Ich hatte es tatsächlich geschafft, an der Rezeption unser Anliegen zu erklären und dass wir für diese Nacht spontan umsiedeln wollten. Der junge Mann war sehr kulant und verlangte sogar nur die Hälfte des Preises. Ich sagte ihm, dass wir nicht wussten, ob wir am nächsten Tag wiederkommen würden.
In Windeseile packten wir unsere Sachen zusammen, und Domenico trug unser Gepäck nach unten, wo Hendrik mit dem Auto bereits auf uns wartete. Durch die immer noch nicht ganz dunkle Nacht fuhren wir nach Lillestrøm und waren ungefähr eine halbe Stunde später dort.
Hendrik wohnte in einem weißen Haus etwas außerhalb des Zentrums. Da seine Mutter schon zu Bett gegangen war, führte er uns direkt in den Keller, den er zu einem Proberaum mit Musikinstrumenten umfunktioniert hatte. Der Keller war unterteilt in zwei Räume. Im vorderen Raum gab es eine kleine Kochnische mit einem Gaskocher und eine Kuschelecke mit einer kleinen Polstergruppe, einem Fernseher und einem grünen Teppich. In der Ecke aufgestapelt lag ein Berg Matratzen.
«Das ist unser Partyroom. Da gibt es dann immer ein paar Vögel, die es übertreiben und es nicht mehr bis su sich nach Hause schaffen. Die schmeiße ich dann hier auf einen Haufen», erklärte Hendrik schmunzelnd.
Domenico grinste. Er hatte den Arm wieder fest um mich geschlungen.
In der freien Nische neben dem Eingang stand auch Hendriks Motorrad, das Domenico ehrfürchtig bewunderte.
«Kult, ikke sant? Mein Vater hat es mir sum Schulabschluss geschenkt», sagte Hendrik.
«Echt cool», murmelte Nicki und strich sehnsüchtig über den Sattel. «Mann, bis ich mir so was mal leisten kann …»
Hendrik führte uns in den anderen Raum, der voll war mit Musikinstrumenten und technischen Geräten. Ein weißes Schlagzeug, mehrere Mikrofone und Gitarren, ein Keyboard, dazu ein Wirrwarr an Kabeln, Verstärkern, Lautsprecherboxen und Schalldämpfern – alles war in einer professionellen Unordnung reingestopft worden. Der Teppich mit dem Persermuster, die roten Vorhänge und die lachsfarbene Couch hinten in der Ecke gaben dem Raum das gemütliche Etwas.
«Und hier ist unser Band-Room. Hier üben wir in jeder freien Minute, Sverre, Thore und ich.» Hendrik sah stolz und glücklich aus, als er das sagte.
«Aber du wohnst nicht hier unten, oder?», warf ich ein.
«Nei, ich wohne oben, mit meiner Mutter. Aber der Keller ist mein Raum. Da kann ich machen, was ich will.»
Wir sahen uns fasziniert um.
«Das ist ja ein richtiges Musikstudio», staunte Domenico.
«Ja.» Hendrik strahlte. «Aber das gehört nicht alles nur mir. Sverre und Thore haben auch viel investiert. Ein siemlich teures Hobby. Wir müssen viel arbeiten dafür.» Hendrik zeigte auf eine kleine abgetrennte Zimmerecke, wo ein riesiges Teil mit einer Unmenge an Reglern und Knöpfen und Schiebern stand. «Das da ist unser Mixer. Damit nehmen wir unsere CDs auf. Wir haben alle drei siemlich lange gespart, um uns das leisten su können.»
«Kannst du denn all diese Instrumente spielen?», fragte Domenico beeindruckt, als Hendrik sich ans Keyboard setzte und ein paar Töne anschlug.
«Nei, absolut nicht. Ich kann nur E-Gitarre und Keyboard. Das Schlagseug gehört Sverre.»
«Wer schreibt denn die Songs?», wollte ich wissen.
«Fast immer ich. Und ich singe sie auch.»
«Und worüber schreibst du denn deine Songs?» Domenico zog mich beiläufig etwas näher an sich. Seine Finger zogen zärtliche Kreise auf meinem Arm. Ich bekam sofort Gänsehaut.
Hendrik spielte ein paarmal die Tonleiter rauf und runter und sagte dann: «Über Dinger, die den Menschen Mut machen sollen. Ich mag Lieder, die eine positive Botschaft haben. Manchmal covern wir auch Songs, wenn sie gute Texte haben.»
«Singst du denn auf Englisch oder Norwegisch?» Dieses Mal war ich wieder mit Fragen an der Reihe.
«Beides. Meistens engelsk, aber manchmal auch norsk, besonders wenn wir an Festivaler auftreten. Aber ich mag auch ein paar deutsche Songs. Manchmal übersetse ich sie selber, um sie hier in Norge singen su können.»
«Willst du denn mal 'n richtiger Musiker werden?» Nicki ließ mich los und ging etwas näher an das Keyboard heran.
