Das Alter ist eine unheilbare Krankheit.
(lat. „Senectus enim insanabilis morbus est.“)
Lucius Annaeus Seneca (ca. 4 v. Chr. - 65 n. Chr.) [109]
Das Alter selbst ist eine Krankheit.
(lat. „Senectus ipsa morbus (est).”)
Terenz (195 - 159 v. Chr.) [110],
eigentlich Publius Terentius Afer, römischer Dichter und Lustspielautor
Das Alter ist eigentlich eine Krankheit.
Apollodor (2. Hälfte des 2. Jhs. v. Chr.),
griechischer Gelehrter aus Athen
Die Statistik ist ernüchternd, und man muss sich schon innerlich abhärten, um als Mittfünfziger (wie ich es bin) die Zahlen ohne Schweißausbrüche und Angstgefühle zu verdauen: Bereits die Hälfte aller Mittfünfziger leidet an einer oder mehreren chronischen (!) Krankheiten, und rund die Hälfte der 84-Jährigen leidet sogar an 3 oder mehr chronischen Erkrankungen zugleich (siehe Abbildung 23).
Noch drastischer: Weniger als 10% der über 80-Jährigen sind gesund ohne mindestens eine chronische Erkrankung. Und bereits mit Ende 50 gehöre zur 40%-Minderheit derjenigen, die noch keine chronische Erkrankung haben.
Die Konsequenz ist in aller Regel also: Wir alle sterben entweder früh oder aber wir erkranken chronisch an einer oder meist sogar an mehreren chronischen Erkrankungen zugleich. Das kann niemanden befriedigen, und das kann auch niemand akzeptieren wollen.
Aber warum ist das so? Ist das Zufall?
Natürlich ist das eine rhetorische Frage, denn es gibt eine klar erkennbare und klar benennbare Ursache für diese chronischen Krankheiten: Alter.
Für die Gelehrten in der Antike war der Fall klar: Das Altern selbst ist die Krankheit! Die Eingangszitate belegen es.
Das Altern als „normal“ zu bezeichnen und nicht von einer „Krankheit“ namens „Alter“ zu sprechen, ist daher scheinbar eine neuzeitliche Sichtweise, ein Euphemismus, also eine verhüllende Schönfärberei, die allerdings heute sehr verbreitet und bisher klar in der Mehrheit ist.
Dahinter steht vielleicht eine honorige Absicht, Diffamierung und Abwertung zu vermeiden.
„Ich bin nicht krank, sondern nur alt.“, so könnte man diesen Versuch verbalisieren, die Betroffenen nicht zu stigmatisieren bzw. sie zu beruhigen. Jeder Mensch ist allerdings anders, und nicht alle Menschen lassen sich davon beruhigen, dass ihnen gesagt wird, ihre (Alters-) Leiden wären „normal“.
Auch die WHO (World Health Organization) bemüht sich darum, Stigmatisierungen zu vermeiden. Sie klassifiziert weltweit mit dem „ICD“-System die Krankheiten und Todesursachen (unter anderem für statistische Zwecke). „ICD“ bedeutet „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems”, also zu Deutsch etwa “Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und damit verbundener Gesundheitsprobleme“.
Darin gibt es mehrere Codes, die „hohes Alter“ („old age“) im ICD-Sinne als „Krankheit“ bzw. „Gesundheitsproblem“ auflisten. Besonders erwähnenswert sind hier [113]:
Daraus muss man prinzipiell schließen, dass die WHO „hohes Alter“ als Krankheit definiert. Widersprüchlich dazu relativiert die WHO diese Einordnung, indem sie bei den „FAQ“-Erläuterungen dazu schreibt [114]:
„Der ICD klassifiziert ‚hohes Alter‘ nicht als Leiden/Krankheit ein. Die betreffende Kategorie dient der Qualitätskontrolle und der Möglichkeit, unklaren Feststellungen der Todesursache oder für medizinische Aufzeichnungen durch Ärzte zu begegnen.“
(„ICD is not classifying ‘old age’ as a disease. The relevant category serves quality control, serves to code unclear statements made by physicians on death certificates or medical records.”)
Diese Aussage ist in einem Punkt beschönigend: Die Todesursache bei alten Menschen ist häufig nicht „unklar“ oder „unspezifizierbar“, sondern nach der in der vorstehenden Abbildung gezeigten Statistik einfach multipel: Alte Menschen sterben häufig nicht an einer chronischen oder akuten Krankheit, sondern gleich an mehreren – da ist höchstens „unklar“, welche dieser vielen Krankheiten letztlich zum Tode geführt hat.
Diese semantische Beschönigung oder Um-den-heißen-Brei-Rederei der WHO ist am Ende zynisch. Denn niemand würde doch sagen: Ein leider schwer an Covid-19 erkrankter Mensch wäre an „Lungenversagen“ gestorben, wenn doch das Covid-19-Virus zweifellos die Ursache des Lungenversagens gewesen ist. Dieser fiktive Mensch wäre also an Covid-19 erkrankt und verstorben. Das zieht kein Mediziner ernsthaft in Zweifel, obwohl Covid-19 ja „nur“ die zwingende Ursache für das Lungenversagen gewesen wäre.
Beim Alter wird es anders interpretiert. Hier ist es „normal“, und eine schwere Lungenentzündung durch Pneumokokken wird als Krankheit definiert, das hohe Alter – ursächlich dafür, dass die Immunabwehr des Körpers die Pneumokokken nicht mehr abwehren konnte – dagegen nicht.
