Der russische Präsident Wladimir Putin ist ein James-Bond-Schurke aus dem echten Leben. Auf den inszenierten Fotos, die eigentlich seine Männlichkeit zur Schau stellen sollen, kommt er allerdings ironischerweise extrem affektiert rüber: Barfuß und oben ohne thront da der russische Herr Präsident auf einem Pferd, stemmt im 10 000-Dollar-Outfit Gewichte im Fitnessstudio oder fängt einen »70-Kilo«-Hecht und küsst ihn auf die Schnauze. Genauso gut könnte er auch eine weiße Katze streicheln, während er seinen Weg zur Weltherrschaft plant. Kein Wunder, dass sich Präsident Putin mit seinem Ruf als »knallharter Typ« einen Platz in der Ruhmeshalle der Internet-Memes gesichert hat. Humorvolle Assoziationen wie diese können allerdings dazu verleiten, die ganz reale Bedrohung Russlands in der Infokalypse zu unterschätzen.

Putin gehört zu den gefährlichsten Männern der Welt. In den vergangenen zehn Jahren seiner Amtszeit hat Russland seinen geopolitischen Einfluss enorm ausgeweitet – und zwar auch, indem es sich die fehlende Orientierung in der Infokalypse zunutze macht und immer dreistere Angriffe auf die Vereinigten Staaten und den Rest des Westens startet. Allerdings war Russland auch lange vor der schleichenden Übernahme unseres Informationsökosystems durch die Infokalypse schon ein Meister der Informationskriegsführung. Um wie viel gefährlicher die russischen Angriffe in der Infokalypse geworden sind, möchte ich Ihnen anhand der Entwicklung von drei Desinformationskampagnen Russlands gegen die Vereinigten Staaten zwischen dem Kalten Krieg bis ins Jahr 2020 aufzeigen. Dazu kommt, dass Russland Trittbrettfahrer inspiriert: Andere Schurkenstaaten und autoritäre Nationen nehmen sich Moskau zum Vorbild und profitieren ebenfalls von den infokalyptischen Umständen.

DIE URSPRÜNGE ZU ZEITEN DES KALTEN KRIEGES

1984 beschrieb der hochrangige KGB-Überläufer Yuri Bezmenov in einem Fernsehinterview die sowjetischen Methoden zur Verbreitung von Desinformation. Der KGB, der sowjetische militärische Geheimdienst, betreibe nicht mehr »Spionage« im traditionellen Sinne, sagte er, sondern konzentriere sich inzwischen fast ausschließlich auf die Verbreitung von Desinformation – sozusagen als Waffe der »psychologischen Kriegsführung«, mit der der westliche Feind aus dem Konzept gebracht und polarisiert werden sollte.

[Das Ganze] ist als schleichender Prozess angelegt; wir bezeichnen ihn als ideologische Subversion oder als ›aktive Maßnahme‹. […] Im Grunde geht es darum, die Wahrnehmung der Wirklichkeit eines jeden Amerikaners in einem solchen Ausmaß zu verändern, dass niemand mehr in der Lage ist, trotz der Fülle an Informationen vernünftige Schlüsse zu ziehen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, um sich selbst, seine Familie, seine Community oder sein Land zu verteidigen1.

Wie prophetisch seine damalige Aussage war, hat sich inzwischen gezeigt – heute mehr denn je. Aber bevor wir uns die russischen Desinformationenstrategien in der Infokalypse näher ansehen, möchte ich einen Blick auf eine der älteren sowjetischen Kampagnen werfen: die »Operation Infektion«.

OPERATION INFEKTION

Im Juli 1983 erschien in The Patriot, einer eher zweifelhaften Publikation aus Neu-Delhi, ein Artikel mit dem Titel »Wütet AIDS bald auch in Indien? US-Experimente verursachen mysteriöse Krankheit«. Die Anschuldigung darin barg ordentlich Zündstoff: Das tödliche AIDS-Virus sei vom US-Militär als biologische Waffe entwickelt worden, um Schwarze schwule Männer aus dem Weg zu räumen. Untermauert wurden die Behauptungen durch den zitierten Brief eines anonymen, aber »bekannten amerikanischen Wissenschaftlers und Anthropologen«. Fort Detrick, eine US-Militärbasis in Maryland, stand im Mittelpunkt der Anklage. In den 1940er Jahren war dort das streng geheime Biowaffenprogramm des Pentagons ausgearbeitet worden; unter anderem in Form einer noch während des Zweiten Weltkriegs entwickelten Art Milzbrandbombe. Wäre der Krieg nicht 1945 vorbei gewesen, wären eine Million Stück in Produktion gegangen. Ein weiterer in Fort Detrick ersonnener Geheimplan, der nie zum Tragen kam, beinhaltete die Verbreitung des Gelbfiebervirus durch infizierte Moskitos, die man von Flugzeugen aus über feindlichem Gebiet aussetzen wollte. Die Labore wären in der Lage gewesen, eine halbe Million infizierter Moskitos pro Monat zu produzieren – angepeilt waren bis zu 130 Millionen Moskitos monatlich. Vor diesem Hintergrund erschien die AIDS-Anklage also gar nicht so abwegig.

De facto wurde das US-Programm zur biologischen Kriegsführung in den 1960er Jahren nach und nach zurückgefahren, nachdem Präsident Nixon den Verzicht auf den Einsatz von biologischen Waffen erklärt hatte. In den 1970er Jahren dann wurde Fort Detricks Aufgabenbereich radikal auf die Verteidigung gegen biologische Kampfstoffe reduziert, statt weiterhin auf deren Produktion zu setzen. Der Bericht in The Patriot ging jedoch in eine ganz andere Richtung und behauptete, Wissenschaftler der US-Regierung hätten im Rahmen geheimer Missionen Afrika und Lateinamerika nach hochinfektiösen Erregern durchkämmt, was schließlich zur Entwicklung von AIDS in Fort Detrick geführt habe. Die Trope des Vorwurfs der biologischen Kriegsführung setzten die Sowjets während des Kalten Kriegs übrigens mehrfach gegen die Amerikaner ein. (Auf diesen Punkt werden wir im Rahmen der Untersuchung der Covid-19-Pandemie in Kapitel 6 zurückkommen.)

Aber begeben wir uns zunächst noch einmal zurück ins Jahr 1983, als die Sowjets gezielt die Saat einer geplanten Desinformationskampagne in einer von der Sowjetunion gesponserten indischen Zeitung legten. Da wir damals noch weit entfernt von unserem heutigen modernen Informationsökosystem waren, musste diese ungeheuerliche Lüge sorgfältig kultiviert werden, um wie gewünscht viral zu gehen. Sechs Jahre dauert dieser Prozess an, aber dann hatten die Sowjets es geschafft: Die Nachricht war um die ganze Welt gegangen.

