NACHWORT DER AUTORIN ZUR DEUTSCHSPRACHIGEN AUSGABE 2021

STAATLICHE UMTRIEBE IN ZEITEN DER INFOKALYPSE

Seit ich das Manuskript für die erste Auflage dieses Buches in seinem britischen Original abgegeben habe, ist ein Jahr vergangen. Jetzt, im Herbst 2021, halten Sie die deutsche Ausgabe in den Händen. Am Beispiel der Vereinigten Staaten und der Präsidentschaftswahl 2020 habe ich im Speziellen in Kapitel 3 erörtert, wie die Infokalypse in den westlichen Demokratien abläuft. Die von mir darin aufgestellten Prognosen haben sich als richtig erwiesen und sind eingetroffen.

Zum einen war 2020 und darüber hinaus im Zusammenhang mit der US-Wahl ein deutlicher Anstieg staatlicher Desinformationsaktivitäten zu beobachten. Im Buch gehe ich der Frage nach, wie Russland die Kunst des Informationskrieges für sich nutzt, um seine geopolitischen Ziele zu erreichen und den Einfluss des Westens zu untergraben. Doch Russland ist schon lang nicht mehr der einzige staatliche Akteur, der die westlichen Demokratien auf diesem Weg zu Fall bringen will.

Der National Intelligence Council (NIC), jene Behörde, die innerhalb der US-Geheimdienste für langfristig-strategische Überlegungen zuständig ist, kam im März 2021 zu dem Schluss, dass nicht nur Russland, sondern auch der Iran, Kuba und Venezuela direkten Einfluss auf die Wahl 2020 genommen hätten.1 Peking habe sich dagegen von »beiden Wahlergebnissen zu wenig Vorteile für China versprochen […], um das Risiko einzugehen, sich bei einer Einflussnahme erwischen zu lassen.«2 Stattdessen hat es seine globalen Desinformationskampagnen in anderen Bereichen vorangetrieben, insbesondere im Hinblick auf die Demokratiebewegung in Hongkong und Covid-19 (siehe Kapitel 6).

VOREINGENOMMENHEIT UND DER MYTHOS VON DER »MANIPULIERTEN WAHL«

Zum anderen habe ich prognostiziert, dass diese staatlichen Umtriebe nur die Spitze des Eisbergs sind. Mit der Schlussfolgerung, dass »Russland« oder irgendwelche anderen ausländischen Gegenspieler die alleinige Schuld an der im Westen grassierenden Welle von Falschmeldungen und Desinformation trügen, macht man es sich zu leicht. Denn wie die US-Wahl 2020 ebenfalls gezeigt hat, ist das hauseigene Problem – oder »die innere Bedrohung« – sogar noch schlimmer.

Wie ich es in Kapitel 3 angerissen habe, konnte ich Anfang 2020 beobachten, wie Donald Trump, der 45. Präsident der Vereinigten Staaten und »Anführer der Freien Welt«, das Narrativ von einer »manipulierten Wahl« zu entwickeln begann. Mit steigender Angst vor einer möglichen Wahlniederlage gewann dieses Narrativ für Trump und sein Wahlkampfteam im Laufe des Sommers zunehmend an Bedeutung – und als sie die Wahl am 3. November tatsächlich verloren und sowohl vor und während als auch nach diesem Tag versuchten, das Wahlergebnis gerichtlich anzufechten, natürlich erst recht.

Trumps Anschuldigungen, hier liege ein großflächiger Wahlbetrug vor, sind allerdings haltlos. Das wurde von überparteilichen Wahlvorstehern und Wahlvorsteherinnen sowie von Trumps eigenem Attorney General (dem Justizminister und Generalbundesanwalt) und den US-amerikanischen Gerichten bestätigt, die zahlreiche Klagen von Trumps Team gegen das Wahlergebnis abwiesen. Bei einem Teil der US-amerikanischen Wählerschaft hält sich das Narrativ dennoch hartnäckig. Laut einer nach der Wahl durchgeführten Umfrage von Politico/Morning Consult glauben 70 Prozent der republikanischen Wähler und Wählerinnen nicht daran, dass der Prozess den Grundsätzen einer »freien und gleichen« Wahl entsprach; im Gegensatz dazu sind 90 Prozent der Demokraten der Meinung, dass dies durchaus der Fall war.

