Kapitel 28

Materialermüdung

Ein solides Übergewicht in einer auf fünfundsiebzig Kilogramm Normalgewicht ausgelegten Umgebung und Materialbestückung bringt es ganz zwangsläufig mit sich, dass man in Sachen physikalischer Gesetze den einen oder anderen Wissensvorsprung gegenüber Normalgewichtigen erworben hat. »Erworben« heißt in diesem Zusammenhang allerdings nicht, dass man besondere Studiengänge belegt oder vorm Schlafengehen noch ein, zwei Kapitel aus »Einsteins physikalischem Almanach« verschlungen hätte, sondern schlicht, dass man anhand von meist schmerzhaften und grundsätzlich peinlichen und eigentlich immer ungewollten Experimenten herausgefunden hat, wie, wo und wann welche Materialien an ihre strukturbedingten Grenzen gelangen. Bruchfestigkeit, Verwindungssteifigkeit, plastische Verformung und die immer wieder gern überschrittene Bruchgrenze sind für uns Übergewichtige nicht einfach nur die Bezeichnungen von physikalischen Gegebenheiten, nein, es sind vielmehr Begriff gewordene Traumata ganz persönlicher Desaster im Umgang mit Alltagsgegenständen.

Ein Beispiel: Im Lexikon liest man zur Bruchgrenze folgende nüchterne Definition:

Die Bruchgrenze: Der Werkstoff kann nicht unendlich weit plastisch verformt werden. Wird die Bruchgrenze überschritten, bricht der Werkstoff.

Das hört sich zunächst ja recht unspektakulär an. In der Realität jedoch hat diese eigentlich harmlose Beschreibung psychisch wie physikalisch eine vernichtende Wirkung. Wenn man schon einmal vor einer versammelten Hochzeitsmannschaft während der Brautpaaransprache im Garten mit einem dünnwandigen Klappstuhl mitten im feierlichsten Moment krachend in den Erdboden kollabierte, weil der verdammte Rohrrahmenklappstuhl offenbar seine Bruchgrenze erreicht hatte, dann ist das ein experimenteller Nachweis jener physikalischen Gesetzmäßigkeit, auf die man als dicker Hochzeitsgast definitiv gerne verzichtet hätte. Besonders, wenn man sich noch einmal die Definition vor Augen hält, in der es ja heißt: Der Werkstoff kann nicht unendlich weit plastisch verformt werden.

Die Erkenntnis, dass man ganz offenbar diese »unendliche Weite« allein mit seinem Körpergewicht überschreiten kann, sprengt neben der physikalischen leider auch die psychologische Bruchgrenze. Ich habe für sie deswegen auch eine eigene, für Übergewichtige vollkommen naheliegende Wortdefinition: Die Bruchgrenze ist zum Kotzen! Egal ob Faltboote, Klappstühle oder Mofas – unsere gesamte Gesellschaft ist tatsächlich für ein Gewichtsschema um die fünfundsiebzig Kilogramm ausgelegt. Fünfundsiebzig Kilogramm!! Und jedes Kilo mehr bringt es mit sich, dass man sich mit den Materialien, denen man sich anvertraut, etwas intensiver befasst, als es vermutlich der Normalmensch tut. Ich zum Beispiel habe mir im Laufe des Lebens antrainiert, instinktiv alle relevanten Materialien in meiner Umgebung grundsätzlich erst einmal auf deren Belastbarkeit abzuscannen. Wenn ich einen Raum betrete, dann achte ich nicht auf die Dekoration oder ob mir die Tapete gefällt oder nicht – nein, ich scanne die Umgebung systematisch nach fettnapftauglichen Belastungsrisiken. Im Klartext: Innerhalb weniger Sekunden habe ich vor meinem geistigen Auge eine präzise virtuelle Karte des Raumes erstellt, auf der alle für mich relevanten Parameter automatisch erfasst werden, und das sieht dann zum Beispiel so aus: Stuhl in der Ecke links – alt, offenbar Jahrhundertwende, Material: Holz, eventuell morsch – nicht setzen! Regal rechts: Ikea, wenn vernünftig zusammengebaut, prinzipiell zum Anlehnen geeignet. Da davon auszugehen ist, dass beim Zusammenbau eklatante Fehler begangen wurden, ist sicherheitshalber aber schon vom Anlehnen Abstand zu nehmen. Der gemütliche Sessel am Fenster: Stabil, solide, sieht auch noch bequem aus, aber sehr, sehr tief – komme ich vermutlich ohne fremde Hilfe nicht wieder raus, würde für allgemeines Gelächter sorgen, sehr peinlich. Prüfergebnis: nicht reinsetzen.

