22. Flieg, Bruder, flieg

Es war nicht so, dass Domenico und Morten nun ein Herz und eine Seele waren. Domenico verschwand erst mal für die nächsten paar Stunden, und Morten lief mit tiefen Stirnfalten im Gesicht herum. Ich ahnte, dass nach unserer Abreise noch viele Schwierigkeiten vor ihm liegen würden. Ebenso hegte ich die feste Vermutung, dass Morten für Domenico ein enormes Opfer gebracht hatte. Was natürlich nicht mehr als recht und billig war. Aber es hatte ihn wahrscheinlich einen ziemlich hohen Preis gekostet, von dem wir vermutlich nicht mal den Anflug einer Ahnung hatten.

Er führte ein sehr langes Telefonat mit Hendrik, aber ich wusste nicht, was sie miteinander besprachen, weil sie Norwegisch redeten. Es hörte sich aber so an, als ob da noch irgendwas ganz Besonderes am Laufen war. Morten wirkte nach dem Gespräch noch aufgewühlter, aber auf eine eigenartig entschlossene Art.

Zuletzt wusste ich natürlich, dass wir dies alles Hendrik zu verdanken hatten. Ohne ihn wäre Nicki vermutlich gar nicht an seinen Vater rangekommen.

Ebenso war mir aber auch klar, dass damit Domenicos Probleme nicht von heute auf morgen verschwinden würden. Aber es war ein weiterer wichtiger Schritt Richtung Genesung, und darüber freute ich mich. Und ebenso glücklich war ich, dass sich auch bei mir langsam aber sicher die Zimmerdecke wieder hob und den Blick auf den Himmel freigab. Zu wissen, dass meine Gebete nach so langer Zeit nun doch Erhörung gefunden hatten, verlieh mir geradezu neue Flügel.

Morten hatte mir übrigens versprochen, sich um unsere Rückreise zu kümmern.

«Am Finanziellen soll es nicht scheitern», meinte er.

Morten und Liv wünschten sich nach wie vor, die genauere Geschichte über Solvejs Aufenthalt in der Svandahl-Wohnung zu erfahren, aber Domenico war den ganzen Tag unauffindbar. Doch diesmal wusste ich, dass er sich nichts antun würde, deshalb machte ich mich auch nicht auf die Suche nach ihm. Er kam und ging nun mal, wie er wollte. So war er eben. Tiger-X.

Ich lag fast den ganzen Nachmittag auf dem Bett und ließ die letzten beiden Tage Revue passieren und auch das, was zwischen Nicki und mir abgegangen war. Ich erbebte innerlich, wenn ich an die letzte Nacht dachte und an den kurzen Ausflug mit dem Motorrad. Tief in mir drin klopfte mein Herz so heftig, dass es schon fast wehtat.

Und trotzdem. Ich war zu vorsichtig geworden, um mich einfach von diesen Gefühlen übermannen zu lassen. Domenico und ich, das war keine einfache Geschichte mit Happy End. Die Laterne war einst das Symbol unserer Liebe gewesen und das Symbol vieler Versprechungen, aber konnten wir sie wirklich alle halten? Ich spürte, dass ich ebenso große Angst wie Nicki davor hatte, mein Herz erneut vorbehaltlos hinzugeben. Ich wollte nicht wieder verletzt werden.

Als ich etwas später aufstand und ins Wohnzimmer gehen wollte, war die ganze Familie versammelt plus Mortens Freund Arne und die Nachbarskinder. Solvej sah wieder recht fidel aus und kicherte mit ihrer Freundin Hanne herum. Um ihr Handgelenk hatte sie immer noch einen Verband, und ich ahnte natürlich, dass ihre Aktion in der Familie tiefe Spuren hinterlassen hatte, auch wenn sich das keiner anmerken ließ.

Kjetil verschwand mit den zwei anderen Jungs in sein Zimmer und verschanzte sich die nächste halbe Stunde vor dem Computer. Von Nicki war noch keine Spur zu sehen. Ich versuchte ihn anzurufen, obwohl ich genau wusste, dass er nicht rangehen würde. Und so war es auch.

Noch später tauchte auch Hendrik auf, um nach uns zu schauen. Er war ganz zapplig und fuhr mindestens dreimal zwischen Lillestrøm und Nittedal hin und her, weil er immer irgendwo was vergessen hatte.