Deshalb kann man Alter durchaus als „Krankheit“ verstehen und definieren – ganz wie es schon die antiken Gelehrten taten. Es gibt auch einen klaren Grund, der dafür spricht, dies zu tun:
Wenn man von „Krankheit“ spricht, kann man diese auch therapieren und im Idealfall heilen. Diese Denkweise entfällt, wenn man ja gar nicht krank wäre (sondern nur „alt“).
Und genau darin mag auch einer der Gründe liegen, warum die WHO diese feine Haarspalterei betreibt: Wenn nämlich „Alter“ offiziell als Krankheit anerkannt wäre, müssten ja Therapien gegen Alterserscheinungen bzw. zur Verjüngung von den Krankenkassen bezahlt werden. Und das könnte die Sozialsysteme überfordern, so die Befürchtung oder Konsequenz.
Doch wer so denkt, irrt: Was nämlich ist vermutlich teurer – die jahrelange Behandlung von multiplen Altersfolgeerkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen inklusive der langen und teuren Krankenhausaufenthalte älterer Menschen oder aber die (idealerweise) vorbeugende Anti-Aging-Behandlung, die dazu beitragen könnte, dass die multiplen Alterserkrankungen seltener werden und erst viel später auftreten?
Das ist nicht meine persönliche Meinung, sondern das Ergebnis einer beeindruckenden Studie der London School of Economics aus dem Jahr 2021, die den ökonomischen Effekt berechnet hat, den eine Verlängerung der Lebensspanne um 1 Jahr auf die Weltwirtschaft hätte [115]. Das Ergebnis: Es entstünde ein Mehrwert von 38 Billionen US-$ - pro Jahr! (Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der gesamten Welt für das Jahr 2022 betrug 101 Billionen US-$.)
Hier ist also das letzte Wort sicher noch nicht gesprochen, denn die Medizin macht hier seit einigen Jahren enorme Fortschritte, und neben der ökonomischen Argumentation gibt es auch zunehmend Stimmen aus der Wissenschaft und der Medizin, die Alter als Krankheit einstufen möchten.
Ein weiteres Argument für die Einstufung von „Alter“ als Krankheit ist es dementsprechend nämlich auch, dass Alter seit einiger Zeit (in zunehmendem Maße) therapiert werden kann. Davon konnten die Mediziner früher nur träumen.
Wenn man ein Leiden nicht behandeln kann, ist es zugegeben auch ziemlich egal, ob man es als Krankheit bezeichnet oder nicht. Wenn man es aber behandeln kann, könnte die Benennung eines Leidens als „normal“ dazu führen, dass der leidende Mensch mögliche Therapien außer Acht lässt oder Ärzte solche Therapien nicht initiativ anbieten, sondern nur auf explizite Anfrage des Patienten, der eine Behandlung dann meist auch selbst zahlen muss. Mangelndes Wissen der Patienten kann also in diesem Falle mögliche Behandlungen verhindern, und das könnte dann im Einzelfall sehr tragisch sein, also zum früh- und vorzeitigen Tod führen. Sie als Leser dieses Buches sind vor dieser Gefahr allerdings nun weitgehend gefeit.
Ich möchte hier also feststellen und betonen: Es ist nicht nur logisch begründbar, dass „Alter“ eine Krankheit ist, sondern es ist auch medizinisch sinnvoll, weil es den betroffenen (leidenden) Menschen Therapien eröffnen kann, die heute noch eher als „Luxusbehandlungen für wohlhabende Esoteriker“ verrufen sind. Auch um diesen Horizont zu erweitern, habe ich dieses Buch geschrieben.
Man sagt ja z.B. auch „ich leide an Gastritis“ oder „ich leide an Halsschmerzen“, und niemand würde in Frage stellen, dass das jeweils Krankheiten sind. Wenn aber ein 90-Jähriger sagt „ich leide an meinem Alter“, soll das aber nicht gelten nach dem Motto: „Ach so, der ist 90, da ist das ja normal, dass man da seine Zipperlein (oder mehr) hat.“ Seltsam: Warum ist eine Krankheit „normal“, nur weil man sie nur in bestimmten Lebensphasen bekommt? Wenn ein Kind an einer Kinderkrankheit leidet, ist das doch auch nicht „normal“, nur weil es viele andere Kinder auch haben und das typisch für das Alter ist? Man würde bei Kindern jede Prophylaxe (zurecht!) durchführen, z.B. Impfen oder Nahrungsergänzungsmittel geben – und das wird in der Regel auch von der Krankenkasse bezahlt. Ich finde, wir messen da mit zweierlei Maß und verhalten uns unfair gegenüber den alten Menschen und ihren Leiden, die heutzutage eben teilweise vermeidbar oder zumindest stark verzögerbar sind. Hier wird die Finanzierung von Prophylaxen über die Krankenkassen meist ausgeschlossen.
Für alle diejenigen, die noch im übertragenen Sinne „Bauchschmerzen“ mit der Definition von Alter als Krankheit haben (schließlich kann man das physikalisch gemeinte Alter natürlich nicht zurückdrehen, sondern nur das biologische), habe ich noch einen Kompromissvorschlag: Vielleicht mögen Sie sich eher mit der Formulierung anfreunden, dass die Alterserscheinungen oder Altersfolgen eine Krankheit sind anstatt das Alter selbst. Das läuft zwar in der Wirkung (nämlich den Therapieangeboten) auf dasselbe hinaus, wird aber möglicherweise konstruktiver verstanden. Manchmal kommt es tatsächlich darauf an, wie man etwas sagt, nicht nur was man sagt.
Ob nun Alter, Alterserscheinungen oder Altersfolgen die Krankheit sind: Wir können es medizinisch behandeln und noch besser: dem Alter vorbeugen!