Kapitel 18

Die Schuldfrage – Warum bin ich eigentlich zu dick?

Bin ich zu dick? Oder sind die anderen einfach zu schlank?

Nein, keine Sorge, meine Blutwerte lassen eine derartige philosophische Betrachtung, die mein Übergewicht ad absurdum führt, nicht zu. Ich bin mir voll und ganz darüber im Klaren, dass »zu dick« nicht einfach nur das Gegenteil von »nicht schlank genug« ist.

Aber warum bin ich eigentlich zu dick?

Diese Frage lässt sich nicht ganz so leicht beantworten. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will eine Mitschuld meinerseits gar nicht leugnen, aber die Aussage, dass ausschließlich ich für meine Plauze verantwortlich bin, die kann ich so nicht unterschreiben. Denn mit Verlaub gesagt: Manchmal frage ich mich, ob sich die Welt um mich herum einzig und allein zum Ziel gesetzt hat, mich zu verdicken.

Mal ein Beispiel: In unserer Kultur machen wir ja gerne allerlei Drogen verantwortlich für Tod und Elend – und gehen dementsprechend restriktiv dagegen vor. Übergewicht mit all seinen Nebeneffekten kostet jedoch jährlich ein Vielfaches an Menschenleben – und dennoch: Harte Drogen sind – in der Regel – schwer zu beschaffen, den Schokoriegel gibt’s aber an jeder gutsortierten Tanke. Ich weiß das, weil ich es irgendwann in meiner Jugend auch mal verlockend fand, einmal einen halluzinogenen Rausch auszuprobieren und ich mich mit dieser – zugegeben wenig brillanten – Idee seinerzeit auf den Weg machte, entsprechende berauschende Stoffe aufzutreiben. Als ausgewiesenes Landei gab es dabei allerdings bereits bei der Beschaffungsplanung nicht zu unterschätzende Schwierigkeiten. Aus Filmen war mir natürlich bekannt, dass der Bahnhofsbereich einer Stadt immer die erste Adresse ist, wenn es um Drogen geht – doch das stimmt nur sehr bedingt, wenn der Bahnhof »Steinheim Westfalen« heißt. Rund um die zwei Gleise meiner Jugendstadt erwies es sich als recht schwer, einen potenziellen Dealer anzusprechen, einfach schon durch die Tatsache bedingt, dass es generell sehr schwer war, am Steinheimer Bahnhof überhaupt jemanden zu finden, den man hätte ansprechen können. In Steinheim war man ja schon froh, wenn von den gefühlten sieben durchfahrenden Zügen pro Tag wenigstens zwei davon auch anhielten, aus denen dann hin und wieder verstreute Rentner entstiegen, von denen allerdings keiner so richtig in meine Vorstellung eines verruchten Dealers zu passen schien. Eher im Gegenteil: Ich bin mir sicher, dass die Frage nach ein bisschen Crack oder LSD zum sofortigen Exitus durch Herzinfarkt bei den Angesprochenen geführt hätte.

Als Alternative ergab sich also nur die zweite, mir aus Filmen bekannte Art und Weise an berauschende Stoffe zu kommen: Warten, bis man von einer zwielichtigen Gestalt angesprochen wird, die einem dann umgehend die ganze Bandbreite der bewusstseinsverändernden Mittel kredenzen würde. Diese Vorgehensweise hatte jedoch ebenfalls einen entscheidenden Haken: In Steinheim auf dieses Ereignis zu warten hieße nämlich, sich auf eine sehr lange Zeit des Wartens einzustellen.

Auf eine wirklich ausgesprochen lange Zeit sogar, denn, bildlich gesprochen, wären an mir noch etliche trockene Büsche vorbeigerollt, bis ich irgendwann einmal etwas Drogenähnliches erhalten hätte. Tatsächlich glaube ich, dass ich nach einigen Jahren vergeblichen Herumlungerns irgendwann aus Mitleid von vorbeifahrenden Reisenden mit allerlei Almosen bedacht worden wäre, und mit ein bisschen Glück wäre vielleicht auch ein angerauchter Joint eines durchreisenden Kiffers dabei gewesen, der auf seinem Weg in die große weite Welt per Zufall durch Steinheim gekommen wäre. Dass ich so lange nicht warten wollte, dürfte nachvollziehbar sein, und so endete meine jugendliche Drogenkarriere bereits, bevor sie begonnen hatte. Aber was lernen wir daraus? Der Zugang zu Drogen ist vollkommen zu Recht erschwert. Alkohol gibt’s nur gegen Vorlage eines Personalausweises, und Zigaretten liegen an den Kassen der Supermärkte hinter Edelstahlrolltoren oder sind gesichert wie die Goldreserven in Fort Knox.