Liv machte etwas zu essen, und ich fragte schüchtern, ob ich ihr helfen könnte. Liv sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und meinte dann, dass ich den Tisch decken könne. Mir war unbehaglich zumute, und natürlich machte ich es nicht so, wie sie es wollte. Sie stellte alles wieder um, holte andere Teller aus dem Schrank und tauschte auch die Gläser um.

«Bedankt euch hinterher unbedingt für das Essen», ermahnte mich Morten. «Das ist sehr wichtig. Ich weiß, in Deutschland legt man nicht immer so viel Wert drauf, aber hier in Norwegen gilt es als unhöflich, wenn man das nicht tut. Sagt einfach: ‹Takk for maten›, dann hast du bei ihr schon mal ein paar Pluspunkte.»

Ich versprach, daran zu denken. Langsam wurde ich nervös. Wo blieb denn Nicki? Er würde doch den Contest nicht vergessen, oder? Solvej warf mir die ganze Zeit fragende Blicke zu. Ich dachte daran, was Morten gesagt hatte. War sie tatsächlich in Nicki verknallt?

Doch er tauchte nicht auf, auch zum Essen nicht, und meine Sorgen steigerten sich von Minute zu Minute mehr.

Ich gab mir alle Mühe, mich während des Essens richtig zu verhalten und ja keinen Fehler zu machen. Ich bedankte mich so ziemlich für alles und jedes und hoffte, dass Liv mit mir zufrieden war. Allerdings waren sie und Arne mehr damit beschäftigt, die Rasselbande in Schach zu halten, da gleich die ganze Nachbarsfamilie zum Essen geblieben war. Mir gegenüber verhielt sich Liv zwar nicht gerade überaus herzlich, aber wenigstens höflich. Ich überlegte mir, ob ich sie später mal ansprechen sollte. Ich hatte einfach keine Lust, mich als Eindringling zu fühlen.

Ich teilte schließlich Nicki per SMS mit, dass wir in einer halben Stunde losfahren würden, und hoffte verzweifelt, dass er endlich ein Lebenszeichen von sich geben würde. Dann, nach längerem Zögern, sandte ich eine weitere SMS an Paps mit der Bitte, mich auch für die nächsten Tage in der Schule abzumelden. Schließlich ging ich ins Bad, um mich für den Abend herauszuputzen. Ich war nun echt froh, dass ich das gelbe Top mitgenommen hatte.

Als ich fertig gestylt war, wartete nur Morten bei der Haustür auf mich.

«Wo sind die anderen?», fragte ich.

«Die kommen diesmal nicht mit», erklärte er und sah sich dabei nervös um.

«Oh.» Ich hielt es für unhöflich, weitere Fragen zu stellen.

«Wo ist Domenico?», fragte er.

«Wenn ich das wüsste», seufzte ich. Wir traten vor die Haustür und sahen uns um. Die immer noch hoch stehende Sonne ließ alles ringsherum in prächtigen Farben erscheinen, fast wie eine kleine Märchenwelt. Ich wollte nicht nach Hause …

Und da sahen wir Nicki neben der Pergola am Boden sitzen. Als er uns hörte, schaute er hoch und sprang auf.

«Da bist du ja!» Ich rannte ihm entgegen. Er sagte kein Wort, und nichts in seiner Miene verriet, was er den ganzen Nachmittag gemacht hatte. Doch als ich genauer hinsah, realisierte ich, dass er meine Kette wieder trug, die ich ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Mein Herz machte drei Sätze auf einmal.

«Wir müssen los, Nicki. Du kommst doch mit, oder?»

Er ließ sich widerstandslos von mir zum Auto führen.

«Na, da sieht man sich endlich», sagte Morten erleichtert. «Wir hatten schon Angst, du würdest gar nicht mitkommen.»

Auf der Fahrt klaubte ich schnell die silberne Herzkette wieder aus der Handtasche und legte sie mir um. Nicki schielte zu mir rüber. Seine Hand wanderte langsam auf mein Bein, und ich nahm sie und drückte sie.

Wir holten in Lillestrøm Hendriks Mutter Ann Merete ab und fuhren dann zu viert weiter. Ann Merete erkundigte sich nach Nickis Wohlbefinden und schaute ihn mit ganz veränderten Augen an. Offenbar hatte Hendrik sie mittlerweile eingeweiht. Was mochte wohl in ihr abgehen? Schließlich war Mortens Seitensprung mit Maria schuld daran gewesen, dass sich Ann Merete von ihrem damaligen Freund getrennt hatte. Dennoch glaubte ich, keine Spuren von Groll in ihrer Miene zu erkennen, als sie Domenico betrachtete. Im Gegenteil. Vermutlich war auch das ein Werk Hendriks. Wenn Hendrik hinter Domenico stand, würde auch seine Mutter es tun. Und die Trennung von Morten war vermutlich auch längst Schnee von gestern.

