5.Was für ein Gesicht! Gesichtserkennung dank Künstlicher Intelligenz

Mein Kollege Sepp steht vor dem Auingerhof und raucht eine Zigarette. Er hat heute seine Kamera mitgebracht und war den ganzen Morgen damit beschäftigt, Fotos zu machen. Von möglichst vielen Gänsen erst die linke Seite ihres Gesichts, dann die rechte. „Gar nicht so einfach“, sagt er jetzt: „Sie bewegen sich mehr, als man glaubt.“ Sepp ist kein Mann vieler Worte und auch keiner, der die positiven Dinge übertreibt. „Und wie viele hast du dann erwischt?“, frage ich ihn. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen vielleicht drei oder vier. „Achtzig“, sagt Sepp. Wenn es um seine Gänse geht, ist er immer voll dabei.

Dunja und Dagobert, Ernst und Erdbeer, Olga und Ottmar und viele mehr wurden fotografiert. Zu den Ältesten gehören Joshua und Julian, zwei Brüder, die 2003 geschlüpft sind. Sie sehen sich sehr ähnlich. Sowohl Joshua als auch Julian sind derzeit unverpaart und ihre Gesichter wirken ein wenig schlaff, die Haut scheint ein wenig zu hängen. Es ist, als würde man ihnen ihr Alter ansehen. Kann ein Gänsegesicht altern? Das sollten wir in Zukunft vielleicht untersuchen.

Graugänse haben einen ausgezeichneten Sehsinn. Sie können, wie bereits erwähnt, einen hoch oben am Himmel kreisenden Steinadler von einem Seeadler unterscheiden, der sich im Tal nur selten blicken lässt. Wenn sie das tun, zeigen sie ein auf den ersten Blick eigenartiges Verhalten: Sie legen den Kopf schief, um mit nur einem Auge auf den Himmel zu spähen. Da sich ihre Augen an den Seiten des Kopfes befinden, haben Wasservögel einen Panoramablick, der es ihnen ermöglicht, fast alles um sie herum auf einmal wahrzunehmen. Um nach oben zu schauen, müssen sie allerdings eben den Kopf zur Seite legen.

Das ist übrigens eine der erstaunlichsten Erkenntnisse über das Sehvermögen der Gänse: Sie können das, was sich direkt vor ihnen befindet – etwa die Spitze ihres Schnabels –, genauso sehen wie etwas, das sich weit in der Ferne bewegt oder tut! Diese Pflanzenfresser behalten ihre Umgebung im Auge und sind gleichzeitig in der Lage, visuell zu erfassen, welches Hälmchen sie in dem Moment anknabbern.

Entsprechend ihren Bedürfnissen ist auch ihr Farbsehen ausgeprägt: Enten und Gänse können ein viel breiteres Farbspektrum wahrnehmen als Menschen. Dank ihrer Netzhaut sehen sie vier Primärfarben anstelle der drei, die das menschliche Auge erkennt, und sie haben Sehzellen, die darauf spezialisiert sind, ultraviolette Strahlung zu sehen. Sie nehmen Rot, Gelb, Blau und Grün viel intensiver wahr als wir. Die differenzierte Sicht aufs Grüne hilft ihnen wahrscheinlich dabei, die zartesten Gräser, Unkräuter und Triebe zu erkennen, um sie anknabbern zu können.

Wir wissen also, dass unsere Graugänse sehr gut sehen können, um etwa Beutegreifer und gutes Futter auszumachen. Aber welche Rolle spielt ihr Sehsinn im täglichen Zusammenleben?

Wenn man Gänsepaare und -familien länger dabei beobachtet, wie sie herumspazieren und ihren Gänsegeschäften nachgehen, kann man nicht anders, als von ihrer Individualität, die sich in ihrem Verhalten äußert, beeindruckt zu sein. Einige sind mutig, andere sind schüchtern. Ausschließlich am Charakter erkennen lassen sie sich jedoch nicht.

