Viele Menschen, die mit einer Biologin oder einem Biologen befreundet sind, wissen, dass man vorsichtig sein muss, wenn man die Tiefkühltruhe in seinem Zuhause öffnet. Bei der Suche nach Vanilleeis kann es nämlich passieren, dass man auf etwas weniger Köstliches stößt: auf eine Kollektion gefrorener Kotproben zum Beispiel. Was für ein Pech für meine Freunde, dass ich einst sowohl Eisverkäuferin als auch junge Biologin war!
Die Exkremente von Vögeln sind eine besondere Sache. Vögel haben nämlich eine Kloake, mit der sie kopulieren, urinieren, koten, Eier legen und so weiter. Der Begriff leitet sich vom lateinischen „cluo“ ab, was „reinigen“ bedeutet und die Kloake zu einem „Abflussrohr“ macht. Die meisten Tiere verfügen über so einen einzigen Ausführgang für den Geschlechts-, Fortpflanzungs- und Harntrakt. Nur jene Säugetiere, die ihre Föten mit einer Plazenta, einem Mutterkuchen, versorgen – wie wir Menschen –, haben zwei oder drei separate Öffnungen für die Entleerung.
Im Fall der Vogelexkremente werden also Kot und Urin im gleichen Abgang produziert – deshalb ist „Kacke“ für die Ausscheidung eigentlich nicht korrekt, es handelt sich eben um einen Mix. Vogelexkremente haben in der Regel keinen Geruch, vor allem nicht bei reinen Herbivoren, also Pflanzenfressern, zu denen die Gänse zählen. Ihr Kot besteht hauptsächlich aus den Resten von Gräsern – und außerdem aus den wertvollen Hormonen, Steroiden und Mikrobiota, die wir messen wollen.
Warum diese biologische Faszination für Kot, werden Sie sich fragen? Einer der Vorteile von Exkrementen ist, dass sie auf nicht invasive Weise gewonnen werden können. Das Tier muss dafür also nicht gefangen werden – was Gänse überhaupt nicht leiden können, manchmal sind sie deshalb tagelang beleidigt. Und: Dem Tier muss auch kein Blut abgenommen werden. Stattdessen beobachten wir das Tier und wenn es kackt, sind wir zur Stelle und nehmen die frische Probe auf. Diese Probe enthält unfassbar viele Informationen. Kot erzählt ganze Geschichten darüber, was das Tier gefressen hat, wie gestresst es ist, welches Geschlecht es hat und – gerade sehr in Mode in der Forschung – über welches Mikrobiom es verfügt.
Mikrobiome sind Welten innerhalb von Welten, Gemeinschaften von Bakterien und anderen Kleinstlebewesen, die etwa unsere Haut vor Schädigung schützen oder uns bei der Verdauung unserer Nahrung helfen. Je mehr wir über das Mikrobiom erfahren, desto mehr wissen wir über seinen Einfluss auf die Effizienz unseres Darms, auf unsere psychische Gesundheit, ja sogar auf unsere Stimmungslage oder die Art und Weise, wie wir uns als Partner oder Eltern verhalten.
Weil das alles möglich ist – und weil Gänse eben in vielen kleinen Portionen kacken –, ist Kot nicht nur eine im Überfluss vorhandene und gleichzeitig wertvolle Ressource, sondern auch ein ganz besonderer Zugang zur Gans.
Es ist auch ganz einfach, Gänsekot zu sammeln. Zuerst muss man wissen, welche Gans „beprobt“ werden soll und ihr gezielt folgen. Da alle unsere Gänse individuelle Farbringe an ihren Füßen tragen, sind sie einfach zu identifizieren. Einem Gänsepopo zuzuschauen, mag vielleicht eigenartig erscheinen, aber tatsächlich ist es sehr entspannend. Oft bewegen sich die Gänse nicht einmal weg, wenn man sich als Forscherin ein paar Stunden lang in der Nähe ihrer Federschwänze aufhält.
