Kapitel 20

Eine besonders schwere Rolle?

2009, bei den Dreharbeiten zur Pro-Sieben-Märchenstunde, in der ich den Kalifen von Bagdad verkörperte, gab es im Drehbuch eine Szene, in der der Kalif hoch zu Ross dem bösen Schurken hinterherreitet, um seine Prinzessin zu befreien. Es verstand sich von selbst, dass ich gewillt war, auch diese Szene höchstselbst zu spielen – allerdings hatte ich insgeheim Zweifel, ob am Drehort ein ausreichend kräftiges Ross aufgetrieben werden könne, damit sich angesichts meines stattlichen Gewichts die heroische Verfolgung hoch zu Pferde nicht in eine brutale Tierquälernummer verwandeln würde. Um alle Pferdenarren zu trösten: DIESE Befürchtung erwies sich als völlig unbegründet, so viel sei schon mal verraten. Am Tag der Dreharbeiten kam also ein stolzer Pferdehalter mit einem beeindruckenden Araberhengst an der Leine zum Set – genauer gesagt, es kam der beeindruckende Araberhengst mit seinem Pferdehalter an der Leine zum Set, und das, was ich zunächst als Stolz in den Augen des Besitzers interpretiert hatte, erwies sich im Nachhinein als ein gerüttelt Maß nackter Angst. Doch das hatte ich leider zu diesem Zeitpunkt schlicht noch nicht richtig verstanden.

Bis zu den eigentlichen Aufnahmen war noch reichlich Zeit, und so beschloss ich, mich bereits im Vorfeld mit dem Tier ein wenig vertraut zu machen, damit wir beide dann beim Dreh bereits so richtig dicke Kumpel sein würden. Noch konnte ich nicht ahnen, dass das Pferd vollkommen andere Pläne hatte, aber die Freundschaft mit einem Zweibeiner stand definitiv nicht auf der tierischen Tagesordnung. Nun muss ich vorausschicken, dass ich eigentlich ein geübter Reiter bin, was ich im Wesentlichen meiner Schwester zu verdanken habe, denn die war – wie vermutlich neunundneunzig Prozent aller Mädels – in ihrer Jugend nicht nur völlig in Pferde vernarrt, sondern konnte darüber hinaus bereits recht früh eines dieser Tiere ihr Eigen nennen. »Black Beauty« – auf diesen wirklich unglaublich ausgefallenen Namen hörte unser Zossen. Ich gebe zu, dass mir außer Fury eigentlich kein anderer Name mehr einfallen würde, der weiter weg von der Definition »originell« sein könnte, aber zu unserer Entschuldigung sei gesagt: Black Beauty hatte diesen Namen bereits, bevor er Teil unserer Familie wurde.

Bei unserem neuen Familienmitglied handelte es sich um einen stattlichen Wallach aus dem ehemaligen Polizeidienst, und dadurch war Black Beauty tatsächlich ein bemerkenswert tiefenentspanntes Pferd. Aufgrund seiner Karriere »im öffentlichen Dienst« war er eigentlich durch nichts aus der Ruhe zu bringen, er war demonstrations- und krawallerprobt und somit als Übungstier schlicht unübertroffen. Mit Black Beauty konnte man wirklich alle nur denkbaren Kaspereien anstellen: voltigieren, rücklings reiten, Indianer spielen (Ihr wisst schon, dieses An-der-Seite-Hängen, damit einen die Cowboys nicht vom Pferd schießen!), toter Mann spielen (also bäuchlings quer auf dem Rücken – idealer Kotzbeschleuniger!) und über den dicken Hintern (vom PFERD!) herunterrutschen – Black Beauty war lammfromm, und so habe selbst ich wunderbar das Reiten auf ihm erlernen können. Unser tierisches Familienmitglied hatte sogar so etwas wie eine eingebaute Nothalte-Funktion: Wenn man herunterfiel, hielt er umgehend an, um den am Boden liegenden Menschen nicht zu verletzen. Ich gestehe, dass ich seinerzeit zwar viel lieber ein sprechendes Auto wie K.I.T.T. aus »Night Rider« oder zumindest so ’ne tolle Kiste wie den Superkäfer »Herbie« hätte haben wollen, aber der Zufall spielte uns nun einmal keinen Superwagen in die Garage, sondern einen Wallach auf die Wiese, ergo lernte ich reiten statt Rennen zu fahren.