Es ist auch nicht möglich, eine Gans anhand ihrer Größe oder Gefiederzeichnung zu identifizieren. Es lässt sich nicht einmal eine männliche von einer weiblichen Gans zuverlässig, etwa anhand ihrer Größe, unterscheiden. Manche Männchen sind sehr klein, so wie Pascal, andere ziemlich groß und imposant. Das gilt genauso für die Weibchen. Am ehesten zielführend wäre es, das Geschlecht einer Gans aufgrund ihrer Rolle während der Brutzeit einzugrenzen. Die Weibchen bebrüten die Eier und wärmen (hudern) die Jungen; die Männchen sind eher wachsam, wenn die Familie unterwegs ist. In einigen Familien können aber auch die Weibchen recht aggressiv sein und sich auf vorbeigehende Gänse stürzen. In anderen Familien sind wiederum die Männchen dafür bekannt, die Jungen zu hudern, wie es zum Beispiel D’Artagnan vor vielen Jahren tat. Sie sehen also – es gibt eine große Variabilität an Gänsekörpern und -verhaltensweisen.

Was im Leben einer Gans hingegen sehr individuell ist, aber doch konstant bleibt, ist ihr Gesicht. Eine Gans hat von ihrem ersten Lebensjahr bis zum Tod dasselbe Gesicht. Und auch wenn es für Außenstehende nicht so wirken mag: Diese Gesichter sind unverwechselbar, wenn man nur ein paar von ihnen anschaut. Nehmen wir zum Beispiel das Paar Dorothea und Babaco, geschlüpft im Jahr 2015: Dorothea hat weiße Federn über ihrem orangefarbenen Schnabel und Babaco hat einen einzelnen Fleck mit weißen Federn über seinem Oberschnabel – beide Tiere sind damit eindeutig identifizierbar. Allerdings muss ich gestehen, dass auch ich schnell überfordert bin, wenn ich mir zu viele Gänsegesichter ganz im Detail ansehe.

Personen mit einem an vielen, vielen Gänsebegegnungen geschulten Auge hingegen gelingt die Unterscheidung. Die langjährige Gänseforscherin Brigitte Weiß kann zwar auch nicht so ganz erklären, wie genau es dazu kommt, aber sie versichert mir, dass auch ich diese Fähigkeit entwickeln könne. Brigitte erkennt jede Gans auf einen Blick, nachdem sie zwanzig Jahre damit verbracht hat, die Tiere zu beobachten. Mir war es mit den Pavianen in Tansania ja auch schon einmal so ähnlich ergangen. Für jemanden, der in der Tierbeobachtung unerfahren ist, bietet sich folgender Vergleich an: Stellen Sie sich einen Bahnsteig voller Menschen vor. Sie halten Ausschau nach Ihrer Mutter. Wenn der Zug schließlich einfährt und Ihre Mutter aussteigt, wissen Sie nicht nur, dass sie es ist, sondern auch, in welcher Stimmung sie gerade ist.

image

Julian, der im Jahr 2003 geschlüpft ist, sieht seinem Bruder Joshua sehr ähnlich.

image

Ballantine, der Partner von Leia, hat viele weiße Federn rund um den Schnabel und auch unterhalb.

image

Timber, die Partnerin von Murphy, hat lediglich einen Fleck weißer Federn an der Schnabeloberseite und ansonsten glatte, graue Federn um den Schnabel herum.

image

Auch Babaco, der Partner von Dorothea, hat viele weiße Federn um den Schnabel herum, aber keine unterhalb des Schnabels.

Ich freue mich auf den Tag, an dem ich die Grünauer Gänse einmal so gut erkennen werde wie Familienmitglieder. Für den Moment muss ich mich immer noch auf jedes Gesicht konzentrieren, als ob ich ein Gemälde studieren würde. Wenn ich sie nur schneller lernen könnte!

Mit einem Gesicht lässt sich’s schlecht betrügen

Zum Glück haben wir uns in dieser Hinsicht nun Hilfe organisiert – Hilfe von der Künstlichen Intelligenz (KI): Wir haben ein Softwareprogramm entwickelt, um die Gänse zu identifizieren.

Weil die Gänse mit ihren Fußringen individuell gekennzeichnet sind und ihre Lebensgeschichte vom Ei bis zu ihrem letzten Atemzug bekannt ist, hatten wir dank Sepp und der Mithilfe vieler freiwilliger Studierender keine Schwierigkeiten, eine Datenbank mit Fotos von ihnen anzulegen. Mit inzwischen Tausenden von Aufnahmen – darunter mehrere verschiedene Schnappschüsse ein- und derselben Gans bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen, an verschiedenen Orten und über mehrere Jahre hinweg – können wir die Zuverlässigkeit des Programms testen. Im Jahr 2023 haben wir unsere neue Datenbank, die seit 2019 sukzessive aufgebaut wurde, auf die Probe gestellt. Wir haben zum Beispiel ein willkürliches Bild von Julian hochgeladen, und das Programm hat den Ganter identifiziert. Das klappte auch für fast alle anderen fotografierten Gänse, mit einer Genauigkeit von 97 Prozent über die vier Jahre hinweg. Das bedeutet auch: Jedes Gänsegesicht unterschied sich in ausreichendem Ausmaß von allen anderen Gänsegesichtern, um von dem Programm erkannt zu werden.