«Suerst werde ich an die Uni gehen und Psykologi studieren, damit ich eines Tages als Sosialpädagoge arbeiten kann. Aber ich möchte gerne von der Musik leben können eines Tages, ja. Am besten beides. Doch es ist schwierig, mit der Musik genug Geld su verdienen. Wir werden noch viel daran arbeiten müssen. Manchmal können wir irgendwo auftreten. Gibt en smule Taschengeld, aber das ist nichts. Finansiell lohnt es nicht. Mein Traum ist es, eines Tages von einem Musikprodusent entdeckt su werden, aber davon träumen viele. Doch man darf seine Träume nie aufgeben, ikke sant?»
Domenico beobachtete Hendriks Finger, die geschickt ein paar wunderschöne Takte anschlugen. Hendrik hielt inne und sah Domenico an.
«Und du? Machst du auch Musik?»
«Ich? Nee, das kann ich nicht. Hab mal als Kind 'n bisschen Harfe gespielt, aber das ist alles. Bin total unmusikalisch.»
«Wow, du hast Harfe gespielt? Das ist ein sehr schönes Instrument.»
«Ach, das war nur so 'n sizilianisches Lied. Hat uns 'ne Nonne auf Sizilien beigebracht. Mit meinem Bruder zusammen. Er hat die zweite Stimme gespielt.»
«Echt? Kult! Könnt ihr das Lied noch?»
Domenico schüttelte den Kopf. «Nicht wirklich.»
Ich kaute angespannt auf meiner Unterlippe rum. Würde Nicki Hendrik tatsächlich etwas über Mingo erzählen?
Hendrik musterte Domenico.
«Ich wette, du bist überhaupt nicht unmusikalisch. Du weißt es nur nicht.»
«Quatsch.» Domenico winkte ab. «Ich hab seither fast nie mehr ein Instrument angerührt. Geschweige denn Singen. Ich hab doch überhaupt keine Stimme.»
Hendrik lächelte. «Sag nicht so was. Du würdest dich voll kult machen als Rockstar. Mit deiner rauchigen Stimme und auch so, wie du aussiehst. Du hättest Erfolg. Merkst du nicht, dass dir alle jenter hinterherstarren? Ich glaube, auch meine kleine Schwester hat sich in dich verknallt. Die Fans würden alle in Ohnmacht fallen, wenn du auf der Bühne wärst.»
Domenico verdrehte die Augen. «Ey, hör auf. Ich kann nicht singen, okay? Meine Stimme ist doch total kaputt vom Rauchen. Hörst du ja, oder?»
«Es gibt Sänger, die extra viel rauchen, damit sie so eine Stimme kriegen.»
«Das ist doch krank.» Domenico tippte sich an die Stirn.
«Hej, war nur Spaß. Aber ich bin neugierig. Was machst du denn so? Gehst du noch sur Schule?»
«Nee, im Moment nicht.» Domenico zögerte ein wenig und legte den Arm wieder um mich. «Bin ja gerade erst aus der Therapie zurückgekommen. Ich werde erst im Herbst wieder zur Schule gehen.»
Hendrik spielte eine kleine Passage und schien intensiv nachzudenken. Dann sah er Domenico an, blickte ihm fest in die Augen.
«Das Lied aus Sisilien würde mich interessieren. Was ist das für eine Art Musik?»
«Kann ich dir schlecht sagen», antwortete Domenico. «Das hat uns wie gesagt 'ne Nonne beigebracht. Ich hab keine Ahnung, woher die das hatte.»
«Und dein Bruder kann sich auch nicht mehr erinnern?»
Ich hielt die Luft an.
«Mein Bruder ist tot.» Domenicos Stimme zerbrach die Atmosphäre wie klirrendes Eis. Ich legte instinktiv meine Hand auf seine Brust.
«Oh.» Hendriks Blick füllte sich mit warmem Mitgefühl. «Das tut mir leid.»
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich fest darauf, Nickis Brust zu streicheln.
«Wie lange ist das denn her?», fragte Hendrik sehr vorsichtig.
«Anderthalb Jahre», sagte Nicki rau. Ich machte die Augen wieder auf.
«Verstehe. War er älter oder jünger als du?»
«Er war mein Zwillingsbruder.»
«Oh.» In Hendriks Gesicht regte sich etwas Eigenartiges. Er wandte seinen Blick für einen Moment ab; seine Finger schienen eine bestimmte Melodie zu suchen. Erst als er sie gefunden hatte, hob er seinen Kopf wieder.
«Darf ich fragen, warum er gestorben ist?»
«Drogen. Heroin.»
Hendrik schwieg. Eine Zeitlang füllte seine schwermütige Melodie den Raum.
«Wenn ich nicht mehr fragen soll, musst du es sagen, okay?», sagte Hendrik und sah Nicki wieder an.
«Ist schon okay», meinte Domenico und bemühte sich, seine Stimmbänder intakt zu halten. Ich schmiegte mich enger an ihn und hörte nicht auf, ihn zu streicheln.