Der Contest fand in einem Kulturzentrum in Oslo statt. Wir bezahlten Eintritt, der in irgendeine Stiftung ging, und bekamen einen Stempel auf die Hand gedrückt, Nicki links und ich rechts, weil wir unsere anderen beiden Hände ineinander verschlungen hatten.

Ich studierte das Programm, das neben dem Eingang zum Saal hing, und las die Bandnamen.

1. Elektrisk Latin
2. Black Vikings
3. Psychedelisk Mareritt
4. Nordic Streetnoiz

Hendrik und seine Band waren also die Letzten, die auftreten würden …

Der Saal war nicht sehr groß, was zur Folge hatte, dass die Leute ziemlich dicht gedrängt stehen mussten. Wir waren ein wenig zu spät, und die erste Band spielte bereits. Weil fast keine Leute am Getränkestand waren, stellten wir uns erst mal dort an. Morten spendierte uns eine Runde. Danach rückten wir systematisch näher an die Bühne ran. Das Publikum bestand vorwiegend aus jüngeren Leuten; wahrscheinlich gehörten Morten und Ann Merete schon zu den älteren Semestern. Ein paar richtige Schwermetaller mit langen Haaren und Totenköpfen waren darunter. Vermutlich Fans von den Black Vikings …

Die Band, die vorne auf der Bühne spielte, legte einen ziemlich rockigen Rhythmus mit Latino-Elementen hin. Die Musiker trugen alle Federschmuck in ihren wilden Haarmähnen. Ich nippte an meinem Getränk, als Domenico auf einmal von hinten die Arme um meine Hüften legte und sich sachte mit mir im Takt zur Musik zu bewegen begann. Prompt ließ ich meine Limo fallen und benetzte sämtliche Füße im Umkreis damit. Ich sah belustigte und empörte Gesichter um mich herum und hörte Nickis Lachen an meinem Ohr. Er hob den leeren Becher auf und drückte ihn mir wieder in die Hand.

Als die erste Band mit ihrer Darbietung fertig war und der Moderator die Black Vikings ansagte, nahmen die Schwermetaller den Platz vor der Bühne in Beschlag, und wir wurden zurückgedrängt. Nicki zog mich sanft am Arm Richtung Garderobe. Morten lungerte irgendwo hinten beim Getränkestand herum. Ann Merete hatte sich auf die Suche nach ihrem Sohn gemacht.

Die Black Vikings machten ihrem Namen alle Ehre und traten mit richtigen gehörnten Wikingerhelmen und schwarz geschminkten Augen auf. Im Gegensatz zu den rockigen Latino-Klängen von vorhin verbreiteten die schwarzen Wikinger düstere und zentnerschwere Beats, begleitet von einem wolfsähnlichen Geheul.

In der Garderobe war es ziemlich eng.

Domenico zog mich an sich und sah mir in die Augen. Ich kuschelte mich dicht an ihn. Er beugte sich vor und liebkoste mit seinen Lippen mein Ohrläppchen.

Von drinnen im Saal schallte uns nebst Wolfsgeheul nun auch noch Bärengebrüll entgegen.

«Wow. Davon kriegt ja sogar ein Elch Dünnpfiff», kommentierte Nicki trocken.

Ich musste lachen. Doch dem tosenden Applaus zu entnehmen, hatten die Black Vikings eine große Fangemeinde. Na ja, Geschmäcker sind nun mal verschieden. Diese Art von Metal war eindeutig nicht mein Ding.

Danach gab es eine Pause. Ich ging mit Domenico raus, damit er rauchen konnte. Ich genoss den frischen Wind, der mit meinen Haaren spielte und meinen Nacken kitzelte. Aber es war nicht nur der Wind, den ich im Nacken fühlte, nein, da war auch etwas Weiches und Warmes. Ein schwerer Seufzer entfuhr meinen Lippen.

Nicki fasste mit seinen Händen um meinen Bauch und drehte mich zu sich um, als er mit der Zigarette fertig war. Mein Gesicht lag auf seiner Schulter, umgeben von seinem Geruch.