Ich kann Ihnen also mit Gewissheit sagen – es wurde schließlich von Konrad Lorenz, Brigitte Weiss und der KI bestätigt –, dass jedes Gänsegesicht individuell ist. Welchen evolutionären Nutzen mag diese Individualität haben? Hat der Wiedererkennungswert eine biologische Bedeutung?

Man kann sich vorstellen, dass es bei allen Parametern der Morphologie, also: des Aussehens eines Lebewesens, leichte Abweichungen gibt. Wir wissen auch, dass ein Computerprogramm diese Unterschiede, etwa die Größe des kleinen Fingers, zuverlässig erkennen kann. Wir Menschen können das auch, brauchen dafür aber viel mehr Zeit, um uns in die individuellen Nuancen „einzusehen“, sie uns genau einzuprägen, siehe Brigitte Weiß, Konrad Lorenz oder mich. Aber achten auch die Gänse auf die Gesichter ihrer Artgenossen? Schließlich leben Graugänse in diesen komplexen sozialen Gruppen, in denen es Scheidungen, Tod, Verrat, soziale Trios, Trennungen und Allianzen gibt. Erkennen sich die Gänse gegenseitig am Gesicht? Erkennen sie vielleicht sogar ihr eigenes Gesicht?

Ich habe viel über Gesichter nachgedacht. Wir Menschen verändern unsere Gesichter häufig, sowohl aus persönlichen Gründen als auch zur Inszenierung. Im Theater und in der Oper sind Kostüm und Masken wichtige Bestandteile der Aufführung. Sie ermöglichen es uns, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Mit Make-up können wir uns in völlig andere Charaktere verwandeln. Im Englischen ist dieses Wort übrigens ein Synonym für den menschlichen Kreativitätssinn. Mit der Alltagsschminke bleiben unsere Gesichter zwar eindeutig erkennbar – aber doch können wir mit Make-up experimentieren, unser Aussehen nach unseren Wünschen verändern.

Gänse hingegen haben kein Make-up zur Verfügung. Sich als jemand anderes zu präsentieren, funktioniert bei ihnen nicht. Bei Lautimitationen klappt das noch eher, wenn etwa territoriale Singvögel das Lied ihres Nachbarn nachahmen. Insofern haben Gesichter einen wichtigen evolutionsbiologischen Aspekt: Alles, was wir damit anstellen, lässt sich nachverfolgen. Gesichter machen uns verantwortlich. In einer Gemeinschaft wird das, was man getan hat, erinnert – und potenziell folgen daraus Konsequenzen für den*die Einzelne*n. Um dazu gesellschaftlich imstande zu sein, müssen die betreffenden Tiere jedenfalls langlebig sein, ein ausreichendes Erinnerungsvermögen haben und zur individuellen Erkennung fähig sein. Graugänse haben diesbezüglich die besten Voraussetzungen, denn sie verfügen über ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Wenn Sie einmal einen Futternapf an einem neuen Ort platzieren, etwa um eine Ecke, wird die Gans diesen neuen, versteckten Futterplatz über viele Monate hinweg aufsuchen und inspizieren – selbst wenn dort nie wieder ein Futternapf auftaucht. Leistet eine andere Gans während eines Konflikts soziale Unterstützung, ist es wahrscheinlich, dass dieser Gefallen erwidert wird und ein früherer Rivale zu einer geduldeten Gans in der Nähe einer Futterquelle werden kann.

Quid pro quo!
Aber wer hat mir den Gefallen getan?

Es mag überraschend für Sie sein, dass die Idee der Kooperation in den 1960er-Jahren ein großes Dilemma für die Verhaltensforschung war. Seltsam, denn was soll falsch daran sein, sich kooperativ zu verhalten? Nach Entdeckung und Publikation der DNA-Struktur im Jahr 1953 sahen wir zum ersten Mal, wie DNA – der Stoff, aus dem unsere Erbinformation besteht – aussieht. Es handelt sich dabei um Nukleinsäure, sie ist keine lebendige Substanz. Und doch kodiert sie für alles Lebendige. Diese Erkenntnis schlug Wellen in der ganzen Welt.