«Hej, übrigens, deine tatovering am Arm gefällt mir virkelig. Hab ich schon mal gesagt, ikke sant? Wo hast du denn diese Seichnung her?» Das war offensichtlich ein bewusster Themenwechsel.
«Selbst gezeichnet.»
«Echt? Wow!» Hendrik riss die Augen auf. «Dann bist du also doch ein Künstler?»
«Wie man's nimmt.» Domenico zuckte mit den Schultern.
Da konnte ich mich allerdings nicht zurückhalten: «Hendrik, vor dir steht der beste Maler und Zeichner, den du je gesehen hast.»
«Quatsch. Bin ich nicht», wehrte Nicki ab.
«Im Ernst?», strahlte Hendrik. «Du kannst seichnen?»
«Na ja …»
«Komm Nicki, tu nicht so bescheiden. Hol mal deinen Zeichenblock», forderte ich.
«Nee, das Bild taugt nix.»
Ich verdrehte die Augen. «Spinner! Dann hol ich ihn eben.»
Mit einem Satz war ich bei seinem Rucksack und zog den Block heraus. Ich wusste genau, dass Domenico mich ohne weiteres hätte aufhalten können, wenn er gewollt hätte. Doch er wehrte sich nicht, als ich die Zeichnung vor Hendrik hinlegte.
«Das hast du geseichnet?» Hendrik blieb der Mund offen stehen. Er nahm sich ausgiebig Zeit, um das Bild von mir als schlafende Schönheit zu betrachten.
«Das ist ja wahnsinnig gut! Knallbra!»
«Sag ich ja die ganze Zeit, aber er will es nie glauben.»
Insgeheim hatte ich mich ja schon oft gefragt, von wem Domenico dieses Talent geerbt hatte, von seinem Vater oder von seiner Mutter.
«So ein Quatsch. Ich mein, die Haare sind mir doch total missraten», sagte Nicki. «Und die Hand da auch. Völlig falsch!»
«Falsch? Wo denn?», stöhnte ich. «Ich kann überhaupt keine Fehler sehen. Ich wünschte, ich könnte nur halb so gut zeichnen!»
Hendrik schmunzelte. «Das denke ich auch immer, wenn ich ein Lied geschrieben habe. Ich finde immer einen Fehler. Es gibt gar nicht genug Töne, wie ich brauche, um ein Lied su schreiben.»
«Echt, dir geht das auch so? Ich denk immer, es gibt nicht genug Buntstifte.» Domenico schüttelte ratlos den Kopf.
«Und ich finde, es gibt nicht genug Wörter», sagte ich.
«Warum? Schreibst du gern?»
«Ja, ich wollte schon immer gern Romane schreiben. Aber im Moment liegt das ein wenig brach, weil ich zu wenig Zeit dafür habe.»
«Die Seit dafür muss man sich nehmen», sagte Hendrik ernst. «Möchtest du denn Schriftstellerin werden?»
«Ja, schon, aber ich werde erst mal Medizin studieren und Ärztin werden. Vom Schreiben lässt es sich nur schwer leben, genauso wie von der Musik.»
Hendrik lächelte. «Na, dann sind wir ja alle drei Künstler.» Er wandte sich wieder an Domenico. «Jetst mal im Ernst: Du bist ein Supertalent. Willst du das nicht als Beruf ausüben?»
«Weiß nicht. Ich zeichne eigentlich lieber so für mich selbst. Außerdem braucht man für 'ne Ausbildung in Kunst das Abitur, und ich krieg höchstens noch den Hauptschulabschluss.»
«Ihr sweifelt su sehr an euch selbst», meinte Hendrik. «Ihr müsst positiv sein. Wenn ihr einen Traum habt, müsst ihr an ihm festhalten.»
«Ja, ich weiß …» Domenico beobachtete Hendriks Finger, die sich geschickt über die Tasten bewegten.
Hendrik hielt inne und summte nachdenklich eine Melodie, die ihm offenbar gerade durch den Kopf ging. Er stand auf, kippte den Schalter des «Marshall»-Amplifiers auf «On», nahm die E-Gitarre, die neben dem Schlagzeug stand, und ging damit zur Couch rüber. Wir folgten ihm.
«Hej, ich hab einen Song für dich, Nick. Für dich naturlig auch, Maya, aber ich glaube, der Text passt besonders su Nick. Er ist sogar von einer deutschen Band. Der Song hat mir schon oft Mut gegeben, wenn ich mal wieder alles wegschmeißen wollte. Darum hab ich ihn auch einstudiert. Ich spiel ihn euch vor, ja?»
Wir setzten uns zu Hendrik auf die Couch. Ich lehnte mich an Nickis Schulter, als Hendrik zu spielen anfing.♥
Sieh mich an.
Hörst du mich?
Glaub nur daran:
Dein Stern geht bald am Himmel auf.
Jeder Tag
ist ein Geschenk –
doch nur auf Zeit –,
halt ihn fest und mach dir klar:
Er geht vorbei.
Doch wenn du willst,
halt einfach die Zeit kurz an,
und du bist nicht allein.
