Kapitel 9

Dick aus Tradition

Glaubt man den Evolutionsforschern, liegt der Ursprung unseres heutigen Übergewichts in der genetischen Struktur unserer Spezies, zementiert durch die Nahrungsmittelverwertung in grauer Vorzeit. Also, nicht dass Sie jetzt Ihren Uropa post mortem verfluchen und denken, Sie seien zu dick, weil der seinerzeit zu viel geschlemmt hat – nein, es liegt daran, dass das Bilden von körpereigenen Energiereserven (schöne Umschreibung für so etwas Triviales wie eine dicke Wampe, nicht wahr?) in Zeiten unregelmäßiger Futterversorgung überlebenswichtig war. In grauer Vorzeit war es nämlich keineswegs gesichert, dass Papa Steinzeit für seine kleinen Nachwuchsgeröllschubser immer genügend frisch Erlegtes mit in die heimische Höhle zerrte.

Das gab dann – neben vermutlich langen Gesichtern und den ersten prähistorischen Ehestreitigkeiten – leider auch ein überschaubares Essensangebot, das die Überlebenschancen des betroffenen Hungerclans auf eine harte Probe stellte. Da blieb sozusagen gerne mal für ein paar Tage die Küche kalt! (Wobei ich das jetzt unabhängig von der Entdeckung des Feuers verstanden wissen will …)

Demnach war es also durchaus zweckmäßig, in Zeiten unsicherer Nahrungsmittelversorgung Energie auf den Rippen und an allen nur erdenklichen anderen Stellen des Körpers zwischenzulagern, um in Krisenzeiten nicht gleich den Löffel abgeben zu müssen (der ja im Übrigen ebenfalls noch nicht mal erfunden war). Wäre dieses Essensdilemma seinerzeit nicht evolutionstechnisch so außerordentlich prägend gewesen, wir hätten heute vermutlich noch nicht einmal ein Wort für »Übergewicht«! Oder anders gesagt: Hätte es zu prähistorischer Zeit schon Tiefkühlpizza und Fastfood-Ketten gegeben, wir wären heute garantiert allesamt wunderbar schlank. Es gibt also gar nicht zu viele Junkfood-Buden, es gibt sie einfach noch nicht lang genug! (Wow … mit dieser wirklich gewagten These sollte ich dringend in die Werbung gehen. Zwar komme ich damit noch nicht ganz an die größten volksverblödenden Verkaufsslogans heran, aber ich denke, ich bin ihnen schon dicht auf den Fersen … noch ein bisschen mehr, und ich erzähle Ihnen, dass Zuckerpops und Schokoladencreme ein »gesunder Start in den Tag sind«.)

Aber zurück zum Thema: Der gängige Steinzeitbewohner streifte also seinerzeit mit Vorliebe durchs Gehölz und versuchte dabei nicht nur, das Gefressenwerden zu vermeiden, sondern stattdessen selber etwas zum Knuspern aufzutreiben.

Da – wie schon erwähnt – der nächste Supermarkt noch das eine oder andere Milliönchen Jahre auf sich warten lassen sollte, war diese Art der Nahrungsmittelbesorgung bisweilen etwas unstet – und die Aufnahme der täglich empfohlenen Kalorienmenge alles andere als gesichert. (Wobei ich mich an der Stelle schon frage: Woher wusste ein durchschnittlich begabter Steinzeitler eigentlich, was sein empfohlener Tagesbedarf an Kalorien, Fett und Vitaminen war, wenn es doch gar keine Verpackungen gab, auf denen das aufgedruckt war?)

Fakt war jedenfalls: Es gab futtertechnisch auch mal richtig magere Zeiten für die antiken Felsenfreunde, und um diese zu überleben, hat sich Mutter Natur dann gedacht: Ich häng dem Homo sapiens mal ’nen kleinen Reservespeicher ans Knochengerüst. Das sieht zwar dämlich-dicklich aus, hilft aber maßgeblich beim Überleben, und darum geht’s ja schließlich bei der Evolution.

Nun mag der eine oder andere Fashionfreak oder Stylingjunkie heute zwar der Meinung sein, dass pures Überleben ohne ansehnliche Konfektionsgröße schlicht inakzeptabel ist, aber: Mutter Natur wirkte diesbezüglich völlig frei von jeglichem Schönheitsideal oder Idealmaß-Denken und verfuhr nach der Devise: Dick macht Sinn. Keine Frage, dass dieses Prinzip seit ewigen Zeiten auch schon bei anderen Spezies wunderbar funktioniert hat, bei einigen ausgesuchten Exemplaren reicht die Reserve sogar für ausgeprägte Winterschläfchen, was ich persönlich ja als eine extrem beneidenswerte Art der Fettpolsterverbrennung empfinde, aber aus irgendeinem Grund war derlei Schlafdiät für den Homo sapiens leider nicht vorgesehen. (Danke Mutter Natur! … Warum, zum Henker, hast Du uns den Winterschlaf eigentlich missgönnt?)

Moment mal: DAS wäre doch wirklich einmal die Idealdiät! Ollis wunderbare Winterschlafpille! Einfach im Herbst einen kleinen feinen Drops auf der Bettkannte lutschen, und an einem milden Frühlingsmorgen schlankgepennt aus dem Schlafgemach krabbeln – warum ist eigentlich vor mir noch keiner auf diese famose Idee gekommen?