Von dieser in jungen Jahren also ausführlich erworbenen Fähigkeit wollte ich also nun profitieren und der Produktionsfirma die Kosten für ein Reitdouble ersparen – im Nachhinein trifft die Definition »am falschen Ende gespart« dann wohl aber eher zu … Der Pferdebesitzer übergab mir das Pferd mit irrem Blick und den wohlwollenden Worten: »It is very strong in the head … once it is going, it is difficult to stop.«

Nun könnte man »strong in the head« mit ein wenig dickköpfig übersetzen, zutreffender wäre allerdings: absolut unbeherrschbar – aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt leider noch nicht. Noch war ich guter Dinge, dass mich meine umfassenden Reitkenntnisse auch diesen starrköpfigen türkischen Fury unter Kontrolle bringen lassen würden. Natürlich war mir klar, dass ich auf die wunderbare Nothalt-Funktion vom guten alten Black Beauty notgedrungen würde verzichten müssen, aber ich hatte derlei Luxusausstattung bei einem ausländischen Pferdefabrikat ohnehin nicht ernsthaft erwartet. Mit einem siegessicheren, aber bereits erste Zweifel zeigenden Lachen und der nachgerade kecken Antwort »That is O. K., I am strong in my legs« erklomm ich also den Araberhengst, wobei mir der Pferdehalter beim Aufstieg noch behilflich war, bevor er mich dann vertrauensvoll in die Hände Allahs übergab.

Wenn Pferde Rückspiegel hätten, hätte ich vielleicht einen flehenden Blick in Richtung Himmel erhaschen können, oder zumindest seine leichenblasse Gesichtsfarbe, was für einen türkischstämmigen Menschen schon einen beachtlichen Farbwechsel bedeutete. Pferde haben aber leider keine Rückspiegel, sodass mir alle vermeintlich warnenden Details leider entgingen, und schon tänzelte das türkische Ein-PS-Gerät mit mir Richtung Camp-Ausgang.

Natürlich bemerkte ich bereits nach wenigen Sekunden, dass das Übersetzungsverhältnis zwischen Getriebe und Motor bei dieser Power Machine ganz offensichtlich auf pure Beschleunigung ausgelegt zu sein schien, aber – der Himmel weiß warum – ich war nach wie vor war der Meinung, dass wir beide schon nach kürzester Zeit ein tolles Team sein würden. Mein Plan sah vor, dass der Araber und ich bis zum Drehbeginn vom schnöden »Ross-und-Reiter«-Modell zu einer geschmeidigen Einheit aus Kraft und Kontrolle werden würden, zu einer beeindruckenden Allianz aus Mut und Geschicklichkeit. Derart aufeinander abgestimmt würden wir die Verfolgungsszene mit Bravour meistern, so der Plan, das war mein Ziel. Ja, das war MEIN Ziel. Aber nur meins. Pferdis Ziel unterschied sich ganz grundlegend von meinem. Pferdi hatte nur ein Ziel! Das Durchbrechen der Schallmauer! Mit oder ohne Reiter!

Kraft kam in Pferdis Definition unter Garantie auch vor, allerdings nicht in Verbindung mit Kontrolle. Zunächst lief es eigentlich recht gut, und es gelang mir, den tänzelnden Zorro unter mir halbwegs zu bändigen, und als ich mich dann ein wenig vom Set entfernt hatte, beschloss ich, dem Pferd ein wenig mehr freien Lauf zu geben, um es müde zu galoppieren. Ein kurzes Lockern der Zügel reichte diesem Satansbraten dann auch aus, um mit Mach 4 loszusprinten und nach einer kurzen, aber absolut brachialen Beschleunigungsphase in einem komplett aberwitzigen Tempo dem Horizont entgegenzufliegen. Noch während ich überlegte, ob es schon jemand vor mir geschafft hat dem Sonnenuntergang nicht nur entgegenzureiten, sondern ihn quasi auch zu überholen, musste ich mein Gedankenspiel unterbrechen, um mich voll und ganz auf meine aktuelle Lage zu konzentrieren. Zwar war ich ob der unglaublichen Beschleunigungskraft dieses tierischen Torpedos durchaus überrascht, doch ich sah zunächst noch keinen Anlass zur Sorge: Mit einem so schweren Brocken wie mir auf dem Sattel würde es nicht allzu lange dauern, bis der Zossen erschöpft die Segel streichen würde.