Wir wollten in einer Untersuchung anhand von Kotproben Folgendes herausfinden: Sind verpaarte Tiere bessere Futterverwerter als alleinstehende, das heißt, können sie die Energie aus der zu sich genommenen Nahrung besser nutzen? Graugänse können sich zwar schon im ersten Lebensjahr verlieben, aber normalerweise legen sie erst im zweiten Jahr Eier und versuchen, eine Familie aufzuziehen. Sie können mehrere Jahre und manchmal sogar ihr ganzes Leben lang mit demselben Partner zusammenbleiben, was als soziale Monogamie bezeichnet wird. An neun aufeinanderfolgenden Tagen im Februar 2017, sowie in anderen Jahren auch, war aufgrund einer dicken Schneedecke kein anderes Futter verfügbar als die rein pflanzlichen Graspellets, die wir den Gänsen zweimal täglich füttern. An diesen Tagen sammelten wir deshalb die Exkremente der Gänse, etwa des alten – und gerade wieder frisch getrennten – Ivan, 24 Jahre alt und der Casanova unserer Schar, der damals erst zweijährigen und damit jugendlichen Dorothea und auch von Luna, die zwar ein Nest gebaut, aber schließlich keinen Schlupferfolg hatte, denn die Eier wurden von Fressfeinden erbeutet.
Was das Brutverhalten der Gänse betrifft, beginnt es damit, dass in der Brutzeit, meistens im März, das Weibchen bis zu sieben Eier legt, durchschnittlich sind es fünf, die 28 Tage von ihr allein bebrütet werden, unterbrochen nur von kurzen Fresspausen. Für die energetisch aufwendige Brutzeit muss sich die Gans schon vorab Reserven anfuttern. Timber war die Gans bei uns in Grünau, die im Laufe ihres Lebens die meisten Eier gelegt hat, stolze 126 Stück. Sie selbst wurde fast zwanzig Jahre alt; zum Vergleich: Die durchschnittliche Lebenserwartung von Gänsen liegt bei acht Jahren, wobei manche auch fünfundzwanzig Jahre erreichen. Viele ihrer Gössel haben überlebt. Ihr Ganter Murphy war ihr dabei ein fürsorglicher und wachsamer Partner: Die Männchen bleiben in der Nähe der Nester, um sie bei Bedarf zum Beispiel gegen Füchse verteidigen zu können. In Grünau haben wir deshalb, wie bereits erwähnt, Bruthütten auf niedrigen Stelzen mitten im Flussbett der Alm angelegt – durchs Wasser traut sich der Fuchs nicht!
Sobald die Küken geschlüpft sind, werden die jungen Gänseküken von beiden Elternteilen betreut. Beide Elternteile halten Ausschau nach Bedrohungen und Futtergelegenheiten in der Umgebung. In der Gruppe an der Konrad Lorenz Forschungsstelle, in der sich alle Erwachsenen kennen, kümmern sich die Eltern in der Regel um eine Gruppe aus einem bis sechs Gösseln, in 95 Prozent der Fälle handelt es sich dabei um ihren eigenen Nachwuchs. Beide Elternteile sind während der gesamten Aufzucht der Gössel sehr wachsam.
Dorothea vor einer Bruthütte mit ihren fünf Gösseln, die gerade aus den Eiern im Nest in der Hütte geschlüpft sind.
Buche, die Partnerin von Julian, dem ältesten Männchen der Schar, beim Hudern ihrer drei Gössel.
Die Gössel der handaufgezogenen B-Familie lernen, was gut schmeckt und wo man es findet.
Eisbrecher, der etwa fünf Monate alt ist, streckt seine Flügel aus und wird mit jeder Woche kräftiger beim Fliegen.
Timber und Murphy beim gemeinsamen Fressen. Sie waren das erfolgreichste Paar in der Geschichte der KLF-Schar. Timber legte 126 Eier, und gemeinsam zogen sie 15 Nachkommen auf, die mindestens zwei Jahre alt wurden. Das Paar war 19 Jahre lang zusammen.