Und das lief so: 1983 wurde der Patriot-Artikel mit der Behauptung veröffentlicht, das Pentagon habe AIDS als biologische Waffe erschaffen. In den folgenden Jahren wurde es ruhig um den Mythos, gleichzeitig beschuldigten die Sowjets die USA aber weiterhin, ein offensives Programm zur biologischen Kriegsführung unter Verletzung internationaler Gesetze zu verfolgen. In einer Sendung von Radio Moskau wurde 1985 beispielsweise behauptet, die CIA verbreite gezielt den Dengue-Fieber-Erreger in Kuba und unterstütze Südafrika bei der Entwicklung einer biologischen Waffe, die gegen die Schwarze Bevölkerung eingesetzt werden sollte. 1985 tauchte dann auch mit einem Mal die AIDS-Behauptung wieder auf, und zwar in der einflussreichen sowjetischen Wochenzeitung Literaturnaja Gaseta. Unter dem Titel »Panik im Westen oder Was steckt tatsächlich hinter der Aufregung um AIDS?« zitierte der Journalist Valentin Zapevalov die »angesehene« indische Zeitung The Patriot und wiederholte die Verschwörungsbehauptung um die Krankheit. Dass die Geschichte dort einst gezielt von den Sowjets platziert worden war, versäumte er zu enthüllen.

In seinem »wissenschaftlichen« Bericht mit dem Titel »AIDS – Ursprung und Charakteristik« stützte Professor Jacob Segal im darauffolgenden Jahr die These, dass AIDS eine menschengemachte Erkrankung sei. Dr. Segal war ein 76-jähriger ostdeutscher Biophysiker im Ruhestand, wie sich bei näherem Hinsehen herausstellte; Co-Autorin war seine Frau, Dr. Lilli Segal, eine sich ebenfalls im Ruhestand befindende, ebenfalls aus der DDR stammende Epidemiologin.

Als die AIDS-Epidemie immer weiter um sich griff, bauten auch die Sowjets ihre Kampagne weiter aus. 1986 tauchte eine ganze Flut von Artikeln in der sowjetischen Presse auf, die allesamt erneut bekräftigten, das AIDS-Virus sei in einem Pentagon-Labor geschaffen worden. Durch die Bank wurde der Segal-Bericht als wissenschaftlicher Beweis herangezogen; außerdem hieß es nun fälschlicherweise, Jacob Segal sei ein französischer (nicht ostdeutscher) Forscher. Die Berichte wurden über die insgesamt mehr als hundert Büros der sowjetischen Nachrichtenagenturen TASS und RIA Novosti in der ganzen Welt verbreitet. Lokale Zeitungen in den Entwicklungsländern wurden von den Sowjets bezahlt, getäuscht oder anderweitig motiviert, damit sie die Story abdruckten.

1986 dann verbreitete sich die Geschichte wie ein Lauffeuer. Sie erschien in Dutzenden sowjetfreundlichen wie auch ahnungslosen Zeitungen rund um den Globus – auch im Westen, wie beispielsweise auf der Titelseite der britischen Boulevardzeitung Sunday Express, wo die Story zusammen mit einem Interview mit Jacob Segal abgedruckt wurde. Zwar wurden Segals Behauptungen in Großbritannien bald schon durch entgegengesetzte Berichte in The Times und The Sunday Telegraph entlarvt, alles in allem aber war die Aktion ein Riesenerfolg: Am Ende des Jahrzehnts war die Geschichte in den großen Zeitungen von mehr als 80 Ländern erschienen. Insbesondere in Asien und Afrika hatte sich die Fehlinformation rasant verbreitet und einen prominenten Platz eingenommen. Das Image der USA war weltweit schwer angeschlagen.

Die Operation Infektion war deswegen so besonders heimtückisch, weil sie darauf abzielte, die Vereinigten Staaten auch von innen heraus zu spalten. Indem sie gezielt die afroamerikanische Community ins Visier nahmen, machten sich die Sowjets die ethnischen Konflikte und die Schwarze Bevölkerung an sich auf grausamste Weise zunutze. Nach der berüchtigten Tuskegee-Syphilis-Studie waren die Afroamerikaner zudem auch relativ leicht davon zu überzeugen, dass ihnen die eigene Regierung nach dem Leben trachtete. Diese Studie war 1932 ins Leben gerufen worden, als es noch keine wirksame Behandlung von Syphilis gab. 600 afroamerikanische Männer wurden mit dem Versprechen einer kostenlosen Behandlung geködert. Sie würden auf »schlechtes Blut« untersucht, hieß es, was alle möglichen gesundheitlichen Probleme bezeichnen konnte. Tatsächlich wollte man einfach nur den natürlichen Verlauf der Syphilis-Erkrankung beobachten. Darüber wurde jedoch kein einziger der 400 bereits erkrankten Studienteilnehmer informiert. Auch als man im Jahr 1947 entdeckte, dass sich Syphilis gut mit Penicillin behandeln ließ, wurden sie nicht informiert. Und auch später nicht, als manche von ihnen die Krankheit an ihre Partnerinnen weitergaben, die daraufhin Kinder mit Geburtsfehlern zur Welt brachten. Und selbst als manche Studienteilnehmer erblindeten, wahnsinnig wurden oder starben, bewahrte man immer noch Stillschweigen.

Fast ein Jahrzehnt dauerte es, bis sich die Operation Infektion auf der Welt verbreitet hatte – aber der Schaden, den sie angerichtet hat, wirkt sich bis heute aus. Bis heute gibt es in der afroamerikanischen Community unverhältnismäßig viele Anhänger der sowjetischen Lügengeschichte, was der HIV-Prävention deutlich entgegenwirkt. Laut einer Umfrage unter Afroamerikanern glauben 48 Prozent von ihnen, das AIDS-Virus sei künstlich erzeugt worden; 27 Prozent sind der Meinung, dies sei in einem Regierungslabor geschehen2. Wie Yuri Bezmenov 1984 beschrieben hatte, veränderte diese Geschichte die »Wahrnehmung der Wirklichkeit« in einem solchen Ausmaß, dass die Amerikaner »trotz der Fülle an Informationen« nicht mehr in der Lage waren, »vernünftige Schlüsse zu ziehen, um sich selbst zu verteidigen«.

Selbst Barack Obama war direkt von den Nachwirkungen der Operation Infektion betroffen. Als sich herausstellte, dass auch Reverend Jeremiah Wright, Obamas ehemaliger Pastor, behauptet hatte, das HIV-Virus sei von der US-Regierung als Mittel zum Völkermord an Schwarzen Amerikanern geschaffen worden, musste sich Obama notgedrungen öffentlich von ihm distanzieren. So war also eine von den Sowjets im Jahre 1983 in Indien gepflanzte Saat nach 25 Jahren erneut aufgegangen, um den Mann heimzusuchen, der gerade zum ersten afroamerikanischen Präsidenten ernannt werden sollte. Wenn aber schon eine einzige Lüge – der Kern der Operation Infektion – selbst nach 40 Jahren noch ihr Unwesen treibt: Welche Verwüstung kann dann erst eine gezielte Desinformation in der Infokalypse anrichten? Und was, wenn sie zusätzlich von Deepfakes untermauert wird?