Es war also keine große Überraschung, als die MAGA-Anhänger – MAGA steht für Trumps Wahlspruch »Make America Great Again« – in den umkämpften Bundesstaaten zu widersprüchlichen Protesten eilten: Je nachdem, ob Trump bei der Stimmauszählung vorn oder hinten lag, forderten sie, dass die Auszählung der Stimmen gestoppt (»Stop the Count!«) oder vorangetrieben würde(»Count the Vote!«). Natürlich ist das nicht logisch, aber eine absichtlich zynische Motivation konnte ich darin auch nicht erkennen. Vielmehr zeigt dies, dass Trumps Anhänger und Anhängerinnen den Präsidenten beim Wort nahmen. Obwohl die Geschichte von der »manipulierten Wahl« erwiesenermaßen eine Lüge ist, glaubten sie ihm, als er ihnen versicherte, dass man sie bestohlen und betrogen habe.

Für derartige falsche Überzeugungen sind allerdings nicht nur Anhänger der republikanischen Partei anfällig. Bis ihr Sieg feststand, gab es auch auf Seiten der Demokraten Wähler und Wählerinnen, die den Wahlvorgang für »manipuliert« hielten und ihm daher nicht trauten. Laut der bereits erwähnten Umfrage von Politico/Morning Consult rechnete vor dem 3. November 2020 nur die Hälfte (52 Prozent) der demokratischen Wählerschaft mit einer »freien und gleichen« Wahl. Erst als man sie nach Bidens Sieg noch einmal befragte, kam es zu diesem rasanten Anstieg auf 90 Prozent.3 Ob das wohl auch der Fall gewesen wäre, wenn Trump gewonnen hätte?

Umgekehrt lag der Anteil jener republikanischen Wähler und Wählerinnen, die ein ähnliches Misstrauen zum Ausdruck brachten, vor der Wahl gerade einmal bei 35 Prozent. Erst nachdem Trump verloren hatte, verdoppelte sich die Zahl auf 70 Prozent. Sollte 2024 ein republikanischer Kandidat oder eine republikanische Kandidatin gewinnen, wird sich die öffentliche Meinung darüber, ob der Prozess nun nach den Grundsätzen einer »freien und gleichen« Wahl abgelaufen ist oder nicht, je nach parteipolitischer Ausrichtung vielleicht noch einmal ändern. Denn eine Auswirkung der Infokalypse ist nun mal, dass die öffentliche Wahrnehmung von (politischen) Ereignissen zunehmend subjektiv und parteiisch wird.

Bei all dem, was 2020 passiert ist, schien es unausweichlich, dass Trumps dreiste Lügen irgendwann auch einen echten Gewaltausbruch nach sich ziehen würden. Und das taten sie tatsächlich. Es war der 6. Januar 2021. Der Kongress hatte sich versammelt, um die Stimmen der Wahlleute zu zählen und Joe Bidens Sieg zu besiegeln. Der Vize-Präsident Mike Pence führte – Trumps wütendem Protest zum Trotz – den Vorsitz. In dem Bemühen, Gesetzgeber und Gesetzgeberinnen unter Druck zu setzen, damit sie das Wahlergebnis und damit seine Niederlage für ungültig erklärten, hatte Trump seine Anhängerschaft zu Tausenden in Washington, D.C. für eine Demonstration unter dem Motto »Rettet Amerika« versammelt.

