Graugänse seien monogam, heißt es oft. Einmal verpartnert, bleiben sie ihr Leben lang zusammen. Doch: „Wenn man in unseren Protokollen, die auf genauesten Beobachtungen beruhen, nach einem solchen perfekten Idealfall sucht, findet man keinen!“, berichtet Lorenz 1988. „In jeder Einzelbiographie tauchen ‚Schönheitsfehler‘ auf.“ Er habe seine Kollegin Helga Mamblona-Fischer einmal gebeten, in den Gänseprotokollen nach jenen Zweierbeziehungen zu suchen, die in puncto „Paarbildung und Paarzusammenhalt wenigstens einigermaßen dem von Heinroth aufgestellten ‚Typus‘ entsprechen“. Doch solche Idealtypen schienen kaum auf: „[Ich] zeigte mich über deren außerordentlich geringe Anzahl offensichtlich enttäuscht, was Helga zu dem klassischen Ausspruch veranlasste: ‚Gänse sind schließlich auch nur Menschen.‘“ Die Monogamie, ein Mythos? Nicht ganz.
Timber und Murphy zum Beispiel waren ein Traumpaar. Sie hatten eine enge Bindung und waren neunzehn Jahre lang exklusiv zusammen, bis zu Timbers Tod. Murphy starb im März 2022, sodass ich ihn noch kennenlernen konnte. In den ersten Monaten nach meiner Ankunft an der Forschungsstelle sah ich, wie meine Kollegin Dido mit einem Eimer Futter zur Futterstation ging und Murphy dicht dahinter folgte. Ich fragte Dido: „Wer ist das?“ Und sie strahlte: „Das ist Murphy! Er ist mein Freund. Wir kennen uns schon lange.“
Als ich Murphy 2018 zum ersten Mal traf, war er gerade erst verwitwet. Er hatte ein markantes Gesicht mit einem weichen orangefarbenen Augenring und einer Reihe weißer Federn direkt über dem Schnabel, die an einen etwas unordentlichen Schnurrbart erinnerten. Sein Schnabel war überwiegend orange und hatte eine rosa Spitze. Timbers Gesicht war ganz anders als das von Murphy, was ich anhand von Fotos im Archiv der Forschungsstelle feststellen konnte. Timber hatte ein glattes Gesicht mit hellgrauen Wangen, einem kleinen weißen Strich zwischen den Augen, einem rosafarbenen Augenring und einem rosafarbenen Schnabel, der zu einer orangefarbenen Schnabellinie führte. Als ich Murphy als Witwer kennenlernte, wirkte er lethargisch und, nun ja, deprimiert. Er bewegte sich langsamer, war mehr an der Peripherie, und seine Wangen wirkten schlaff.
Gut dreißig Jahre nach Lorenz würde ich es also nun so formulieren: Die Monogamie unter Gänsen ist kein Mythos, aber doch ein seltener Einzelfall. Für diesen interessieren wir Wissenschaftler*innen uns natürlich besonders, denn vielleicht können wir von Timber und Murphy etwas lernen. Warum hat gerade ihre Partnerschaft so gut funktioniert? War es die Art, wie sie miteinander kommunizierten, miteinander umgingen? Hat ihr Aussehen etwas damit zu tun oder lag es vielleicht an genetischen Faktoren? Sind gute Partner in irgendeiner Weise „synchron“ miteinander?
Vögel sind ein gutes System, um die Qualität der Paarbindung zu untersuchen, denn: Das befruchtete Ei wird gelegt und der Embryo entwickelt sich extern. So können sowohl das Männchen als auch das Weibchen bereits von einem sehr frühen Stadium an eine aktive Rolle in der elterlichen Fürsorge einnehmen.
Wenn Männchen und Weibchen über einen verhältnismäßig langen Zeitraum in die elterliche Fürsorge investieren, sollten sie bei der Wahl ihrer Partner aus evolutionärer Sicht durchaus wählerisch sein. Auswahlkriterien könnten für Männchen und Weibchen etwa Indikatoren für die Gesundheit sein, beispielsweise die Symmetrie der Körperform, oder Indikatoren für die Fortpflanzungsfähigkeit. Aus unserer Langzeitstudie an Gänsen liegen uns Informationen über das Schicksal jedes gelegten Eies vor, sodass wir in der Lage sind, die Fortpflanzung und den Fortpflanzungserfolg zu untersuchen – und daraus eben auch Auswahlkriterien abzuleiten.