Wilde Ideen begannen zu sprießen, wie sich nicht lebende genetische Elemente in ihrem eigenen Interesse fortpflanzen könnten. Was, wenn wir im Grunde alle bloß Maschinen waren? Und warum sollten Maschinen kooperieren wollen, wie wir Menschen das vielfach tun? Mit diesen Gedanken setzte sich vor allem Sir Richard Dawkins in seinem 1976 erschienenen Buch „Das egoistische Gen“ auseinander. Dawkins entwarf das äußerst erfolgreiche Mem, wonach Lebensformen als Maschinen dargestellt werden, die darauf ausgelegt sind, ihre egoistischen Gene zu replizieren. Woher kommen dann die vielen Beispiele für Kooperation – bei Menschen und in der Tierwelt? Und was bedeutet Kooperation überhaupt?

Über diese Fragen wurde jahrzehntelang heftig diskutiert. Wie sollten Handlungen im Sinne von unterstützendem Verhalten oder Kooperation – bizarr im Sinne des egoistischen Prinzips - verstanden werden? Bei Blauhähern zum Beispiel bleiben einige Vögel in ihren Familiengruppen und helfen bei der Aufzucht der nächsten Nachkommen ihrer Eltern, die auch ihre Geschwister sind. Warum bauen die Jungen nicht ihr eigenes Nest und ziehen ihre eigenen Nachkommen auf? Nun, jedes Geschwisterchen, in das sie investieren, trägt die Hälfte ihrer Gene in sich. Die Hilfe bei der Aufzucht ihrer Brüder und Schwestern ist also eine indirekte Investition in ihre eigene Fitness. Wenn die Tiere mehr Brüder und Schwestern aufziehen können als eigene Nachkommen, lohnt es sich, zu bleiben und Mama und Papa zu helfen. Ein solches Verhalten wird durch die Verwandtenselektion begünstigt. Diese Verwandtenselektion ist auch das Erfolgsgeheimnis der wunderbaren Bienenstöcke, in denen Schwestern 75 Prozent ihrer Erbinformation teilen. Für sie ist es sinnvoller, einer Schwester mit ihrem Nachwuchs zu helfen, als selbst für Nachkommen zu sorgen. Schließlich teilen sie mit ihr mehr genetisches Material, als sie es mit ihrem eigenen Nachwuchs tun würden.

Allerdings: Auch zwischen nicht verwandten Individuen kommt es zu gegenseitiger Unterstützung, und dieses Verhalten könnte durch Selektion begünstigt werden. Der Evolutionsbiologe Robert Trivers schlug deshalb das Konzept des „reziproken Altruismus“ vor, um das Helfen zwischen nicht verwandten Individuen zu erklären. Etwa, wenn ein Gefallen, den man heute einer nicht verwandten Person tut, morgen oder zu einem späteren Zeitpunkt zurückgezahlt wird. Und egal ob verwandt oder nicht, wichtig ist in beiden Fällen jedenfalls, dass man sich wiedererkennt!

Ein solcher lebenserhaltender Tausch von Gefälligkeiten konnte beispielsweise bei Fledermäusen in Zentral- und Südamerika beobachtet werden. Vampirfledermäuse (Desmodus rotundus) leben in Kolonien in Höhlen, die sie nachts verlassen, um das Blut aus Rindern zu saugen. Wenn eine Fledermaus in einer Nacht keine Nahrung aufnimmt, könnte sie sterben. Wenn sie allerdings Glück hat, erhält sie eine Blutmahlzeit von einer (nicht verwandten) erfolgreichen Fledermaus, indem diese vorher aufgenommenes Blut erbricht. Und die Empfängerfledermaus revanchiert sich Tage später mit einer Blutmahlzeit bei der Spenderfledermaus. Erstaunlich! Aber Vorsicht: Auf Gegenseitigkeit beruhender Altruismus ist sehr anfällig für Betrug. Man kann heute gerne eine Mahlzeit annehmen und signalisieren, dass man sie morgen zurückzahlen wird – aber was, wenn man das Versprechen nicht hält? Wenn es keine Sicherheitsvorkehrungen gibt, ist ein solches System evolutionär nicht stabil, weil es von Betrügern unterwandert werden kann.