DAS PROJEKT LAKHTA

Die Infokalypse bietet den perfekten Nährboden für die Methoden Russlands aus dem Kalten Krieg. Im vergangenen Jahrzehnt konnte ich beobachten, wie sich Russlands Machenschaften immer weiter entfaltet haben: erst durch die Invasion in der Ukraine, dann durch den Abschuss von Flug MH17, schließlich durch die EU-weite Migrationskrise. Das Ausmaß der russischen Aggression im Jahr 2016, einer der bisher dreistesten Vorstöße mit gewaltigen Auswirkungen, hat allerdings selbst mich völlig unvorbereitet getroffen: die Rede ist von Russlands koordiniertem, direktem Angriff auf die US-Demokratie im Rahmen der zutiefst umstrittenen Präsidentschaftswahl von 2016. Diese Aktion ging weit über die Verbreitung einer einzelnen Lüge hinaus; und genau, wie ich es schon in Europa beobachtet hatte, stritt Russland auch hier jede Beteiligung an der Sache ab. Dass die Angelegenheit zu einem parteipolitischen Thema in den Vereinigten Staaten wurde und die politische Landschaft in ein Russland-paranoides und ein Russland komplett verharmlosendes Lager spaltete, zeigt nur, wie perfekt die Strategie des Kremls aufging. Dass ihr Plan derart »erfolgreich« sein würde, hätte Moskau wohl selbst in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet. Und die Infokalypse machte die Sache so viel einfacher!

Dass es diesen Angriff unter Federführung des Kremls gab ist keine Glaubensfrage je nach Parteizugehörigkeit, sondern eine unumstößliche Tatsache, zu diesem Schluss sind ausnahmslos alle US-Geheimdienste gekommen. 2017 brachten die CIA, das FBI, die Nationale Sicherheitsbehörde NSA und das Büro des Direktors des Nachrichtendienstes National Intelligence eine gemeinsame Erklärung heraus, in der es heißt:

Die russischen Bemühungen zur Beeinflussung der Präsidentschaftswahlen 2016 sind der jüngste Ausdruck von Moskaus langjährigem Bestreben, die freiheitlich-demokratische Grundordnung der USA zu untergraben. Im Vergleich zu früheren Operationen sind diese jüngsten Aktivitäten jedoch deutlich direkter, umfangreicher und aufwendiger3.

Weiter heißt es, Wladimir Putin habe dem Angriff persönlich zugestimmt, und dass er Donald Trump lieber an der Spitze der USA gesehen habe als Hillary Clinton. »Wir haben großes Vertrauen in diese Einschätzungen.«4

Ohne die Technologie unseres modernen Informationsökosystems wäre ein solcher Angriff nicht möglich gewesen. Heute wissen wir, dass er aus drei Strängen bestand:

  1. Hacken der Wahlsysteme;
  2. Hacken des Parteitags der Demokraten und des Wahlkampfs von Hillary Clinton;
  3. Einsatz der Internet Research Agency (IRA), einer Abteilung des russischen Geheimdienstes, um das amerikanische Volk durch gezielte Desinformationskampagnen in den sozialen Medien zu verwirren und zu spalten.

Um wie viel mächtiger Russlands Desinformationsstrategien in der Infokalypse geworden sind, lässt sich am besten anhand des dritten Strangs aufzeigen: den Machenschaften der IRA. Wie in der Einleitung erwähnt wurde die IRA im Jahr 2013 als eigene Abteilung des russischen Geheimdienstes gegründet und kam erstmals während der Invasion Russlands in der Ukraine im Jahr 2014 zum Einsatz. Ihre Operationen in den Vereinigten Staaten wurden später als »Projekt Lakhta« bekannt.

Genau wie die Operation Infektion sollte auch das Projekt Lakhta die Vereinigten Staaten durch gezielte Einflusskampagnen schwächen. Während sich die Operation Infektion im Jahre 1983 jedoch um eine einzige, singuläre Lüge gedreht hatte, war das Projekt Lakhta schon deutlich ehrgeiziger angelegt. Der Auftrag der IRA bestand darin, mittels gefakter, dem Anschein nach US-amerikanischer Social-Media-Accounts den öffentlichen Diskurs in den USA zu unterwandern und durch polarisierende Posts so viel Zwietracht und Desinformation wie möglich zu säen. Die Operation war längerfristig angelegt, Schauplatz des Geschehens sollten die Social-Media-Plattformen Facebook, Twitter und Instagram sein. Wie der US-Sonderermittler Robert Mueller in seiner späteren Untersuchung herausfand, hatte die IRA ihre Aktivitäten in den USA bereits im Jahr 2013 gestartet – drei Jahre vor der Wahl5. Mitte 2014 reisten sogar mehrere IRA-Agenten im Rahmen einer »geheimdienstlichen Mission« eigens in die USA, »um sich Informationen und Fotos für ihre Social-Media-Posts zu beschaffen«6.

Von der Basis in St. Petersburg aus baute ein kleines Team von IRA-Agenten dann »authentisch US-amerikanische« Websites, Communitys und individuelle Profile auf. Auf dieser Grundlage entwickelten sie einen Plan, wie sie den öffentlichen Diskurs in den USA über mehrere Jahre hinweg systematisch unterwandern würden. Dabei sollten nicht nur bereits bestehende Spaltungen ausgenutzt werden wie einst bei der Operation Infektion, vielmehr wollte man zusätzlich aktiv neue Risse in die Gesellschaft schlagen. Dazu verfolgte die IRA eine zweigleisige Strategie und spielte insbesondere mit identitätspolitischen Themen. In einem ersten Schritt bauten die Agenten mehrere Fake-Communitys anhand von gefälschten Accounts auf. Diese Communitys fütterte sie mit positiven Botschaften – so wollten sie den Stolz der Mitglieder auf ihre jeweilige Identität befeuern und das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Gruppenidentität stärken. Waren diese Communitys erst zu sogenannten »Stämmen« herangewachsen, also zu Lagern, die sich bewusst von anderen abgrenzten und an keinem nationalen Kompromiss mehr interessiert waren, fluteten sie dieselben Communitys mit negativen Botschaften über andere »Stämme«, um die Gefühle der Entfremdung und Abgrenzung weiter anzuheizen.

Dabei intervenierte die IRA auf beiden Seiten der politischen Landschaft gleichermaßen. Im linken Lager blendete sie die LGBTQ-Community und (wie auch schon bei der Operation Infektion) die afroamerikanische Community. Auf der rechten Seite experimentierte sie mit texanischen Sezessionisten und Waffenbesitzern herum. Im konventionellen Narrativ heißt es zwar, dass sich nur »dumpfe Trump-Wähler« haben täuschen lassen, aber das stimmt nicht – es hat ausnahmslos alle getroffen. Der Mueller-Bericht beschrieb die Strategie später in allen Einzelheiten:

Die während des Wahlkampfs 2016 aktiven Facebook-Gruppen der IRA deckten eine ganze Reihe politischer Themen ab: von vermeintlich konservativen Gruppen (mit Bezeichnungen wie »Being Patriotic«, »Stop All Immigrants«, »Secured Borders« und »Tea Party News«) über vorgeblich Schwarze Gruppierungen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzten (»Black Matters«, »Blacktivist«, »Don’t Shoot Us«), und LGBTQ-Communitys (»LGBT United«) bis hin zu religiösen Gruppierungen (»United Muslims of America«)7.

Indem sie die Bildung besagter »Stämme« vorantrieb, traf die IRA die USA an einem Schwachpunkt: Sie machte sich die Spaltung der Gesellschaft zunutze und profitierte dabei ganz bewusst von ihrem freien und offenen demokratischen System. Oder, wie das Pentagon später feststellte: Russlands Strategien sind dann »am effizientesten, wenn das Zielobjekt tief gespalten oder aus sonst einem Grund außerstande ist, sich zu wehren und der russischen Aggression effektiv etwas entgegenzusetzen«8. Plan der Russen war es, die USA von innen heraus durch eine zerstörerische Polarisierung lahmzulegen und so mit ihrem unverfrorenen Angriff davonzukommen.