Denn die richtig gefährliche Zeit beginnt nach dem Schlupf der Gössel, wenn die Jungfamilien ihre Nester und damit die Hütten am Wasser verlassen und vor allem nachts Fressfeinden ausgesetzt sind. Die Gössel neigen außerdem zur Unterkühlung und müssen in den ersten paar Wochen regelmäßig von der Mutter „gehudert“, also: wortwörtlich unter die Fittiche genommen werden. Selbstständig fressen, das tun sie aber, sobald sie das Nest verlassen. Sie schenken dabei den Schnäbeln ihrer Eltern große Aufmerksamkeit, wodurch sich so etwas wie „Futtertraditionen“ einstellen. Oder auch Nisttraditionen: Viele Gänsemütter sind nistplatztreu und geben ihre Präferenz auch an die Töchter weiter.
An einem schneereichen Wintermorgen konzentriere ich mich also auf die weißen Federn rund um Ivans Kloake, die unter seinen grauen Schwanzfedern sichtbar sind, und gehe im Gleichschritt mit der Gans mit. Dann kackt Ivan und ich bin glücklich. Die Kotproben der Gänse sind ziemlich groß, ein paar Zentimeter lang. Ich greife nach dem Holzspatel und dem kleinen Plastikröhrchen und fülle die Kotprobe ein. Ich beschrifte das Röhrchen deutlich und lege es zu den anderen Röhrchen, die ich bereits gesammelt habe. Ausgezeichnet, diese neue Probe ist bereits die dritte von Ivan an diesem Morgen, und es ist erst eine Stunde vergangen.
Seit mittlerweile einem halben Jahrhundert werden die Graugänse im Almtal erforscht, unsere Schar ist damit auch grundsätzlich sehr gut an die Anwesenheit von Menschen gewöhnt. Jedes flügge gewordene Tier wird mit einem bunten Fußring markiert und hat ab diesem Zeitpunkt einen Platz in unserem Stammbaum, der lange als Tafel in der Forschungsstation hing bzw. immer noch hängt. Mittlerweile liegt die jeweils aktuellste Version aber freilich als digitaler Datensatz vor. Die Aufzeichnungen reichen bis ins Jahr 1952 zurück, als Lorenz, damals noch im oberbayerischen Seewiesen, diese anzulegen begann.
Mit diesen Datensätzen gibt es zum einen eine riesige Menge an Informationen zu den Graugänsen – und das nicht nur bei uns: Auch in Dänemark, Schweden, Norwegen und Deutschland werden die Tiere systematisch beobachtet. Wir kennen somit ihr Alter, die Partner- und Freundschaftsbeziehungen, ihren körperlichen Zustand, Brutzeiten und -erfolge unserer Individuen. Zum anderen erleichtern uns die Gänse durch ihr spezifisches Verhalten ihre Erforschung: Die Tiere können sich zwar in allen Sphären fortbewegen – in der Luft, zu Wasser wie an Land. Sie sind aber doch meistens in Gruppen oder Paaren in gemächlichem Tempo auf festem Boden unterwegs, was die Beobachtung ihrer Interaktionen für uns Menschen sehr einfach macht.
Graugänse bieten aufgrund ihres Verhaltens eine hervorragende Möglichkeit, die Vor- und Nachteile des sozialen Zusammenlebens einer Art zu erforschen. Und ich sage Ihnen: In so einer Gänseschar spielen sich oft wahre Dramen ab – Kämpfe und Versöhnungen, heiße Liebe und giftige Eifersucht.
Wie können wir ihr Zusammenleben besser verstehen – und daraus vielleicht auch etwas über uns selbst lernen? Ich verwende zwar nicht Begriffe wie „Freundschaft“ oder „Feindschaft“, um Beziehungen unter Graugänsen zu beschreiben, sondern ich beschreibe, wie ihr Verhalten aussieht. Als umgangssprachliches Beispiel für das, was die meisten von uns als „Freundschaft“ bezeichnen würden, beschreibe ich ihre soziale Verbundenheit. Ihr sozialer Zusammenhalt lässt sich etwa über die räumliche Nähe und die Reaktionsbereitschaft auf die Kontaktrufe der Artgenossen beschreiben. Einige Graugänse tauschen über die Jahre hinweg viele affiliative Verhaltensweisen aus, also ein Verhalten, das als eine positive Verhaltensinteraktion interpretiert wird. Ein solcher Austausch ist auch häufig zwischen Nichtverwandten zu beobachten, die man umgangssprachlich als Freunde bezeichnen könnte, oder, wie ich es ausdrücke, als Teil des sozialen Netzwerks, dem sie angehören.