«Woran denkst du gerade?», wisperte er in mein Ohr.

«Wie es mit uns weitergeht», murmelte ich.

«Ich weiß es auch nicht», gestand er.

«Ich habe Angst …», flüsterte ich.

«'Unn ti scantari …» Er streichelte meine Wange. «Brauchst keine Angst zu haben. Oder … doch, na ja …»

Ich nahm meinen Kopf wieder von seiner Schulter weg, und wir sahen einander hilflos in die Augen, beide in der vergeblichen Hoffnung, die Antwort beim Gegenüber zu finden.

In der Halle ging die Party weiter, doch die nächste Band schien nicht viel Power zu haben, denn fast die Hälfte des Publikums hielt sich hier draußen auf.

Dann wurde drinnen endlich Nordic Streetnoiz angesagt.

«Also los, lass uns Rick anfeuern.» Domenico packte meine Hand und stürmte mit mir durch die Menge bis vor die Bühne. Ich war richtig froh für diese Ablenkung.

Zuerst war gar nichts auf der Bühne zu sehen, nur eine dichte Rauchwolke, die immer höher stieg. Von irgendwoher waren sanfte Gitarrenklänge zu hören. Doch dann explodierte der Sound förmlich, und mit einem Knall sprangen sie auf die Bühne, Sverre, der zu den Drums eilte, Thore mit der Bassgitarre, und zuletzt Hendrik, der mitsamt seiner E-Gitarre gleich eine Dreihundertsechzig-Grad-Drehung vollführte und genau hinter dem Mikrofon landete. Das Publikum applaudierte begeistert. Nicki hob beide Daumen in die Höhe.

Hendrik strahlte in die Menge. Er und Thore heizten dem Publikum gleich mit einigen zünftigen Gitarrenriffs ein. Die Leute jubelten.

Hendrik trug ein Jeanshemd und hatte ein buntes Tuch um seinen Kopf gewickelt. Ich hatte immer angenommen, dass er eher eine weiche Stimme hatte, aber als er anfing zu singen, zeigte sich, dass er auch anders konnte. Er kam voll aus sich heraus und schrie sich geradezu die Seele aus dem Leib. Streetnoise im wahrsten Sinne des Wortes …

Seine Finger bewegten sich so flink über die Gitarrensaiten, dass ich den Atem anhalten musste, um seinen Bewegungen folgen zu können. Er hatte das Instrument komplett im Griff, so dass er sogar nebenbei ein paar Mal auf die Lautsprecherboxen klettern und wieder runterspringen konnte. Als der erste Song zu Ende war, war er schon ganz außer Atem, was ihn aber überhaupt nicht kümmerte. Er war in seinem Element! Mit glücklichem Gesicht hielt er eine kurze Rede in der Landessprache und gab dann Sverre ein Handzeichen – der Auftakt zum zweiten Song.

Sverre ließ einen donnernden Trommelwirbel los und warf dabei seine Sticks in die Luft, nur um sie gleich darauf wieder aufzufangen. Dann setzte Hendrik mit einem extra-groovigen Gitarrensolo ein. Nicki packte meine Hüfte und wirbelte mich herum. Ich erschrak, weil ich nicht damit gerechnet hatte, und stolperte natürlich über seine Füße. Er lachte und fing mich auf. Auch Morten gesellte sich zu uns und lächelte verhalten. Er wippte allerdings nur schüchtern mit den Füßen herum.

Hendrik wischte sich den Schweiß von der Stirn und trank einen Schluck Wasser, bevor die Band zum nächsten Song überging. Das Publikum kochte und tobte vor Begeisterung.

Ich krallte meine Nägel in meine Handballen.

Sie mussten gewinnen, sie mussten einfach!

Dann, nach dem dritten Song, war Hendrik buchstäblich in Schweiß gebadet. Thore schnappte sich grinsend eine volle Wasserflasche und bespritzte ihn mit dem Inhalt.

«Aaaaah!» Hendrik hielt genüsslich sein Gesicht mitten in den Wasserregen. «Tusen takk!»

Nachdem er seinen Durst mit dem restlichen Wasser gestillt hatte, begann er mit einer sehr langen Ansprache auf Norwegisch.