Das Ausbrüten von Eiern ist energetisch aufwendig, genauso wie die „Kosten“ für die Produktion der Eier selbst, die die Weibchen unausweichlich zu tragen haben. Sie brauchen deshalb in der Saison des Legens und Brütens sehr viel Nahrung. Wenn Sie schon einmal das Wort „hangry“ gehört haben, dann nehmen Sie sich vor einer weiblichen Gans während der Brutzeit in Acht: Im Englischen wird damit eine Kombination aus hungrig und wütend beschrieben, die recht treffend die Gemütslage der Tiere in dieser Phase beschreibt.
Timber brütete immer in einer Bruthütte inmitten eines Teiches am Oberganslbach und war praktisch immer sehr hungrig. Murphy hielt am gegenüberliegenden Flussufer Wache, sah dabei aus wie eine Statue und graste, wenn er konnte. Plötzlich tauchte Timber aus der Hütte auf, stieß einen Distanzruf aus und flog auf Murphy zu. Er antwortete. Anstatt sozial zu reagieren, streckte Timber ihren Kopf sogleich zum Boden und graste ungestüm drauflos. Murphy war an ihrer Seite, den Kopf in wachsamer Haltung erhoben, und Timber vertilgte weiter rasch mehr Futter. Als Timber zum Brüten in die Hütte zurückkehrte, nahm Murphy stoisch seine Position auf der anderen Seite des Flussufers wieder ein.
Nach 27 Tagen waren die ersten „Vivi“-Rufe aus den Eiern zu hören, und Timber wusste zweifellos, was jetzt passieren würde. Sie war eine erfahrene Mutter. Am nächsten Tag, als alle Gössel geschlüpft waren, sprangen die neuen Familienmitglieder vom Steg der Bruthütte und landeten wie Korken auf dem Wasser, schwammen zum Flussufer und wanderten alle zusammen mit Timber und Murphy fünf Kilometer bis zum Auingerhof. Dort würden sie die nächsten Monate als Familie verbringen. Von diesem ersten Tag an hielt Murphy erneut gut Wache. Er und Timber reagierten auf die Rufe der Gössel, sprachen sich aber auch gegenseitig häufig über Kontaktrufe an.
Murphy interessierte sich also nicht nur für seinen Nachwuchs, er interessierte sich auch für Timber. Wenn die beiden getrennt waren, vor allem in der Vorbrutzeit, ließen sie einander aufgeregte Distanzrufe zukommen. Oft brach Murphy in eine Triumphzeremonie aus, bei der er zunächst ein anderes zufällig in der Nähe weilendes Männchen verjagte und dann mit ausgebreiteten Flügeln und lauten Rufen um Timber herumlief. Die Zeremonie endete damit, dass Timber und Murphy ihre Hälse in einer synchronen, wippenden Bewegung zueinander senkten und den Hals zum Gruß ausstreckten.
In einem so engen Familienverband wuchsen viele der Gössel behütet auf und überlebten. In der Regel blieben die Töchter mit ihren neuen Familien in der Nähe ihrer Eltern, und die Söhne zogen weiter weg und gründeten ihre eigenen Familien. Timber war bei den anderen Weibchen der Schar hoch angesehen. Vielleicht entschieden sich aus diesem Grund recht viele jüngere Weibchen dafür, ihre Eier in Timbers Nest zu legen. So konnten sie sich ihrer guten elterlichen Qualitäten versichern, die das Überleben ihrer Nachkommen verbessern würden.
Und Timbers Nest wurde auch immer wieder Ziel für das bereits erwähnte „Egg Dumping“ durch unerfahrene Weibchen. Manchmal legten auch Timbers eigene Töchter Eier ins großmütterliche Nest. Timber und Murphy brachten gemeinsam 126 Eier hervor und acht Eier von anderen Weibchen gelangten in ihr Nest. Fünfzehn ihrer Gössel erreichten das Gänse-Erwachsenenalter von zwei Jahren bzw. wurden auch noch älter. Damit halten sie in Grünau den Rekord der vergangenen fünfzig Jahre.
