.

Eli liest seiner Schwester Kapitel seiner Übersetzung als Gute-Nacht-Geschichte vor, wobei »Nacht« ein fließender Begriff ist, denn Abi kann rund um die Uhr jederzeit schlafen. Sie hat die Schule abgebrochen und ist angeblich auf Jobsuche, verbringt jedoch die meiste Zeit in ihrem Zimmer, wo sie schläft, endlose Tassen schwarzen Tee trinkt, Platten hört und Bücher liest, unter anderem Sybil – Persönlichkeitsspaltung einer Frau und Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen.

An manchen Tagen geht sie nach unten und hängt in Juniors Zimmer rum, wo sie im Prinzip dasselbe macht und gelegentlich mit Junior rumknutscht.

Die Knutscherei wird Eli an einem Tag zu Beginn des Frühlings bestätigt, als er und Junior nach der Schule nebeneinander auf der großen, trostlosen Wiese am Rand des Komplexes sitzen und sich eine penetrant riechende Tüte Doritos teilen.

»Wir machen ein bisschen rum«, sagt Junior, »aber damit hat es sich auch schon. Es waren trockene zwei Monate, falls du verstehst, was ich meine, Bruder.« Junior klingt, als würden sich ständig lüsterne Mädchen im Teenageralter an seinen Bohnenstangenkörper werfen, der in einer Hochwasserhose, einem Bowlinghemd und einer schlabberigen, eiterfarbenen Strickjacke steckt, die seine Mutter ihm gestrickt hat. Immerhin sind seine Pickel dank des Hauptpflegeprogramms, das Abi ihm verordnet hat, verschwunden.

»Gestern haben wir auf meinem Bett gelegen, und plötzlich fängt sie an, zu ›Pull Up to the Bumper‹, diesem anzüglichen Song von Grace Jones, mitzusingen. Ich hätte fast einen Herzschlag gekriegt.«

»Was willst du eigentlich von mir?«, fragt Eli. »Tipps, wie du meine Schwester rumkriegen kannst? Vergiss es, du Perversling.«

Grinsend dreht sich Junior zu Eli um. »Dann muss ich mich eben mit dir begnügen«, sagt er, spitzt die Lippen und gibt Kussgeräusche von sich. Ein Witz, denkt Eli, aber dann drückt Junior ihn rücklings ins Gras, setzt sich auf ihn und hält ihn fest. Eli versucht, sich loszuwinden, aber für eine Bohnenstange ist Junior stark. Er legt Eli eine Hand, die nach dem kotzeähnlichen Kunstkäse der Doritos riecht, über den Mund und fängt an, seinen eigenen Handrücken in gespielter Leidenschaft zu küssen, die Augen fest geschlossen, den Unterleib gegen den von Eli gepresst. Der ist entsetzt, wünscht sich aber fast, Junior würde seine Hand wegnehmen, ihn richtig küssen und ihm die Zunge in den Mund schieben. Bis jetzt hat er nur mit zwei verschiedenen Maries in Salt Lake City geknutscht und fragt sich, ob es sich anders anfühlen würde, einen Jungen zu küssen.

Abrupt hört Junior auf, setzt sich wieder und lacht sein dröhnendes gekünsteltes Lachen. »Ist dir klar, dass ich nur mit dir rumhänge, weil du mich an Abi erinnerst?«

Eli bleibt im Gras liegen und versucht, wieder zu Atem zu kommen. Sein Herz fühlt sich an, als würde ein Spatz in seiner Brust mit den Flügeln schlagen. »Faute de mieux«, sagt er, ohne Junior anzusehen. Vielmehr schaut er in den klaren Himmel.

»Was?«

»Das war Französisch.« Elis Jacke ist hochgerutscht, ein Stein drückt in seinen Rücken. »Es bedeutet, dass ich der Trostpreis bin.«

»Ein ziemlich trostloser Trostpreis.«

Eli setzt sich auf, Junior steht auf und streckt die Hand aus, um den Jüngeren hochzuziehen. Auf dem Nachhauseweg sieht Eli ihn mehrmals verstohlen an. Wird er ab jetzt ständig wie besessen an Eugene Jones jun. denken, so wie bis vor kurzem an Sophie Gagnon, seine Französischlehrerin? Zu dumm, dass die Liebesbeziehung zwischen ihm und ihr nicht funktioniert hat. Und zwar, weil Mademoiselle sich geweigert hat, ihm eine Zwei zu geben.

Eli bekommt in der Schule immer Zweien, was nicht gerade leicht zu bewerkstelligen ist, wenn man ein idiot savant ist, seine Schulbücher in- und auswendig kennt und folglich alle Antworten weiß. Um bei Klassenarbeiten sicherzugehen, dass er nur eine Zwei bekommt, beantwortet er die meisten Fragen richtig, lässt andere aber komplett unbeantwortet, denn wissentlich etwas Falsches hinzuschreiben, bringt er nicht über sich. Bei Hausarbeiten oder Referaten reicht er absolut einwandfreie Arbeiten ein, aber eine Woche zu spät, sodass er deswegen keine Eins, sondern nur eine Zwei bekommt.

Die Lehrer versuchen, ihn dazu bringen, sich ein bisschen mehr anzustrengen. Mrs Davis, seine Mathelehrerin, sagte: »Du könntest Klassenbester sein, Mr Jones.« Aber Mr Jones will nicht Klassenbester sein, Zweien sind ihm lieber. Eine Zwei bedeutet, dass er besser ist als der Durchschnitt, und das reicht ihm. Wieso sollte er Einsen haben wollen? Die Leute erwarten zu viel von denen, die ganz oben sind. Keiner seiner Lehrer durchschaut seine List, bis auf Mademoiselle Gagnon. Mit ihren schwarzen Haaren, ihrer hellen Haut und ihren roten Lippen erinnert sie Eli an Blanche-Neige, an Schneewittchen. Sophie Gagnon ist sechsundzwanzig Jahre alt und stammt aus Outremont, einem vornehmen Teil Montreals. Daher wüsste Eli gern, wieso sie jetzt in einer lausigen Wohnung im Komplex lebt. Sie gehört zu denen, die die Tribune abonniert haben, und wenn Eli sie austrägt, geht er bis zu viermal zurück, um sicherzugehen, dass Mademoiselles Zeitung absolut perfekt auf der Fußmatte ausgerichtet ist.

In einer seiner Fantasien öffnet Sophie (in seinen Träumen sind sie beim Vornamen angelangt) ihre Tür in dem Augenblick, in dem er die Zeitung davorlegt, in einem tief ausgeschnittenen Negligé. Oh, là, là! Das Negligé ist so dünn, dass er die Höfe ihrer Brustwarzen erkennen kann, ihre »Areolae« (ein Wort, das Junior ihm beigebracht hat). Sophie bemerkt die Druckerschwärze auf seinen Wangen und Händen. »Mon dieu, Élie, que tu es sale.« Was heißt, dass er ein sehr schmutziger Junge ist. Zum Glück aber hat sie gerade ein schönes heißes Bad einlaufen lassen, und sie hat eine große Badewanne und, sofern er will, nichts dagegen, diese Wanne mit ihm zu teilen. Und wie er will!

Soweit die Fantasie. Die Realität sieht so aus, dass Mademoiselle angefangen hat, ihn nach dem Unterricht dazubehalten, um mit ihm über seine Zweien zu reden.

»Élie, tu n’as pas terminé ton examen. Pourquoi?«, fragt sie, will also wissen, wieso er einen Teil des Tests nicht ausgefüllt hat.

Weil er keine Zeit mehr hatte, lügt er.

»C’est de la foutaise«, widerspricht sie und schüttelt den Kopf so heftig, dass ihre schwarzen Locken fliegen. Ihre weiße Stirn ist gerunzelt, und Eli empfindet derartige Liebeswallungen, dass er sich zusammenreißen muss, um die Hand nicht über ihre schneeweiße Hand zu decken, die sie auf sein Pult gelegt hat.

Es ist sein Aufsatz über La belle bête, der endgültig einen Keil zwischen sie treibt. Er reicht ihn zwei Wochen zu spät ein, trotzdem gibt sie ihm eine Eins plus. In ihrer Schlussbemerkung schreibt sie, Marie-Claire Blais sei ihre Lieblingsautorin aus Quebec und empfiehlt ihm, auch Une saison dans la vie d’Emmanuel zu lesen.

Nach dem Unterricht tritt er an ihr Pult, um sich über die Note zu beschweren. »Mais j’étais en retard«, sagt er.

Sie antwortet, sie habe dieses Mal eine Ausnahme gemacht.

Eine Eins plus für eine Arbeit bedeutet, dass er mehrere Dreien braucht, um seine Gesamtnote wieder zu drücken. Vielleicht muss er eine Prüfung sogar ganz schwänzen. Er greift sich den roten Stift von Mademoiselles Pult, streicht die 1+ auf seiner Arbeit durch und ersetzt sie durch eine 3.

Sie lacht, ein lautes Lachen, das er normalerweise hinreißend findet. Heute nicht. Kein Schüler habe je versucht, sie dazu zu bringen, ihm eine schlechtere Note zu geben, sagt sie. Und er könne seine Arbeit gern von oben bis unten mit Vieren vollschmieren, in ihrem Notenheft behielte er seine 1+.