Aus Beobachtungen kennen wir zum Beispiel folgendes Verhalten: Nach kurzer Trennung oder auch nach Aufregung in der Schar, weil es Streit gab, kommen die sozial verbündeten Tiere wieder zusammen und „grüßen“ einander dabei, wie bereits beschrieben, mit geducktem, ausgestrecktem Hals. Tun sie das, um ihre Familien- oder Freundschaftsbande zu stärken? Um einander zu signalisieren „Ich bin für dich da“? Und wenn das der Fall ist, welchen Zweck erfüllen dann solche oder andere Unterstützungserklärungen?
Liebe geht doch durch den Magen, heißt es. Wir vermuten ja – wie eingangs beschrieben –, dass die Beziehungen unter den Gänsen auch beeinflussen, ob sie jeweils gute oder schlechte Futterverwerter sind. Deshalb haben wir ihre Exkremente damals nicht nur eingesammelt, sondern auch getrocknet. Anschließend wurde der Ligningehalt sowohl in den ursprünglichen Futterpellets als auch in den Droppings, den Kotproben, der einzelnen Gänse festgestellt. Lignin ist ein unverdaulicher Pflanzeninhaltsstoff, der zum Beispiel die Festigkeit von Holz, aber auch von Gräsern ausmacht. Für unsere Untersuchung nutzten wir Lignin als natürlichen Marker: Er liefert uns Informationen darüber, wie viel Futter von jedem Tier aufgenommen, physiologisch verwertet und schließlich ausgeschieden wurde.
Die Ergebnisse bestätigten, was wir bereits angenommen hatten: Verpartnerte Gänse mit Nachwuchs waren bessere Futterverwerter als jene ohne Nachwuchs oder alleinstehende. Auch Individuen mit stabilen Sozialbeziehungen zeigten eine höhere Verdauungseffizienz. Wir nehmen an, dass Paare mit Nachwuchs zum Beispiel davon profitieren, dass auch schon die Jungen dabei helfen, ständig „die Lage zu checken“, sich also nach möglichen Gefahren oder Herausforderungen umzuschauen, während die übrigen Familienmitglieder in Ruhe fressen können. Gänsemütter waren zum Beispiel sozial schwierigen Situationen besser gewachsen, wenn sie von mindestens drei flügge gewordenen Jungtieren begleitet wurden.
Die Mitglieder von Gänsefamilien besetzen deshalb häufig auch die obersten Positionen in der Rangordnung einer Schar, wobei hier auch immer wieder nachjustiert wird. Allerdings kommt es im Zusammenleben nicht nur auf diese „Dominanz“ eines Individuums an, sondern auch auf andere Parameter, zum Beispiel auf die „Persönlichkeit“ der jeweiligen Gans. In Kapitel 9 werden wir in diesem Zusammenhang noch von „Influencer“-Gänsen hören, die vielleicht nicht die Ersten am Futtertrog sind – aber dafür auf andere Art und Weise einflussreich.
Besondere Beziehungen bestehen bei den Graugänsen jedenfalls nicht nur zwischen einzelnen heterosexuellen Paarpartnern oder auch bei Paaren gleichen Geschlechts, sondern insbesondere auch zwischen den weiblichen Mitgliedern einer Schar; seltener gibt es auch Dreiergespanne. Weibchen stecken viel Energie in das Legen und Bebrüten der Eier, ins Führen und Wärmen der Gössel. Weibliche Gänse haben damit einen höheren energetischen Aufwand als Männchen. Es erscheint logisch, dass sie sich deshalb gegenseitig besonders unterstützen. Schwestern etwa bleiben einander auch im Erwachsenenalter nah – im ganz wörtlichen Sinn: Beim Rasten liegen sie meist nicht weit voneinander, selbst wenn sie bereits verpaart sind. Bei Brüdern ist das nicht so.