Mit Forderungen nach einem »Gerichtskampf«4 heizten Leute wie Rudy Guiliani unter dem grauen Winterhimmel die Stimmung an, bevor schließlich die eigentliche Show begann und Trump die Bühne betrat. Mit donnernder Stimme setzte er zu seinem üblichen Wortschwall an: »Unser Land hat die Schnauze gestrichen voll!« Während die Menschenmassen »Fight for Trump! Fight for Trump! Fight for Trump!« (»Kämpft für Trump!«) skandierten, fuhr er fort:

Wir lassen uns das nicht länger gefallen; das ist es nämlich, worum es hier eigentlich geht! […] Wir werden dem Diebstahl ein Ende setzen. Wir haben uns heute hier im Herzen der Hauptstadt unserer Nation aus einem ganz elementaren und einfachen Grund versammelt: um unsere Demokratie zu retten!5

Zu guter Letzt forderte Trump die Menschenmenge auf, zum Kapitol zu marschieren, »wie der Teufel« zu kämpfen und bloß nicht aufzugeben.6 Noch bevor er seine Ansprache ganz beendet hatte, versammelte sich seine Anhängerschaft auch schon vor dem Gebäude. Zunehmend aufgebracht drängte sie vorwärts. Mit einem Mal wurden die (erstaunlich sparsam eingesetzten) Sicherheitskräfte überrannt. Fenster und Türen wurden zertrümmert, als der Mob in das ureigenste Heiligtum der amerikanischen Demokratie eindrang.

Wie gebannt verfolgten Millionen von Menschen die Live-Übertragung dieses innenpolitischen Aufstands.

Gesetzgeber und Gesetzgeberinnen kauerten am Boden der Senatskammer, während Polizeibeamte die Türen verbarrikadierten. Nur wenige Augenblicke bevor die Demonstrierenden den Raum stürmten, wurden sie evakuiert. Einer der Aufrührer wurde fotografiert, wie er sich vom Balkon der Senatskammer hängen lässt7, ein anderer, wie er die Füße auf den Schreibtisch von Nancy Pelosi, der Sprecherin des Repräsentantenhauses, legt. Die Bilder vom dritten Demonstranten – dem sogenannten »QAnon-Schamanen« –, der mit Fell und Hörnern auf dem Kopf, Kriegsbemalung im Gesicht und einem gut 1,80 Meter langen Speer in der Hand triumphierend auf dem Stuhl des Vizepräsidenten steht, gingen um die Welt.8

Augenscheinlich nichts von der Notlage ahnend, in der sich seine Kollegen und Kolleginnen befanden, feuerte Präsident Trump indessen wütende Nachrichten auf Twitter ab, einschließlich gegen seinen eigenen Vize-Präsidenten, der sich gerade noch in einer lebensgefährlichen Situation befunden hatte. Mehr als eine Stunde verging, bevor Trump die Demonstranten und Demonstrantinnen dazu aufrief, sich »friedlich« zu verhalten; und dann noch eine weitere, bis er sie aufforderte, »nach Hause« zu gehen. Am Ende des Tages bezeichnete Trump die Aufrührer als »großartige Patrioten«.9

Über 140 Menschen wurden während der Ereignisse an diesem Tag verletzt; fünf weitere starben. Die Lüge von der »manipulierten Wahl« war eine der gefährlichsten Desinformationskampagnen in der Geschichte der amerikanischen Demokratie. Doch sie ging nicht von Teheran, Moskau oder Peking aus, sondern vom Präsidenten der Vereinigten Staaten höchstpersönlich.

Allerdings wäre es auch falsch, Trump als das Hauptproblem zu identifizieren. Denn auch wenn er eine unglaublich wichtige Rolle in dieser Geschichte spielt (oder gespielt hat), so ist er doch eher ein Symptom und nicht der Grund für das kaputte Informationsökosystem. Die hauseigenen Probleme sind nicht gelöst, Falsch- und Desinformation gibt es nach wie vor – auch jetzt, da Trump sowohl aus dem Weißen Haus als auch von Twitter »verschwunden« ist (die Plattform sperrte seinen Account aufgrund der Rolle, die er bei den Aufständen vom 6. Januar 2021 spielte). Solange unser Informationsökosystem ungeschützt ist, werden diese Probleme vermehrt auftauchen, und zwar zunehmend auch in Form von Cheapfakes und Deepfakes.