Er fühlt die übliche Panik aufsteigen: Herzrasen, pfeifender Atem. Wenn das zu Hause passiert, gibt Abi ihm heimlich einen Schluck Canadian Club aus der Flasche, die sie für seine Notfälle in ihrem Schrank versteckt. Er hat schon überlegt, ob er eine Flasche in seinem Spind in der Schule deponieren soll, hat sich bis jetzt aber nicht getraut.

Er sieht seine Lehrerin mit schmalen Augen an, denn er hat noch ein As im Ärmel. Wird er es benutzen? Ja, wird er.

»Salope.«

Er hat sie gerade Schlampe genannt.

Er hat noch nie gesehen, wie jemandes Mund nach unten klappt, aber ihrer klappt. Klappt einfach auf, praktisch bis hinunter zu ihrem Schlüsselbein. Ihre Augen sprühen Funken, wie die von Joy, wenn sie ihn schlägt. Vielleicht wird Sophie Gagnon ihn ohrfeigen, so hart zuschlagen, dass der Abdruck ihrer Hand bis zur neunten Stunde auf seiner Wange zu sehen sein wird. Er hofft es.

Sie schlägt ihn nicht. Stattdessen wechselt sie zu Englisch. »Eli, was um alles in der Welt ist los mit dir?«

Sie hat nur einen Hauch von frankokanadischem Akzent, legt die Betonung ganz gelegentlich auf die falsche Silbe, und normalerweise liebt er es, diesen Akzent zu hören, aber heute liegt auch eine Spur Besorgnis in ihrer Stimme, so viel, dass er sich entlarvt fühlt.

Ihre dunklen, wunderschönen Augen bohren sich in seine. Sie sehen jetzt streng aus, aber er wird sich nicht abwenden und ihr den Sieg überlassen.

»Antworte mir. Was ist mit dir los?«

»Je ne sais pas!«, schreit er, und sie weicht einen Schritt zurück, als habe sie Angst, er könne sie schlagen.

Er dreht sich um und stampft aus dem Zimmer, zerknüllt seinen Aufsatz und wirft ihn auf den Boden des Flurs, wo er hoffentlich plattgetrampelt werden wird.

Er denkt nicht gern zu intensiv über seine Zwänge, Manien und Obsessionen nach. Für andere mögen sie nicht logisch sein – Joy scheint zu denken, dass er in eine Anstalt gehört –, aber für ihn sind sie es. Sie besitzen eine versteckte Logik. Wie Algebra-Aufgaben. Oder die geheimnisumwobenen Regeln der französischen Grammatik.

»Stell dir einen blauen Ball vor«, ordnet Pal an. Er und Eli sitzen nebeneinander auf dem Boden des Elternschlafzimmers, die Augen geschlossen, die langen Beine im Schneidersitz verknotet, den Rücken an das geblümte Canapé gelehnt. Pal bringt dem Jungen das Meditieren bei, eine Fähigkeit, die er während seines langen Aufenthalts im Douglas erlernt hat.

»Einen blauen Ball?«, fragt Eli. Abi hat behauptet, dass die Geschlechtsorgane sexuell erregter Männer, die nicht ejakulieren, blau anlaufen und anschwellen wie Violet Beauregarde in Charlie und die Schokoladenfabrik.

»Ja, einen kleinen blauen Ball, eine Murmel zum Beispiel«, sagt Pal. »Oder einen großen blauen, wie die Erde vom Mond aus gesehen. Oder irgendetwas dazwischen. Stell dir diesen Ball und nichts anderes vor.«

Elis Ball ist so groß wie eine Billardkugel und glänzt in einem dunklen Indigoblau.

»Jetzt leerst du deinen Geist. Lass alles los. Lass es wegfließen wie Wasser in einen Abfluss. All deinen Schmerz, deine Scham, deine Schuld, deine Verlegenheit. Deinen ganzen Körper. Deine Haut und deine Knochen, deine Muskeln, dein Herz, deine Lungen, all deine Organe. Alles, was bleibt, ist dein Geist, und alles, was in deinem Geist ist, ist der blaue Ball.«

»Der blaue Ball«, murmelt Eli.

»Ein-aaaaaatmen, aus-aaaaaatmen.«

Sie sitzen und meditieren, sie beide, ganz allein in der Wohnung. Es ist neun Uhr abends, Joy hat Spätschicht. Auch Abi arbeitet, sie hat neuerdings einen Job als Kassiererin in einem 7-Eleven-Supermarkt, den sie natürlich Perrette’s nennt.

»Lass uns jetzt einfach still hier sitzen«, sagt Pal. Seit seiner Rückkehr aus dem Douglas liegt eine neue Sanftheit in seiner Stimme, die Eli an den netten Mr Rogers aus dem Kinderfernsehen erinnert. Sanft legt er eine Hand auf Elis Knie. Der zuckt zusammen, und sein blauer Ball verschwindet, eine geplatzte Seifenblase, aber als Pal seine Hand fortnimmt, erscheint der Ball wieder. Danach bleibt Eli konzentriert, bis auf kurze Unterbrechungen, als Mrs Zaleski von nebenan einen Küchenschrank zuknallt, King draußen bellt, Barney zwecks kurzer sportlicher Betätigung auf sein quietschendes Laufrad hopst.

Irgendwann verändert sich die Billardkugel, verwandelt sich in Elis eigene blaue Iris. Vor seinem inneren Auge blickt sein eigenes Auge ihn an. Was sieht es? Er hört Mademoiselles tadelnde Stimme: »Was um alles in der Welt ist mit dir los?«

Eine Viertelstunde später macht Pal die Augen auf und sagt leise: »Ich glaube, Meditation kann dir helfen, Sohn.«

Auch Eli öffnet die Augen.

»Deine Gedanken fangen an zu rasen. Du verfängst dich in einer deiner Fixierungen und kannst an nichts anderes denken. Wenn das passiert, setzt du dich irgendwohin und denkst an deinen Ball. Dein Geist ist dein Universum, Junge, und dein blauer Ball ist dein Planet. Nicht unbedingt die Erde, es kann auch ein anderer Planet sein, wo du dich sicher fühlst und alles ruhig und friedlich ist.«

»Wie zum Beispiel B 612?«

Er hat keine Ahnung, ob sich Pal an den Asteroiden des kleinen Prinzen erinnert, denn im Douglas war sein Vater mit Medikamenten vollgepumpt, aber er antwortet: »Ja, wie dein eigener B 612.«

Nach der Meditationssitzung schlägt Eli vor, Pal etwas vorzulesen. Der ist einverstanden, und der Junge holt das Heft mit seiner Übersetzung französischer Krimi-Kurzgeschichten. Als er zurückkommt, liegt Pal im Morgenmantel auf der Chenille-Tagesdecke auf dem Bett. Er klopft auf den Platz neben sich, wo Joy normalerweise liegt. Als Eli noch klein war, gehörte er nie zu den Jungen, die bei ihrem Daddy schlafen wollten, deshalb kommt es ihm jetzt seltsam und eigenartig vor, neben Pal zu liegen. Soll er den Kopf auf seine Brust legen? Nein, auf gar keinen Fall. Dabei geht ihm auf, dass es schon eine ganze Weile her ist, seit er sich Fantasien darüber hingegeben hat, den Mann zu ermorden. Vielleicht hat Pal dank der Klinik den Alkohol wirklich endgültig aufgegeben, obwohl Abi behauptet, einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker. »Ähnlich wie bei Katholiken«, sagte sie.

»Ich ruhe meine Augen ein bisschen aus, während du liest«, sagt Pal zu Eli.

Der Junge liest ihm eine Kriminalgeschichte über einen Priester vor, der durch ein Glas vergifteten Messwein getötet wird, aber schon bald nickt Pal ein und fängt an, leise zu schnarchen. Eli bleibt neben seinem Vater liegen und liest weiter, aber nicht mehr laut. Der Mann schläft tief und fest, vielleicht wegen seiner Beruhigungsmittel, oder weil er erschöpft ist von der wiederaufgenommenen Arbeit in der großen Firma, die die Rechnung für seinen Klinikaufenthalt bezahlt hat.

Etwas später wird die Wohnungstür geöffnet. Abi kommt am Elternschlafzimmer vorbei, hält an, macht einen Schritt zurück und bleibt in der Tür stehen. »Was machst du da?«, flüstert sie laut.

»Pal ins Bett bringen«, ist das, was Eli als Erstes einfällt, aber er sagt: »Pal vorlesen.«

Abi winkt ihn zu sich, einen verständnislosen, panischen Ausdruck auf dem Gesicht, als sei er im Zoo irgendwie in den Gorillakäfig geraten. »Komm und lies mir vor«, verlangt sie.

Er bringt das Heft in ihr Zimmer, das anders als sein eigener makelloser Tempel des Minimalismus ein einziges chaotisches Durcheinander ist: Schmutzige Kleidungsstücke auf dem Boden, Bücherstapel, die jeden Augenblick umzukippen drohen, klumpige, ausgedrückte Earl-Grey-Teebeutel, die wie tote Mäuse überall herumliegen und langsam austrocknen.