Ganz anders sieht es bei allem aus, was dick macht: Süßigkeiten sind verfügbar, immer und überall, und das für wirklich jeden, unabhängig von Alter, Geschlecht und Gewicht. Sie sind aber nicht nur verfügbar, sie werden uns Dicken förmlich aufgedrängt. Die liebe Oma, die dem Enkel einen Schokohasen mitbringt, ist auch morgen noch die liebe Oma … Mich würde interessieren, ob dem auch so wäre, wenn Großmuttern dem Sechsjährigen mal eine ordentliche Portion Shit mitbringen würde und ihm zu Weihnachten zeigt, wie man sich daraus tolle Joints bastelt.

Undenkbar, natürlich.

Und gerade in Bezug auf Zigaretten hat die industrialisierte Welt in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Wende hinbekommen. Während Rauchen in den 80er- und 90er-Jahren noch hip und cool war, ist es heute selbst auf öffentlichen Plätzen kaum noch möglich, eine Zigarette zu erstehen oder gar zu konsumieren, ohne den Blick schamvoll nach unten gesenkt zu halten. Das Gemeine ist nur: Der Rückzug der Zigarette aus den öffentlichen Bereichen wurde durch den Einzug der Kalorienbomben erkauft. Bin ich der Einzige, dem die Absurditäten dieser neuzeitlichen Dogmen auffallen? Bei Schokolade gibt es weder Hemmungen bei der Werbung noch beim Konsum, Kinderschokolade ist geradezu sprichwörtlich in aller Munde – warum gibt’s eigentlich keine Kinderkippe oder einen Kinderjoint? Von Kinderschnaps und Kindercrack gar nicht zu reden.

»Kindercrack – mit dem Besten aus vierzig Gramm reinem Amphetamin …«

Aha. Und jetzt sind Sie schockiert, weil das einfach unvorstellbar wäre? Und natürlich nicht logisch, richtig? Doch gerade die Logik ist beim Thema Genussmittel längst mit wehenden Fahnen von dannen galoppiert. Am Bahnhof stehen Raucher inzwischen in speziellen Raucherzonen, die nur dadurch gekennzeichnet sind, dass man Linien auf den Boden gemalt hat und diese Quadrate damit zu Raucherzonen ausweist. LINIEN AUF DEM BODEN! Erscheint Ihnen das wirklich noch logisch?

Es mag ja sein, dass der gemeine Raucher sich netterweise an derlei »Glimmstängeleinfriedung« halten mag, ich verspreche Ihnen aber, dass der Zigarettenrauch deutlich weniger Skrupel hat, diese Bodenbemalungen zu ignorieren, und unter Garantie sehr selbstbewusst über diese hinwegwabern wird. Auch im Kino ist das Qualmen heute undenkbar, sprich, Zigaretten werden dort weder verkauft noch geduldet. Die Popcorn-Portionen dagegen lassen inzwischen jeden Wassereimer wie einen Fingerhut aussehen, und der 1,5 Liter Colabecher wird unter dem Label MEDIUM verkauft. Will man ein Getränk unterhalb der Ein-Liter-Marke erwerben, muss man tatsächlich den Kinderbecher ordern … mit dann nur noch 0,75 Liter Zuckerwasser-Inhalt – komisch findet das offenbar niemand. Und das alles in Zeiten, in denen längst klar geworden ist, dass Übergewicht und die daraus resultierenden Herzkreislauferkrankungen längst zum größten Lebenskiller in den Industrienationen geworden sind. Die industrielle Lebensmittelindustrie im harmonischen Einklang mit der Werbeindustrie sind aus meiner Sicht exakt das, was die Tabakkonzerne vor einigen Jahrzehnten waren – vollkommen skrupellos und maximal gewinnorientiert, ohne auch nur einen Hauch eines Interesse an der Gesundheit ihrer Konsumenten.