Wie also lassen sich betrügerische Individuen (evolutionsbiologisch) zur Rechenschaft ziehen? Um einen Schwindler zu bestrafen, muss man wissen, wer er ist, man muss ihn also anhand bestimmter Indizien wiedererkennen. Visuelle Individualitätssignale sind dabei äußerst hilfreich. Wir können also erwarten, dass solche äußerlichen Unterscheidungsmerkmale bei in Gruppen lebenden Arten zu finden sind, die sich durch ein hohes Maß an reziprokem Altruismus zwischen nicht verwandten Individuen auszeichnen. In ihrem Buch „The Evolution of Cooperation“ haben sich der Politikwissenschaftler Robert Axelrod und William D. Hamilton, ein Evolutionsbiologe, aus spieltheoretischer Sicht mit dem Geheimnis eines stabilen reziproken Verhaltensaustauschs beschäftigt. Und kamen so auf die so genannte „Tit for Tat“-Strategie, ein Quid pro quo im Sinne von „eine Hand wäscht die andere“. In simulierten Spielen, die Tausende Male in verschiedenen Kontexten gespielt wurden, ist die erfolgreichste und stabilste Strategie, das Verhalten des Gegenübers zu spiegeln. Hat sich Ihr Gegenüber großzügig Ihnen gegenüber verhalten, dann seien Sie im Gegenzug ebenfalls großzügig. War Ihr Spielepartner hingegen nicht großzügig und hat Ihnen den Rücken zugekehrt, dann tun Sie es ihm in Ihrem nächsten Zug gleich. Wenn Sie zuerst am Zug sind, seien Sie großzügig.

Aber es sind nicht nur äußerliche Merkmale, die das Wiedererkennen eines bestimmten Individuums erlauben: Das Signalisieren von Individualität bei Tieren wurde vielfach mit Signaturrufen nachgewiesen, also mit einem Ruf oder Lied, das einzigartig für ein Individuum ist. Der Prachtstaffelschwanz ist ein gutes Beispiel dafür. Jedes Weibchen hat eine einzigartige Signatur, die sie an ihre Nachkommen weitergibt. So können sich Eltern und Nachkommen gegenseitig erkennen und die Verwandten von den Nichtverwandten unterscheiden. Delfine haben charakteristische Pfeiftöne. Bei der Geburt gibt eine Delfinmutter ihrem Nachwuchs mit einem einzigartigen Pfeifton einen Namen. Die anderen Delfine benutzen diesen Pfiff, wenn der neu benannte Delfin in der Gruppe auftaucht, so als würden sie „Hallo Naomi“ zu ihm sagen.

Auch Gänse schauen sich gerne Fotos an

Leia ist innerhalb der Grünauer Gänseschar eine starke Führungspersönlichkeit. Mit ihren vierzehn Jahren ist sie eine Gans im mittleren Alter, sie ist mutig und sie ist eine Witwe. Ihr Partner Leeluu wurde von einem Fuchs getötet, während er vor der Bruthütte Wache stand. Nun hat Leia sich mit dem gleich alten Ballantine zusammengetan. Ballantine war bisher eigentlich als Schürzenjäger bekannt, der seine erste Partnerin im Stich ließ, häufig mit anderen Weibchen kopulierte und seine Nachkommen ignorierte – bis nun Leia „Ja“ zu ihm sagte! Ihr gegenüber verhält er sich nun sehr partnerschaftlich und weicht ihr nicht von der Seite.

Eines Tages wurde nun Leia plötzlich von Triton angegriffen, der Tochter einer großen Gänsedynastie, die von den legendären Eltern Timber und Murphy abstammt – von ihnen werden Sie später noch hören. Nach Tritons Angriff näherte sich Dorothea, ein unauffälliges, kleines Weibchen, das für gewöhnlich riskante Situationen vermeidet, und stellte sich neben Leia. Wie mutig von Dorothea! Sie stärkte Leia quasi den Rücken, indem sie eine bedrohliche Nackenhaltung gegenüber Triton einnahm. Obwohl sie nicht miteinander verwandt sind, ist Dorothea eine gesellschaftliche Verbündete von Leia – nach dieser Aktion noch viel mehr. Aber warum tut Dorothea das bloß?