Es sieht ganz so aus, als würden diese Beziehungen und Verbindungen untereinander den weiblichen Gänsen das soziale Leben leichter machen. Dieses Verhalten ist im Übrigen nicht gänsespezifisch: Auch Löwinnen dürften einander unterstützen, um Stress zu verringern. Paviane suchen sich in unsicheren Zeiten ihre Partner bei der gegenseitigen Fellpflege (grooming) danach aus, ob sie auch im Sozialen als Verbündete auf sie zählen können. Ganz besonders wichtig ist die Unterstützung der Weibchen untereinander auch bei den Elefanten, die in eigenen Herdenverbänden aus Großmüttern, Müttern, Schwestern und Jungen leben. Die erfahrensten Mitglieder der Gruppe, die Matriarchen, wissen, wo sie bei Trockenheit nach Wasser suchen müssen und wer unter den vielen Elefanten, die man treffen kann, ein positiver sozialer Verbündeter ist. Dieses Gedächtnis für soziale Verbündete reduziert den Stress, wenn eine junge Mutter zum ersten Mal auf andere Elefanten trifft.
Diese unterschiedlichen sozialen Ebenen im Zusammenleben der Gänse vermitteln einen ersten Eindruck von dessen Komplexität – und diese Komplexität wird sich Ihnen im Laufe des Buches Stück für Stück erschließen. Was dabei allerdings unter „komplex“ zu verstehen ist, darüber herrscht auch in der Verhaltensbiologie kein Konsens. Jedenfalls scheinen vor allem jene Tiere ein Zusammenleben in der großen Gruppe evolutionsbiologisch nutzen zu können, die über große Gehirne bzw. Gehirne mit vielen Neuronen und gute kognitive Fähigkeiten, also Fähigkeiten des Wahrnehmens und Denkens, verfügen. Während Vögel in dieser Hinsicht den Säugetieren lange als unterlegen galten, ist mittlerweile bestätigt, dass einige Vogelarten – darunter auch die Gänse – etwa soziales Lernen beherrschen. Sie lernen zum Beispiel allein durch das Beobachten von Artgenossen.
Wissenschaftlich würden wir sagen – und diese Unterscheidung geht auf den Zoologen Nikolaas Tinbergen zurück, der gemeinsam mit Lorenz und Karl von Frisch den Nobelpreis bekam –: Wie ein Individuum sich verhält, ist immer von mehreren Faktoren abhängig. Zum Beispiel von sogenannten „proximaten“ Mechanismen, die sich aus der unmittelbaren Situation ergeben, und „ultimaten“ Funktionen – damit sind evolutionsbiologische Zusammenhänge gemeint im Sinne von: Welchen Anpassungswert hat ein bestimmtes Verhalten für ein Tier? Ist es beispielsweise angesichts des Klimawandels für manche Vögel effizienter – im Sinne ihrer biologischen Fitness –, im Herbst nicht mehr den anstrengenden und gefährlichen Flug Richtung Süden anzutreten? Ist es für den Fortpflanzungserfolg der Graugänse möglicherweise effizienter, in Paaren zusammenzuleben?
Um proximate Erklärungsebenen zu verstehen, können wir zum Beispiel versuchen, physiologische Prozesse oder Entwicklungsprozesse einzuordnen. Bei den Graugänsen haben wir durch unsere Analysen der Herzfrequenz oder der Hormonkonzentration und bei detaillierten Beobachtungen der Wachstums- und Lernphasen der Gänseküken, auch während der Handaufzucht, Einblicke in diese Ebene gewonnen. Auf der adaptiven Ebene können wir Unterschiede in der Überlebenswahrscheinlichkeit über Jahre hinweg oder den Paarungserfolg und die Anzahl der Nachkommen messen. Sie werden viele Beispiele kennenlernen, die eine Brücke zwischen diesen Ebenen der Fragestellung in der Biologie schlagen. Die Bedeutung der Graugans für die Erfassung aller dieser Analyseebenen in einem biologischen System kann nicht stark genug betont werden. Ich glaube nicht, dass es ein anderes Lebewesen auf der Erde gibt, das wir so gut an Land beobachten können, obwohl es auch fliegt, schwimmt und Eier legt.