Joy hat es aufgegeben, Abis Zimmer saubermachen zu wollen. Vielmehr bleibt sie jedes Mal mit ihrem Staubsauger in der Tür stehen und schimpft: »Wie kann man nur in so einem Saustall hausen?« Und befiehlt ihrer Tochter, die Tür geschlossen zu halten, damit sie das Durcheinander nicht sehen muss. »Aus den Augen, aus dem Sinn«, sagt sie dann immer.

Abi räumt eine Ecke ihres ungemachten Betts frei, setzt sich und tätschelt den Platz, auf den Eli sich setzen soll. Neben ihr liegt ein Bildband, aufgeschlagen beim Foto eines nackten Mannes mit Koboldgesicht, Teufelshörnern auf dem Kopf und einem peitschenartigen Schwanz, der aus seinem Rektum ragt.

Auf dem Nachttisch steht eine Tamponschachtel. Wenn Abi extrem dünn ist, bekommt sie ihre Periode nicht. »Menstruierst du wieder?«, fragt Eli.

»Wie ich es bedaure, dir alles über mich erzählt zu haben.«

»Du erzählst mir längst nicht alles.«

Sie sieht ihn lange finster an.

»Was ist?«, fragt er.

»Ich ziehe aus.«

Sein Magen ist im Achterbahn-Sturzflug.

»Wohin? Nach Manhattan?« Er klingt vorwurfsvoll, ängstlich.

»Nein, nur ans andere Ende vom Komplex.«

»Also keine Große Flucht.«

»Ich ziehe zu Timothy.«

»Wer zum Teufel ist das denn?«

Der einzige Timothy, der ihm einfällt, ist der arme Trottel im gleichnamigen Folksong, den Abi liebt. Der Timothy, der in einer eingestürzten Mine festsitzt und von den anderen Bergleuten aufgefressen wird.

»Der Manager vom Perrette’s«, sagt sie.

»Der alte Knacker?«

»Er ist achtundzwanzig.«

»Das ist alt. Vorne wird er schon kahl.«

»Wird er nicht. Er hat eine hohe Stirn.«

»Hast du mit ihm geschlafen? Mit dem alten Perversling? Du hast versprochen, es mir zu sagen, wenn du mit jemandem schläfst.« Seine Stimme klingt quengelig, wie die eines nervigen Görs. »Ich habe dir vom Cunnilingus mit Marie erzählt. Wir hatten eine Abmachung.«

»Eine verkorkste Abmachung. Krank.«

»Aber es war deine verdammte Idee!« Er schreit jetzt. »Du hast es vorgeschlagen!«

Sie legt ihm die Hand auf den Arm, er reißt ihn weg. »Brauchst du einen Schluck Medizin?«, fragt sie.

Er stürzt in eine seiner kurzatmigen Panikattacken, bringt es aber fertig, zu nicken. Dann langzuckt er mehrmals.

Sie steht auf, geht zu ihrem Schrank, fischt die Flasche Canadian Club aus ihrem Wäschekorb und gießt ein paar Fingerbreit Whiskey in eine von Nannys alten, angeschlagenen britischen Teetassen. Sie hat einen Rand aus rosa Rosen und gehört zu demselben Service, das die Geschwister früher für Alice-im-Wunderland-Teepartys mit ihren Plüschtieren benutzt haben.

»Ist Mr Perrette nicht verheiratet?«, fragt er, als sie ihm die Tasse reicht.

»Geschieden.«

»Mit achtundzwanzig?« Er schüttelt den Kopf. »Kein gutes Zeichen.«

»Du bist pro Scheidung, falls du dich erinnerst. Du sagst doch immer: ›Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.‹«

Er trinkt ein paar Schlucke der bernsteinfarbenen Medizin. Und erschaudert, als der Whiskey brennend seine Kehle hinunterrinnt. Er erinnert sich an sein letztes Mal im Perrette’s. Damals hatte Timothy seine athletischen Fähigkeiten gelobt. »Ich habe gesehen, wie du auf dem Basketballplatz Körbe gelegt hast. Du bist verdammt gut.« Das ist Eli absolut nicht, er ist bestenfalls eine Zwei. Der Mistkerl muss versucht haben, sich bei ihm einzuschleimen, damit er sich nicht gegen Abis Umzug stellt. Eli sollte anfangen, in diesem Laden zu klauen und ganze Schachteln mit Hershey-Riegeln mitgehen zu lassen. Oder wie wäre es, wenn er in der Gasse hinter dem Laden mit einem in eine Socke gestopften Backstein auf Timothy warten würde?

Er nippt noch ein paarmal, kippt den Rest des Whiskeys dann in einem Zug hinunter und fährt sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Besser?«, fragt Abi.

Er versucht es mit Betteln. »Lass mich nicht mit ihnen allein. Das überlebe ich nicht.«

»Verdammt, Jones. Ich ziehe nur sieben Minuten von hier weg. Gib mir nicht das Gefühl, dich im Stich zu lassen. Das ist unfair.«

Sie tut nur so, als sei sie verärgert, aber in ihren Augen sieht er ganze Abgründe an Schuldgefühlen, aus denen er mit Freuden schöpfen wird. »Würde ich dich je im Stich lassen?«, sagt er. »Non. Jamais.«

Am nächsten Tag, als Joy und Pal auf der Arbeit sind, macht sich Abi auf und davon. Sie hat den beiden nicht gesagt, dass sie zu ihrem Boss zieht. Eli geht davon aus, dass sie wütend sein werden, aber Abi versichert ihm das Gegenteil. »Glaub mir«, sagt sie, »die sind froh, dass ich mich aus dem Lager vervögle.« Sich aus dem Lager vervögeln, foutre le camp, steht für abhauen, die Biege machen.

Gemeinsam gehen die Geschwister an diesem sonnigen Frühlingsnachmittag durch den praktisch baumlosen Komplex. Der Himmel hat dieselbe Farbe wie Milch, in der man Boo Berry-Getreideflocken eingeweicht hat. Zu Mittag haben die beiden eine Schüssel dieses ultrasüßen Drecks mit Blaubeergeschmack gegessen.

Es ist ein Schultag, aber Eli schwänzt. Er trägt eine schwarze Jeans, ein graues Sweatshirt und weiße Turnschuhe. »Du siehst aus wie Whistlers Mutter«, sagt Abi. »Arrangement in Grau und Schwarz

Sie selbst hat eine weinrote Cordhose und eine gebatikte Tunika an, eine Zusammenstellung, von der Eli Migräne bekommt. »Und du siehst aus wie Mary Poppins«, gibt er zurück, nicht wegen ihrer Kleidung, sondern wegen der abgewetzten, gemusterten alten Reisetasche mit Holzgriff, die von Nanny stammt. Sie quillt praktisch über, dabei hat Abi die meisten ihrer Sachen zurückgelassen, als erfordere ihr neues Leben nur das Allernotwendigste.

»Gib her«, sagt er und nimmt ihr die Tasche ab.

»Wie galant«, lobt sie. Das Wort stammt aus alten Sprachschatzerweiterungstagen.

Sie fragen einander ab, während sie die Straße entlanggehen.

»Obsolet?« will sie wissen.

»Veraltet«, antwortet er. »Eloquent?«

»Beredt.«

»Diese Worte sind für alle Zeiten in unser Gedächtnis eingebrannt.«

»Unauslöschlich.«

Sie kommen am Komplex-eigenen Swimmingpool vorbei, der von einem Drahtzaun umgeben ist. Seitenwände und Boden des abgelassenen Pools sind voller nikotinfarbener Flecke. Das Gebäude, in dem Timothy lebt, liegt gleich neben dem Pool, und als die Geschwister davor stehen, fragt Abi: »Willst du mit raufkommen?«

»Nein.«

»Timothy ist nicht da.«

»Ein andermal«, sagt er, denkt jedoch: Wenn Hühner Zähne haben, wie die Franzosen sagen, wenn sie »nie und nimmer« meinen. Er reicht ihr die Reisetasche. Sie umarmt ihn, wozu sie sich recken muss, weil er inzwischen viel größer ist. Er nähert sich an Mannequingröße an, während sie anscheinend überhaupt nicht weiterwächst.

»Kommst du klar?«

»Nein, ich bin untröstlich.«

Sie lächelt schief, dreht sich um und geht auf die Haustür zu, wobei sie die Reisetasche gespielt nonchalant schlenkert.

»Gramgebeugt«, ruft er ihr hinterher.

Sie verschwindet im Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen.

»Zu Tode betrübt«, murmelt er vor sich hin. Sein Herz fühlt sich an wie eine der Toilettenpapierrollen, die Barney in seinem Käfig zerkaut.

Junior nennt Timothy immer nur den Motherfucker (»Was hat der Motherfucker, was ich nicht habe? Eine Softeismaschine?«), bis Eli sagt, er soll damit aufhören.

»Er fickt seine Mutter nicht«, beharrt er.

»Bruder, du nimmst alles so wortwörtlich, dass ich dir wortwörtlich den Kopf abreißen könnte.«

Seit Abi vor Wochen ausgezogen ist, hatte sie praktisch keinen Kontakt zu Eli oder Junior, und die Jungen sind deswegen ziemlich sauer. Außerdem streiten sie sich in letzter Zeit ständig, wie ein altes Ehepaar. Beide sind in diesem Jahr neu an der Schule und der einzige wirkliche Freund des jeweils anderen. Eli glaubt, dass Junior ihm die Schuld daran gibt, dass Abi sich mit einem unpassenden Liebhaber zusammengetan hat, wo Junior selbst doch der einzig passende wäre.