Domenico hielt mich wieder von hinten umschlungen und legte sein Kinn auf meine Schulter. Ich schweifte mit meinen Gedanken ab, da ich sowieso nichts verstehen konnte, und beobachtete nebenbei Morten und Ann Merete, die andächtig zuhörten. Die Augen von Ann Merete strahlten vor Mutterstolz, während Mortens Miene sehr eigenartig wirkte. Fast als wäre er kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Auf einmal wurde mir bewusst, dass Hendrik etwas über Domenico sagte.

«Du, ich glaube, der sagt was über dich, Nicki», meinte ich und schaute fragend zu Morten rüber.

Morten kam näher an mich ran und beugte sich zu mir, damit ich seine Antwort verstehen konnte.

«Nur Geduld, er wird es nachher noch auf Deutsch übersetzen», sagte er mit belegter Stimme. Er holte ein Taschentuch hervor und vergrub sein Gesicht darin.

Was um alles in der Welt hatte Morten so aufgewühlt? Ich drehte mich nach Nicki um und las eine Menge Fragen in seinen Augen. Seine Hände, die auf meinem Bauch lagen, zuckten so sehr, dass sie mich beinahe kitzelten.

Das Publikum hing wie gefesselt an Hendriks Lippen.

Irgendwas ging hier drin ab, irgendwas Gewaltiges. Wir konnten nur nicht verstehen, was es war.

Es wurde ganz still im Raum.

Hendrik klammerte sich an sein Mikrofon. Irgendwie schien auch er von einem ganz seltsamen Lampenfieber erfasst zu sein.

«Wie ich vorher meinen Landsleuten schon angekündigt habe, muss ich eine kurse Ansprache auf Deutsch halten, weil hier eine Person anwesend ist, die unbedingt verstehen muss, was ich sage.» Er machte eine kurze Pause, um Luft zu holen. Es schien, als würden seine Augen uns suchen. Ich winkte vorsichtig. Hendriks Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ich hielt Domenicos Finger fest, weil sie sich schon fast schmerzhaft in meinen Bauch gruben. Ich merkte, wie seine Körpertemperatur wieder anstieg.

«Den Song, den wir nun spielen werden, habe ich vor einiger Seit mal geschrieben, als ich so über das Leben nachdachte. Es handelt davon, dass wir alle in unserem Leben Schatten aus der Vergangenheit haben, die wir hinter uns lassen müssen. Ich weiß, dass mich einige für creisy halten, aber ich glaube an einen Gott, und ich glaube, dass es für jeden Menschen hier auf dieser Erde eine Absicht gibt – egal, wie finster sein Leben war. Ich habe den Song Fly, brother, fly genannt, weil ich ihn allen Menschen widmen wollte, die in ihrem Leben durch dunkle und schwere Seiten gegangen sind. Er ist für alle von euch, die wieder lernen möchten, su träumen und su fliegen. Ihr alle hier seid irgendwie meine Brüder, aber …», Hendrik trat nun etwas näher an den Bühnenrand, «… als ich dieses Lied schrieb, ahnte ich nicht, dass das Wort Bruder noch eine viel tiefere Bedeutung für mich hatte.»

Eine gespannte Stille lag über der Zuschauermenge. Nickis Körper bebte. Hendrik zupfte ein paar sanfte Akkorde auf der Gitarre und fügte dann hinzu: «Denn was ich damals nicht ahnte, das war, dass ich virkelig einen Bruder habe, von dem ich bis vor wenigen Tagen nichts wusste.» Sein Blick ruhte nun auf Nicki. «Es gibt manchmal so Sachen im Leben, die man nicht erklären kann. Und … ich glaube gans fest, dass ich diesen Song egentlig für ihn geschrieben habe. Ich glaube sogar, es war so etwas wie eine Inspirasjon von oben. Oder wie immer ihr es nennen wollt. Und deswegen möchte ich diesen Song gans besonders dieser Person widmen, die vor kursem in mein Leben getreten ist und mir etwas gegeben hat, was ich mir selbst in meinen kühnsten Träumer nicht hätte wünschen können. Und ich glaube, dass dieser Song gans besonders su seiner Situasjon passt. Er wird verstehen, warum.»

Er gab Sverre und Thore das Zeichen zum Auftakt und setzte dann hinzu: «Dieser Song ist für meinen Halbbruder Domenico!»

Nicki schien noch nicht ganz zu erfassen, was ihm da wirklich geschah. Ich löste mich aus seinen Armen und schob ihn ganz nahe an den Bühnenrand, während mein eigenes Herz fast im gleichen Takt wie Sverres Schlagzeug schlug.