Es wurde der IRA nicht besonders schwer gemacht, massenweise Amerikanerinnen und Amerikaner zu ködern und dazu zu bringen, sich ihren Social-Media-Netzwerken anzuschließen. Mit bezahlten Werbekampagnen, die anhand der von den Social-Media-Plattformen gesammelten persönlichen Nutzerdaten (von demografischen Daten bis hin zur politischen Orientierung) genau auf die Zielgruppe abgestimmt waren, schlugen ihre Inhalte mit fast punktgenauer Präzision bei exakt den Leuten ein, die sie für sich gewinnen wollten. Darüber hinaus experimentierten sie mit extrem populären Inhalten und erzielten dadurch zusätzlich eine beträchtliche organische Reichweite.

Der ständige Geheimdienstausschuss des US-Repräsentantenhauses veröffentlichte unter demokratischem Vorsitz später eine geheime Zusammenstellung von Social-Media-Anzeigen, die die IRA zwischen 2015 und 2017 auf Facebook geschaltet hatte. Sie hatte wahrhaft aus dem Vollen geschöpft: Allein auf Facebook hatte die IRA 3393 zahlungspflichtige Anzeigen platziert und damit über 11,4 Millionen US-Amerikanerinnen und Amerikaner erreicht. Sie hatte ganze 470 Facebook-Seiten aufgebaut und 80 000 organische Inhalte erstellt, die sich mehr als 126 Millionen Menschen ansahen9.

Lassen Sie uns eine Facebook-Gruppe der IRA genauer unter die Lupe nehmen: die Gruppe »Black Matters«, die sich, wie der Name klar suggeriert, an die afroamerikanische Bevölkerung richtet. Der Name soll einen Bezug zu Black Lives Matter (BLM) vortäuschen, einer 2013 gegründeten Bewegung, die sich gegen Gewalt und Rassismus gegen Schwarze Amerikanerinnen und Amerikaner einsetzt, insbesondere gegen ihre Ermordung durch die Polizei. Mit einer Bezahlanzeige, die für ihre »Black Matters«-Facebook-Gruppe warb, traf sie die Community an ihrer empfindlichsten Stelle (Abbildung 2.1). Mit den Worten »Join us because we care. Black Matters!« (»Schließt euch uns an, denn ihr liegt uns am Herzen. Schwarz zählt!«) forderte sie die Leute auf, die Seite zu liken. Auf der Anzeige sieht man die Gesichter dreier junger Afroamerikaner – Michael Brown, Tamir Rice und Freddie Gray –, daneben ist ein Banner mit der versalen Aufschrift »NEVER FORGET« zu sehen. Alle drei, Brown, Rice und Gray, wurden von der Polizei erschossen oder kamen in Polizeigewahrsam ums Leben. Rice war gerade einmal zwölf Jahre alt gewesen. Sein Verbrechen: Er hatte mit einer Spielzeugpistole gespielt. Und wurde ohne Vorwarnung erschossen. Durch das Spiel mit so kraftvollen Gefühlen innerhalb der »Stämme« wurde der Einfluss der IRA immer stärker. Wie schon bei der Operation Infektion konzentrierte sich die IRA auch in diesem Fall ganz besonders auf die Black Community und machte sich damit das politisch und sozial so heikle Thema der ethnischen Zugehörigkeit zunutze – auch in der Hoffnung, damit die Wahlbeteiligung der Schwarzen Demokraten, die für Hillary Clinton stimmen würden, nach unten zu drücken. Als die Wahl näher rückte, bombardierte die IRA die Community gezielt mit sehr bewusst gewählten Narrativen. So verbreitete sie beispielsweise, dass Hillary Clinton sich sowieso nicht um die Belange von Schwarzen scheren würde, und die Schwarzen daher das Rennen zwischen Trump und Clinton am besten ohne Stimmabgabe hinter sich bringen sollten. Aber nicht alle Inhalte des Projekts Lakhta waren pro Donald Trump; im linken Spektrum gab es durchaus auch Inhalte pro Bernie Sanders. Eines aber hatten sämtliche Posts gemeinsam: Sie alle waren gegen Hillary Clinton.

Abbildung 2.1 »Never forget« – von der IRA-Facebook-Gruppe »Black Matters« finanziert

Die IRA hatte auch konservative Wähler im Visier. Die sehr präsente Black Lives Matter-Gruppierung war nicht unumstritten geblieben und hatte auch Gegenbewegungen hervorgebracht – etwa Blue Lives Matter, eine Gruppierung, die für den Schutz von Polizisten eintrat. In einer Bezahlanzeige für eine ihrer anderen Seiten, »Being Patriot«, die auf weiße, konservative Wähler abzielte, ist das Begräbnis eines Polizisten zu sehen; in dem darüber liegenden Text wird ein Black-Lives-Matter-Aktivist für »einen weiteren grausamen Angriff auf die Polizei« verantwortlich gemacht. Auch Hillary Clinton kommt darin nicht ungeschoren weg: Während sie als »extreme Hardlinerin gegen Polizisten« bezeichnet wird, gilt Donald Trump als »der Einzige, der unsere Polizei vor Terroristen schützen« kann10.

Dann fand die IRA heraus, dass sie die Amerikaner sogar dazu bringen konnte, an real stattfindenden politischen Kundgebungen teilzunehmen, die sie von St. Petersburg aus über die sozialen Medien organisierte und bewarb. Wie das vor sich ging, ist ebenfalls im Mueller-Bericht zu lesen:

Dazu schickten [die IRA-Agenten] zunächst eine große Anzahl an Direktnachrichten an die Follower ihrer Social-Media-Accounts und riefen sie dazu auf, an besagter Veranstaltung teilzunehmen. Aus den Reihen der Interessierten wählte die IRA sodann einen US-Bürger aus und machte ihn zum Koordinator der Veranstaltung. In den meisten Fällen teilte der Betreiber des IRA-Accounts dem künftigen Koordinator mit, dass er selbst aufgrund einer anderen Verpflichtung oder weil er sich irgendwo anders in den Vereinigten Staaten aufhielt, nicht persönlich an der Veranstaltung teilnehmen konnte. Anschließend wurden die US-Medien über die Veranstaltung informiert und gebeten, sich für nähere Informationen direkt an den Koordinator zu wenden. Im Nachgang postete die IRA dann Videos und Fotos der Veranstaltung auf ihren Social-Media-Accounts11.

Je näher die Wahl rückte, desto tatkräftiger bemühte man sich, »echte« Amerikaner für derartige politische Veranstaltungen zu gewinnen. Einmal warb sogar das Trump-Wahlkampfteam auf Trumps eigener Facebook-Seite für ein solches Fake-Event – wenn auch unwissentlich12. Andererseits hatte die IRA nach Trumps Wahl zum Präsidenten aber auch keine Hemmungen, Anti-Trump-Kundgebungen auf den Plan zu rufen. Bei einer über die »amerikanische« »Black Matters«-Seite der IRA organisierten Veranstaltung kamen ganze fünf bis zehntausend Demonstrierende auf dem Union Square in Manhattan zusammen. Vier Tage nach Trumps Wahlsieg marschierte die aufgebrachte Menge zum Trump Tower, um gegen seinen Sieg zu protestieren.13 »Geht auf die Straße und schließt euch uns an! Stoppt Trump und sein fanatisches Programm!«, hieß es auf der einschlägigen Facebook-Veranstaltungsseite. »Nur durch die Spaltung unserer Gesellschaft konnten wir so tief fallen. Wir müssen uns wieder zusammenschließen, allen Unterschieden zum Trotz – nur so können wir verhindern, dass der HASS unser Land regiert.«14 Die tragische Ironie an der Sache ist natürlich, dass die Russen ja genau diese Spaltung hatten bewirken wollen.