Was auch passiert,
du gibst niemals auf,
nein, du bleibst …
Positiv, positiv!
Über Gegenwind lachst du.
Positiv, positiv!
Und mit Rückenwind fliegst du.
Positiv, positiv!
Und aus Schatten wird Licht.
Nur du allein
ahnst den Weg,
der vor dir liegt,
den niemand sonst betreten kann.
Hör sie an,
die Stimme in dir,
sie spricht zu dir.
Nur sie allein weiß den Weg,
den du suchst,
zu dem Ort,
der all deine Schmerzen lindert.
Dann bist du am Ziel,
denn auch ein kleiner Stein
kann große Kreise ziehn.
Positiv, positiv!
Über Gegenwind lachst du.
Positiv, positiv!
Und mit Rückenwind fliegst du.
Positiv, positiv!
Wo der Boden bebt, stehst du.
Positiv, positiv!
Und aus Schatten wird Licht.
Hendrik setzte zum Schluss noch ein kleines, rockiges Gitarrensolo dazu und legte dann das Instrument beiseite. «Und?»
«Echt klasse», stimmte Domenico zu. «Aber es ist nicht so einfach, wenn du dauernd diese Schatten hast, die an dir zerren und dich runterziehen wollen.»
«Aber vergiss nicht: Aus Schatten wird Licht. Genau das sagt die letste Strophe.» Hendrik sah Nicki an. Das Graublau seiner Augen schimmerte ganz sanft.
«Niemand von uns hat eine einfache Geschichte, glaube ich. Der eine hat vielleicht mehr Schlimmes erlebt als der andere, aber Enttäuschungen kommen su allen von uns. Ich hatte auch eine Seit, in der ich sehr an mir selbst und meinem Leben gesweifelt habe, und dann habe ich angefangen, Antwort su suchen.»
«Ja?» Domenico musterte Hendrik zum ersten Mal mit einem richtig offenen Blick.
«Ja. Weißt du, ich habe mich ernsthaft gefragt, ob es einen Gott gibt und warum der so viel Leid sulässt. Ich war so wütend über viele Sachen, die schiefgegangen sind in meinem Leben. Ich habe meinen Vater vermisst, der nie da war und den ich nur aus meinen Ferien kannte. Ich hatte Liebeskummer, weil meine Freundin mit mir slutt gemacht hat, und in der Schule lief es auch nicht gut. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinem Leben machen sollte. Dann habe ich su Gott gesagt: Wenn es dich gibt, dann gib mir eine Antwort!»
«Und hat er das getan?» Domenico konnte seine Neugier nicht verbergen.
«Ja. Es geschahen viele neue Dinge in meinem Leben. Sum Beispiel, dass ich die Musik entdeckte. Und dann die Prostituierte, die mir begegnete und von der ich euch ersählt hab. Mein Leben bekam auf einmal einen neuen Sinn. Und dann habe ich auch meinen Vater neu gefunden, als er surück nach Norge kam. So viele kleine Dinge. Ich bin jetst überseugt, dass es Gott gibt, und wenn ich das nicht wäre, wäre ich nicht da, wo ich jetst bin, glaub mir. Denn wenn du nicht weißt, dass es jemand gibt, der eine gute Absicht mit dir hat, was ist dann dein Leben wert? Dann weißt du ja gar nicht, wo du hingehst.»
«Ja, glaub ich auch», sagte Domenico leise. «Ich versuch ja das Zeug in der Bibel auch besser zu verstehen, aber das ist so kompliziert …»
«Dann nimm einfach das, was du verstehst. Also ich glaube, wenn wir alles über Gott wüssten, gäbe es keine Depressjoner mehr in der Welt», lachte Hendrik. «Ich glaube, du wirst nie alles verstehen, solange du hier auf der Erde lebst. Aber wenn du wartest, bis du endlich alles verstehst, kannst du nie anfangen su leben. Das sind genau die Sachen, die ich mit meinen Liedern sagen will. Ich will den Menschen Mut machen, nie aufsugeben, egal, wie viel Stormvind das Leben bringt. Ich möchte ihnen mit meinen Liedern seigen, dass Gott gut ist und uns liebt. Dass er unseren Schmerz versteht und mitfühlt und mitträgt.»
«Tut er das wirklich?»
Ich spürte, wie es in Nickis Innerem bebte, als er das sagte. Seine Stimme versagte beinahe, und er wischte sich verstohlen über die Augen. Ich rutschte etwas näher an ihn heran.
«Find ich auf jeden Fall super», sagte er, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. «Ihr müsst wirklich schauen, dass ihr 'nen Produzenten oder so was finden könnt. Ich glaub, so Texte würden die Leute echt brauchen.»
Hendrik zeigte sein Grübchenlächeln. «Ja, das wünsche ich mir wirklich.» Er tauschte seine E-Gitarre jetzt mit einer spanischen Akustikgitarre.
«Habt ihr eure Songs denn schon an Musikfirmen geschickt?» Es kam selten vor, dass Nicki so viele Fragen stellte, und genau deswegen schwieg ich.