CHEAPFAKES UND DEEPFAKES ÜBERALL

Seit 2019 das berühmt-berüchtigte manipulierte Video von Nancy Pelosi die Runde machte, gehören Cheapfakes in den USA (und in der westlichen Welt generell) zum politischen Alltag. Im Jahr 2020 waren sie maßgeblich daran beteiligt, dass sich Trumps infame Lüge von der »manipulierten Wahl« aufrechterhalten ließ. Ein Beispiel dafür, das prompt viral ging, ist das Video von Joe Biden, in dem er sagt »Wir haben, wie ich meine, die größte und allumfassendste Wahlbetrugsorganisation in der Geschichte der amerikanischen Politik auf die Beine gestellt«. Im richtigen Kontext sind Bidens Worte als Beschreibung eines Programms zu verstehen, mit dessen Hilfe der Schutz der Wählerschaft im Falle einer unbegründeten Anfechtung des Wahlergebnisses gewährt werden soll. Nichtsdestotrotz teilte sowohl Trump als auch seine Pressesprecherin Kayleigh McEnany den Clip unter der Angabe, Biden würde darin Wahlbetrug gestehen.

Noch während der Stimmzählung wurden echte Videos von Wahlhelfern und Wahlhelferinnen, die Stimmen transkribierten – was nötig ist, wenn Wahlzettel bei ihrer Öffnung beschädigt werden – und Stimmzettel einsammelten, vielfach als »Beweis« für Stimmunterschlagung und Wahlmanipulation geteilt (unter anderem von Trump selbst). Ein virales Cheapfake von einem Mann, der Stimmzettel »zerreißt«, stellte sich als Scherz eines Tik-Tok-Nutzers heraus. Anfang Dezember 2020 meldete Gabriel Sterling, der Beauftragte für die Umsetzung der Wahl in Georgia, dass es zu Einschüchterungsversuchen und Morddrohungen gegen Wahlhelfer und Wahlhelferinnen gekommen sei; mit einem Appell wandte er sich an die Öffentlichkeit: »Das geht einfach zu weit! Das muss aufhören!« Ein Wahlhelfer aus Georgia musste sogar untertauchen, nachdem ein Cheapfake-Video von 34 Sekunden viral ging, das ihn fälschlicherweise beschuldigte, einen per Briefwahl eingesendeten Stimmzettel weggeworfen zu haben.

Während man 2020 tatsächlich permanent über Cheapfakes stolperte, wurde die mutmaßliche Bedrohung durch Deepfakes überbewertet. Im Vorfeld der Wahl erreichte die diesbezügliche Alarmbereitschaft einen ersten Höhepunkt. Monatelang diskutierten Politikerinnen, Journalisten und Wissenschaftlerinnen, wie man dieser vermeintlichen Gefahr Herr werden könnte. In den Bundesstaaten Texas und Kalifornien wurden vorsorglich sogar Gesetze erlassen, welche den Einsatz von Deepfakes zur Beeinflussung von Wahlen für unzulässig erklärten.10

Wie von mir vermutet wurden im Zusammenhang mit der Wahl jedoch keine nennenswerten Deepfakes in Umlauf gebracht. Abgesehen von einigen interessanten Entwicklungen, wie beispielsweise einer augenzwinkernden Produktion des russischen Staatssenders Russia Today (RT), in der sich ein gescheiterter Donald Trump als Wladimir Putins Marionette outet, gab es nicht wirklich viel zu berichten. Auf jeden Fall ist nichts passiert, von dem man objektiv behaupten könnte, es hätte den Ausgang der Wahl beeinflusst. Wie im ersten Kapitel erläutert werden Deepfakes weniger zur Sabotage und Instrumentalisierung von Politikern und Politikerinnen genutzt, sondern richten sich in Form nicht einvernehmlicher Pornografie immer noch in erster Linie gegen Frauen.