„Komm, komm!“, ruft mein Kollege Josef Hemetsberger, den wir alle hier Sepp nennen, den Graugänsen am Oberganslbach zu. Sepp hat Futterpellets aus einer blauen Plastiktonne in seinen Kübel geschöpft und geht damit zu dem seit fünfzig Jahren bestehenden Futterplatz der Forschungsstelle. Der Frühling 2023 war feucht und kalt, nur wenige heuer geschlüpfte Gössel haben ihn bisher überlebt: Während es in anderen Jahren um diese Zeit bei der Fütterung nur so wuselte, blieben heuer viele Brutpaare kinderlos, nur Dorothea ist mit einem Gössel da, Jumper und Lupin mit ihren vier. Die Kleinen bleiben etwa ein Jahr, bis zur nächsten Brutzeit, mit den Elterntieren als Familie zusammen.
Die Gänse nähern sich nach und nach. „Komm, komm!“, ruft Sepp immer wieder; das hat sich seit Konrad Lorenz’ Zeiten so eingebürgert. Sepp hat Lorenz in Grünau noch kennengelernt, er arbeitet seit 1988 an unserer Forschungsstation. Mit Lorenz’ Ankunft in Grünau wurde hier auch der Oberganslbach als eine Abzweigung des Flusses Alm künstlich angelegt und seitdem erfolgreich als Brutstelle der Gänse etabliert. Als Sepp nun beginnt, die kleinen Tröge aufzufüllen, sind die ersten Graugänse schon da und beginnen zu fressen. Die Gössel sind zuerst an der Reihe. Mit einer Art Fauchen halten die Eltern andere Gänse davon ab, ihren Nachwuchs beim Schnabulieren zu stören.
Während die rund 120 Tiere hier bei uns im Almtal schon allein aufgrund unseres Forschungsinteresses höchst erwünscht sind, ist das nicht überall so. In letzter Zeit kommt es immer wieder zu Interessenskonflikten etwa an Badestränden oder auf Golfplätzen. Wie sieht es denn aus mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Graugans? Kann die Verhaltensbiologie vielleicht etwas dazu beitragen, die Probleme, die mancher mit der Gans hat, zu lösen?
In ganz Nordeuropa gibt es kleinere und größere Grauganspopulationen, die manchmal in die Tausende gehen; in der Regel zählen soziale Untergruppen 100 bis 150 Tiere. Als Zugvögel ziehen sie im Herbst für gewöhnlich in den Süden – nach Südeuropa oder Nordafrika. In den vergangenen Jahrzehnten beobachten wir aber immer häufiger, dass Graugänse sich gar nicht auf die Reise machen. Da unsere Gänse mit Graspellets versorgt werden und mehrere Gänsestämme hier an der Forschungsstelle von Hand aufgezogen wurden, sind sie in der Regel im Almtal sesshaft. Es gibt aber auch einige Beispiele von Ausreißern, darunter Ausreißergänse wie Johanna am Neusiedler See, die sich übrigens über die Animal-Tracker-App des deutschen Max-Planck-Instituts verfolgen lassen (siehe Kapitel 3 und 10). Im Allgemeinen gibt es in Europa jedoch einen wachsenden Trend, dass Graugänse das ganze Jahr über an einem Ort bleiben oder kürzere Strecken von Osten nach Westen statt von Norden nach Süden wandern. Aufgrund des Klimawandels sind die Winter milder, eine intensivere Landwirtschaft bietet dank Wintersaat auch Nahrung. Denn auch wenn uns das vielleicht eigenartig erscheint: Gänse sind Weidetiere. Und besonders interessiert am eiweißreichen Austrieb von Getreide. Das führt allerdings zu Unmut bei den Landwirtschaftstreibenden sowie zu mehr Nachwuchs im Sommer.