Über die Jahre testeten die IRA-Agenten kontinuierlich aus, welche Themen im Netz gerade durchstarteten, und so entwickelte sich auch das Projekt Lakhta kontinuierlich weiter. Renée DiResta, eine für das Internet Observatory-Programm der Stanford University tätige führende Expertin auf dem Gebiet gezielter Desinformation, beschreibt diese Vorgehensweise am Beispiel der »Army of Jesus«-Seite der IRA. Die Seite war ihr zufolge ursprünglich Kermit dem Frosch gewidmet – einer Figur aus der Kindersendung Sesamstraße –, bis sie irgendwann zur Meme-Seite für die Zeichentrickserie The Simpsons wurde. Für Jesus entschied sich die IRA erst, als sie wahllos ein paar Begriffe ausgetestet hatte, um zu sehen, was bei den Leuten ankam. Dabei hatte sie festgestellt, dass sich die Inhalte ihrer Seiten dann explizit stark organisch verbreiteten, wenn sie sie mit Anzeigen wie »Like for Jesus« oder »Share for Jesus« bewarben. Renée DiResta zufolge wurde die »Army for Jesus«-Seite nach dieser Erkenntnis »zu einer machtvollen Anti-Hillary-Meme-Fabrik in der heißen Phase vor der Wahl15«. Auf einer Anzeige, die noch am Wahltag selbst geschaltet wurde, ist Jesus beim Armdrücken mit Satan abgebildet. Eingerahmt ist das Bild mit folgendem Text in Großbuchstaben: »SATAN: WENN ICH GEWINNE, GEWINNT AUCH CLINTON! / JESUS: NUR ÜBER MEINE LEICHE! / KLICKE AUF ›LIKE‹, UM JESUS ZU UNTERSTÜTZEN!« (Abbildung 2.2)16. Der Begleittext des Memes lautete wie folgt:

Die Amerikaner haben heute die Chance, einen Präsidenten mit göttlichen moralischen Prinzipien zu wählen. Hillary ist ein Satan. Wie böse sie ist, hat [sic] ihre Verbrechen und Lügen gezeigt. Donald Trump ist zwar bei Weitem kein Heiliger, aber er ist ein ehrlicher Mann, und er kümmert sich um dieses Land. Meine Stimme ist ihm sicher!17

Abbildung 2.2 Anzeige der »Army of Jesus«-Facebookseite der IRA

So entdeckte die IRA Memes als nützliches Hilfsmittel, das ohne großen Aufwand rasch viral gehen konnte. Für uns sind Memes heute irgendwelche witzigen Bilder im Netz, dabei prägte Richard Dawkins den Begriff bereits 1976 in seinem Buch Das egoistische Gen, in dem er beschreibt, wie Kultur von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Nach seiner Definition sind Memes »Kulturelle Einheiten«, die durch die Verbreitung von Ideen weitergegeben werden. Wie auch immer: Im Netz sind Memes jedenfalls eine ausgesprochen effiziente Kommunikationsform. Da sie als harmlos gelten, werden sie gerne aus dem Kontext ihrer Entstehung herausgelöst und führen von da an ein Eigenleben. Dadurch kann auch niemand mehr für hasserfüllte oder gegen moralische oder gesellschaftliche Regeln verstoßende Inhalte verantwortlich gemacht werden. Dass sich Memes auch als Waffen der Informationskriegsführung einsetzen lassen, haben die manipulativen Machenschaften der IRA hinreichend bewiesen. Auch Joan Donovan, eine Harvard-Professorin, die sich mit Medienmanipulation und Desinformation beschäftigt, schrieb 2019 in der MIT Technology Review, dass sich »falsche Gerüchte und psychologische Manipulation auf internationaler Ebene anhand von Memes besonders einfach verbreiten« ließen. Meme-Kriege würden längst »von Regierungen, politischen Kandidaten und Aktivisten auf der ganzen Welt genutzt« und seien damit zu einem »festen Bestandteil unserer Politik« geworden.18

Die IRA nutzte ihre Social-Media-Netzwerke aber auch als Nährboden, auf dem sie weitere Teile ihrer Angriffsstrategie auf die Vereinigten Staaten vorbereiteten. Nachdem Russland die landesweite Organisation der US-Demokraten, das Democratic National Committee, und die Clinton-Kampagne gehackt hatte und in einem nächsten Schritt prekäre E-Mails auf der Enthüllungsplattform WikiLeaks zu veröffentlichen plante, flutete die IRA ihre Social-Media-Kanäle in Vorbereitung dessen mit positiven Botschaften über WikiLeaks und seinen Gründer Julian Assange, den sie als Held und Wahrheitsverkünder darstellte. Durch diese Botschaften waren die Amerikaner viel empfänglicher für den Inhalt der kurz darauf veröffentlichten E-Mails.

Als die Wahrheit über die Einmischung Russlands in die US-Wahlen noch im Jahr 2016 allmählich ins Licht der Öffentlichkeit rückte, stritt der Kreml einfach alles ab. Währenddessen machte die IRA munter weiter mit ihrer Social-Media-Strategie. Sie machte sich sogar lustig über die Behauptung, Russland hätte seine Finger im Spiel, oder tat sie als lächerlich ab, wie etwa in einem Meme mit Präsident Barack Obama, das quer durch die Kanäle gejagt wurde (Abbildung 2.3). Obama wird darin von bärtigen, arabisch aussehenden Männern flankiert. In Anspielung auf den Verschwörungsmythos, demzufolge Obama mit der Muslimbruderschaft – der ursprünglich in Ägypten gegründeten transnationalen sunnitischen islamistischen Organisation – unter einer Decke stecke, heißt es (natürlich wieder in Großbuchstaben): »HÄTTEN SICH DIE MEDIEN DOCH NUR GENAUSO AUF OBAMAS VERBINDUNGEN ZUR MUSLIMBRUDERSCHAFT GESTÜRZT, WIE SIE ES NUN MIT TRUMPS GEFAKTEN VERBINDUNGEN ZU RUSSLAND TUN.« Direkt im Anschluss wird der Betrachter aufgefordert, die Botschaft zu teilen. Das Meme ist ziemlich clever gemacht, denn es spielt mit dem weitverbreiteten Misstrauen gegenüber den Medien, das die politische Arena der USA mittlerweile beherrscht. Es impliziert, dass die Mainstream-Medien in einem Maße naiv und voreingenommen sind, dass sie zwar den »gefakten Verbindungen« zwischen Trump und Russland Glauben schenken, gleichzeitig aber die angeblichen Verbindungen zwischen Obama und der Bruderschaft abtun.