Einmal, während eines Streits darüber, wer von ihnen von Tür zu Tür gehen muss, um das Zeitungsgeld einzukassieren, zieht Junior einen Klumpen Rotz hoch und spuckt ihn Eli in die Haare. Eli knallt ihm eine. Junior haut Eli die Faust auf den Kopf. Das Ganze endet damit, dass die beiden in Juniors Zimmer keuchend, fluchend und um sich schlagend über den Boden rollen, bis Eugene senior kommt und sie auseinanderreißt.

»Und jetzt gebt euch die Hand und vertragt euch«, befiehlt Eugene senior. Er hat eine tiefe, samtige Stimme, wie die von Gott in Filmen. Eine Stimme, der man besser nicht widerspricht. Die Jungen reichen sich die Hand, wobei Junior mit aller Kraft zudrückt, damit Eli zusammenzuckt, aber das wird der auf gar keinen Fall tun.

»Was ihr da habt, Jungs, ist eine richtig schöne Hassliebe«, sagt Eugene senior.

Das stimmt. An manchen Tagen gehen sie so liebevoll miteinander um wie zwei Hündchen aus demselben Wurf. Sie sitzen auf der Couch und gucken fern, Junior lang ausgestreckt, sodass seine Beine über das Ende der Couch herausragen, den Kopf in Elis Schoß.

Eugene senior hat eine Freundin in der Stadt, und wenn er die Nacht bei ihr verbringt, sagt er oft im Scherz, dass Eli Junior »babysitten« soll. Eli schläft dann in Juniors Bett, während Junior das seines Vaters nimmt, ein Wasserbett, von dem Junior behauptet, dass er darin immer denselben Traum träumt, in dem er der Fischer aus Der alte Mann und das Meer ist und mit einem Blauen Marlin kämpft, bloß jünger und schwarz.

An manchen Abenden kommt Joy runter, um sich King auszuborgen. »Wie geht es meinem Jungen?«, quietscht sie den deutschen Schäferhund an. King bellt, und Joy ruft: »Freust du dich, Joy zu sehen?«, und der Hund hüpft auf und ab, weil er weiß, dass sie einen langen Spaziergang mit ihm machen und auf dem Gelände rund um den Komplex immer wieder seinen schleimigen Tennisball für ihn werfen wird. Nur wenn sie mit dem Hund zusammen ist, scheint Joy in Cook County glücklich zu sein.

»Deine Mom ist cool«, sagt Junior einmal zu Eli.

»Machst du Witze? Joy und cool?«

»Wieso nennt ihr eure Eltern beim Vornamen?«

»Weil sie, wie Abi sagt, keine wirklichen Eltern sind, sondern eher Elterneinheiten.«

»Elterneinheit« ist ein Begriff, den die Coneheads in Saturday Night Live verwenden. Genau diese Sendung gucken die beiden Jones-Jungen in Juniors Wohnung an dem Abend, der sich als Elis letzter Samstagabend in Amerika herausstellen wird. Mitten in einem Sketch, in dem ein Schauspieler in Nancy-Reagan-Aufmachung eine Wahrsagerin mimt, klopft es an der Verandatür.

King, der vor dem Fernseher liegt, springt auf und bellt. Aber der deutsche Schäferhund ist mehr Angsthase als Wachhund. Beim zweiten Klopfen weicht er zurück und versteckt sich unter dem Esstisch.

Junior geht zur Tür, drückt das Gesicht ans Glas und legt die Hände außen herum, um nach draußen sehen zu können. »Es ist Abi«, sagt er und schiebt die Tür auf, und Mary Poppins mitsamt gemusterter Reisetasche betritt das Zimmer. King kommt angesprungen und wedelt mit seinem Staubwedelschwanz.

»Schwester«, freut sich Junior.

Die Jacke, die Abi anhat, besteht aus einem filzigen rosa Material. Sie sieht darin aus wie ein gehäuteter Muppet.

»Du solltest die Vorhänge zumachen«, sagt sie zu Junior. »So können alle bei euch reingucken.«

»Wer würde uns denn ausspionieren wollen?«

»Spanner«, kommt es von Abi. »Kinderschänder.«

»Ich bin kein Kind mehr«, verwehrt sich Junior. »Unser Bruder hier wartet zwar noch auf das Einsetzen der Pubertät, aber ich bin ein Mann.«

»Wieso bist du wieder hier?«, fragt Eli ziemlich unterkühlt von seinem Ende der Couch aus, eingeschnappt, weil er sich von ihr vernachlässigt fühlt.

Ohne darauf zu antworten, deponiert Abi die Reisetasche auf einem Sitzsack und lässt sich auf das andere Ende der Couch fallen. King stupst ihr Bein an, weil er hofft, von ihr getätschelt und gestreichelt zu werden, mit Erfolg. Junior setzt sich neben Abi und hofft auf das Gleiche, allerdings ohne Erfolg.

Abi wirft einen Blick auf den Fernseher und sagt: »Seit Gilda Radner nicht mehr dabei ist, müsste Saturday Night Live eigentlich Mittwochnachmittagstod heißen.«

Sie schauen trotzdem weiter, aber nur Junior lacht und klopft sich gelegentlich sogar auf die Schenkel, wahrscheinlich aus Aufregung darüber, dass Abi sie mit ihrer Anwesenheit beehrt, oder vielleicht versucht er auch, ihr eine Reaktion zu entlocken. Aber sie sitzt nur mit grimmigem Gesicht da, selbst während eines urkomischen Werbesketches für Männertampons (die verirrte Urintropfen auffangen sollen, die eventuell noch fließen, nachdem ein Mann sich abgeschüttelt und den Reißverschluss wieder hochgezogen hat).

Da Abis Reisetasche praktisch überquillt, vermutet Eli, dass sie all ihre Sachen dabeihat. Haben sie und der Motherfucker sich getrennt? Er würde sie gern fragen, aber Abi sieht so zerbrechlich aus, als sei ihre übliche Sturmtruppler-Rüstung nur noch eierschalendünn.

»Senior ist nicht da?«, fragt sie Junior.

»Er ist übers Wochenende in der Stadt.«

»Hat er irgendwo Whiskey?«

»Mein Dad trinkt nicht. Und ihr zwei solltet auch nicht trinken, wo Pal doch Alkoholiker ist und alles. Ihr spielt mit dem Feuer.«

»Eli und ich haben uns längst verbrannt«, sagt Abi. »Stimmt doch, Jones, oder?«

»Und wie«, bestätigt Eli und lächelt seine Schwester verschwörerisch an. Sie lächelt nicht zurück.

Als die Sendung zu Ende ist, fragt sie Junior: »Was dagegen, wenn ich heute Nacht im Wasserbett schlafe?«

»Absolut nicht. Ich beziehe es schnell für dich.«

»Mach dir keine Mühe.«

»Es ist keine Mühe, Schwester.« Junior flitzt los, um das Bett zu beziehen und wahrscheinlich auch mit einem Moschusduft zu bespritzen in der Hoffnung, dass es für Abi und ihn zum Liebesnest wird.

Während Junior weg ist, fragt Eli: »Timothy?«

»Er ist zu seiner Frau zurückgegangen.«

»Sie sind nicht geschieden?«

»Nein, das war gelogen. Sie waren nur getrennt.«

»Tut mir leid.«

Sie beißt sich auf die Unterlippe, die rissig ist – ungewöhnlich für Abi, die ständig Lippenpflegestifte benutzt, und fügt hinzu: »Er hat mir gleich zwei Abfuhren reingewürgt und mich nicht nur abserviert, sondern auch gefeuert.«

»Scheiße«, sagt Eli. »Soll ich dem Mistkerl den Kopf abbeißen?«

Endlich lächelt sie. »Du bist Vegetarier.«

»Zur Verteidigung deiner Ehre würde ich eine Ausnahme machen.«

»Ich beiße nicht«, verspricht Junior, rutscht in seinem Doppelbett beiseite und schlägt die Decke so schwungvoll zurück, als sei sie ein Vampircape, wuuusch, um Eli Platz zu machen. Eigentlich wollte der die Couch im Wohnzimmer nehmen, aber dort schläft King und haart alles voll. Außerdem schnarcht der Hund.

Auf dem Poster an der Wand scheinen die vier Talking Heads zustimmend zu nicken, also rutscht Eli in seinen grauen Boxershorts und dem weißen T-Shirt unter die Decke. Junior hat nur eine Schlafanzughose aus Flanell an, sein Oberkörper ist nackt. Mitten auf seiner Brust sprießen ein paar lockige Haare, also ist er vielleicht wirklich ein Mann, wie er immer prahlt. So dicht neben ihm kann Eli den Duft seiner Irish Spring-Seife riechen, vor allem, als sein Freund über ihn hinweggreift, um die Nachttischlampe mit dem Keramikfuß in Form eines Rennautos auszuschalten. Also doch immer noch mehr Junge als Mann.