Während es Mitte des vergangenen Jahrhunderts europaweit nur mehr rund 20.000 Graugänse gab, bezeichnen deutsche Medien ihr Auftreten heute vielerorts als „Plage“. Mit ihren „Tretminen“ würden sie „ganze Ufergestade verschandeln“, wird in Bayern geklagt, wo Graugänse am Starnberger See oder auch am Tegernsee brüten. Man will sie „vergrämen“. Am Altmühlsee werden deshalb Gelege nun derart manipuliert, dass sich keine Gössel daraus entwickeln: Durch ein kleines Loch in der Schale werden die Eier bakteriell verunreinigt. Tierschutzrechtlich darf diese „Management-Maßnahme“ allerdings nur in der ersten Hälfte der Brutzeit eingesetzt werden.
Gänse finden frischgemähten Rasen nahe dem Wasser besonders attraktiv – und unterscheiden sich darin nicht von uns Menschen. Deshalb sind Badeplätze oder Golfplätze ein Anziehungspunkt für die Tiere. Jedes Jahr bekommen wir Anrufe von den örtlichen Schwimmvereinen in Ebensee am Traunsee oder vom Attersee. „Bitte kommt und holt eure Gänse ab, sie stören unsere Gäste“, heißt es dann. Denn: Sie fressen das schöne, dichte, kurze Gras und hinterlassen an zu vielen Stellen Kot. Also fahren wir die vierzig Minuten, versuchen, vor Ort die Tiere zu fangen, was nur selten gelingt. Häufiger fliegen sie weg. Sie wissen, glaube ich, was wir vorhaben. Nach dem „Einsatz“ fahren wir entweder mit einer missmutigen Gans zurück oder wir sehen sie gegen Abend zu Hause wieder.
Tja, wer hätte das gedacht: Der Gänsekot, der uns in der Forschung so viel Freude bereitet, ist an anderen Plätzen höchst unerwünscht. Die Tiere beanspruchen Raum in einer Sphäre, in der wir meinen, das vorrangige Nutzungsrecht zu haben.
Ein Ausweg aus diesem Mensch-Wildtier-Konflikt ist ein Konzept, das ich „time and space sharing“ nenne, also – wie beim Car-Sharing – das Aufteilen der Nutzung von bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten. Wäre das nicht ein sinnvoller Weg in die Zukunft?
Der Almsee ist wirklich spektakulär schön. Warum gibt es dann immer weniger Gänse an seinen Ufern? Leider, und sehr zum Bedauern vieler Menschen, ist es wahrscheinlich so, dass die Hunderttausenden Besucherinnen und Besucher, die jedes Jahr vorrangig per Auto anreisen, ein Sterberisiko oder zumindest einen Störfaktor für Wildtiere darstellen. 2023 haben wir aus diesem Grund ein neues Biodiversitätsprojekt gestartet, bei dem wir die Auswirkungen von Verkehrslärm auf Wildtiere messen und Drohnen mit Infrarotkameras einsetzen, um aktive Nester gefährdeter Vogelarten zu finden. Wir möchten damit in der Gemeinde und auch bei den Besucherinnen und Besuchern für mehr Verständnis plädieren und sie wissen lassen: „Hier ist ein aktives Nest, lasst uns dieses Gebiet für achtundzwanzig Tage meiden. Danach können wir Menschen diesen Bereich wieder nutzen.“ Damit würden wir dem Brutpaar seine Ruhe zugestehen. Die Ressourcen wären gerechter zwischen Mensch und Tier verteilt. In den Niederlanden werden etwa schon Windräder vorübergehend gestoppt oder zumindest verlangsamt, wenn ein großer Zugvogelzug über der Nordsee durchzieht – auch so ein Beispiel für eine faire Aufteilung der Nutzung dieser Landstriche und Ressourcen. Ich bin zuversichtlich, dass das auch in anderen Bereichen funktionieren kann. Und macht es nicht auch Freude, zu wissen, dass wir schon mit einem kleinen Entgegenkommen das Leben der Wildtiere lebenswerter machen können?
Ein Flussuferläufer am Kiesstrand vor der alten Konrad Lorenz Forschungsstelle am Auingerhof.
Die Eltern Besenstiel und Olga fliegen mit ihrem Nachwuchs Odessa vom Auingerhof in Richtung Cumberland Wildpark, wo die Familie den Tag verbringen wird.