Aber statt nun gemütlich in einer warmen Höhle die Pfunde wegzuratzen, ist der Mensch das einzige Tier geblieben, das praktisch vierundzwanzig Stunden am Tag industriell hergestellte Lebensmittel vertilgen kann – und das 365 Tage im Jahr. Und als ob das noch nicht gereicht hat, haben wir Menschen darüber hinaus auch noch fragwürdige Schönheitsideale und schlankheitsfanatische Modedesigner hervorgebracht. Fakt ist jedenfalls: Aus oben genannten Gründen sind wir planetenweit die einzige Gattung, die mit einem Onboard-Fettspeicher zu kämpfen hat (abgesehen von einigen Hunden oder Katzen, welche von ihren Herrchen oder Frauchen »liebevoll« bis zur Unkenntlichkeit gemästet werden). Es stellt sich also letztlich die Frage: Wieso eigentlich hat die verflixte Evolution noch nicht bemerkt, dass die Menschen in Industrieländern diese ach so tolle Fettspeicherfähigkeit so dringend benötigen wie ein drittes Nasenloch? Anders gesagt: Wo ist die Evolution, wenn man sie mal braucht?

Die Antwort ist vermutlich, dass es für »El Evolutione« schlicht noch nicht genug »fette« Jahre gab, um sich von dieser zigtausend Jahre bewährten Tradition zu verabschieden. Eventuell ist in schlappen zwei bis drei Millionen Jahren Übergewicht wirklich kein Thema mehr – so lange kann und will ich allerdings nicht mehr warten …

Aber zurück zur Evolution: Diese ganze Fettablagerungsgeschichte hängt – wie wir ja alle wissen – natürlich nicht nur allein mit unseren veränderten Essgewohnheiten, sondern insgesamt mit veränderten Lebensumständen zusammen.

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Würden wir, wie einst unsere prähistorischen Jagdkumpane, unsere Tiefkühlpizza nach einer stundenlangen zermürbenden und körperlich äußerst fordernden Pirsch im Supermarktregaldickicht per Speerwurf erledigen, die Kalorien des so kräftezehrend erbeuteten Teigfladens würden garantiert keinen bleibenden Abdruck auf unserer Körpersilhouette hinterlassen. Aber der Fluchtreflex der gesamten Gattung »Tiefkühlkost« ist erschreckend unzureichend ausgebildet, und weil darüber hinaus auch speerschwingende Pizzajäger in Kaufhäusern eher ungern gesehen sind und vermutlich gewisse Irritationen beim Personal hinterlassen würden, rollen wir stattdessen mit chromglänzenden Shoppingmobilen durch die prall gefüllten Kaufhausgänge und stützen unseren Oberkörper dabei auch noch – äußerst kaloriensparend – auf dem Haltegriff ab.

Derart gewappnet schaufeln wir quasi im Vorbeischlendern Millionen von Kalorien in den Einkaufswagen und verbrauchen dabei so wenig Energie wie eine Springmaus beim Mittagsschlaf. Ironischerweise hat die Evolution bei den Einkaufswagen in den letzten Jahren ausgesprochen beachtliche Fortschritte gemacht – die Dinger sind nämlich bedeutend größer geworden. Wer mal einen Einkaufswagen aus den Siebzigern neben die heutigen Volumenboliden schiebt, der wird tatsächlich baff erstaunt sein. Gegen den putzigen Shoppingassistenten aus meiner Jugend wirken die heutigen Einkaufsmonster wie ein LKW gegenüber einem Bobby Car, und, Sie ahnen es schon: Das ist ein durchaus gewollter Effekt, denn dahinter steckt der perfide Plan, dem Konsumenten immer mehr Ware anzudrehen als dieser eigentlich benötigt, denn in großen Einkaufswagen sieht es immer so aus, als haben Sie erst ganz wenig eingekauft. Sie sind also bereits dann ein Opfer professioneller Verkaufspsychologen, bevor Sie das erste Produkt im Warenregal auch nur erspäht haben!

Wir hingegen haben sie im Schnellverfahren überholt, die gute alte Evolution. Unsere Fettspeicher haben die letzten paar dutzend Versionsupdates einfach verschlafen, das Energiemodul unserer Körperchemie liegt in der hoffnungslos veralteten Version 1.0 vor, während unsere Nahrungsmittelversorgung dank Industrialisierung und Massenproduktion immer die allerneusten Updates bekommt. Er hat sich mal so richtig selbst verarscht, der moderne Mensch!

Aber weil ja der Homo sapiens neben seinen Fettzellen im Laufe der Zeit auch seine Gehirnzellen erweitert hat (leider nicht im gleichen Maße), steht uns heutzutage eine ganze Armada hilfsbereiter Menschen, Maschinen und Programme zur Seite, um diesen fatalen Evolutionsaussetzer angemessen zu korrigieren. Diese wunderbaren Gerätschaften haben – ähnlich wie der »Jo-Jo«-Effekt – einen eigentlich vollkommen irreführenden Namen, denn meines Erachtens müssten »Fitnessgeräte« eher »Frustrationsgeräte« heißen. Tun Sie aber nicht.

Mein Praxistipp Nr.6:

Tatsächlich sind wir dick, weil es die Natur eine Zeit lang als sehr zweckmäßig ansah, Fettpölsterchen für schlechte Zeiten anzulegen. Dass dieser Mechanismus in Zeiten des permanenten Überflusses fatale Folgen hat, war von der Natur so nicht vorherzusehen. Sie haben nun zwei Möglichkeiten:

Erstens, und das empfehle ich nur sehr, sehr ausdauernden Menschen, Sie warten darauf, dass die Evolution in den nächsten 40 000 Jahren ihren Fehler korrigiert, oder, zweitens: Finden Sie sich damit ab. Akzeptieren Sie, dass Sie eventuell einen ordentlichen Schlag dieses Reservegens in sich tragen. Machen Sie sich klar: Die Natur wollte schlicht und ergreifend sicherstellen, dass gerade SIE bei einer Hungersnot überleben würden – wenn das das Selbstwertgefühl nicht gehörig aufpeppt, was dann?