Hendrik winkte uns und schloss die Augen, während er ins Mikro sang:

Lift up your head,
there is a land not far ahead
with treasures pure and true,
prepared for you.
Now rise in faith,
this is the time to run the race.
This might be your day,
get on your feet, get on your way.

Fly, brother, fly,
spread your wings to the sky,
leave the old far behind,
brother, fly.
Oh rise, brother, rise,
to your feet, reaching high,
leave the old far behind,
brother, rise.

Move ahead,
with all your strength, show no regret.
Hold on to faith and hope,
the new will far surpass the old.

Fly, brother, fly,
spread your wings to the sky,
leave the old far behind,
brother, fly.
Oh rise, brother, rise,
to your feet, reaching high,
leave the old far behind,
brother, rise.

Fly, fly, brother, fly, won't you fly, oh fly.

Fly, brother, fly,
spread your wings to the sky,
leave the old far behind,
brother, fly.
Oh rise, brother, rise,
to your feet, reaching high,
leave the old far behind,
brother, rise.

Heb dein Haupt,
da ist ein Land, nicht weit von hier,
ein Schatz so rein und wahr,
nur für dich da.
Sei voller Zuversicht,
dies ist die Zeit, das Rad zu drehn.
Heute ist dein Tag,
steh auf, tritt vor auf deinem Weg.

Flieg, Bruder, flieg,
streck die Flügel empor,
lass das Alte zurück,
Bruder, flieg.
Auf, Bruder, auf,
gradeaus, hoch hinaus,
lass das Alte zurück,
Bruder, auf.

Geh voran, mit voller Kraft,
schau nicht zurück.
Hab Mut und Zuversicht,
das neue Land enttäuscht dich nicht.

Flieg, Bruder, flieg,
streck die Flügel empor,
lass das Alte zurück,
Bruder, flieg.
Auf, Bruder, auf,
gradeaus, hoch hinaus,
lass das Alte zurück,
Bruder, auf.

Flieg, flieg, Bruder, flieg,
Bruder, flieg, oh flieg.

Flieg, Bruder, flieg,
streck die Flügel empor,
lass das Alte zurück,
Bruder, flieg.
Auf, Bruder, auf,
gradeaus, hoch hinaus,
lass das Alte zurück,
Bruder, auf.

Oh, oh Bruder, flieg, yeah,
oh, oh Bruder, flieg, yeah.

Als die letzten Töne verklungen waren, herrschte ein paar Sekunden lang gebannte Stille, ehe ein tosender Applaus losbrach. Nicki wischte sich verstohlen über die Augen. Ich hatte ihn die ganze Zeit festgehalten. Im Scheinwerferlicht sah ich, dass auch Hendriks Augen glänzten.

«Mere! Mere! Mere! Mere!», schrie das Publikum, das ich als Schrei nach Zugabe interpretierte.

Ich suchte vergeblich nach einem Taschentuch, denn auch meine Augen waren nass. Morten reichte mir eins und war ebenfalls dabei, sich über die Augen zu wischen.

Und dann rief Hendrik: «Hej Bruder, kommst du mal kurs auf die Bühne?»

Domenico löste sich aus meinen Armen und starrte Hendrik mit ungläubigen Augen an. Tränen rannen nun links und rechts über seine Wangen.

«Ja, du!», grinste Hendrik, kniete sich am Bühnenrand nieder und streckte die Hand nach Domenico aus.

«Geh schon, Tiger!» Ich schob ihn nach vorne.

Domenico stolperte vorwärts und drehte sich wieder zu mir um. Ich drückte ihm mein gebrauchtes Taschentuch in die Hand, damit er sich die Tränen abwischen konnte.

Die Leute jubelten und klatschten, als Domenico zaghaft auf die Bühne kletterte. Hendrik packte ihn am Arm und richtete ihn auf.

Er sagte erst ein paar kurze Sätze in seiner Muttersprache zu seinen Landsleuten und wandte sich dann an Domenico: «Das hier verstehen nun einige hier drin nicht, aber ich wollte es dir jetst personlig sagen … Ich weiß, dass das mit Mingo sehr hart für dich war, und ich weiß auch, dass ich dir deinen Swillingsbruder nicht ersetsen kann. Das kann niemand und wird niemals jemand können. Aber ich trauere mit dir susammen um ihn, denn er war ja auch mein Bruder. Du hast mir von dem Harfenspiel auf Sisilien ersählt, und du hast mir gesagt, dass dein Bruder immer die sweite Stimme gespielt hat. Er war ein Teil von dir, und ich weiß, dass ich seinen Plats nicht einnehmen kann, aber ich hoffe … ja, ich wünsche mir sehr, dass ich trotsdem ein Bruder für dich sein kann und eine neue sweite Stimme in deinem Leben spielen darf – nicht als Swillingsbruder, aber als großer Bruder … Und ich wünsche dir, dass du wieder fliegen kannst und das neue Land entdeckst, das für dich bereitliegt. Ich wusste nicht, dass es dich gibt – aber Gott wusste es!»

