Im Laufe der Zeit habe ich mit diversen Stellungen auf der Waage experimentiert und festgestellt, dass einige Positionen, die entfernt an das Kamasutra erinnern, mich mit durchaus signifikant geringeren Anzeigewerten belohnen. Natürlich hat jeder Übergewichtige schon einmal versucht, sein Gewicht auf der Waage eher auf die Zehenspitzen oder auf die Fußballen zu verlagern und dabei freudig zur Kenntnis genommen, dass man sich mit derart einfach durchzuführender Akrobatik durchaus den Tag mit einem um einige Pfunde geringeren Anzeigewert versüßen kann. Das einfache, nach vorne oder nach hinten verlagerte Wippen habe ich allerdings im Laufe der Zeit so weit perfektioniert, dass ich mein angezeigtes Gewicht inzwischen weitestgehend frei bestimmen und mir somit allzu frustrierende Morgenerlebnisse ersparen kann.
Natürlich ist es dafür nötig, sich auf der Waage in Stellungen zu positionieren, die jeden Tai-Chi-Profi vor Neid erblassen lassen würden. Die Position »Kleiner Bär im Sonnentau« zum Beispiel ermöglicht eine Anzeigenreduzierung um satte sechs Kilo, wobei sie noch vergleichsweise einfach einzunehmen ist. Anders verhält es sich bei der Figur »Singende Heuschrecke im Kelch der weißen Bambusblüte«: Hier ist schon eine ausgeprägte Konzentrationsphase und eine nahezu perfekte Körperbeherrschung nötig.
Der Lohn der Akrobatik sind bis zu satte zwanzig Kilo geringere Anzeigewerte, wenngleich in der – nicht gerade komplikationsfreien – Heuschreckenstellung der eigene Hintern die freie Sicht auf das Anzeigefeld deutlich einschränkt oder sogar gänzlich verwehrt. Darüber hinaus ist diese Stellung auch wenig bandscheibenfreundlich, und man muss abwägen, ob die stechenden Rückenschmerzen über den gesamten Tag den kurzen freudigen Moment einer solchen Gewichtsreduzierung wert sind. Selbstverständlich weiß ich, dass ich mit dem Verlagern des Gewichts lediglich die Anzeige foppen kann und nicht wirklich weniger wiege – aber wer den Tag statt mit der horrenden Zahl seines tatsächlichen Gewichtes vor Augen mit einer deutlich wohlwollenderen beginnen kann, der geht eben einfach weniger deprimiert an den Start – und das wollen wir doch alle, ganz gleich in welcher Gewichtsklasse man gerade turnt.
Aber natürlich gibt es noch weitere Möglichkeiten, um die Anzeige der Waage gnädig zu stimmen, und es ist geradezu unglaublich, mit welch simplen Mitteln der Gang zur Waage weniger beängstigend sein kann. Ich habe z.B. eine Zeit lang überlegt, ob ich nicht lieber den Bart abrasieren soll, denn Barthaare sind meines Erachtens überdurchschnittlich schwer. Das hört sich jetzt ein wenig übertrieben an, aber die Waage ist ja bei jedem verdammten jemals gegessenen Weihnachtskeks auch ausgesprochen pingelig – warum zum Teufel sollte das also nicht auch andersherum gelten?
Auch eine Ganzkörperenthaarung kam mir schon in den Sinn, nach einer kurzen Testreihe im dichten Dickicht meines Brustbereichs kam ich allerdings schnell zu der Erkenntnis, dass der Schmerz einer wachsbasierten Körperenthaarung in keinem Verhältnis zu der zu erwartenden Gewichtsreduzierung steht. Wie oben schon erwähnt, ist der ideale Wiegezeitpunkt der Moment nach dem Klogang, aber unbedingt vor dem Duschen. Nach dem Klo dürfte selbsterklärend sein, das »vor dem Duschen« resultiert aus der unglaublichen Menge Wasser, die sich auch nach dem Abtrocknen noch am Körper befindet. Dieser leichte Feuchtigkeitsfilm, in Verbindung mit den noch nassen Haaren, kann sich schnell zu einem zweistelligen Kilobetrag summieren, vor allem, wenn man weiß, dass die Waage aufgrund der duschnassen Füße noch einmal besonders garstig einige Kilos draufpackt. Aber wie man sich auch dreht und wendet: Irgendwann ist man bereit für den Anfang vielfältigen Leids: Man zwingt sich zum entscheidenden Schritt und beginnt die erste eigene Diät.
Mein Praxistipp Nr.3:
Eigentlich stand an dieser Stelle ein warnender Praxistipp: Dass auch die akrobatischste Verrenkung auf der Waage natürlich keinen tatsächlichen Gewichtsverlust bedeutet. Mit anderen Worten: Sie wiegen mit der »Kleiner Bär im Morgentau«-Stellung genauso viel wie ohne, aber wissen Sie was? Machen Sie es trotzdem. Turnen Sie auf dem digitalen Brettchen der Frustration notfalls einen kompletten Leichtathletikwettbewerb – denn, verdammt noch mal, es sieht lustig aus und macht auch Spaß. Und auch wenn dadurch nicht die Kilos purzeln, dann wird man so wenigstens die triste Wiegestimmung los, und wenn Sie es dann noch schaffen, ein Selfie von sich zu verbreiten, sind Sie der Held aller waagemutigen Schwergewichte.