Wenn man sieht, wie schwer es für die Gesetzgeber inzwischen ist, Regulatorien oder Einschränkungen gegen die gigantischen Lobbyisten der Lebensmittelhersteller durchzubringen, fällt es immer schwerer, die Schuld fürs eigene Übergewicht ausschließlich bei sich selbst zu suchen. Es grenzt ja fast schon an ein Wunder, dass die Inhaltsstoffe auf den Packungen angegeben werden müssen, natürlich so winzig und klein, dass man die Verpackung erst einmal akribisch absuchen muss. Wir tun uns also schwer mit der öffentlichen Wahrnehmung, so viel steht fest.

Am Gesundheitsargument kann es schwerlich liegen, weiß man doch über die gesundheitlichen Gefahren mindestens ebenso gut Bescheid wie einst beim Zigarettenrauch. Am meisten aber ärgert es mich, wenn mir ein Raucher wortgewaltig erläutert, wie schwierig es doch sei, mit dem Rauchen aufzuhören …

HA! Dass ich nicht lache.

Wer bei Wind und Wetter zum Rauchen auf die Straße geht, den gemütlichen Biertisch oder mitten im Film das Kino verlassen muss, der kann doch nun wirklich nicht behaupten, sein Laster werde ihm noch leicht gemacht. Denn während der Raucher im Schneesturm mit verfrorenen Fingern vor der Kinotür an seiner Kippe saugt, schaufelt der Kalorienabhängige seine zweieinhalb Kubikmeter Popcorn im gemütlichen lauschigen Kinosessel bei 3D-Animationen und Dolby-Digital-Sound in sich hinein und muss dabei den drei Liter Supersize-Softdrink dank mitgeliefertem Kingsize-Strohhalm noch nicht einmal mehr vom Boden anheben. Dasselbe gilt auch für die Werbung: Der Marlboro Mann ist längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen, kein Raucher ist mehr auf den Leinwänden und Fernsehbildschirmen zu sehen – aber wenn der perfekte Werbepapa mit dem perfekten Werbesohn rumkaspert, gibt’s zur Belohnung erst mal ein Schokobonbon – und die Bilderbuchmami schaut glücklich in die Kamera, denn interessanterweise sind grundsätzlich alle fröhlichen und in jeder Hinsicht unbeschwerten Schokoladennascher im Bild gertenschlank und idealfiguriert. Heute lachen wir über hundert Jahre alte Zeitungswerbung, in der Kokain als »beschwingt machendes Genussmittel« angepriesen wurde, ich bin gespannt, wie wir in hundert Jahren über die heutige Schokoladenwerbung denken. Wir sind inzwischen so umfassend manipuliert worden, dass uns gar nicht mehr auffällt, dass die herrlich leichte Yogurette deutlich mehr Kalorien beinhaltet als die danebenliegende vermeintlich »schwerere« Nuss-Nougat-Schokolade. Vergleichen Sie mal selbst, Sie werden sich wundern, welche Produkte so gänzlich anders sind, als es ihr Image eigentlich glauben machen soll.

Dass Zucker auf unseren Körper eine ähnliche suchtfördernde Wirkung hat wie harte Drogen ist keine Fantasie frustrierter Übergewichtiger, sondern eine in wissenschaftlichen Studien mehrfach belegte Tatsache. Zucker sorgt für die Ausschüttung von Dopamin und Opioiden, den gleichen Botenstoffen, welche der Körper bei Drogenkonsum in erhöhter Mengen ausstößt. Und das Gehirn entwickelt eine ebensolche Sucht nach diesen Opioiden wie bei Heroin oder Morphin. Ich bin ein Schokojunkie ersten Grades und schon unzählige Male am kalten Entzug gescheitert. Und »einfach mal so« ein Stück Schokolade NICHT zu essen ist für mich mindestens genauso schwer wie für einen Raucher, einfach mal so eine Zigarette nicht zu rauchen. Mit dem Unterschied, dass Rauchen inzwischen im allgemeinen Bewusstsein als sehr schädlich gilt und unsere Gesellschaft dank dieser öffentlichen Ächtung einen immer größer werdenden Druck erzeugt.