«Ja, selfølgelig. Wir haben unsere Songs schon su allen möglichen Musiclabels geschickt. Aber in unserem Bereich ist das nicht so einfach. Wir spielen Rock und ein bissken Metal, und wir sind nicht die Einsigen. Ich glaube, dass wir einen anderen Weg suchen müssen.»
«Einen anderen Weg?»
«Ja. Weißt du, viele Bands, die su einem großen Label kommen, haben am Anfang viel Propaganda. Aber dann, ein, swei Jahre später, hörst du nichts mehr von ihnen. Ich habe mich oft gefragt, warum das denn so ist, und ich glaube, ich habe eine Antwort gefunden.»
«Welche?»
«Sie sind su schnell von null emporgestiegen. Wie ein Baum, der wächst, ohne im Boden Wursler zu bilden. Die Musik kommt nicht wirklich in die Hertsen der Leute.» Er legte die Hand auf die Stelle, wo sein Herz war. «Es ist alles nur Show und Werbung. Im Radio klingt alles gleich. Habt ihr schon gehört? Es gibt nur wenige Songs, die so gut sind, dass man sie nie vergisst. Nach einem Jahr hast du die Hits, die sie heute im Radio spielen, schon wieder vergessen. Aber ich will Musik machen, die man nicht vergisst und die Menschen ihr Leben lang begleitet. Ich will Songs schreiben, an die man noch nach vielen Jahren denkt, weil sie für die Leute su einer Hymne geworden sind. Ich will nicht Musik machen, die nur von Propaganda berühmt wird, sondern wo die Leute sueinander sagen: Hej, hast du das Lied gehört? Ich will lieber langsamen Erfolg haben und dafür Wursler schlagen wie ein Baum. Ich möchte lieber ein Haus auf einem Fels bauen als auf Sand.»
Er zupfte ein paar Takte auf seiner Gitarre und schaute verträumt vor sich hin. «Man muss immer positiv sehen: Wenn wir uns nicht über die kleinen Erfolge freuen, können die großen gar nicht su uns kommen. Ich wäre sogar schon lykkelig, wenn wir innerhalb von Norge oder sogar gans Skandinavia Erfolg haben können. Denn bis jetst ist mir nur eine einsige norwegische Musikband bekannt, die jemals Welterfolg hatte. Aber selbst wenn ich nur einem einsigen Menschen mit meiner Musik helfen kann, dann hat sich das Ganse schon gelohnt.»
Hendrik schloss die Augen und vertiefte sich eine Weile in sein Gitarrenspiel, das wie eine sehnsüchtige Improvisation klang.♥♥
Wir hörten ihm schweigend zu. Nicki vergrub sein Gesicht in meinem Nacken und berührte ihn wie zufällig mit seinen weichen Lippen.
«Das ist mein Traum», sagte Hendrik schlicht. «Und daran halte ich fest, egal was kommt. Dafür gebe ich mein Leben und alles, was ich habe.» Hendriks blaugraue Augen leuchteten, von einer impulsiven Leidenschaft gepackt.
«Wisst ihr, ich gehe manchmal durch die Straßen und beobachte alte Menschen. Und dann versuche ich mir aussudenken, wovon sie wohl mal geträumt haben, als sie noch jung waren. Und dann sehe ich ihnen an, wie ihre Träume alle im Lauf ihres Lebens gestorben sind und wie der Glans aus ihren Augen verschwunden ist. Und jedes Mal frage ich mich, wohin denn all ihre Träume verschwunden sind. Wer hat sie ihnen geraubt? Das Leben? Die Umstände? Einmal kam es mir vor, als ob Gott in diesem Moment su mir geredet hätte und als ob er su mir gesagt hätte: ‹Hendrik, seig den Menschen, wie sie ihre Träume festhalten und erfüllen können. Ich will nicht, dass sie sterben. Ich will, dass sie leben und dass sie ein erfülltes Leben haben. Ich habe gute Pläne für sie und möchte ihnen ihre Hersenswünsche erfüllen. Seige ihnen, dass sie es nicht sulassen sollen, dass ihnen ihre Träume geraubt werden.› Deswegen versuche ich, mein Leben so gut wie möglich von Schlechtem rein su halten. Deswegen nehme ich keine Narkotika und trinke auch nicht viel Alkohol. Ich will kein dummes Gehirn bekommen. Ich will klar denken können. Ich habe ein Siel mit meinem Leben. Auch wenn es viel Stormvind im Leben gibt, glaube ich immer noch, dass wir selber verantwortlich sind für das, was wir mit unserem Leben machen. Wir bestimmen, wer wir in sehn oder swansig Jahren sind. – Uff, jetst habe ich viel geplaudert, was?» Hendrik legte seine Gitarre zur Seite.
«Nee, erzähl ruhig weiter», sagte Domenico beeindruckt. «Ich find das echt gut, was du sagst.»