Das übersetzte er nicht für die Menge, denn diese Worte waren nur für Nicki bestimmt. Nickis Augen waren die ganze Zeit auf den Bühnenboden gerichtet. Ich sah, dass er seine ganze Kraft dafür aufbringen musste, nicht erneut in Tränen auszubrechen. Hendrik legte seine Gitarre beiseite und umarmte Domenico so stürmisch, dass sie beide taumelten.

Am liebsten wäre ich zu ihnen auf die Bühne gesprungen, aber ich wusste, dieser Moment gehörte ihnen allein, den zwei Brüdern, die sich endlich nach so langer Zeit gefunden hatten.

Und ich selber konnte nicht anders, als wieder einmal mehr nur zu staunen und Gott aus überwältigtem Herzen zu danken. Er war treu geblieben, auch wenn wir oft nicht das Richtige getan hatten. Er war nicht nur Nicki treu gewesen, sondern auch mir. Er hatte mich nie verlassen, auch wenn ich manchmal im Schatten gelegen hatte …

Hendrik ließ Domenico wieder los und klopfte ihm auf den Rücken, und Nicki sprang schnell wieder von der Bühne, weil er offensichtlich nicht vor der ganzen Menge losflennen wollte. Er fiel mir buchstäblich in die Arme, und ich drückte ihn fest an mich, während er mein Haar mit seinen Tränen benetzte. Ich heulte auch, und wir bebten beide am ganzen Körper. Wir vergaßen die Welt um uns herum. Wir hielten uns einfach fest und wiegten uns in den Armen.

«Der letste Song, den wir nun spielen, ist allen Verliebten unter euch gewidmet», erklang Hendriks glockenklare Stimme wieder. «Und ich hoffe, diejenigen, die gemeint sind, wissen es! Haltet euch fest! Ihr gehört susammen!»

Hendrik, Sverre und Thore coverten eine Version des alten Songs The Power of Love aus den Achtzigern. Domenico sah mich mit tränennassem Gesicht an und presste mich ganz fest an sich, als hätte er Angst, dass ich weglaufen würde. Doch ich wollte nicht weglaufen. Ich wollte mich nur noch unendlich tief fallen lassen und Nicki mit allen Fasern meines Wesens spüren. Ich schmiegte mich fest an seinen Körper und ließ mich von seinen Armen davontragen.

Und für diesen Moment hatten all die Schatten der Vergangenheit keine Bedeutung. Es war die Kraft der Liebe, die die Oberhand gewann, die uns umhüllte wie flüssiges Gold.

Was immer mich auf meinem weiteren Weg erwarten würde, in dem Moment wusste ich wieder, dass Gott uns festhielt. Die Fäden, die er zusammengefügt hatte, brachten mich zum Staunen und meine Augen zum Glänzen. Ja, es gab Wunder, und das hier war eines davon. Ein kleiner Funken von seiner unendlichen Liebe, die mein Herz wieder zum Leben erweckte.

Es gab einen Weg. Es musste einfach einen geben. Die Liebe war stark. Sie konnte einfach nicht vergehen. Und was immer es über sie noch zu entdecken gab, das wollte ich finden. Und ich ließ die Worte aus den Tiefen meines Herzens aufsteigen. Ich konnte sie nicht aussprechen, aber ich hoffte, dass Nicki sie vernehmen würde.

Wann immer du mich brauchst, Nicki … Ich bin hier. Ich bin hier an deiner Seite. Und ich werde nicht weichen. Es ist mir ganz egal, ob es unmöglich ist. Und wenn es mich alles kosten wird. Ich möchte dir geben, was immer mir möglich ist. Ich werde beginnen, an das Unmögliche zu glauben.

Er drückte mich mit zitternden Armen fest an sein Herz.

Spürst du es? Jeder einzelne Schlag ist nur für dich. Principessa, bleib bei mir. Bitte. Ich brauch dich. Ich brauch dich so sehr … Du hast mich an einen Ort gebracht, wo ich noch nie vorher gewesen bin.