Überlegen wir vielleicht einmal, wie es bei uns Menschen mit der Paarbindung aussieht: Bei Männern nimmt die Fähigkeit, Kinder zu zeugen, mit dem Alter ab. Bei Frauen ist die Fähigkeit nach der Menopause gar nicht mehr vorhanden. Man könnte also annehmen, dass Männer und Frauen Merkmale, die auf eine hohe Geburtenzahl hindeuten, stark bevorzugen – um rasch möglichst viele Nachkommen in die Welt zu setzen, weil die Zeugungs- bzw. Gebärfähigkeit bald abnimmt oder ganz wegfällt. Dem würden die Werbebotschaften entsprechen, mit denen wir in unserer modernen Welt bombardiert werden: dass wir nämlich in ein Fitnessstudio gehen und auf eine bestimmte Art und Weise aussehen müssen – vor allem fitter und jünger.
Murphy gibt für seine Partnerin Timber einen „Triumphschrei“ von sich, vor den Augen ihrer Nachkommen. Die beiden sind ein gutes Beispiel für eine starke Partnerschaft. Sie sind sehr aufmerksam und kümmern sich nicht nur um ihre Gössel, sondern auch umeinander.
Murphy mit seinen Gösseln auf Futtersuche. Junge Gössel sind sehr wachsam, wenn es darum geht, wo und was die Eltern fressen.
Timber und Murphy verteidigen ihre Familie mit der typischen nach vorne gebeugten Halshaltung, die anderen Gänsen anzeigt, dass sie sich vor den beiden jetzt besser in Acht nehmen sollten.
Eine der ersten Studien, die sich mit der Frage beschäftigte, worauf Männer und Frauen bei der Partnerauswahl wirklich achten, wurde 1989 von dem Psychologieprofessor David Buss systematisch durchgeführt. Er fragte bei 10.000 Menschen aus 33 Ländern jeweils 18 Merkmale ab, die bei der Partnerwahl als besonders wichtig oder wünschenswert gelten. Die Ergebnisse könnten Sie überraschen: Auf Buss’ Rangliste steht „gutes Aussehen“ in den Antworten der Männer auf Platz 10, in jenen der Frauen gar erst auf Platz 13.
Auf Platz 1 hingegen lag die „gegenseitige Anziehungskraft“, auf Platz 2 ein „verlässlicher Charakter“ und auf Platz 3 „emotionale Stabilität und Reife“. Diese drei Top-Präferenzen waren bei Männern und Frauen gleich! Das bringt mich auf Fragen betreffend die gegenseitige Anziehungskraft. Wie können wir die besser verstehen? Und was können wir von Gänsen über die Ursachen dieser Anziehungskraft lernen? Gegensätze ziehen sich an, heißt es in einer Redewendung. Gibt es eine evolutionäre Grundlage dafür? Welche Mechanismen sind denkbar, um die gegenseitige Anziehung zu erklären? Wie das Sprichwort schon sagt: „Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“ Vielleicht haben Graugänse Gesichtszüge, wie etwa besonders symmetrische Schnäbel, die andere für ausgesprochen attraktiv halten. Möglicherweise ist das Innere der Graugänse viel wichtiger als die äußere Erscheinung. Wählen Graugänse einander aufgrund einer bestimmten Hormonkonzentration oder eines bestimmten Mikrobioms aus? Und dann ist da noch das Verhalten wie die körperliche Nähe, die vielleicht der wichtigste Faktor in der Liebe ist. Wir haben uns jeden dieser Faktoren bei den Graugänsen angeschaut.
Der Pfau (Pavo cristatus) ist bekannt für seinen extravaganten Auftritt. Das Männchen sieht man oft mit seinem aufgeschlagenen, schimmernden Schwanz herumstolzieren, der am Ende jeder Feder, insgesamt mehr als hundert, einen farbigen Punkt trägt. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie feststellen, dass diese Punkte symmetrisch angeordnet sind. Als wäre das nicht schon fantastisch genug, kommt es noch erstaunlicher: Wenn Sie experimentell nämlich auch nur fünf der hundert Farbflecken entfernen – im Versuch wurden fünf der „Augen“ am Ende der Federn einfach abgeschnitten –, wird das Männchen für ein wählerisches Weibchen unattraktiv. Warum bloß? Nun, es hat sich herausgestellt, dass Pfauenmännchen mit weniger symmetrischen Pfauenrädern im Durchschnitt auch einen größeren Parasitenbefall aufweisen. Vielleicht sind die Weibchen also auf ein Merkmal eingestellt, das eine gute Gesundheit und Resistenz gegen Parasiten signalisiert?