«Es scheint bloß so su sein, als sei ich mit dieser Meinung gans allein.» Ein Schatten verdunkelte Hendriks Miene. «Mein bester Freund Sverre geht einen anderen Weg. Ich wünschte mir so, ich hätte jemanden, mit dem ich diesen Traum teilen kann. Wenn du Musiker bist und auf der Bühne stehst und die Leute dir sujubeln, dann ist das wie ein Rausch. Du musst auf dein Herts aufpassen. Sverre ist ein bisschen stolts geworden. Aber ich gebe nicht auf. Apropos, am nächsten Donnerstag findet der Fylkecontest statt. Aber dann seid ihr wohl nicht mehr da, oder?»
Ich schüttelte den Kopf. «Leider nein. Ich muss am Montag heim. Aber du kannst ja bleiben.» Ich sah Nicki an.
«Mal sehen.» Er zuckte vage mit den Schultern.
«Wäre jedenfalls kult, dich dabeisuhaben», sagte Hendrik.
«Was ist ein Fylkecontest?», fragte Nicki.
«Da spielen alle Sieger aus den Kommunen gegeneinander. Wir haben im April den Contest aus unserer Kommune gewonnen. Und ein Fylke ist …»
«… so wie ein Bundesland in Deutschland?», fragte ich.
«Ja, so ungefähr», strahlte Hendrik. «Wir sind noch nie so weit gekommen!»
«Also dann gehört ihr quasi zu den besten Bands in eurem Fylke?», fragte Domenico.
«Su den Siegern, ja. Ob wir su den Besten gehören, weiß ich nicht. Aber der Fylkecontest wird viel schwieriger. Wir müssen nemlig gegen die Black Vikings antreten.»
«Black Vikings? Klingt wie 'ne Metal-Band», bemerkte Nicki.
«Genau. Black Metal. Aber siemlich populär. Haben sehr viele Fans. Sind echt profesjonell, das muss ich ihnen lassen. Aber sie hassen mich.»
«Warum?»
«Weil ich ein bissken andere Ansichten habe als sie», schmunzelte Hendrik.
«Ja? Mein Bruder hat sich manchmal den ganzen Tag Black Metal reingezogen», stöhnte Nicki. «Richtiges Gedröhne, ey.»
«Oh, da gibt es verschiedene Abstufungen. Black Metal kommt ursprünglich ja aus Norge. Das war eine gans finstere Scene am Anfang. Die haben sogar die Stavkirker abgebrannt. Aber man kann naturlig nie alle in denselben Topf schmeißen. Vieles, das heute als Black Metal beseichnet wird, ist gar nicht virkelig Black Metal. Es gibt auch gans viele schöne Songs und Ballader in der Metal-Scene. Ich finde, man muss sich immer die Tekster von einem Song anhören und prüfen, was er aussagt, bevor man es verurteilt. Ich würde mir nie etwas anhören, was gegen meine Überseugung geht.» Hendrik nahm seine Gitarre wieder und spielte ein paar leise Riffs.
«Mein Bruder konnte natürlich kein Englisch», meinte Domenico schulterzuckend. «Der wusste doch gar nicht, was er sich anhört.»
«Schon klar», meinte Hendrik. «Das wissen viele nicht.»
«Was gewinnt man denn da eigentlich an so 'nem Fylkecontest?»
«Nicht viel. Vielleicht einen Computer oder so was.» Hendrik grinste. «Aber das ist nicht so viktig. Viel viktiger ist, dass Leute von Musiclabels suhören werden. Es ist eine gute Chance, entdeckt su werden. Aber … weißt du, am meisten bedeutet mir egentlig, dass mein Vater kommt.»
«Echt?»
Hendrik nickte, und die Blicke der beiden Jungs trafen sich kurz.
«Das ist schön für dich», sagte Domenico leise. «Ich hab keinen Vater …»
«Keinen Vater?» Hendrik schloss die Augen und spielte ein paar zarte, traurige Töne. Dann öffnete er die Augen wieder und schaute Domenico lange an. Nicki legte seine Finger um meine Hand.
«Habt ihr egentlig gewusst, dass morgen Nasjonaldagen in Norwegen ist?», sagte Hendrik plötzlich, und ich vermutete, dass er das Thema wieder absichtlich wechselte. «Syttende Mai. Das ist das größte Fest im gansen Jahr. Es gibt überall Umsüge, und viele tragen ihre Bunad, so heißt die norwegische Nasjonaltracht. Und wir haben auch unser Russefesten, also die Abiturfeier, obwohl wir noch nicht alle Eksamen hatten. Ich kann euch nach Nittedal mitnehmen, wenn ihr wollt. Dann könnt ihr bestimmt ein Autograf von meinem Vater kriegen.»
«Meinst du?», fragte Domenico vorsichtig. «Ich weiß nicht so recht …»
«Ich würde mich freuen, wenn ihr meine Gäste seid», sagte Hendrik mit einem Lächeln. «Also sagt nicht Nei.»
Er sah auf seine Armbanduhr.
«Es ist schon swei Uhr. Sverre ist eine Schnarchnase!»