Ja, ich hörte sie deutlich, seine Gedanken, die ebenso tief aus seinem Herzen kamen wie die meinen.

All die Stimmen, die mir sagten, dass es nicht möglich und nicht realistisch sein würde, schienen auf einmal wieder Lichtjahre weg zu sein. Wir gehörten zusammen, dagegen konnte sich kein Schatten der Welt stellen. Oder doch? Egal … das Morgen lag noch in weiter Ferne.

Nicki nahm mein Gesicht in seine Hände und streichelte es zärtlich, während er vorsichtig seine Lippen auf meine legte. Es war der erste intensive Kuss seit so langer Zeit, und er schmeckte wieder so süß wie der allererste.

Nein, ganz falsch. Er schmeckte noch besser.

Wir merkten nicht, dass das Lied schon längst verklungen war und die Lichter bereits wieder angegangen waren. Wir bekamen auch nicht recht mit, als der Sprecher wieder zu reden begann. Wir waren so endlos tief in unseren Kuss versunken, dass Ewigkeiten an uns hätten vorbeiziehen können.

Schließlich holte Morten uns wieder in die Wirklichkeit zurück. Er stand auf einmal neben uns und räusperte sich verlegen. «Ähm, ich möchte ja nicht stören, aber nun ist gleich die Siegerverkündigung.»

Wir lösten uns widerwillig voneinander und drehten uns, immer noch im Liebesrausch, nach vorne zur Bühne.

«Zuerst wird die Band mit den wenigsten Punkten aufgerufen», übersetzte Morten für uns.

Zu meiner Überraschung war es die Latino-Rockband. Sie wurden auf die Bühne gebeten und nahmen ihren Trostpreis mit einem tapferen Lächeln in Empfang.

Ein Raunen ging durch die Menge, als die Drittplatzierten verkündet wurden. Es waren die Black Vikings.

Das Publikum nahm diese Wahl mit gemischten Gefühlen auf. Einige pfiffen und schrien, andere applaudierten. Domenico war es völlig egal. Er hielt mich fest und schien sich immer noch irgendwo auf Wolke sieben zu befinden.

Ich allerdings witterte Hendriks Chance, das Ding zu gewinnen. Ich tauschte einen aufgeregten Blick mit Morten.

«Dort hinten sitzen ein paar Leute von den Plattenfirmen», sagte Morten und deutete auf einige Herren mit Kameras, Notizpapier und iPhones.

Der Sprecher machte es sehr spannend und heizte offenbar das Publikum mit einigen Sprüchen auf. Der Name Psychedelisk Mareritt fiel.

«Wie jetzt? Haben diese Schlaftabletten etwa gewonnen?» Domenico war aus seinem Rausch erwacht.

«Nein, die sind Zweite», sagte Morten mit einem vieldeutigen Lächeln. Domenico packte mich am Arm und sah mich mit großen Augen an. «Heißt das, dass Rick gewinnt?»

Ein Schauer der Aufregung durchfuhr meinen ganzen Körper vom Kopf bis zu den Zehenspitzen.

Applaus brandete auf. Der Sprecher trat mit einem Lächeln wieder ans Mikro. Das Publikum begann, einen Sprechchor zu formen.

«Streetnoiz! Streetnoiz! Streetnoiz!»

Und der Sprecher strahlte und sprach es aus.

«Mein Sohn Hendrik, der Rocker», meinte Morten stolz und ziemlich aufgekratzt. «Das hat er sich wirklich verdient. Jetzt weiß ich auch, weshalb ihn seine Freunde manchmal Hendrix nennen! Und dann spielt er noch im Trio mit Bass und Schlagzeug – wie der große Jimi! Überwältigend!»

Wenn die Halle bis jetzt noch nicht explodiert war, war sie spätestens jetzt nahe daran. Alle stampften und tobten. Und da hob Domenico mich einfach auf seine Arme und wirbelte mich im Kreis herum, und mir war, als würde ich nur noch Sterne über mir sehen.

Ich hätte zerspringen können vor Glück.

Es war einer jener Momente, die man für immer festhalten musste.

Für alle Ewigkeit.

Denn es war wahrscheinlich einer von Domenicos bedeutendsten Augenblicken in seinem ganzen Leben.


Hier den Song Fly, brother, fly und Flieg, Bruder, flieg anhören.