Wenn Weibchen und Männchen so selektioniert sind, dass sie Partner bevorzugen und attraktiv finden, die über Eigenschaften verfügen, die ihren Nachkommen Fitnessvorteile verschaffen, wie könnten sie diese Vorteile dann erkennen? Beim Pfau eben offenbar visuell, durch die Körpersymmetrie. Und bei anderen Arten? Vielleicht auch durch olfaktorische Hinweise, wie einen bevorzugten Geruch?
Ein Fitnessvorteil ist zum Beispiel eine stabile Immunabwehr. Auf genetischer Ebene kodieren die MHC-Gene für die Proteine der Immunabwehr. MHC ist die englische Abkürzung für eine Gruppe von Genen, die den sogenannten Hauptgewebeverträglichkeitskomplex bilden. Im Allgemeinen haben zwei Erwachsene mit unterschiedlichen MHC-Genen Nachkommen mit einer noch größeren Vielfalt an MHC-Genen, was sich positiv auf die Immunfunktion dieser Nachkommen auswirkt. Es wäre also von Vorteil, Individuen mit anderen MHC-Genen als den eigenen zu erkennen und sich bevorzugt mit ihnen zu paaren. In diesem Fall sollten sich Gegensätze, ganz dem Sprichwort gemäß, anziehen. Aber wie bewerkstelligen sie das?
Der Schweizer Biologe Claus Wedekind und sein Team führten eine berühmte Studie durch, die 1995 veröffentlicht wurde. Der Untersuchungsgegenstand: verschwitzte T-Shirts. Das Forscherteam sammelte DNA-Proben von 49 weiblichen und 44 männlichen Studierenden im Durchschnittsalter von 25, die an unterschiedlichen Studiengängen der Universität Bern eingeschrieben waren, sich also höchstwahrscheinlich nicht kannten, und bestimmte ihre MHC-Gene. Die Männer wurden dann gebeten, Sonntag- und Montagnacht Baumwoll-T-Shirts zu tragen und kein Deo zu verwenden.
Am Dienstag wurden die T-Shirts eingesammelt und den Frauen vorgelegt. Jede Frau wurde gebeten, sechs T-Shirts nach Intensität, Annehmlichkeit und Sexiness zu bewerten – je drei davon stammten von Männern mit ihren eigenen ähnlichen MHC-Genen, drei von Männern mit unterschiedlichen MHC-Genen. Selbstverständlich wussten die Frauen nicht, welches T-Shirt von wem stammte. Die Frauen zeigten eine Präferenz, die damit zusammenhing, ob sie die Antibabypille einnahmen oder nicht: Frauen, die keine Pille nahmen, bevorzugten Männer mit anderen MHC-Genen als ihren eigenen, und Frauen, die mit Pille verhüteten, bevorzugten Männer mit ähnlichen MHC-Genen. Möchten Sie also Nachwuchs mit guter Immunabwehr, scheint es sinnvoll, Ihre Partnerwahl zu treffen, wenn Sie nicht die Pille nehmen!
Ob auch Gänse einen Geruchssinn haben, darüber sind wir uns (noch) nicht sicher, in jedem Fall aber verfügen sie über ein ausgezeichnetes Sehvermögen. Und wir wissen aus einer Reihe von Studien, dass die MHC-Vielfalt und die Immunkompetenzreaktion mit der Symmetrie korrelieren könnte. Für unsere Gänse stellt sich also nicht so sehr die Frage nach dem Geruch der Partner, sondern ob Tiere, die gut als Paare funktionieren, symmetrische Gesichter haben.
Um das zu testen, war uns wiederum unser automatisches Gesichtserkennungsprogramm eine große Hilfe. Wir nahmen Bilder des linken und rechten Profils jeder Gans auf. Und tatsächlich fanden wir zwei Dinge heraus: Erstens ist bei Paaren mit symmetrischen Gesichtern die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie mehr Nachkommen zeugen als Paare, bei denen ein oder beide Partner ein asymmetrisches Gesicht haben.