Kurz und gut: Es ist viel leichter, mit dem Rauchen aufzuhören, als auf eine süße Belohnung zu verzichten. Im ersten Fall gewinnen wir genau das Maß an Komfort und Bequemlichkeit, das wir im zweiten Fall verlieren. Würde unsere Gesellschaft sich bezüglich Schokolade und Chips so am Riemen reißen wie bei Zigaretten, gäbe es nicht nur Gitterkäfige für Tabakwaren, sondern auch Wiegestationen an den Supermarktkassen, und Kunden, die eine BMI-Abweichung von mehr als zehn Prozent haben, müssten beim Kauf eines Schokoriegels einen Haftungsausschluss für Folgeschäden unterschreiben. Auf Keksdosen müssten Warnhinweise stehen, dass dieses Gebäck die Gesundheit gefährdet, oder es würden eklige Bilder von Fettlebern und Schwabbelbäuchen aufgedruckt sein. Cafés, in denen Kuchen mit Sahne ausgegeben wird, müssten spezielle Räume für Hochkalorisches bereitstellen … Oder sie würden verpflichtet, als »Kuchenclubs« zu firmieren, zu denen Minderjährige erst gar keinen Zugang hätten. Sahne gäbe es nur noch auf dem Schwarzmarkt – oder am Bahnhof bei zwielichtigen Fettdealern. Wer mit mehr als einem Päckchen Butter oder achtzig Gramm Käse mit mehr als fünfundreißig Prozent Fettanteil über die holländische Grenze einreist, muss mit empfindlichen Geldstrafen und Punkten in der Flensburger Fettsünderkartei rechnen. Chipstüten dürften statt der aktuell üblichen hundertfünfundsiebzig Gramm geballter Verführung nur noch vier Gramm für den Eigenverbrauch enthalten, und Schokoriegel würden hinter den Rollgittern neben den Zigaretten an der Kasse gelagert.

Aber nichts von alledem ist Realität. Dick sein ist doof und ungesund, aber unsere Gesellschaft fördert diesen Zustand, wo sie nur kann. Ungesundes Essen und Fastfood-Tempel an jeder Straßenecke, Schokolade zu jeder Zeit und überall in Griffreichweite – und keine Änderung in Sicht, es gilt das Motto: »Last man standing«.

Dicker, du bist auf dich allein gestellt. Der Kampf gegen die Pfunde ist ein einsamer Kampf – nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen ein System, das sich zum Ziel gesetzt hat, ein Maximum an Kalorien unters Volk zu bringen. Eine »David gegen Goliath«-Inszenierung erster Güte also, mit dem Unterschied, dass dem dicken kleinen David auch noch seine Steinschleuder weggenommen und ihm stattdessen ein Schokoriegel in die Hand gedrückt wird. Einen Tusch also auf dieses Meisterwerk der Unlogik, für dieses Lehrstück an Verlogenheit!

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Es wird Zeit, uns klarzumachen, dass wir uns in einem System befinden, das eine ungesunde Ernährung nach allen Regeln der Kunst unterstützt, und unser heroischer Kampf gegen uns selbst in jeder nur erdenklichen Weise umfassend und ausgesprochen professionell torpediert wird.

Für billigen Zucker zahlen wir einen hohen Preis, und es kann nur noch eine Frage der Zeit sein, bis uns allen endlich klar wird und wir aufhören, uns von Kindesbeinen an mit dieser Droge vollzustopfen.

Mein Praxistipp Nr.11:

Eigentlich ist alles ganz einfach – man muss die vielen bunten Werbelügen nur richtig lesen:

Das »Beste« aus der Milch zum Beispiel ist unter kalorischen Gesichtspunkten schlicht und ergreifend das »Schlechteste« für Ihre Gesundheit. Viele »gesunde« Zutaten sind in erster Linie nur so lange wirklich gesund, solange sie nicht Verwendung im Schokopudding oder in den Kartoffelflips finden. Und wer tatsächlich glaubt, sich mit dem Verzehr einer Tüte Fruchtgummi oder Kaubonbons vitaminreich zu ernähren, ist bereits Opfer der Marketingstrategen geworden, noch bevor der Verdauungstrakt auch nur in die Nähe eines einzigen Vitamins gekommen ist. Unsere Lebensmittelindustrie will uns nicht gesund ernähren, sondern ihren Profit maximieren. Dass die Werbeindustrie uns Konsumenten in diesem gigantischen Ausmaß weiterhin an der Nase herumführen darf, ist nicht weniger als ein echter Skandal.