Junior dreht sich zur Wand, dreht Eli den Rücken zu. Seine nackten Füße ragen wegen seiner Größe über den Bettrand.

»Gute Nacht, Bruder.«

»Bonne nuit.«

Auf der anderen Seite des Zimmers leuchten zwei rote Punkte durch die Dunkelheit: Juniors Plattenspieler. Die Augen eines Tiers, stellt Eli sich vor. Die des gerissenen Fuchses, der über ihn wacht. Er hat noch nie mit jemand anderem in einem Bett geschlafen, außer mit Abi früher, in Motelzimmern, deshalb fürchtet er, überhaupt nicht schlafen zu können. Vielleicht sollte er zu Abi in das große Wasserbett klettern und von türkisfarbenen Meeren und Blauen Marlins träumen. Welche schriftstellerischen Hemingway-Adjektive könnte er heute auf seine Schwester anwenden? »Abgestumpft« vielleicht? Aber hat sie, wenn er ehrlich ist, nicht schon seit Ewigkeiten abgestumpft ausgesehen? Insgeheim ist er froh, dass Timothy mit ihr Schluss gemacht hat. Du bist ein egoistisches Arschloch, Eli Jones, beschimpft er sich selbst. Die Leute denken immer, dass er ein netter Kerl ist, dabei ist er schandbar gemein, so schlimm wie Pal. Vielleicht schlimmer, seit Pal nicht mehr trinkt und ihm gegenüber vage väterlich wirkt, vor allem, seit Abi weg ist. Er lässt sich gerne von Eli Kriminalgeschichten vorlesen, und gemeinsam rätseln Vater und Sohn, wer der Täter sein könnte. Sogar Joy war in letzter Zeit mehr auf Elis Seite und hat sich für ihn eingesetzt, als Mademoiselle Gagnon Anfang der Woche anrief, um sich darüber zu beklagen, dass er nicht sein volles Potential ausschöpft. »Der Junge hat sich selbst Französisch beigebracht, verdammt nochmal«, hat Joy die Lehrerin angefaucht. »Was wollen Sie und Ihresgleichen denn noch?«

Eli kann nicht schlafen und wäre froh, er könnte sich einen Hot Toddy machen, einen heißen Whiskey mit einem Schuss Honig. Oder, noch besser, die kanadische Variante mit Ahornsirup. Er denkt an seine Klamotten. All seine Anziehsachen im Kopf durchzugehen und nach Farben zu sortieren ist seine Form des Schäfchenzählens.

Er sortiert gerade seine Socken, als Junior sich umdreht und flüstert: »Eli, ich habe gelogen. Ich beiße doch.« Er rutscht halb über Eli und gräbt die Zähne in seinen Hals, wie Dracula, allerdings nicht so tief. Dann lässt er los, und Eli sagt: »Das hat gekitzelt«, obwohl es wehgetan hat. Junior versucht noch einmal, ihn zu beißen, dieses Mal in die Schulter, aber Eli stößt ihn weg, Junior gibt ihm einen Klapps auf die Wange, und Eli sagt: »Lass das.« In der Dunkelheit schwebt Juniors Gesicht über seinem, undeutlich, das Weiß seiner Augen wie Monde durch Wolken, und dann liegen seine Lippen auf denen von Eli. Kein falscher Kuss wie auf der Wiese, sondern ein richtiger. Eli schiebt Junior die Zunge in den Mund, und sein Freund lässt ihn. Der Kuss ist so ähnlich wie die Knutschereien mit den Maries, bloß dass sich Juniors Lippen weicher anfühlen und sein stoppeliges Kinn kratziger ist.

Eli rechnet damit, dass Junior wie neulich auf der Wiese abrupt aufhören und so tun wird, als sei alles nur ein Witz gewesen, aber dann legt sich seine Hand auf Elis Erektion und streichelt sie durch die Boxershorts hindurch. Er hört auf, Eli zu küssen und zerrt an den Shorts herum, und Eli hebt den Po an, damit er das Ding runterziehen kann. »Dreh dich um«, sagt Junior mit tieferer Stimme, der Komm-mir-ja-nicht-in-die-Quere-, gottähnlichen Stimme seines Vaters, und als Eli zögert, rollt Junior ihn auf den Bauch, zieht seine eigene Schlafanzughose runter, legt sich auf Eli und drückt seinen Penis in Elis Po, aber ohne in ihn einzudringen. Er bewegt sich einfach nur auf und ab, schiebt Elis T-Shirt nach oben und küsst seine Schulterblätter. Und Eli will ihm zu Gefallen sein, es erregt ihn, ihm zu Gefallen zu sein, so wie es ihn erregt hat, der Marie zu Gefallen zu sein, der er es mit dem Mund besorgt hat. Er ist nicht sicher, ob er sich richtig bewegt, aber bald finden die Jungen einen natürlichen Rhythmus, und Junior ächzt und stöhnt, und dann spürt Eli etwas Heißes und Nasses, als sein Freund auf seinem Rücken kommt.

Junior löst sich von ihm, liegt im Dunkeln einfach da und kommt allmählich wieder zu Atem. Eli zieht sich das T-Shirt über den Kopf und benutzt es, um sich Juniors Samen abzuwischen, der streng riecht, mehr nach Bleichmittel als sein eigener. Er knüllt das T-Shirt zusammen und wirft es auf den Boden. Dann streckt er die Hand aus und legt sie auf Juniors Brust, genau auf die Stelle mit den paar Härchen. Er streichelt die kleinen Härchen mit einem Finger.

»Geh und schlaf auf der Couch«, sagt Junior, wieder mit seiner normalen Stimme.

»Was?«

»Verzieh dich, Eli.«

Eli reißt seine Hand zurück, als hätte er einen Stromschlag bekommen. Mit dem Fuß schubst Junior ihn an, stößt ihn von sich weg. Eli wühlt zwischen den Laken, bis er seine Boxershorts findet, steigt aus dem Bett und hüpft unbeholfen herum in dem Versuch, sie im Dunkeln anzuziehen, während die roten Fuchsaugen ihn gnadenlos anstarren. Dann steht er da und wartet, dass sein blöder Ständer schrumpft. Dabei sieht er das weiße, samenverschmierte T-Shirt auf dem Boden liegen und spielt mit dem Gedanken, es Junior an den Kopf zu werfen und ihn als Schwuchtel zu beschimpfen, tut es aber nicht. Als er aus dem Zimmer stampft, bleibt er an der Ecke der Kommode hängen und stößt sich derart heftig, dass er garantiert einen blauen Fleck an der Hüfte bekommen wird.

Er geht ins Bad und macht das Licht an. Es riecht nach Irish Spring, also nach Junior. Die Tür des Spiegelschranks steht offen. Er schließt sie und starrt sich im Spiegel auf der Außenseite an. Er sieht genauso aus wie vor einer Stunde, als er sich hier das Gesicht gewaschen hat, außer dass er inzwischen Sex mit einem Kerl hatte. Mit einem Gästehandtuch reibt er sich eventuelle Reste von Junior vom Rücken. Juniors orangefarbener Afrokamm liegt auf dem Spülkasten. Er setzt sich damit auf den Rand der Badewanne und streicht mit den Fingern über die Zinken, als würde er eine Maultrommel zupfen. Was jetzt? Er könnte nach oben in ihre eigene Wohnung gehen, aber seine Klamotten liegen noch in Juniors Zimmer, und er will nicht dahin zurück, um sie zu holen.

Er pinkelt im Stehen, lässt Juniors Kamm in die Toilette fallen und spült nicht ab. Das ist seine Rache. Er verlässt das Bad in der Absicht, bei King auf der Couch zu schlafen, aber als er an der Tür zum Schlafzimmer von Eugene sen. vorbeikommt, überlegt er es sich anders. Mit dem Knöchel klopft er an die Tür. »Jones?«, flüstert er. »Bist du wach?«

Er drückt die Tür auf und geht hinein. Anders als in Juniors Zimmer fällt hier Mondlicht herein; es zwängt sich durch die Schlitze der Jalousie und wirft Lichtstreifen auf Wände, Fußboden und Bett. Leise geht er zum Wasserbett. Seine Schwester ist eine Erhebung unter den Decken, hat sie bis über den Kopf hochgezogen, wie vor Jahren im Waggon. Sein Herz fängt an zu hämmern. »Jones«, sagt er lauter.

Auf dem Nachttisch steht eine Lampe. In der Dunkelheit fummelt er daran herum, bis er den Ziehschalter findet. Er betätigt ihn. Diffuses gelbes Licht erfüllt das Zimmer. Auf dem Nachttisch, neben der Lampe, steht ein Wasserbecher, daneben liegt ein Röhrchen verschreibungspflichtiger Pillen. Ein leeres Röhrchen.

Er weiß sofort Bescheid.

Er schreit ihren Namen. Sie reagiert nicht. Er wirft sich aufs Bett, dessen Wasser anfängt zu schwappen, sodass er sich vorkommt wie in einem Ruderboot, und schlägt das Deckbett zurück. Sie liegt auf der Seite, einen Arm über die Augen gelegt, als wolle sie sie vor der Sonne abschirmen. Er hebt den Arm an und tätschelt ihr bleiches, schweißnasses Gesicht, einmal, zweimal, ein drittes Mal, jedes Mal etwas härter, und als sie nicht zu sich kommt, schreit er nach Junior.