Er zückte kurzentschlossen sein Handy und las seinem Kumpel die Leviten. Hinterher meinte er: «Er macht sich gleich auf den Weg. Ich seig euch schnell, wo alles ist, ja? Ich muss nemlig ins Bett gehen, weil ich morgen gans früh aufstehen muss. Ich muss noch viel für das Russefesten vorbereiten. Aber ihr könnt ruhig länger schlafen. Ich hole euch dann ab.»
Wir waren einverstanden, zumal wir beide ziemlich müde waren. Hendrik holte ein paar Kissen und Decken aus einem Schrank, während Domenico und ich aus den Matten zwei Betten bastelten. Mir war vollkommen klar, dass wir damit eigentlich gegen Paps' Anordnung verstießen, und ich überlegte bereits fieberhaft, wie ich mich vor ihm rechtfertigen sollte. Andererseits, wie hätte ich Hendriks Angebot auch ausschlagen können? Das würde vielleicht sogar Paps verstehen … Außerdem hatte ich in der momentanen Situation wirklich nicht vor, mit Nicki zu schlafen, und …
Mist! Paps! Ich hatte ihn schon wieder vergessen! In all der Aufregung um Nickis Pillen hatte ich glatt verschwitzt, ihn anzurufen! Mist, Mist und nochmals Mist! Dabei konnte ich doch so dankbar sein, dass er mich überhaupt hatte ziehen lassen … Aber ich konnte ihn ja um die späte Nachtstunde kaum noch anrufen. Und Mama … ich hatte ihr doch so viel zu erzählen!
Noch während ich überlegte, wie ich das wiedergutmachen konnte, zeigte Hendrik uns den winzigen Raum mit der Dusche und dem Klo und auch, wie man den Gaskocher einschaltete und wo sich das Geschirr und der Kaffee befanden, falls wir das brauchen würden. Er drückte mir auf meine Bitte eine Flasche Waschmittel und ein Plastikbecken in die Hand und brachte Nicki sogar einen Aschenbecher.
«Falls du hier drin rauchen willst, stellst du dich einfach an das offene Fenster, dann ist das schon okay.» Hendrik deutete auf das kleine Klappfenster neben dem Geschirrschrank.
Weil Sverre immer noch nicht aufgetaucht war und Nickis Akku neu aufgeladen werden musste, gab Hendrik mir Sverres Nummer, und ich speicherte sie auf meinem Handy.
«Falls er weiterhin rumtrödelt, könnt ihr ihn einfach anrufen», sagte er. «Ich habe ihm gesagt, er soll hier ans Fenster klopfen, wenn er da ist.»
Wir verschwanden abwechselnd im Bad, um uns bettfertig zu machen, nachdem Hendrik uns gute Nacht gewünscht und versprochen hatte, uns am nächsten Morgen um zehn Uhr zu wecken. Nicki nahm mir die Schüssel und die Waschlauge aus der Hand.
«Ich wasch dir dein Zeug. Hast jetzt genug für mich gemacht …», murmelte er.
«Okay, und ich koche dir dafür noch schnell Tee und reibe dir die Brust mit der Salbe ein», sagte ich.
«Okay, Teamwork», grinste er. «Ich rauch noch schnell eine vorher, ja?»
«Aber das ist die letzte für heute, ja?»
«Klar.»
Während ich das Wasser aufkochte und Nicki am Fenster seine Zigarette qualmte, klopfte es an die vordere Scheibe. Kurz darauf tauchte das Gesicht von Sverre auf.
«Heihei, kann isch Pillen hier geben?» Er reichte eine kleine Schachtel durchs offene Fenster.
«Ja, hier», sagte Nicki rau und nahm die Schachtel entgegen. «Danke. Wie viel willst du dafür haben?»
«Koster nischt. Mein Freund har øvrig gehabt. Er müss käine mehr nehmen.»
«Danke», sagte Domenico nochmals.
«Vær så god. Kommer du på festen i morgen?»
«Ähm, tut mir leid, ich versteh nicht grad viel von dem, was du sagst.» Domenico zuckte bedauernd die Schultern.
«Ischt okay.» Sverre grinste, winkte mir kurz zu und entfernte sich wieder.
Domenico drückte die Zigarette aus und kam zu mir.
«Sind es die richtigen Pillen?», fragte ich.
«Mhmm, Rohypnol.» Nicki drehte die Packung in seinen Händen. «Anscheinend von einem Kumpel, der sie nun nicht mehr braucht.»
«Okay. Der Tee ist übrigens fertig.» Ich drückte ihm die heiße Tasse in die Hand.
Domenico nahm sie und ging zu seiner Matratze. Er setzte sich und nahm vorsichtig einen Schluck.
«Igitt, heiß.»
«Das soll so sein», sagte ich streng.
«Ey, ein Feuerschlucker bin ich nun auch wieder nicht», stöhnte er. «Ich lass den 'n paar Minuten abkühlen. Gib mir mal die Wäsche.»
Ich suchte die Schmutzwäsche zusammen und brachte sie ihm, und er legte sie in die Waschlauge ein.