Abbildung 2.3: Im Netz verbreitetes Meme der IRA mit Barack Obama im Vordergrund

Die IRA setzte ihre Operation bis weit in das Jahr 2017 hinein fort. Erst Monate nach der Wahl, als die russische Einflussnahme längst zu einem der wichtigsten Themen in der US-amerikanischen Politik geworden war, wurden die Netzwerke der IRA stillgelegt. Forscher der Universität Oxford, die sich mit gezielter Desinformation beschäftigten und einen der ersten Berichte über die Aktivitäten der IRA erstellten, fanden heraus, dass

die Aktionen der russischen IRA überraschenderweise auch dann nicht gestoppt wurden, als ihre Einflussnahme auf die Wahl 2016 bereits aufgedeckt worden war. Im Gegenteil: Sie weitete ihre Aktionen sogar noch aus und deckte ein immer breiteres Spektrum an politischen Themen, Fragen zur nationalen Sicherheit und für jüngere Wähler relevante Themen ab […]. Insbesondere auf Instagram und Facebook wurden nach der Wahl sogar deutlich mehr Posts veröffentlicht als zuvor; auf Instagram war die IRA zu dieser Zeit sogar insgesamt aktiver als je zuvor19.

Welchen Einfluss die IRA-Aktionen tatsächlich auf die Wahl hatten, ist schwer zu sagen. Zu behaupten, Trump hätte die Wahl ausschließlich aufgrund der »Einmischung Russlands« gewonnen, wäre wissenschaftlich unseriös und zudem ein bequemer Vorwand, um von den vielen anderen Gründen abzulenken, aus denen die Amerikaner einen Populisten wie Trump ins Weiße Haus gewählt haben. Es ist aber ebenso falsch, die Angriffe als haltloses Gerücht oder als harmlos abzutun: Sie zeigen deutlich, wie sich übel gesinnte Akteure die Umstände der Infokalypse zunutze machen – und dieser Trend wird mit der zunehmenden Verbreitung neuer Entwicklungen wie Deepfakes nur noch weiter zunehmen. Wie nicht anders zu erwarten setzte auch Russland weiterhin auf die wenig vertrauenswürdigen und gefährlichen Aspekte des Informationsökosystems, um die Vereinigten Staaten im Jahr 2020 erneut anzugreifen, diesmal über andere Wege. Und so, wie das Projekt Lakhta um ein Vielfaches stärker einschlug als die Operation Infektion, so erreichten die Machenschaften des Kremls im Jahr 2020 einen erneuten Höhepunkt.

OPERATION DOPPELTÄUSCHUNG

Bereits im Vorfeld des Präsidentschaftswahlkampfs 2020 bereitete sich Russland auf eine neuartige Angriffsstrategie gegen die Vereinigten Staaten vor, die es noch schwieriger machte, die Operationen zurückzuverfolgen. Ein paar Hinweise gab es jedoch, die Rückschlüsse auf die Taktik des Kremls zuließen. Am 12. März 2020 enthüllten CNN, Twitter, Facebook und die Netzwerkanalysefirma Graphika20 die »Operation Doppeltäuschung«. Wie bei Projekt Lakhta ging es auch hier um eine plattformübergreifende Einflussnahme über verschiedene Social-Media-Kanäle. Da das Netzwerk nach nur neun Monaten aufgedeckt wurde, war sein Umfang noch recht übersichtlich: 69 Facebook-Seiten mit 13 500 Followern, 85 Instagram-Accounts mit 263 000 Followern und 71 Twitter-Accounts mit 68 500 Followern.

Anders als bei Projekt Lakhta wurden die Aktionen im Jahr 2020 nicht von Sankt Petersburg aus gesteuert, sondern waren nach Ghana ausgelagert worden, wo die IRA hinter dem Deckmantel einer afrikanischen Nichtregierungsorganisation operierte. Diese Fake-NGO namens EBLA (Eliminating Barriers to the Liberation of Africa – auf Deutsch etwa: Hindernisse überwinden für die Befreiung Afrikas) betrieb nicht nur eine eigene Website, sondern konnte auch Bürogebäude und Angestellte vorweisen. Laut einer etwas konfusen Erläuterung auf der (inzwischen gelöschten) Fake-Website machte sich EBLA »den Ansatz des Cyber-Aktivismus« zunutze: »Dabei setzen wir die Neuen Medien als Instrument der Interessenvertretung ein: Indem wir Geschichten und Nachrichten über tägliche Menschenrechtsverletzungen teilen, möchten wir das Bewusstsein für Menschenrechtsthemen in Afrika und darüber hinaus schärfen.«21

Auf den ersten Blick machte die EBLA-Website einen seriösen Eindruck. Sie verwies auf eine Reihe von »Projekten« und hatte einen unübersehbaren »Spenden«-Button. Bei näherer Betrachtung jedoch begann die Fassade zu bröckeln: Die Buttons funktionierten nicht, die Seite war an mehreren Stellen mit Blindtext bestückt, und von einem der Projekte wurde behauptet, es habe 231,53 Milliarden Dollar an Spenden eingebracht – mehr als das Dreifache des Bruttoinlandsprodukts von Ghana.

Die Angestellten von EBLA waren mit Smartphones ausgestattet worden und sollten Inhalte in den sozialen Medien posten, und zwar nach Ortszeit in Ghana vom späten Nachmittag bis in die Nacht hinein – also den US-Zeitzonen entsprechend. Dass ihre Posts auf ein US-Publikum abzielten, war für die EBLA-Mitarbeiter nicht schwer zu erkennen. Aber dass sie unwissentlich als IRA-Agenten eingesetzt wurden, lag nicht gerade auf der Hand. Wegen dieser doppelten Täuschung – in erster Linie der Amerikaner, aber eben auch der ghanaischen Agenten – bezeichnete Graphika die Operation dann auch als Doppeltäuschung. Wie die Analysefirma berichtet,

ist unklar, inwieweit die Mitarbeiter von EBLA in den Zweck der Operation eingeweiht waren und über die Drahtzieher Bescheid wussten […]. Der EBLA-Manager hatte sich den Mitarbeitern unter falschem Namen vorgestellt und ihnen nur mitgeteilt, dass es sich bei ihrer Arbeit um Online-Aktivitäten handle; ein von CNN befragter EBLA-Mitarbeiter gab später an, sie hätten »keine Ahnung« gehabt, dass sie als russischer Troll im Einsatz waren.22

Russland hatte ja nicht zum ersten Mal völlig ahnungslose Mitarbeiter für seine Zwecke rekrutiert. In diesem Punkt hat es der Kreml in der Infokalypse tatsächlich ziemlich weit gebracht. Im Rahmen des Projektes Lakhta hatte die IRA bereits erfolgreich US-Amerikaner rekrutiert, die ihre Veranstaltungen organisierten, bewarben und nicht zuletzt besuchten. Nun setzte sie Menschen aus Ghana ein, damit diese für die Russen einen gezielten Angriff auf Amerika durchführten.