Elis Gehirn fühlt sich an wie ein Beutel voller Wattebäusche, ein krasser Gegensatz zur absoluten Klarheit, die während der Ereignisse der letzten neunzig Minuten in seinem Kopf geherrscht hat. Er fühlt sich, als hätte er selbst ein paar von Eugene seniors Schlaftabletten geschluckt. Inzwischen ist er mit Junior und King allein in der Wohnung. Die Sanitäter sind weg. Pal ist mit ihnen gefahren. Joy ist wieder nach oben gegangen.

Abi ist weg. Nicht weg für immer, nicht weg im Sinne von tot. Sondern im Krankenhaus. Sie wird wieder werden. Haben die Sanitäter versprochen. Nein, haben sie nicht, aber Eli hat es als Versprechen aufgefasst, wie eine von ihnen, die rothaarige Frau mit der gezackten Narbe am Kinn, eine Augenbraue hochgezogen, ihm beschwichtigend zugelächelt und ihn kurz zugenickt hat. Außerdem hat Pal immer wieder gesagt: »Sie wird wieder, sie wird wieder, sie wird wieder.« Bestimmt ein Dutzend Mal, sogar noch, als übelriechender gelblicher Schleim aus Abis Mund quoll.

Vor seinem inneren Auge sieht Eli noch einmal, wie seine Schwester auf eine Trage geschnallt und aus dem Gebäude gebracht wird und denkt darüber nach, welchen Witz er machen könnte, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt: »In Sachen Gewichtsverlust ist ein ausgepumpter Magen sicher besser als Ex-Lax, aber findest du nicht auch, dass das selbst für deine Verhältnisse ein kleines bisschen zu krass war, Jones?«

Sie hatte sich eingenässt. Eli hat den feuchten Fleck auf dem Laken gesehen, als die Sanitäter sie auf die Trage hoben. Vielleicht könnte er auch darüber witzeln und sagen, sie hätte das Wasserbett gewässert.

Eugene senior wird außer sich sein, fürchtet Eli. Der Mann ist auf dem Weg nach Hause. Eli hat gehört, wie Junior ihn vom Telefon in der Küche aus angerufen hat, demselben Telefon, das Pal benutzt hat, um den Krankenwagen zu rufen. Sowohl Pals als auch Juniors Stimme war dieselbe Verzweiflung anzuhören.

»Kommen Sie schnell«, flehte Pal die Notrufzentrale an.

»Komm schnell«, sagte Junior zu seinem Vater.

Nie wieder wird Eugene senior Eli erlauben, den Babysitter für Junior zu spielen, denkt Eli. Zu Joy hat er gesagt, dass er hier unten bleiben wird, bis Eugene senior zurück ist. Der arme Junior ist völlig fertig. Eli hat sich sein ganzes Leben lang auf das Schlimmste vorbereitet, damit er es durchstehen kann, wenn es so weit ist. Junior hat das nicht getan. Den Kopf in Elis Schoß, weint und schluchzt er. Eli streichelt seinen Rücken und würde gern sagen: »Ist ja gut, Bruder, ist ja gut«, aber so wirr im Kopf, wie er selbst ist, sagt er nichts.

King liegt zusammengerollt neben den Jungen auf dem Bett. Seine Groucho-Marx-Augenbrauen verleihen ihm einen bestürzten Ausdruck. »Entschuldigt, dass ich das sage«, scheint er zu sagen, »aber dieses Mädchen ist nicht ganz richtig im Kopf.«

Eli hat Juniors Morgenmantel an. Er ist kariert, grell kariert, rotes Schottenkaro, aber Eli ist zu benommen, um sich daran zu stören. Eine Stunde lang ist er halbnackt herumgelaufen, ist in seinen Boxershorts nach oben gerannt, um seine Eltern zu wecken. Dann wieder nach unten. Und nach draußen, um den Sanitätern den Weg zur Wohnung zu zeigen. Es war Junior, der ihm irgendwann den Morgenmantel brachte und ihm half, die Arme hineinzustecken.

Elis verschmutztes T-Shirt liegt immer noch zusammengeknüllt auf dem Boden neben der Kommode. Während er es anstarrt, fällt ihm ein, was er mit Juniors Kamm gemacht hat. Er muss daran denken, ihn aus der Toilette zu fischen und abzuwaschen, bevor er nach oben geht.

Irgendwann hört Junior auf zu weinen und setzt sich auf, legt einen Arm um Eli und zieht ihn in einer halben Umarmung an sich. Dann fährt er sich mit dem Handrücken über die Nase. Seine Augen sind blutunterlaufen, wie die von Pal nach einer Sauftour, bloß dass die von Junior kaffeebohnenbraun sind und die tiefe, warme Farbe haben, die sich Eli schon immer für seine eigenen Augen gewünscht hat. Hätte er diese Augen statt seiner kaltblauen, könnte er ein anderer Jones sein. Ein mitfühlenderer Jones. Ein Jones, der weint, wenn seine Schwester ein Röhrchen Tabletten schluckt.

»Warum hat sie das getan?«, fragt Junior mit belegter Stimme.

Als Abi letzten Winter im Beisein von Junior ohnmächtig wurde, hat Eli gesagt: »Das macht sie manchmal.« Fast hätte er das auch jetzt gesagt, als seien Selbstmordversuche etwas, was bei Abi gelegentlich vorkommt. Als seien sie ihr Ding. Eine Macke seiner Schwester eben. Wie das Herumkauen auf ihren Haarspitzen oder das Zurückbiegen ihrer Finger.

»Ich weiß es nicht.«

»Ich liebe sie«, sagt Junior.

»Ich weiß.«

»Dich liebe ich auch. Ich liebe euch beide.« Juniors Augen werden groß, als sei niemand mehr über das Eingeständnis dieser zweifachen Liebe überrascht als Eugene Jones junior selbst.

Liebe. Ein Wort, das bis jetzt noch niemand in Bezug auf Eli benutzt hat. Abi sagt es nie. Joy und Pal auch nicht. Soll er Junior sagen, dass er ihn auch liebt? Liebt er ihn? Wie fühlt sich Liebe an? Vielleicht so, als würde man selbst sterben wollen, wenn der andere Mensch tot ist? Wenn Abi stirbt, wird er wahrscheinlich auch sterben wollen.

Sie wird wieder. Sie wird wieder. Sie wird wieder.

King hebt den Kopf und bellt. Sein Überschallgehör hat ihm verraten, dass Eugene senior mit seinem Lieferwagen auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude angelangt ist. Eli hört die Tür des Lieferwagens zuschlagen. King springt vom Bett und trottet durch den Flur zur Wohnungstür.

»Mein Dad ist zurück«, sagt Junior, fährt sich über die Augen und sieht erleichtert aus, sieht aus, wie Eli nie aussieht, wenn Pal nach Hause kommt.

Als Eli mit Abis Reisetasche nach oben kommt, ist es draußen noch dunkel. Joy sortiert Wäsche. Sie hat den geflochtenen Wäschekorb auf dem Esstisch ausgekippt und wirft Sachen auf unterschiedliche Stapel. Weiß. Bunt. Dunkel. Sie wäscht viel, besteht darauf, dass Kleidungsstücke, Handtücher und Waschlappen nach einmaliger Benutzung gewaschen werden müssen. Die Waschküche – dunkel, feucht, eine Zuflucht für Tausendfüßler und Spinnen – liegt im Keller, aber da die Mieter sie erst ab 8 Uhr morgens benutzen dürfen, kann sie noch nicht runtergehen. Als sie ihren halbnackten, nur mit seiner Jeans bekleideten Sohn sieht, fragt sie: »Wo ist dein T-Shirt?«

Ein Langzucken Elis. Er stellt die Reisetasche ab, fischt ein schwarzes T-Shirt aus dem Haufen dunkler Wäsche und zieht es sich über den Kopf. Dass er ein »schmutziges« T-Shirt anzieht, wird Joy ärgern. Sie hat ihre eigenen Macken und Marotten, aber droht Eli je, sie deswegen ins Douglas zu stecken? Er versteht besser als irgendjemand sonst, dass sie jeden verdammten Tag der Woche unter den Betten staubsaugen muss. Eine Zigarette glimmt im Aschenbecher am Ende des Tischs vor sich hin, und er würde das verdammte Ding am liebsten wie ein Frisbee quer durchs Wohnzimmer schleudern. Mit ein bisschen Glück würde die Kool alles in Brand stecken. Das Canapé, den kleinen Teppich, die Vorhänge, die Zierdeckchen. Das geblümte Kissen mit dem eingestickten »Home is where the heart is«. Zuhause ist da, wo das Herz ist. Was, wie Abi immer sagt, die Frage aufwirft, wo die Herzlosen ihr Zuhause haben.

»Gibt es schon etwas Neues?«, fragt er seine Mutter. Pal soll anrufen, sobald Abi stabil ist.