Wenn wir uns die oben genannten Verhaltenstheorien über Wiedererkennung und „Tit for Tat“ ins Gedächtnis rufen und an solche Beobachtungen bei unserer Gänseschar denken, spricht eigentlich alles dafür, dass unsere Gänse sich tatsächlich gegenseitig erkennen. Dorothea unterstützt Leia mehr als zum Beispiel Kolibri, und damit befinden sich Dorothea und Leia in einem „Gefälligkeitstausch“-Netzwerk und Kolibri in einem anderen. Aber wie steht es konkret um das Gesicht als visuelles Signal der Individualität bei den Graugänsen? Wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben unsere Vermutungen ja schließlich stets mit den Ergebnissen konkreter Experimente zu untermauern.

Deshalb haben wir unsere Gänse auf die Probe gestellt. Masterstudent Benedikt Heger hat 2022 circa hundert Gänsefotos in Lebensgröße auf wasserfesten Stoff gedruckt. Anschließend platzierte er die Fotos der Gänse, jeweils auf eine Holzplatte geklebt, auf einer Wiese. Mit Steinen kennzeichnete er den Abstand vom Foto – eine 2-Meter- und 1-Meter-Marke –, um die Entfernung später auf der Videoaufnahme identifizieren zu können. Vor jedes Foto stellten wir eine Schale mit gepressten Graspellets. Und schließlich stationierten wir eine Kamera in 2,2 Meter Entfernung und drückten den Aufnahmeknopf. Was würden die Gänse tun? Anhand der farbigen Fußringe der Tiere wussten wir, wer sich gerade in der Nähe aufhielt, und konnten beobachten, wie sich die jeweilige Gans jedem Foto näherte. Die Kamera lief ununterbrochen.

image

Beim Fotoexperiment an der KLF wird ein lebensgroßes Foto einer Graugans auf einem Feld platziert, vor dem Foto eine Schüssel mit Futter. Eine GoPro-Kamera zeichnet auf, wer sich dem Foto nähert. Es hat sich gezeigt, dass Graugänse sich eher einem Foto ihres Partners annähern und dort fressen als dem Bild eines nicht verwandten oder unbekannten Artgenossen.

image

Das junge, wenige Wochen alte Gössel Boris schläft neben einer Kamera. Später, im Alter von einem Jahr, weist Boris weiterhin hohe Werte für Neophilie (Offenheit gegenüber Neuem) auf – eine Eigenschaft, die offensichtlich schon bei Boris als ganz jungem Tier vorhanden war.

Wir waren verblüfft: Wenn sich eine Gans einem Foto ihres Partners näherte, näherte sie sich schneller, verbrachte mehr Zeit beim Fressen im Umkreis von einem Meter und gab Kontaktrufe von sich. Wir fanden dasselbe Muster bei Männchen und Weibchen. Stand die Gans hingegen einem Foto eines bekannten, aber sozial weniger wichtigen Artgenossen gegenüber, brauchte sie länger, um sich zu nähern, und gab keine Kontaktrufe ab. Wenn wir ein Foto von der Gans selbst platzierten – eine für sie unbekannte Gans, die sie noch nie zuvor gesehen hatte –, zeigte sie erhöhte Wachsamkeit und agonistisches Verhalten wie Zischen und Drohgebärden.

Zu unserer großen Überraschung reagierten die Gänse in dem Experiment so, als ob sie die Identität der Gans auf dem Foto erkennen würden bzw. als ob sie wüssten, dass sie eine unbekannte Gans sehen. Mit diesem sehr einfachen Test zeigten wir die soziale Bedeutung eines Gänseporträts für ihr Verhalten. So wie wir uns gerne Fotos unserer Lieben anschauen, gilt dasselbe offenbar auch für die Gänse. Was diese Erkenntnisse in der Praxis bzw. für andere Tierarten bedeuten, ist noch völlig offen. Möglicherweise könnten wir Fotos von Artgenossen in Zoogehegen anbringen, um das Wohlbefinden sozialer Arten zu steigern.

Solche Fotos könnten das Gefühl der Isolation bei einer in Gefangenschaft gehaltenen sozialen Art verringern. Oder als eine Art „sanftes Bekanntmachen“ eingesetzt werden, bevor ein neues Tier im Gehege eingewöhnt wird. Vielleicht zeigen sich in Gefangenschaft lebende Individuen gruppenlebender Arten auch weniger ängstlich, wenn sie ein Foto eines unbekannten und kleineren Artgenossen sehen. Aus Sicht des Artenschutzes können Tiere in Gefangenschaft schließlich wichtige genetische Reservoirs für die Wiederauswilderung sein, wie wir bei Waldrapp und Wisent in Kapitel 10 erfahren werden.