Da stand ich nun also in den Steigbügeln, unter mir die wehende Mähne dieser beeindruckenden Rennmaschine, und preschte mit gefühlten 200 km/h durch die Stranddünen irgendwo in der Türkei, und ich müsste lügen, wenn ich nicht zugeben würde: Ja, es hat viel Spaß gemacht. Wahnsinnig viel Spaß. Es kribbelte im Bauch, es war aufregend und spannend, zumal ich nicht wirklich Angst hatte, denn ich war mir sicher, dass ich den Zossen im Griff hatte. Sogar das Steuern gelang mir im Ansatz recht gut, und ich schaffte es durch großzügige Schleifen, mich nicht immer weiter vom Set zu entfernen. Der feurige Hengst lenkte sich schwerfällig wie die Titanic, aber, immerhin: Er lenkte sich – gut, einem plötzlich auftauchenden Eisberg hätte ich vermutlich auch nicht mehr ausweichen können, aber DIESE Gefahr schätzte ich ja auch eher als sehr gering ein.

Nun war mir zwar das Anhalten oder auch nur das bloße Verlangsamen dieser Furie absolut unmöglich, doch meinen hundertdreißig Kilo Lebendgewicht würden die Akkus des Tieres irgendwann Tribut zollen müssen – das hier kann ich länger als das Pferd, dessen war ich mir ganz sicher. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem der linke Steigbügel riss – damit würden sich die Kräfteverhältnisse schlagartig verändern, so viel war mir sofort klar. Das kann ich nicht länger als Fury, nein, das kann Fury definitiv länger als ich, da gab es nichts mehr zu beschönigen.

Nur durch bloße Beinklammerkraft und panikartiges Festhalten an der Mähne gelang es mir, nicht umgehend vom rasenden Pferd zu fallen, und es wurde mir blitzartig bewusst, dass es nun ICH sein würde, dem der Akku deutlich früher ausgehen würde – und fast schien es mir, dass auch das Pferd zu spüren schien, das sich unser vormals fein austariertes Machtgefüge deutlich zu seinen Gunsten verschoben hatte. Unsere kleine persönliche Fehde war damit in eine neue, äußerst instabile Phase eingetreten. Das bis dahin vorherrschende Gleichgewicht der Mächte, the balance of power, war ruiniert worden durch einen simplen gerissenen Steigbügel. Fury hatte quasi aufgerüstet und warf nun alles in die Schlacht, was er zu bieten hatte, und auch wenn ich es nicht für möglich gehalten hatte, legte dieser Teufelsbraten noch ein oder zwei Briketts drauf und schien tatsächlich noch ein bisschen mehr zu beschleunigen.