Joy schüttelt den noch vor rosa Lockenwicklern starrenden Kopf und wirft ein Unterhemd zu den weißen Sachen, einen Spüllappen zu den dunklen. »Sie werden mir die Schuld geben«, sagt sie. »Wirst schon sehen.«

»Was?«

»Wenn Kinder Scheiße bauen, zeigen die Leute immer mit dem Finger auf die Mutter. Kannst du immer wieder im Fernsehen sehen. Die Tochter ist kokainsüchtig, also ist die Mutter schuld. Der Sohn hat eine Bank ausgeraubt, die Mutter ist schuld. Das bringt mich dermaßen auf die Palme.«

»Niemand gibt dir die Schuld. Ihr Freund hat mit ihr Schluss gemacht.« Vielleicht können sie alle sich darauf einigen, diesem Motherfucker die Schuld zu geben.

Joy zieht an ihrer Kool, ohne den Blick von ihrem Sohn zu wenden. Als sie den Rauch ausgestoßen hat, sagt sie: »Dieser Kerl ist nicht schuld. Dass er mit ihr Schluss gemacht hat, hat das Mädchen nicht dermaßen zugrunde gerichtet.« Sie drückt die Kippe aus, den Blick immer noch auf ihn gerichtet. »Weißt du, was sie kaputt gemacht hat?«

Ein weiteres Langzucken.

Joys Gesicht sieht aus wie ein zerknittertes Taschentuch, gezeichnet von Zorn und Abscheu. Es ist derselbe Ausdruck wie vorhin, als sie ihre bewusstlose Tochter im eigenen Urin auf dem Wasserbett liegen sah. »Ihr ist etwas Schlimmes passiert«, fährt sie fort. »Es hat in Massachusetts angefangen, als sie dreizehn war, und ging weiter, bis wir hierher gezogen sind.«

Elis Herz fängt an, rasend schnell zu hämmern. Seine Beine geben nach. Er lässt sich auf einen Esszimmerstuhl fallen, greift sich ein großes Badelaken vom Tisch und drückt es an die Brust – ein kleines Kind mit seiner Kuscheldecke.

»Deiner Schwester wurde etwas angetan.«

Er drückt das Badelaken fester an sich.

»Sie wurde missbraucht. Ich meine, sexuell.«

Etwas im Zimmer hat sich verändert. Die Luft. Sie ist anders als vorher. Die Sauerstoffmoleküle sind mutiert, sind spitz geworden, lassen sich schwerer einatmen.

»Abi wollte nicht, dass du es weißt, also verrat ihr nicht, dass ich es dir gesagt habe, okay? Es würde sie nur noch fertiger machen.«

Er hätte sich die Wahrheit schon vor Jahren denken müssen. Der Fuchs hat versucht, ihn zu warnen, aber er wollte nicht mit dem Herzen sehen. Er drückt das Badelaken an sein Gesicht, bedeckt seine Augen. Ach, Jones. Er will zu seiner Schwester. Er will, dass sie da ist und ihn rettet, obwohl er nicht da gewesen ist, um sie zu retten.

»Alle werden mir die Schuld geben und sagen, dass ich es die ganze Zeit gewusst habe, oder dass ich es nicht sehen wollte«, fährt seine Mutter fort. »Hab ich aber nicht. Ich fand sie einfach nur eigenartig, die Nähe der beiden. Abi ist ein hübsches Mädchen. Es ist normal, dass er sie liebt, aber er hat sich in sie verliebt. Die Liebe war schuld, die Liebe hat ihn dazu getrieben. Wenn man es so betrachtet, nämlich dass die Liebe der Grund für das alles war, ist es leichter zu akzeptieren. Und leichter, ihm zu verzeihen.«

»Ihm … wem?« Er nimmt das Handtuch weg. »Von wem reden wir hier?«

»Stell dich nicht dumm. Du weißt, von wem.«

Er weiß es, aber er will, dass sie den Namen sagt.

Er ist nicht mein Vater, denkt er. Ich bin ein anderer Jones. Ich gehöre nicht zu dieser Familie. Ich bin der Sohn von Elvis. Der Sohn des King.

»Sag bloß nichts zu Junior, oder zu deinem Vertrauenslehrer an der Schule, oder zu diesen Klugscheißerinnen von Lehrerinnen. Wenn du deine große Klappe aufreißt, kommt Pal ins Gefängnis und ich ins Armenhaus. Und du, du landest bei Pflegeeltern, wo du wahrscheinlich auch missbraucht werden wirst.«

»Ich hasse ihn«, sagt er. »Er soll tot sein.«

»Jetzt fühle ich mich schuldig, weil ich dich gegen ihn aufgebracht habe. Jesus Murph, als hätte ich nicht schon genug zu verkraften.«

Sie steckt sich eine neue Kool an und sortiert Pals schmutzige Unterwäsche.

Ein Backstein in einem Weihnachtsstrumpf wäre eine Möglichkeit. Eli sieht sich gegen drei Uhr morgens in einer mondhellen Nacht zusammengeduckt zwischen zwei Autos auf dem Parkplatz hinter dem Haus kauern. Pal käme völlig zugeballert von einer seiner Sauftouren zurück, und Eli würde ihm den Strumpf an den Kopf ballern. Unvermummt, weil er will, dass Pal sein Gesicht sieht. Das wäre die beste Methode, besser als die sauberen, verstohlenen Methoden aus den französischen Kriminalgeschichten. Kein vergifteter Messwein für Pal. Kein weiches Kissen, das auf sein Gesicht gedrückt wird, während er friedlich schläft.

Gegen acht Uhr morgens hat Pal Joy angerufen und gesagt, Abi würde wieder werden. Den Tag müsse sie aber noch im Krankenhaus bleiben, nachdem ihr in der Nacht der Magen ausgepumpt worden war. Pal ist inzwischen auf dem Weg nach Hause, und Eli könnte es nicht ertragen, da zu sein, wenn er eintrifft. Die Reisetasche in der Hand hetzt er auf das Tor des Komplexes zu, zwei bröckelnde Backsteinsäulen, gekrönt von zwei flammenförmigen Lampen, ähnlich der der Freiheitsstatue, bloß ständig durchgebrannt.

Auf der Straße hält ein olivgrüner Lada hupend an. »Bonjour Élie.« Es ist Mademoiselle Gagnon in ihrer Schneewittchenschönheit, die ihn durch das heruntergekurbelte Seitenfenster grüßt.

Er läuft zum Auto. Zu aufgewühlt, um Französisch zu sprechen, sagt er: »Ich muss so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Meine Schwester hatte einen Unfall. Können Sie mich hinbringen, Sophie?«

Nur in seinen Fantasien hat er sie je mit Vornamen angesprochen. Sophie runzelt die Stirn, sagt dann aber: »Steig ein.«

Er geht um das Auto herum und öffnet die Beifahrertür. Eine zerknüllte Packung Ritz Cracker liegt auf dem Sitz. Sie wirft sie nach hinten und er setzt sich, die Tasche auf dem Schoß.

Seit ihrer Auseinandersetzung hat sie ihm alle Hausaufgaben und Klassenarbeiten korrigiert, aber unbenotet zurückgegeben. Weder Einsen, Zweien noch Dreien. Er ist sich nicht sicher, was das zu bedeuten hat.

Als sich der Lada in den Verkehr auf der Schnellstraße einfädelt, sagt er: »Ma sœur s’est cassé la jambe.« Eigentlich wollte er sagen, dass sich Abi den Knöchel verstaucht hat, doch gesagt hat er, dass sie sich das Bein gebrochen hat, eine dumme Lüge, da Sophie seine Schwester aus dem Perrette’s kennt und sie möglicherweise später ohne Gips oder Krücken irgendwo herumlaufen sieht.

»Comment est-ce qu’elle a fait ça?«

»Sie hat sich mit dem Skateboard hingelegt.« Abi hat keins. Was zum Teufel redet er da nur? Er drückt die Reisetasche an seine Brust und gibt einen gequälten Schluchzer von sich.

Ein erstaunter Blick der Lehrerin. Ihre Augen haben dasselbe Kaffeebohnenbraun wie die von Junior. »Mach dir keine Sorgen. Ça va bien aller.« Sie tätschelt sein Knie, drückt es, schickt ein Kribbeln sein Bein hinauf. »Knochen heilen. Wunden heilen.«

Diese Wunde nicht, denkt er. Die wird nie heilen. Nie. Sie wird bis zu dem Tag, an dem seine Schwester stirbt, offenbleiben und eitern. Er fängt an zu weinen, hört aber sofort wieder auf und reibt sich die Augen.

Den ganzen Rest der Fahrt gibt er nur einsilbige Antworten, wenn sie etwas zu ihm sagt. Am Krankenhaus hält sie mit laufendem Motor direkt vor dem Eingang an und wünscht ihm »Bon courage«. Ihre Lippen sind die vollsten, die er je gesehen hat, bis auf die von Junior vielleicht. Er beugt sich zu ihr, küsst sie erst auf die eine und dann auf die andere Wange, wie es in Frankreich Brauch ist. Sie sieht überrascht aus, lässt es aber zu.

»Tu m’as sauvé la vie«, sagt er. Dass sie ihm das Leben gerettet hat. Dabei fühlt sich sein Leben unrettbar an.