Dass sich Deepfakes noch nicht – wie von vielen prophezeit – zu Waffen flächendeckender Desinformation entwickelt haben, ist jedoch kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Dank begrenzter technischer Möglichkeiten ist das potenzielle Risiko momentan noch relativ gering. Doch mit zunehmendem Fortschritt der Deepfake-Technologie werden sich die Schleusen öffnen. Und auch vorher hat allein das Wissen um die Existenz von Deepfakes bereits schädliche Auswirkungen, weil es das Vertrauen in reale Ereignisse und echte Medieninhalte zerstört.

Auf ein eindrucksvolles Beispiel hierfür bin ich kurz nachdem ich im Frühjahr 2020 mein ursprüngliches Manuskript abgegeben hatte, gestoßen. Damals war gerade das Video von George Floyds Tod im Umlauf. Das Gefühl von Ungerechtigkeit vereinte Millionen von Menschen im Protest – nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auf der ganzen Welt. Und doch wurden nur wenige Wochen später aus einer sehr unerwarteten Ecke Zweifel an der Authentizität des Videos laut: Dr. Winnie Heartstrong, eine Afro-Amerikanerin mit einem Doktortitel in Political Communications und Kandidatin für das US-Repräsentantenhaus, veröffentlichte schon bald nach George Floyds Tod einen 23-seitigen Bericht, in dem sie behauptete, das Video sei ein »Deepfake-Hoax« – eine Täuschung also – und dass der echte Floyd bereits 2016 gestorben sei.

In ihrem Bericht mit dem Titel George Floyd is Dead: A Citizens’ Investigative Report on the Use of Deep Fake Technology11 (zu Deutsch: »George Floyd ist tot: Ein investigativer Bürgerbericht über die Anwendung von Deepfake-Technologie«) stellt Heartstrong die Behauptung auf, dass der Mann, der in dem Video als Floyd identifiziert wurde, in Wahrheit der ehemalige Profi-Basketballer Stephen Jesse Jackson sei, dessen Gesicht man durch das von Floyd ersetzt hätte. Des Weiteren erklärt sie, dass die Aufnahmen von Derek Chauvin, dem Polizeibeamten, der Floyd umgebracht hat, ebenfalls ein Deepfake seien; dieser würde von Ben Bailey, einem ehemaligen Gameshow-Host, »gespielt«.12

Auch wenn Heartstrongs Theorie 2020 keinen breiten Anklang fand, so ist sie doch ein Vorgeschmack darauf, was uns noch erwartet. Denn letztendlich kann in einer Welt, in der jedes Medium, einschließlich Videomaterial, gefälscht werden kann, auch alles zur Fälschung degradiert werden, das eigentlich gar keine ist. Dieses Phänomen nennt sich – ich hatte es in Kapitel 3 bereits erläutert – die »Dividende des Lügners«. Obgleich der Begriff 2018 in einer grundlegenden Abhandlung über künstlich generierte Medien geprägt wurde, betrifft die Dividende des Lügners nicht nur Deepfakes, sondern jegliche in einem kaputten Informationsökosystem vertretene Form von Falsch- und Desinformation. In dem Maße, wie das Vertrauen der Öffentlichkeit in die offiziellen Narrative abnimmt, wird es in den demokratischen westlichen Gesellschaften immer schwieriger werden, einen Konsens zu finden. Die Menschen werden sich zunehmend genötigt sehen, jedwedes Ereignis aus einem subjektiven Blickwinkel zu betrachten.