Auch die Operation Doppeltäuschung zielte auf Amerikas empfindlichsten Schwachpunkt ab: die Beziehungen zwischen den Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Die EBLA-Mitarbeiter waren angehalten, nach genau derselben Strategie zu verfahren, die auch schon im Projekt Lakhta eingesetzt worden war. Zunächst wurden Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner eingeladen, sich bestimmten Online-Communitys anzuschließen, die dann mit positiven Botschaften gefüttert wurden, um ein Gefühl des Stolzes auf die »Stammeszugehörigkeit« zu generieren. Dann wurden dieselben künstlich zusammengestellten Communitys mit negativen Botschaften gespeist, die deren Wut und ein Gefühl des Abgehängtseins schüren und sie vom Rest der Gesellschaft entfremden sollten. In ihren Posts kombinierten die Agenten gerne positive, aufbauende Botschaften zu Themen wie Black Pride, die Schönheit oder das Erbe der afroamerikanischen Bevölkerung mit negativen, Gegensätze betonenden Inhalten zu Rassismus, Unterdrückung und Polizeigewalt23. Genau wie die IRA-Agenten ein paar Jahre zuvor sollten auch die Mitarbeiter aus Ghana testen, welche Inhalte besonders gut ankamen und sich schnell verbreiteten. Dazu stand ihnen ein Pool an Memes und Bildern zu Verfügung, die zum Teil noch aus dem IRA-Archiv von 2016 stammten24.

Das Projekt Lakhta mag aufgedeckt und stillgelegt worden sein; dass Russland dennoch weiterhin neue Wege austestet, wie es die Infokalypse bestmöglich nutzen kann, zeigt die Operation Doppeltäuschung sehr deutlich. Anders als noch bei Projekt Lakhta ist die IRA heute nicht mehr auf gefakte Identitäten auf der Basis gestohlener Fotos und Namen angewiesen – stattdessen spannt sie reale Menschen in Afrika ein.

Operation Doppeltäuschung setzte auf die Kombination aus vorgeblich authentischen US-amerikanischen und ganz offen in Ghana angesiedelten Seiten und Communitys. Auch echte Social-Media-Profile ihrer Mitarbeiter befanden sich im Pool der IRA – manche Posts waren also tatsächlich »ehrlich«. Alles in allem sollte diese Strategie allerdings nur für noch mehr Verwirrung sorgen. Zudem war die Spur zu den Hintermännern dadurch kaum noch zurückzuverfolgen. Und auch wenn Operation Doppeltäuschung schließlich aufgedeckt wurde, ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass Russland im Vorfeld der Wahl 2020 nicht noch weitere Asse im Ärmel hatte.

WACHSENDER EINFLUSS

Die Grundprinzipien der russischen Desinformationsstrategie sind zwar unverändert, ihre Methoden in der Infokalypse aber sind ungleich machtvoller geworden. Vergleichen Sie nur einmal die Auswirkungen der Operation Infektion (die ja auch schon extrem erfolgreich war) mit denen des Projekts Lakhta. Operation Infektion hatte fast ein Jahrzehnt gebraucht, bis die Nachricht um die Welt ging und genügend Antrieb hatte, dass sie es in die Zeitungen von über 80 Ländern schaffte und Hunderttausende mit der sowjetischen Erfindung konfrontierte. Der Einfluss der Operation nahm in den folgenden Jahrzehnten nicht etwa ab, sondern wurde im Gegenteil sogar größer. Noch heute glauben Millionen von Menschen an den Mythos der absichtlichen Erfindung des AIDS-Virus.

Bei Projekt Lakhta begnügte man sich nicht mehr damit, eine singuläre Lüge über ausländische Medien zu verbreiten. Dank Internet, Social Media und Smartphones konnte die IRA den öffentlichen Diskurs in den USA nun direkt unterwandern und ohne zeitliche Verzögerung unzählige Lügen unters Volk bringen. Und sie ging auch dadurch noch einen Schritt weiter, dass sie sich nicht nur bereits bestehende Gräben in der Gesellschaft zunutze machte, sondern dafür sorgte, dass sich weitere Spaltungen in die DNA des amerikanischen Volkes gruben. In den 2010er Jahren gingen zahllose Falschinformationen innerhalb von Stunden oder Tagen in den sozialen Medien viral. Und während die Operation Infektion Hunderttausende erreicht hatte, waren es bei Projekt Lakhta ganze »zehn, zwanzig, dreißig Millionen25« Amerikaner. Die Nachwirkungen der Operation Infektion verfolgen die Vereinigten Staaten bis heute, und dasselbe wird auch für Projekt Lakhta gelten, nur in noch größerem Maßstab.

Wenn man bedenkt, wie tief die durch die ethnischen Konflikte entstandenen Gräben in der amerikanischen Gesellschaft ohnehin schon sind, wird die besondere Heimtücke der russischen Hetzkampagnen noch mal deutlicher. Gesellschaftliche Spannungen geraten in der Infokalypse besonders schnell außer Kontrolle. Und in Zeiten, in denen die Menschen in besonderem Maße mit Ängsten zu kämpfen haben, sind Falsch- und Desinformationen umso gefährlicher – und Deepfakes könnten hier besonders stark einschlagen. So könnte beispielsweise ein im richtigen Moment veröffentlichtes Deepfake-Video, das zum Hass gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe aufruft und geschickt im Netz verbreitet wird, einen unmittelbaren Aufruhr auslösen.

Auch die jüngsten russischen Angriffe auf die Vereinigten Staaten nutzen bestehende Spaltungen aus, schüren Paranoia und bringen eine zerrissene Nation an den Rand des Abgrunds. Während des Kalten Krieges waren sich die Bürgerinnen und Bürger der USA im Großen und Ganzen einig in ihrer Abneigung gegen die Sowjets. Das ist heute nicht mehr der Fall. Rufen Sie sich die Worte von Yuri Bezmenov in Erinnerung: Das Ziel dieser Angriffe ist es, »die Wahrnehmung der Wirklichkeit eines jeden Amerikaners […] zu verändern«, so »dass niemand mehr in der Lage ist, […] vernünftige Schlüsse zu ziehen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, um sich selbst, seine Familie, seine Community oder sein Land zu verteidigen«. Der Plan geht auf.

Nach Ansicht der amerikanischen Geheimdienste und des Militärs sind die Vereinigten Staaten auch heute noch schlecht gerüstet, um den immer dreisteren Taktiken des Kremls im Zeitalter der Infokalypse zu begegnen. In einem Weißbuch kam das Pentagon zu dem Schluss, dass »die USA das Ausmaß der russischen Aggression nach wie vor unterschätzen; dazu gehört auch der Einsatz von Propaganda und gezielter Desinformation, mit der die öffentliche Meinung in ganz Europa, Zentralasien, Afrika und Lateinamerika beeinflusst wird«26. Wie ich in Kapitel 3 darlegen werde, besteht in den Vereinigten Staaten eine so immense parteipolitische Polarisierung, dass sich die Amerikaner nicht einmal über die objektive Tatsache einigen können, dass Russland Einfluss auf ihr Land ausübt, geschweige denn darüber, wie dieser Einfluss aussieht oder was dagegen zu unternehmen ist.