Als die Geschwister noch klein waren, behauptete Abi, sie könne sich in ihren Bruder hineinversetzen, sich seinen Körper überziehen wie einen Schneeanzug, könne ihn genauso bewohnen, wie sie Tiere bewohnte. Sich gegenseitig zu bewohnen sei etwas, was alle Zwillinge könnten, aber selten unter Nicht-Zwillings-Geschwistern. »Dafür muss man sich so supernahe stehen wie wir«, sagte sie zu Eli.

»Wenn du in mir bist, kannst du dann hören, was mein Gehirn denkt?«, wollte er wissen und stellte sich vor, dass sie seine Gedanken so deutlich hören kann wie die Werbedurchsagen in Supermärkten.

»Auch wenn ich dich nicht bewohne, kann ich hören, was du denkst. Du bist ein offenes Buch, Jones.«

Er selbst habe die Gabe noch nicht, sagte sie, aber vielleicht würde er sie eines Tages entwickeln. Er war gekränkt. Es war unfair, dass sie sich in ihn einschleichen konnte, er aber nicht umgekehrt. Gelegentlich – wenn sie vor dem Fernseher herumlungerten oder auf einer langen, stinklangweiligen Fahrt auf dem Rücksitz saßen – warf sie ihm einen verschmitzten, überlegenen Blick zu und flüsterte: »Ich tue es gerade«, und er schrie dann wütend: »Mach, dass du aus mir rauskommst!« Manchmal ohrfeigte er sich selbst oder boxte sich in den Magen, um sie aus sich herauszuprügeln, und sie lachte ihr gickelndes Lachen über seine albernen, vergeblichen Versuche, sie loszuwerden.

Als er unglücklich und erschöpft an ihrem Krankenhausbett sitzt, erinnert er sich an dieses frühere Bewohnen. Es war nur kindliches So-tun-als-ob, sicher, trotzdem betet er, dass sie, als ihr Vater ihr antat, was immer er ihr antat – Eli will die grausigen Details auf keinen Fall jemals hören –, ihren Körper verlassen und sich in seinen hineinversetzen konnte, damit dieser ihr, zumindest für kurze Zeit, die Große Flucht ermöglichte.

Abi liegt auf der Seite. Ihr Gesicht ist verschwitzt, sie sabbert ein bisschen auf ihr Kissen, die dünne Baumwolldecke ist ganz hochgezogen. Er wünscht sich nicht mehr, sich in sie einschleichen zu können, er hat zu viel Angst vor dem, was er dort vorfinden könnte.

Er hat eine Weile gebraucht, ihr Zimmer aufzuspüren, hat sich verheddert im Gewühl des Krankenhauses mit seinen vorbeirollenden Betten, vorbeihastenden Krankenschwestern, einem versehentlich umgeworfenen Infusionsständer. Gleich mehrmals ist er an Abis Zimmer vorbeigegangen, ohne zu merken, dass es ihres ist. Sie liegt nämlich im Bett am Fenster, das von einem Vorhang abgeschirmt wird, während im ersten Bett eine andere Patientin, eine runzlige alte Frau, unablässig nach einer Rosa ruft.

Minuten vergehen, eine Stunde. Von seinem Besucherstuhl aus registriert er kaum die Pfleger und Krankenschwestern, die kommen und wieder gehen, oder die hispanische Familie, die die alte Frau besucht und sich auf der anderen Seite des Vorhangs im Flüsterton unterhält.

Ein Wunder, dass er noch keine Panikattacke hatte. Anscheinend hebt er sich seine Panikanfälle für Nicht-Notfälle auf: für violett gestreifte Socken, für eine Eins in einer Mathearbeit. Hin und wieder wirft er einen Blick auf seine Schwester, beobachtet, wie die Decke sich sanft mit ihrem Atem hebt und senkt. Unlogischerweise fürchtet er, dass sie aufhören könnte zu atmen, trotz Pals Versicherungen vorhin in seinem Telefonat mit Joy, dass Abi über den Berg ist. Ist sie nicht. Sie ist eine Gretel, die sich auf diesem Berg in einem dunklen, knorrigen Labyrinth von Wald verirrt hat, und er ist als Hänsel zu unfähig und zu feige, um seine Schwester aufzuspüren und sicher nach Hause zu bringen.

Als er in der zweiten Stunde aus seiner Versunkenheit auftaucht, erwidert sie seinen Blick. Sie streckt die Arme aus, und er geht zu ihr und bricht auf dem Bett zusammen. Sie hält ihn, lässt ihn weinen, streichelt seine Haare, so wie früher, als er noch klein war und mit der Bürste geschlagen wurde. Sie riecht säuerlich nach getrocknetem Erbrochenem, aber das ist eigenartig tröstlich, und während er weint, denkt er, dass Joy Pals Nähe zu Abi eigenartig genannt hat, und dass diese Eigenartigkeit, einschließlich der Eigenartigkeit sämtlicher Jones, ihm bis jetzt nie so richtig bewusst war.

Die Geschwister liegen nebeneinander, Abi unter der Decke, Eli oben drauf. Er fährt sich mit den Händen über die Augen und würde ihr gern sagen, dass er sie liebt, aber nach den Entschuldigungen, die Joy vorhin für Pal angeführt hat, ist das Wort »Liebe« für ihn versaut, vielleicht für immer.

»Warum?«, fragt er, unsicher, welche seiner vielen Fragen er beantwortet haben möchte.

Abis Gesicht wird so weiß wie die Seiten seiner Hefte. »Es ist, als würde bei jedem Schritt, den ich in der Welt mache, ein großes Paar Hände auf mich herabdrücken«, sagt sie mit ihrer Kleinmädchenstimme. »Manchmal ist das Gewicht einfach unerträglich, Jones.«

Seine Augen füllen sich wieder mit Tränen, und sie tätschelt seinen Kopf. Weiß sie, dass er inzwischen die Wahrheit kennt? Vielleicht. Schließlich kann sie sich in seinen Kopf hineinversetzen. Eine Weile liegen sie einfach nur da, ohne zu reden, atmen einfach nur, und ihrer beider Atem bedeutet, dass sie wie durch ein Wunder noch leben.

»Tust du mir einen Gefallen?«, flüstert sie.

»Was immer du willst«, antwortet er mit zittriger Stimme.

»Beschreib mir unsere Wohnung. Die in Hell’s Kitchen.«

Er fährt sich noch einmal über die Augen, zieht ein Papiertaschentuch aus seiner Tasche und putzt sich die Nase. Als er sich gefasst hat, fängt er mit seiner Beschreibung an und fügt nach und nach immer mehr Einzelheiten hinzu: Die freigelegte Backsteinwand in der Küche; die schwere Schiebetür aus Holz, mit der man Wohnzimmer und Küche abteilen kann; den Kaminsims aus Marmor, auf dem ihre Kunstbücher und seine Wörterbücher stehen; den runden Teppich im Mandala-Stil, den sie für ihr Schlafzimmer flechten wird; die Artdéco-Deckenlampe, deren Licht so kränklich-gelb ist wie Godzillas Augäpfel; die schmiedeeiserne Feuertreppe, auf der sie an schwülen Sommerabenden sitzen und Canadian Club trinken werden.

»Die Einfassungen unserer Lichtschalter«, sagt er, »werden von verschiedenen Graffiti-Künstlern, mit denen wir uns anfreunden werden, von Hand bemalt.«

Sie hat die Augen geschlossen, schläft aber nicht. »Zum Beispiel von Jean-Michel Basquiat«, flüstert sie.

»Der wird dein fester Freund sein.«

»Nein, deiner

Er glaubt, dass ihre imaginäre Wohnung realer wird, je mehr Details er einfügt, aber seltsamerweise wird Manhattan, je länger er spricht, immer verschwommener. Der Traum verblasst, wie die alten, vergilbten Polaroid-Fotos in ihren Familienalben, zumindest verblasst er für ihn. Manhattan ist nicht mehr sein Fluchtpunkt; er hat andere Pläne.

Auf dem Boden, unter dem Besucherstuhl, steht die Mary-Poppins-Reisetasche. Er kann sie von da, wo er liegt, nicht sehen, spürt aber ihre Anwesenheit. Sie ist inzwischen mit seinen Sachen gefüllt, nicht mit ihren. Jetzt ist es an ihm, sich aus dem Lager zu vervögeln. Er hat gesagt, er würde seine Schwester nie verlassen. Das war gelogen. Nach dem Krankenhaus wird er sich aus dem Staub machen, allein, wird Jones-Town hinter sich lassen.


1 Bezieht sich auf den (teils wohl erzwungenen) ›Massenselbstmord‹ von Jonestown, Guyana, wo die ca. 1100 Mitglieder der von Jim Jones gegründeten Sekte Peoples Temple in völliger Abgeschiedenheit lebten. Am 18. November 1978 wurden sie zusammengerufen und bekamen vergifteten Saft ausgeteilt, den sie teils unter Zwang tranken. 909 Menschen, darunter auch Babys, starben. Der Vorgang war im Vorhinein als Loyalitätsprobe mehrfach geübt worden, ohne dass die Sektenmitglieder wussten, ob der Saft vergiftet war oder nicht. Im Englischen entstand daraus die Redewendung »drinking the Kool-Aid« (dt. in etwa »die Limonade trinken«), mit der man blinden Gehorsam bezeichnet. (Anm. d. Ü.)