Wie in einem Zeittunnel rauschte die Landschaft an mir vorbei, und ich war mir nicht sicher, ob das vor mir noch der Sonnenuntergang oder nicht doch schon wieder der Sonnenaufgang war – ein Schild Sydney – 2 km hätte mich vermutlich nicht wirklich verwundert … Schlagartig war allerdings auch der ganze Spaß weg, und aus dem Kribbeln im Bauch war eine fiese Übelkeit geworden, gepaart mit der äußerst unguten Befürchtung, in wenigen Momenten an diesem verdammten türkischen Strand, zwei Kilometer vor Sydney, in die ewigen Jagdgründe eingehen zu müssen … Ich hing wie ein Schluck Wasser auf dieser stampfenden, tobenden Muskelmasse, der Boden rauschte in einem so aberwitzigen Tempo unter mir vorbei, dass ich an einen Absprung noch nicht einmal denken mochte, und doch wusste ich, dass dies die vermutlich einzige Möglichkeit war, diesen Ritt wenigstens halbwegs kontrolliert zu beenden – lieber einen gewollten Absprung auf eine Stelle meiner Wahl, als in wenigen Sekunden völlig willkürlich gegen einen Felsen gekegelt zu werden. Wenn ich es also schaffen würde, mich irgendwie abzurollen, rechnete ich mir zumindest noch eine winzige Überlebenschance aus, und es war allemal besser, als früher oder später in der Erdatmosphäre zu verglühen. Ich preschte also auf eine Hecke zu und nahm mir vor, direkt vor der Hecke abzuspringen, nämlich genau in dem Moment, in dem dieser Satansbraten zum Sprung ansetzen würde. Und während ich also noch überlegte, wie man sich bei Tempo zweihundertachtzig und den damit verbundenen geschätzten 9000 Umdrehungen pro Minute wohl am besten abrollen könnte, ohne dabei allein durch die blanke Rotation in tausend Stücke gerissen zu werden, beschloss das vormals unbändige Tierchen von jetzt auf gleich, dass er für heute genug gerannt war – und blieb stehen.

Nicht dass ihr mich jetzt falsch versteht: Er wurde nicht irgendwie langsamer und kam dann nach und nach zum Stehen, nein, er machte eine Vollbremsung und STAND urplötzlich am Strand wie FESTGETACKERT. Wer nun in Physik gut aufgepasst hat, weiß, dass zwei nicht fest miteinander verbundene Körper (A und B), die sich mit einer konstanten Geschwindigkeit (G) durch den Raum bewegen, nicht zwangsläufig beide zum Stehen kommen, wenn der angetriebene Körper (A) den Vortrieb schlagartig auf null reduziert. Vielmehr bedeutet es, dass Körper (B) sich auch weiterhin mit der gleichen Geschwindigkeit durch den Raum bewegt wie zuvor beide Körper zusammen.

In der konkreten Situation hieß das für mich: Während mein vitaler Vierbeiner einfach so mal eben den Vortrieb einstellte, zischte ich folgerichtig mit Lichtgeschwindigkeit zielstrebig Richtung Hecke los, abgefeuert wie eine frisch justierte Mittelstreckenrakete, um genau dort auch ebenso fulminant einzuschlagen. An die Flugphase kann ich mich nicht mehr erinnern, was vermutlich an den 80g (80-fache Erdbeschleunigung) lag, der ich nach dem Abfeuern ausgesetzt war, aber an den Aufschlag erinnere ich mich noch, als ob es gestern war. Er war schmerzhaft, worüber ich mich paradoxerweise aber wie ein Wahnsinniger freute, denn ich wusste: Nur wer noch lebt, kann solche Schmerzen entsprechend würdigen. Da steckte ich nun, frisch in die Hecke eingedübelt, ein paar Kratzer am Körper, aber wie durch ein Wunder ansonsten unversehrt.

Wow … Was für ein Ritt … welche Naturgewalt.

Augen und Nüstern weit aufgerissen, weißer Schwitzschaum auf dem gesamten bebenden Körper, das Herz rasend, das Blut spürbar pulsierend … und auch das Scheiß-Pferd war ein bisschen erschöpft! Ich mag mich irren, aber irgendwie meine ich mich erinnern zu können, dass der Zossen etwas Triumphales im Blick hatte, etwas, was mir deutlich sagte, dass ich den Rückweg zum Drehort besser NEBEN dem Tier wählen sollte anstatt darauf. Und so trat ich den Heimweg zum Camp zu Fuß an, sammelte unterwegs den Steigbügel ein und zog ein geradezu lammfrommes Pferd hinter mir her.

Im Camp angekommen, übergab ich das Tier seinem Halter, setzte mich ein wenig zerzaust neben Erik, den Regisseur, und willigte kommentarlos in die Buchung eines Stuntdoubles für die Entführungsszene hoch zu Ross ein – an dieser Stelle noch einmal vielen Dank an die Filmcrew für das T-Shirt mit dem netten Aufdruck: »I survived turkish horsepower …«