Lassen sich aus diesen Erkenntnissen über die Reaktion der Gänse auf die Fotos auch in theoretischer Hinsicht Schlussfolgerungen ableiten? Als Forschende versuchen wir schließlich, biologisch verallgemeinerbare Prinzipien zu entdecken. Wie aufschlussreich sind unsere Ergebnisse in Bezug auf den reziproken Altruismus?

Denken wir noch einmal an das Bündnis zwischen Leia und Dorothea, die sie im Kampf gegen Triton unterstützte: Wir wissen, dass Gänse eine erhöhte Herzfrequenz aufweisen, wenn sie ihre sozialen Verbündeten oder Familienmitglieder in einen Kampf verwickelt sehen. Eine Reihe von Experimenten von Brigitte Weiß und Kolleg*innen hat gezeigt, dass die Tiere die Fähigkeit haben dürften, aus Beziehungen unter Artgenossen Schlüsse zu ziehen. Wenn beispielsweise ein aus ihrer Sicht rangniedrigerer Artgenosse einen Dritten besiegt, stehen auch ihre eigenen Chancen gut, diesen Dritten zu schlagen. Diese Fähigkeit wird in der Verhaltensbiologie „transitive Inferenz“ genannt. Sie ist eine Grundlage für das Verständnis der Komplexität sozialer Beziehungen, insbesondere in Systemen mit einer Dominanzhierarchie.

Die evolutionsbiologische Bedeutung unseres Gesichtserkennungsexperiments sieht also folgendermaßen aus: Die Graugänse können mithilfe ihrer Fähigkeit, andere zu erkennen, ihre Investitionen in Verwandte und soziale Verbündete lenken. Die sozial Verbündeten werden so Teil ihres reziproken Altruismus-Netzwerks. Die Gänse beherrschen das Prinzip des „Tit for Tat“ wunderbar und dank ihres guten Gedächtnisses scheinen sie sich wochenlang an gute oder schlechte Taten erinnern zu können – auch an jene von uns Menschen. Das wissen wir aus unserer Erfahrung mit Graugänsen: Helfen Sie einer verletzten Gans – und Sie haben einen Freund fürs Leben gewonnen. Wenn Sie hingegen jemals eine Gans verärgert haben, kann es Jahre dauern, bis diese ihre Meinung über Sie ändert. In dem Fall viel Glück – am besten verärgern Sie keine Gans, wenn Sie ein friedliches Leben führen wollen.

image

Fortuna schaut sich im Spiegel an. Was sieht sie? Wahrscheinlich eine Konkurrentin von gleicher Größe, die sich genauso verhält wie sie selbst. Und was tut sie? Fortuna hält mit festem Blick die Stellung. An der KLF werden Spiegeltests für Persönlichkeitstests verwendet: vor allem, um Aggressivität zu messen, aber auch andere Verhaltensmuster am und um den Spiegel herum.

Aus Sicht des Naturschutzes bietet unsere Gesichtserkennungssoftware übrigens auch neue Ansätze. Tiere mit individuell ausgeprägten Gesichtern und/oder Körpermustern können anhand von Fotos genau identifiziert werden, was wiederum die Möglichkeit einer Bürgerbeteiligung eröffnet, etwa indem auch Aufnahmen aus der Bevölkerung in entsprechenden Datenbanken hochgeladen werden können. Das hat einerseits das Potenzial, die Einstellung der Menschen gegenüber Wildtieren zu verändern. Andererseits können Fotos, die Tiere als Individuen erfassen, zur Bewertung ihrer Bewegungsmuster beitragen, zum Beispiel anhand von Sichtungen ein- und desselben Tieres in verschiedenen Gebieten. Auch Populationsgrößen könnten so genauer bestimmt werden, weil Doppelzählungen desselben Tieres vermieden werden.

Eines muss ich Ihnen noch über unsere Gänse in Grünau erzählen: 2022 haben wir sie vor Spiegeln im Freiland getestet, ähnlich dem Experiment mit den Fotos. Und ich kann bestätigen, dass die meisten Gänse sich im Spiegel nicht wiedererkennen – mit einer Einschränkung (die Auflösung folgt in Kapitel 9). Sie gehen recht aggressiv auf den Spiegel los und versuchen, die neue Gans zu vertreiben, die sich genauso dreist verhält wie sie selbst.