Als er fertig war, schnappte ich mir den Beutel, den ich von Hendrik bekommen hatte, suchte die Salbe raus und ging damit zu ihm.
«Leg dich jetzt hin, ich reibe dir die Brust ein.»
«Ey, kann ich doch eigentlich auch selber machen», murmelte er verlegen.
«Ich möchte es aber gerne machen. Bitte, Nicki», fügte ich hinzu, als er widersprechen wollte. «Ich meine, du hast mich ja in London deine Narben auch berühren lassen. Was ist daran so schlimm?»
Er schloss die Augen. «Aber guck sie nicht an. Mach das Licht aus.»
«Okay.» Ich tappte gehorsam zum Schalter und durch die Dunkelheit wieder zurück zu Nickis Bettlager. Doch ganz finster war es ja nicht; durch das kleine Klappfenster sah man schon wieder den Tag anbrechen, und dieses Licht reichte aus, um die Umrisse im Zimmer sichtbar zu machen. Domenico lag auf der Matratze, die Arme hinter seinem Kopf verschränkt. Ich kniete mich neben ihm nieder, drückte einen Strang von der stark nach Eukalyptus riechenden Salbe auf meine Hand und fasste unter sein Oberteil. Seine Haut war ganz warm.
«Igitt, ist das kalt», stöhnte er, hielt dann aber still. Ich begann die Salbe sorgfältig auf seiner Brust zu verteilen. Er rührte sich nicht und ließ mich einfach machen.
«Hast du immer noch Schmerzen?», fragte ich.
«Nee, ist besser.»
Als meine Finger etwas unterhalb der Brust in den Bereich seiner Narben kamen, spürte ich, wie er die Luft anhielt. Ich hatte es aufgegeben, ihn nach der genauen Geschichte seiner Ritzereien zu fragen. Warum und weshalb – egal. Als ich fühlte, dass sich seine Bauchmuskeln krampfhaft zusammenzogen, nahm ich schnell meine Hand wieder zurück. Ich wollte ihn nicht überfordern.
Doch da sagte er: «Mach weiter, ist total schön.»
«Ehrlich?» Behutsam legte ich meine Hand wieder auf seinen Bauch, und ganz zart und vorsichtig bewegte ich sie über seine Haut, so wie damals in London. Ich fühlte regelrecht, wie sein ganzer Körper von einem Schauer erfasst wurde und sich dann ganz allmählich wieder entspannte. Ich wusste, dass ich damit in die Annalen seiner Mädchengeschichten eingehen würde – denn vermutlich war ich die Erste, die ihn hier berühren und streicheln durfte.
Prompt wurden wir durch eine SMS aufgeschreckt. Ich zuckte zusammen und hielt sofort inne. Um diese Uhrzeit?
Nicki nutzte die Gelegenheit, um schnell sein Oberteil wieder ganz runterzuziehen – offenbar war er nun doch an seine Grenzen gekommen. Ich angelte nach dem Handy. Auf dem Display stand «Paps».
«Komisch», murmelte ich. Es kam ja selten vor, dass Paps um diese Uhrzeit noch wach war.
Liebe Maya, wieder habe ich keinen Anruf erhalten. Ich bin sehr enttäuscht. Bitte ruf mich bis um 23 Uhr an. Ich möchte dringend mit dir reden. Gruß, Paps.
Dreiundzwanzig Uhr? Das war doch längst vorbei! Au Backe! Paps hatte die SMS bestimmt irgendwann am Abend losgeschickt, und sie musste irgendwo stecken geblieben sein. Soll ja vorkommen …
«Was ist los?», fragte Domenico leise.
«Ich hab Paps wieder mal vergessen. Er scheint ziemlich sauer zu sein.»
«Oh Mist.»
«Das gibt ein Riesendonnerwetter», seufzte ich und legte das Handy beiseite.
«Komm her», sagte er sanft.
Ich kroch auf die Matratze und wickelte mich in die Decke. Nicki rutschte näher an mich heran und zog meinen Kopf an seine Brust. Mit der anderen Hand drückte er zwei Tabletten aus der Blisterpackung und kippte sie mit dem restlichen Tee runter. Ich blieb einfach liegen, starrte in die Dunkelheit und lauschte Nickis Herzschlag. Sein Arm, der mich festhielt, wurde immer schlaffer und fiel schließlich runter auf die Matratze. Ich bekam Angst. Was, wenn er sich überschätzt hatte und die Dosierung doch zu hoch gewesen war? …
Ich war viel zu erschöpft, um wieder auf meine Matratze rüberzurutschen. Im Halbschlaf drehte ich mich etwas zur Seite und kuschelte mich fester an Nickis Brust.
Ich wollte seinen Herzschlag die ganze Nacht hören. Sicherheitshalber …
Irgendwann dämmerte ich ganz weg und träumte, Paps würde mit einem Riesenlastwagen voller Hausaufgaben anrücken.
♥ Hör dir hier den Song «Positiv» an!
♥♥ Hier den Song «Spontaneous Inspiration» anhören.