Zweitens fragten wir uns: Von den 122 Gänsen, die sich zum gegebenen Zeitpunkt in der Schar befanden, waren 80 verpaart und 42 Singles. Von diesen unverpaarten Single-Gänsen waren zwanzig älter als zwei Jahre und galten somit als erwachsen. Woran liegt es, dass diese Tiere in der Liebe erfolglos sind? Wir haben uns ihre Gesichter angesehen und siehe da, die alleinstehenden Vögel weisen ebenfalls eine größere Gesichtsasymmetrie auf. Ein symmetrisches Gesicht hingegen bedeutet, dass die betreffenden Tiere in jungen Jahren, während ihres Wachstums, Parasiten oder andere Stressfaktoren erfolgreich überstanden haben. Das trifft übrigens auch auf uns Menschen zu! Solche Individuen verfügen vermutlich über ein gestärktes Immunsystem. Die in der Liebe glücklosen Vögel wiederum signalisieren womöglich mit ihrem Aussehen, dass sie genetisch nicht auf der Höhe sind, weil sie nicht die genetischen Voraussetzungen hatten, um mit den Widrigkeiten umzugehen.
Ein Gesicht erzählt also auch immer eine Geschichte darüber, was das jeweilige Individuum durchgemacht hat.
Mithilfe unserer Gesichtserkennungssoftware untersuchten wir übrigens auch die Gesichter von Timber und Murphy – beide waren symmetrisch. Diese neue Untersuchungsmethode eröffnet auch einen neuen Forschungszweig, auf den ich sehr gespannt bin: die Erforschung, welche Rolle visuelle Hinweise für die genetische Kompatibilität spielen, mit der Gans als Modellsystem.
Einmal gepaart und das war’s? Bei Weitem nicht. Hormonelle Synchronität ist, soweit wir wissen, ein weiterer Teil des Puzzles für eine erfolgreiche Partnerschaft. Dabei geht es aber nicht um eine Momentaufnahme, sondern um einen längeren Zeitraum.
Schon 1999 haben wir uns an der Forschungsstelle angeschaut, wie die Testosteronlevels von verpaarten Gänsen korrelieren, also sich entweder wenig oder stark voneinander unterscheiden. Auch hier war der Fortpflanzungserfolg unsere Orientierungsgröße. Ein ganzes Jahr lang wurden von 23 Gänsepaaren wöchentlich Kotproben genommen. Sie brachten folgende Erkenntnisse: Paare, die während der Brutsaison gemeinsam ein aktives Nest, also ein Nest mit einem befruchteten Ei, hatten, zeigten auch eine signifikant höhere Korrelation ihrer Testosteronspiegel. Je höher diese Korrelation war, desto größer waren die Gelege und desto schwerer die Eier. Einen Zusammenhang mit der Dauer der Partnerschaft, dem Alter der Tiere oder dem Altersunterschied zwischen den Tieren fanden wir dabei nicht. Aber auf die Beziehungsqualität und entsprechend den Fortpflanzungserfolg lässt sich daraus aus unserer Sicht sehr wohl schließen.
Ganter Iwan zum Beispiel hatte zwar ein symmetrisches Gesicht, wies aber dafür einen anderen Makel auf: Er war eben nicht hormonell synchron mit seinen Partnerinnen – er war ein Casanova! Ich sage nur: Acht Partnerinnen, dabei nur einen überlebenden Nachkommen mit seinen fünfundzwanzig Jahren und überhaupt keine Nachkommen mit Lestate, seiner letzten Partnerin; auch sie wurde stolze dreiundzwanzig Jahre alt.
Iwan hatte also einen recht geringen Fortpflanzungserfolg, und Lestate hatte gar keinen Fortpflanzungserfolg. Oft denkt man bei biologischer Fitness an Erfolg und konzentriert sich auf gute Nachrichten – in den Fällen von Iwan und Lestate etwa auf das hohe Alter, das die beiden Tiere erreicht haben. Aber der Weg zum Erfolg ist die Überwindung von Herausforderungen verschiedenster Art. Ein metaphorischer Vergleich: Es spielt keine Rolle, ob Sie alles Gold der Welt besitzen, wenn es durch eine Flut ausgelöscht wird. Sie werden mit nichts dastehen. Wohingegen derjenige, der nur ein einziges Goldstück besitzt, aber damit eine Schutzmauer gegen die Flut errichtet, auf lange Sicht erfolgreicher sein wird. Und wenn dessen Nachkommen wiederum auch Eigenschaften haben, die ihnen helfen, der nächsten Bedrohung zu entkommen, kann ihnen das vielleicht sogar zu weiteren Vorteilen verhelfen.