Allein die Vorstellung einer »russischen Einflussnahme« ist so umstritten innerhalb des politischen Diskurses, dass sie zu einem eigenen parteipolitischen Thema geworden ist. Auf der einen Seite ließen sich die Demokraten zu Theorien über geheime Absprachen zwischen Trumps Wahlkampfteam und dem Kreml hinreißen und zu Spekulationen, wie dies zur sicheren Amtsenthebung des Präsidenten führen würde. Als Mueller in seinen Ermittlungen schließlich zu dem Schluss kam, dass es keine ausreichenden Beweise gab, die die kriminelle Verabredung einer strafbaren Handlung zwischen Trumps Wahlkampfteam und den Russen zweifelsfrei belegten, verkündete Trump, Mueller habe ihn vom Verdacht der »geheimen Absprache« und der Behinderung der Justiz freigesprochen. Dabei hatte Mueller nichts dergleichen getan. »Von ›geheimer Absprache‹ war nie die Rede gewesen, das ist gar kein juristischer Begriff. Unser Augenmerk lag allein darauf, ob die Beweise ausreichten, wenigstens eines der Mitglieder des Wahlkampfteams wegen der kriminellen Verabredung einer strafbaren Handlung anzuklagen. Und das war nicht der Fall27«, sagte er später vor dem Kongress aus. Mueller wies dabei vorsorglich darauf hin, dass eine gewisse kritische Schwelle für den Tatbestand der kriminellen Verabredung einer strafbaren Handlung zwar nicht erreicht worden, der Präsident aber keineswegs generell vom Verdacht des Fehlverhaltens entlastet sei. Das war allerdings weit entfernt von dem Zündstoff, den sich die Demokraten erhofft hatten. Später strebten sie ein weiteres, diesmal übermäßig politisiertes Amtsenthebungsverfahren in einer anderen Sache an, obwohl sie wussten, dass es scheitern würde.

Auf der anderen Seite weigert sich der Präsident der Vereinigten Staaten, der ja in Sachen nationale Sicherheit eigentlich an vorderster Front stehen sollte, sich ernsthaft mit der russischen Aggression auseinanderzusetzen. Stattdessen setzte Trump in den vier Jahren seiner Amtszeit verstärkt auf das Narrativ, das »Russland-Gerücht« ziele nur darauf ab, seiner Präsidentschaft die Legitimation zu entziehen. Wer auch immer etwas anderes behauptet, und seien es die US-Geheimdienste, muss mit seinem Rachefeldzug rechnen. Es musste bitter sein für die amerikanischen Geheimdienstchefs, wenn sie sahen, wie sich ihr Oberbefehlshaber über das Thema lustig machte. Als Donald Trump im Jahr 2019 auf dem G20-Gipfel im japanischen Osaka auf den grinsenden Wladimir Putin traf, ermahnte er ihn mit sarkastisch strenger Miene: »Aber nicht in die Wahl einmischen, hören Sie!«28 Putin muss sich diebisch gefreut haben über die Szene.

EINE WEITREICHENDE PROBLEMATIK

Gleichzeitig lassen sich andere Staaten vom Vorgehen Russlands inspirieren. Wenn Moskau einfach so davonkommt mit seinen Cyber-Angriffen hat das eine Signalwirkung auf die restliche Welt. Die USA und ihre westlichen Verbündeten indes scheinen wie erstarrt angesichts ihrer infokalyptischen Angreifbarkeit. So stellte das Pentagon fest, dass bestimmte staatliche Akteure, insbesondere China, durchaus Sympathien für die strategischen Ziele Russlands gegen die Vereinigten Staaten und den Westen hegen. Dies läge an einer »wachsenden Übereinstimmung« dieser Staaten: Was sie verbinde, sei einerseits das »Gefühl der Bedrohung durch die internationalen Bündnisse der Vereinigten Staaten und andererseits eine Affinität zu autoritärer Stabilität29«.

Um mehr darüber zu erfahren, wie andere Schurkenstaaten und autoritäre staatliche Akteure die russischen Aktionen in der Infokalypse interpretieren und nachahmen, sprach ich mit Renée DiResta über den geopolitischen Aspekt der Informationskriegsführung. Von ihr erfuhr ich, dass Russland nach wie vor unerreichter Meister auf dem Gebiet ist, was zum Teil auch daran läge, dass »der Kreml vor allem auf langfristige Investitionen setzt«. Moskau habe die Ressourcen, um das Fundament für Operationen aufzubauen, die auf »Jahre und Jahrzehnte« angelegt sind. Ich fragte DiResta nach China. Peking sei zwar weniger stark als Russland im Ausland tätig, meinte sie, verfolge dafür aber eine ähnlich »langfristige Strategie im eigenen Land«. Bislang habe China die Infokalypse »insbesondere gegen das eigene Volk« ausgesprochen erfolgreich eingesetzt – nämlich indem es auf nationaler Ebene das Ökosystem Internet scharf im Blick hat. Auf diese Weise überwacht und kontrolliert das Regime über Plattformen wie Weibo, WeChat und QQ Milliarden von chinesischen Bürgern. Aber auch China hebt allmählich den Blick über die eigenen Grenzen hinaus. Forschern der Universität Oxford zufolge haben die Proteste in Hongkong im Sommer 2019 einen Wendepunkt markiert. Seitdem lege China ein »aggressives« Interesse an den Tag, auch westliche Plattformen wie Facebook, Twitter oder YouTube zu unterwandern – »für Demokratien durchaus ein Anlass zur Beunruhigung30«.

Dass die Russen aber nach wie vor in einer anderen Liga spielen, wurde deutlich, als mir DiResta ein paar beispielhafte von China angestoßene Operationen auf Twitter beschrieb. Während die Proteste in Hongkong anhielten, sei sie auf pro-chinesische Twitter-Accounts gestoßen – »schlampig zusammengeschusterter Botnet-Müll«. Die Verantwortlichen hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Verlauf früherer Tweets zu löschen, damit die Besucher nicht direkt mit der Nase darauf stoßen, dass die Accounts gekapert wurden und damit Fake sind. Scrollt man im Verlauf nach unten, »stellt man fest, wie ein User, der gerade noch über Ariana Grande getwittert hat, mit einem Mal die chinesische Sprache beherrscht und sich brennend für die Politik Hongkongs interessiert«, erzählte DiResta lachend. Peking wird sich aber nicht mehr lange so unbeholfen anstellen. Wie ich in Kapitel 6 darlegen werde, hat China durch die Covid-19-bedingte brisante geopolitische Lage schnell gelernt, die Infokalypse besser zu nutzen.

Aber nicht nur China und Russland nutzen das Chaos der Infokalypse zu ihrem Vorteil. DiResta und ich sprachen auch über andere aufstrebende Akteure: Iran, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Nordkorea. Forscher der Universität Oxford konnten 28 Ländern nachweisen, im Jahr 2017 irgendeine Form von Desinformationskampagnen im Netz angestrengt zu haben. Im Jahr 2020 waren es schon 70. All diese staatlichen Player stellen eine ernsthafte Bedrohung in der Infokalypse dar; dennoch bestehen zum heutigen Zeitpunkt noch gewaltige Unterschiede zwischen den ausgefeilten Strategien des Kremls und den Aktionen anderer Akteure. In einer Studie aus dem Jahr 2019 fanden Forscher aus Princeton heraus, dass Russland zwischen 2013 und 2019 für 72 Prozent aller im Ausland operierenden Desinformationsaktivitäten verantwortlich war31. Damit ist Russland auf diesem Gebiet fast dreimal so aggressiv wie alle anderen zusammen. Während Russland als großer Meister eine Tschaikowsky-Sonate auswendig auf dem Flügel spielt, klimpern die anderen »Alle meine Entchen« auf einem Kinder-Keyboard.