Auch wenn sich die düstersten Vorhersagen im Hinblick auf politisch motivierte Deepfakes im Jahr 2020 nicht erfüllt haben, müssen wir ihre weitere Entwicklung im Zusammenspiel mit Cheapfakes und allen anderen Formen von Falsch- und Desinformation einer genaueren Betrachtung unterziehen. Denn die Cheapfakes von heute liefern uns wertvolle Lektionen für den Umgang mit den Deepfakes von morgen. Die Frage sollte also nicht lauten, wann Deepfakes auch im politischen Kontext auftauchen werden, sondern vielmehr, wie wir den zahlreichen Ausprägungen der (visuellen) Falsch- und Desinformation, die schon jetzt Einfluss auf unsere (politischen) Wirklichkeiten nehmen, entgegentreten können.

ZENSUR DURCH LÄRMERZEUGUNG

Eine weitere meiner Prognosen – nämlich, dass die Infokalypse weiter wüten wird, ganz gleich, wer die Wahl 2020 gewinnt – hat sich definitiv bewahrheitet.

Die zunehmende Häufigkeit, mit der (visuelle) Falsch- und Desinformationen in westlichen Informationsräumen auftreten, scheint sich auf Politik und Gesellschaft in zweierlei Hinsicht auszuwirken. Zum einen fördert sie die Ausbreitung falscher Behauptungen. Im Vertrauen darauf, dass sie sich einer Nachverfolgung entziehen und so aus der Verantwortung stehlen können, kommen die betreffenden Akteure ungestraft davon. Zum anderen werden wir aufgrund der vermehrten Verbreitung von Fehl- und Desinformation anfälliger für jegliche Form von Falschinformation. Die damit einhergehenden Auswirkungen auf die westlichen Demokratien kann man sich wie eine Art »Zensur« vorstellen.

Der Begriff wird im Allgemeinen immer noch so verstanden, dass Einzelnen der Zugriff auf wichtige Informationen verwehrt wird. Diese Form der Zensur wird beispielsweise in Nordkorea praktiziert, wo das Regime von Kim Jong-un nur eingeschränkten Zugang zum Internet gestattet, während es Schulen zwingt, ihren Schülern und Schülerinnen beizubringen, dass der »Oberste Führer« des Landes ein Wunderkind gewesen sei, das bereits im Alter von drei Jahren habe Autofahren können.

Doch die undifferenzierte Masse an Informationen, die heute für das Informationsökosystem der westlichen Gesellschaften charakteristisch ist, kann für Konzentration und Wahrnehmungsvermögen genauso hinderlich sein. Dieses Phänomen ist unter dem Begriff »Zensur durch Lärmerzeugung« bekannt und erweist sich als ebenso wirkungsvoll wie die nordkoreanische Zensurform, wenn auch auf eine andere Art und Weise. Während das nordkoreanische Modell durch den beschränkten Informationszugang einen gesellschaftlichen Konsens erzwingt, erschwert die schiere Fülle an Auskünften, eben einen solchen zu erlangen.

Sich mit der Zensur durch Lärmerzeugung herumzuschlagen ist eine Herausforderung, und das nicht zuletzt, weil in westlichen Informationsräumen jeder Akteur (ob aus- oder inländisch) das Recht hat, sich Informationen zu beschaffen sowie zu verbreiten. Für westliche Demokratien ergibt sich daraus ein Teufelskreis: Jeder geordnete Versuch, zwischen richtigen und falschen Behauptungen zu unterscheiden, kann als Beweis für »Zensur« gewertet werden, doch die bloße Masse an Information, die auch Falschmeldungen miteinschließt, hat genau denselben Effekt.

Amerikaner und Amerikanerinnen (sowie Westler im Allgemeinen) mögen nicht glauben, dass Kim Jong-un schon als Kleinkind Autofahren konnte, aber seit der letzten Wahl haben sich Millionen von ihnen einer Weltsicht verschrieben, die proklamiert, dass Präsident Trump einen geheimen Krieg gegen eine elitäre Verschwörung satanischer Pädophiler führt. Dementsprechend scheint die Frage, wessen Wahrnehmung verzerrter ist, gar nicht mal so abwegig.

London,
April 2021