Iwan, Lestate und Gössel. Obwohl sowohl Iwan als auch Lestate ein hohes Alter erreichten, war ihre Partnerschaft nicht stark und Lestate hat keine überlebenden Nachkommen gezeugt. Iwan hatte erst später einen Nachkommen mit einem anderen Weibchen.
Timber und Murphy waren im Unterschied zu Iwan und Lestate hormonell synchron und sehr erfolgreich. Ja, sie erfüllten arbeitsteilig unterschiedliche Aufgaben, das Weibchen brütet, das Männchen ist wachsam. Aber ihre Herzfrequenz reagierte ähnlich auf eine wahrgenommene Bedrohung oder einen Anlass zur Sorge – ebenfalls ein Hinweis auf gute Partnerschaft. Bei guten Partnern steigt die Herzfrequenz besonders stark an, wenn der Partner bedroht wird.
Vom Mikrobiom habe ich kurz schon in Kapitel 2 erzählt. Mikrobiome sind mikroskopisch kleine Lebensgemeinschaften von Bakterien und anderen Mikroorganismen, die in und auf uns Menschen, auf den Gänsen und auch auf allen anderen Tieren leben. Ein solches Mikrobiom ist im Darm, auf der Haut und im Mund zu finden.
Wir forschen dazu gerade intensiv. Eine laufende Studie gibt uns zum Beispiel Hinweise darauf, dass sich der „Beziehungsstatus“ einer Graugans auf die Zusammensetzung ihres Mikrobioms im Darm auswirkt. Die jeweilige Vielfältigkeit dieses Mikrobioms, also der Faktor, aus wie vielen verschiedenen Mikroorganismen es sich zusammensetzt, war bei den Single-Gänsen niedriger als bei den verpaarten Gänsen. Wobei es in unserer Studie keinen Unterschied machte, ob diese Paare dann Nachwuchs haben oder nicht.
Bereits aus Experimenten mit Finken wissen wir, dass die Unterschiede bzw. Ähnlichkeiten im Mikrobiom verschiedener Individuen auch von der Nahrung bestimmt sind. Naheliegend wäre, dass Familien, die sich üblicherweise in räumlicher Nähe zueinander befinden und sich gegenseitig wohl auch beim Erschließen einer Futterquelle unterstützen, an das gleiche Futter gelangen.
Und wie verhält es sich beim Menschen? Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass sich unser Mikrobiom mit zunehmendem Alter verändert. Unser Mikrobiom verändert sich mit unserem physiologischen Zustand, aber es trägt auch zum Alterungsprozess selbst bei. Das Mikrobiom gilt heute als Biomarker für die Unterschiede zwischen chronologischem und biologischem Alter, oder wir können sagen, als Marker für gesundes und ungesundes Altern. Eine gute Nachricht, ähnlich dem Befund bei Darwins Finken: Auf die Ernährung kommt es an. So wird die Verzögerung des altersbedingten Rückgangs des Mikrobioms durch eine gesunde Ernährung stark unterstützt. Und auch die Haltung von Haustieren kann Ihr Mikrobiom stärken. Abgesehen von den geistigen und körperlichen Vorteilen, die Haustiere ihren Besitzern bieten, kann der Kontakt mit tierischen Mikroben auch die menschliche Gesundheit fördern, was derzeit Gegenstand von Studien ist.
Womit wir beim nächsten Faktor wären: der räumlichen Nähe, die bei Gänsen große Bedeutung hat. Sie kuscheln zwar nicht gerne, mögen es aber, wenn ihre Liebsten nur einen Steinwurf entfernt sind – so unsere Beobachtung bisher, wissenschaftlich untersucht hatte das Isabella Scheiber. Und jetzt Mariia Klymenko.
Mariia ist eine Veterinärmedizinerin aus der Ukraine, ich habe sie als Studierende der Verhaltensbiologie 2021 in einem Seminar zur „Mensch-Tier-Beziehung“ kennengelernt, das ich an der Uni Wien hielt. Unsere Forschungsstelle ist für Menschen aus der ganzen Welt von Interesse, selbst nach der Covid-Pandemie hatten wir Mitarbeiter*innen und Studierende aus 22 Nationen bei uns – aber wenige kamen direkt aus einem Kriegsgebiet zu uns, noch dazu aus einem, das in unserer unmittelbaren Nachbarschaft liegt.
