Es ist ja nicht so, dass ich nicht abnehme – aber blöderweise ist meine Waage grundsätzlich anderer Meinung. Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass meine Waage als emotionsloses technisches Gerät mein Gewicht vorurteilsfrei und physikalisch korrekt misst, aber die mir angezeigten Zahlen lassen mich jeden Tag aufs Neue daran zweifeln. Wenn dieses Mistding von Messgerät tatsächlich völlig ohne Hintergedanken mein Gewicht anzeigen würde, dann müsste es – zum Teufel noch mal – doch zumindest gelegentlich etwas näher an meinem gefühlten Gewicht dran sein. Aber dem ist nicht so.
Egal, wie leicht ich mich auch fühle, wie hungrig oder ausgemergelt ich auf die Waage steige, dieses verlogene Folterinstrument erfindet Tag für Tag aufs Neue spektakuläre Höchstmarken, die mich – wenn sie denn wirklich stimmen würden – in eine ernste Krise stürzen würden. Aber wie gesagt: Das Ding ist mit Sicherheit alles andere als neutral.
Und wissen Sie was? Ich kann die Waage auch verstehen. Ich wäre auch verdammt schlecht gelaunt, wenn sich irgendein Möchtegernleichtgewicht noch vor dem Duschen auf mich quälen würde. (Nach dem Duschen ist schlecht, weil das Wasser in den Haaren und am Körper das tatsächliche Gewicht geradezu ins Unermessliche nach oben treibt!) Wie kann ich der Waage also ernsthaft böse sein, wenn sie in der Regel zwischen zwei und vier Kilo hinzulügt, einfach nur, um mir eins auszuwischen? Richtig: Ich bin es nicht. Ich bin tolerant, ich bin fair, und: Ich bin ihr nicht böse. Ich weiß eben einfach, dass das so ist, und ziehe den entsprechenden Betrag selbstredend vom angezeigten Gewicht ab, und habe so – tataaaaa: mein tatsächliches Gewicht.
In den letzten Jahren ist mir allerdings aufgefallen, dass meine Waage vermutlich meinen kleinen Trick durchschaut hat und offenbar das eine oder andere Pfund zusätzlich anzeigt, nur weil sie weiß, dass ich weiß, dass sie mich nur ärgern will. Da ich aber weiß, dass sie weiß, dass ich weiß, dass sie das tut, muss ich einfach statt wie bisher zwischen zwei und vier nun um die acht bis zehn Kilo abziehen, und habe: Ta-ta-tataaaaaaa: erneut und ausgesprochen präzise errechnet mein tatsächliches Gewicht. Somit kann ich erhobenen Hauptes verkünden, dass ich mein Gewicht in den letzten Jahren perfekt gehalten habe, eine Leistung, auf die ich selbstverständlich sehr stolz bin.
Trotz dieses hart erkämpften Erfolges ist natürlich sonnenklar: Gewichtsverlust wäre nach wie vor das Maß aller Dinge und würde das Verhältnis zwischen mir und meiner Waage sicherlich in eine neue Dimension unserer Waage-Mensch-Beziehung katapultieren. Allerdings muss ich gestehen, dass das tatsächliche physikalische Eigengewicht immer nur ein Teil der Wahrheit ist – viel wichtiger ist doch gelegentlich, was die verdammte Waage einem anzeigt, und das – so habe ich herausgefunden – kann man sehr wohl beeinflussen. Denn Wiegen ist nicht gleich Wiegen.
Mein Praxistipp Nr.2:
Verzichten Sie auf die Waage zu steigen, wenn Ihnen das Ergebnis den ganzen Tag versauen könnte – es ist es einfach nicht wert. Betreten Sie die Plattform der Wahrheit nur, wenn Sie a) absolut sicher sind, dass das Ergebnis mit Ihren Erwartungen übereinstimmt, oder: b) das Gefühl haben, dass Ihnen nichts, aber wirklich gar nichts die Laune verderben kann.