Es war ein sonniger Frühlingsmorgen des Jahres 1997, ein Wochenende. Wie herrlich es war, so lange zu schlafen. Die Sonne lachte durch mein Zimmerfenster und streichelte mir zart die Wangen, im Baum vor dem Fenster zwitscherten munter die Vöglein ihr Lied, und es schien, als riefen sie mir fröhlich zu: »Steh auf, Oliver … steh auf … sieh, welch schöner Tag es ist, hinaus, hinaus, welch Glückes Überschwang …!«
Derart gut gelaunt begab ich mich zu meiner morgendlichen Wiegestation im Bad. Noch nichts Böses ahnend versuchte ich auf dem Weg dahin durch einige Extraschritte flotter Tanzeinlagen noch einen kurzfristigen Kalorienabbau zu forcieren, doch auf der Waage angekommen schockierte mich einmal mehr das angezeigte Resultat. Man sagt ja immer, vor dem Tod liefe das ganze Leben noch einmal wie ein Film ab, bei mir ist es so, dass beim Wiegen der vorige Tag noch einmal wie im Film abläuft … und zwar Kalorie für Kalorie.
Das reichhaltige Frühstück, der mächtige Schokoaufstrich, mittags der Besuch in der Frittenbude, nachmittags … ach, Gott ja … Omas Geburtstag, der Kuchen … soll man den leckeren Kuchen denn einfach stehen lassen? Und sicherlich … über die eine oder andere Cola am Abend hätte man reden können, ja eventuell sogar reden müssen, aber deshalb zwei Kilo? Gottverdammt, zwei Kilo in zwei Tagen?? Das kann nicht sein, das konnte nicht sein.
Wie weggeblasen die Leichtigkeit des Seins, das Zwitschern der Vögel schlagartig verstummt, dunkle Wolken, die sich vor die Sonne schoben, alles um mich herum wurde schwarz und schwer, Wut kochte in mir hoch, geballte Frustration peischte durch mich hindurch, weil ich spürte: So kann es nicht weitergehen. So darf es nicht weitergehen. Ich musste einen Weg herausfinden aus dieser Spirale der Frustration, mich neu besinnen, musste all meine Kraft zusammennehmen, um diesen Kreis des Terrors zu durchbrechen. Und so schaffte ich das Unmögliche! Mich zu befreien. Mich loszulösen aus dieser Drangsal der Kalorien, diesem Diktat des Dickseins, dieser Geißel der Übergewichtigen.
Ich beschloss an diesem denkwürdigen Frühlingsmorgen, dass es diesmal anders werden würde als bisher. Ich würde nicht schon wieder den Rest des Tages frustriert vom morgendlichen Wiegen miesmuffelig an abgestandener Diätcola rumnuckeln, würde mir nicht meinen Tag, meine Woche und mein Leben versauen lassen … nicht heute! Nicht hier! Nicht mit mir!
Ich stand auf der Waage, schloss die Augen und atmete tief durch … O. K., ich gebe zu, dass ich beim Ausatmen noch einmal auf die Anzeige schielte, in der Hoffnung, dass die eben gerade so reichlich ausgeatmete Luft doch noch das eine oder andere Gramm weniger … Aber nein, es änderte nichts.
Da stand ich nun, tief einatmend, in mich selbst horchend, ich spürte den Raum, atmete, ich spürte die wohlige Wärme des Badezimmers, das weiche flauschige Handtuch rechts neben mir auf dem Handtuchhalter, mein Körper entspannte sich, die Verkrampfung löste sich, ich ging ans Fenster, öffnete es fast wie in Trance und atmete tief ein, füllte meine Lungen mit dieser wundervollen Frühlingsluft, die Wolken gaben die Sonne wieder frei, ein paar Singvögel begannen erneut ihr Liebesspiel, und ich kehrte zurück zu meiner Waage, bückte mich, nahm sie vorsichtig in die Hände, drehte sanft und ohne Hast meinen Oberkörper zur Seite, streckte meinen Arm mit der Waage aus und – schleuderte das verfluchte Mistding dann mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft aus dem Fenster.
Wie leicht das ging. Wie leicht die Waage ihren Weg nach unten fand. Und so war er geboren: der Weg der Leichtigkeit.
Selten habe ich mich am Morgen nach dem Wiegen so großartig gefühlt. So frei. So fit. Mir ging es gut. Es lebe der Weg der Leichtigkeit. Und die Waage?
Nun, nach einer beeindruckenden Flugphase detonierte das Mistding auf der Rasenfläche und zersprang in tausend Teile. Der Rahmen hatte sich tief durch die Grasnarbe gebohrt, das Anzeigenblatt hing deformiert am Oberblech, einige Teile schlugen im näheren Umkreis der »Master Impact Zone« ein, die mechanische Feder schaffte es sogar bis zur Hecke an der Grundstücksgrenze.
Unterm Strich dürfte die Waage sicherlich den »Weg der Leichtigkeit« deutlich weniger enthusiastisch betrachtet haben, aber ein bisschen Schwund ist eben immer, das ist bisweilen auch bei philosophischen Erkenntnissen so. Und man darf nicht vergessen, dass das wohlige Gefühl der Genugtuung für diese unzähligen Momente tiefster Frustration beweist, dass der Weg der Leichtigkeit eben nicht nur einer von vielen ist, nein: Er ist an manchen Tagen der einzig richtige Weg.
Mein Praxistipp Nr.12:
Wie schon in Tipp 2 gesagt: Steigen Sie nur auf die Waage, wenn Sie mit JEDEM Ergebnis gut leben können. Erstens ist der »Weg der Leichtigkeit« auf Dauer recht kostspielig, und zweitens ist die Genugtuung über den vermeintlichen Sieg über das Wiegegerät nur von sehr kurzer Dauer – insgeheim weiß man, dass man verloren hat, da hilft dann auch kein transzendentaler Rechtfertigungsversuch.