Im Sommer 2023 kam also Mariia wieder zu uns ins Almtal, um an ihrer Masterarbeit in Verhaltensbiologie zu arbeiten. Sie hat dafür ihr eigenes Forschungskonzept entworfen, das die Qualität der Paarbindung bei Gänsen untersucht. Mir macht Mariia – neben ihrer durchdachten Forschungsarbeit – auch noch bewusst, wie nahe wir immer wieder mit Menschen zusammenleben, die mit einer völlig anderen Lebensrealität konfrontiert sind, als sie für uns hier im Frieden vorstellbar wäre.
Mariia erzählte mir an einem Julimorgen, dass das Nachbardorf ihrer Heimatgemeinde, die etwa zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt, zwei Nächte zuvor schwer bombardiert worden war, wobei viele Menschen verletzt und zwei getötet wurden. Sprach’s und ging los, um – wohl auch zur eigenen Ablenkung – die Gänse zu beobachten. Sie hat den Traum, ihren Master in Vergleichender Verhaltensforschung und Kognitionsbiologie abzuschließen und diese Kenntnisse mit in die Ukraine zu nehmen, um dort ein ähnliches Programm mitzugestalten.
Während ihrer Gänsebeobachtungen hat Mariia nun Folgendes entdeckt: Sie hat Focal Samples – darunter verstehen wir alle Verhaltens- und sozialen Interaktionen eines Individuums über einen bestimmten Zeitraum hinweg – mit Scan Samples kombiniert, also mit der Anzahl an Verhaltensweisen aller vorhandenen Tiere pro Kategorie, die zu einem bestimmten Zeitpunkt auftreten. Mariia konnte auf diese Weise das Verhalten innerhalb von Paaren bewerten. Sie notierte einerseits, wenn ein Partner einen Kontaktruf abgab und der andere Partner antwortete oder nicht. Sie notierte andererseits aber auch, ob sich ein Partner entfernte und der andere ihm folgte oder nicht. Anhand der Scanproben dokumentierte sie die Nähe bzw. Entfernung der anderen Gänse. Die gemessenen Parameter unterschieden sich erheblich zwischen den Paaren: Einige Gänsepaare wiesen eine sehr hohe Responsivität und enge räumliche Nähe auf, andere hingegen nicht. Könnte das etwas mit der Qualität der Paarbeziehung zu tun haben?
Leia und Ballantine zum Beispiel waren kommunikativ, reagierten aufeinander und standen sich – wortwörtlich – nahe. Tumnus und Kokosnuss hingegen nicht. Wenn Tumnus weiterging, folgte Kokosnuss nicht. Nach einem Konflikt unterstützte Tumnus ihren Partner nicht, und als Kokosnuss wegging, folgte Tumnus ihm nicht. In der Auswertung von Mariias Daten bemerkten wir: Die Paare, die sich in unmittelbarer Nähe zueinander aufhielten und auf die Rufe und das Bewegungsverhalten des jeweils anderen reagierten, waren auch diejenigen, die die meisten überlebenden Gössel hatten.
Olga und Besenstiel in nächster Nähe zueinander, ein Zeichen für starke soziale Zugehörigkeit. Dieses Paar verbringt nicht nur viel Zeit nahe beieinander, sondern kommuniziert auch häufig über Kontakt- und Distanzrufe und zeigt ein gegenseitiges Führen und Folgen.
Wir können uns also vorstellen, dass die Qualität der Paarbindung nicht nur gut für Physiologie und Mikrobiom, sondern auch für die biologische Fitness ist. Und umgekehrt können wir anhand unserer jahrelangen Forschung belegen, dass es jedenfalls genetische, physiologische, symbiotische und Verhaltensmerkmale gibt, die eine gute Partnerschaft ausmachen. Und ich sage Ihnen, es gibt da wohl noch mehr solcher Faktoren. Ein Geheimrezept für erfolgreiche Partnerschaften können uns also auch die Gänse nicht liefern. Mit Gewissheit können wir nur sagen: Beziehungen sind und bleiben kompliziert. Bei den Gänsen wie bei uns Menschen.