Aus diesem Grunde sind geschmackliche Komponenten für mich grundsätzlich erst einmal irrelevant und werden oftmals auch gar nicht von mir wahrgenommen. Die Frage: »Und? Wie fandst du die neue Küche?«, kann ich dann oftmals nur mit »Klasse – die Barhocker wirkten stabil genug« beantworten, was Normalgewichtige nicht selten irritiert zurücklässt. Aber ich arbeite daran.

Ähnlich wie beim Faltkanufahren (von dem meinem gesamten Freundeskreis offenbar nur noch die Szene meines unrühmlichen Untergangs in Erinnerung geblieben zu sein scheint) kann man sich auch durch die Wahl eines falschen Sitzmöbels in das kollektive Langzeitgedächtnis des gesamten Bekanntenkreises brennen. Der 18. Geburtstag meines damaligen Kumpels Jürgen war auch so eine typische Veranstaltung, welche weitestgehend allen Party-Besuchern aus der damaligen Zeit nur als das »Sitzsackmassaker« in Erinnerung geblieben ist. Naiv und unbedarft, aber schon damals etwas schwergewichtig, hatte ich mich recht früh am Abend schwungvoll in einen dieser 80er-Jahre-Sitzsäcke geworfen. Diese mit Milliarden kleinster Styroporkügelchen gefüllten Jutesäcke waren damals in jedem zweiten Kinderzimmer zu finden und luden förmlich dazu ein, sich lässig darauf fallen zu lassen. Dumm nur, wenn man versucht, das Maximum an Lässigkeit dadurch herauszuholen, indem man mit schwungvollem Anlauf und einem angedeuteten Salto mortale auf diesen Sitzsack hechtet. Es dürfte unnötig sein zu erwähnen, dass das Mistding beim Auftreffen meines Körpers mit einem infernalischen Knall explodierte und seinen gesamten Inhalt durch den Raum blies.

HAHA. Ein Riesenspaß. Zum Schlapplachen. Wirklich.

Wenn man nicht gerade der bedauernswerte Rollmops ist, der im Zentrum der Detonation etwas ungelenk versucht, aus der erschlafften Jutehülle wieder zurück auf die Füße zu kommen. Wer noch nie die geradezu beeindruckende Wechselwirkung zwischen elektrostatischer Aufladung und kleinen Styroporkügelchen erfahren konnte, dem empfehle ich mal einen intensiven Tauchgang in einem Becken voller Styropor direkt nach einem Spurt über einen vollsynthetischen Teppich. Das Ergebnis meiner Turneinlage war wirklich beeindruckend: Ich sah aus wie geteert und gefedert.

Kapitel_28.jpg

Diese verdammten kleinen Kügelchen pappten wirklich überall an mir, wie ein gigantischer Magnet schien ich immer mehr von den Mistdingern anzusaugen, ich hatte sie in der Nase, in den Ohren, im Mund, in der Hose … einfach überall, meine Silhouette dürfte nur noch schemenhaft zu erkennen gewesen sein, und jeder Schneemann wäre erblasst vor Neid, angesichts meiner wirklich bemerkenswert prachtvollen weißen Ummantelung. Ich habe noch Wochen später unzählige dieser anhänglichen Minibällchen aus den Klamotten gepult. Fakt ist: Spricht man heute mit irgendeinem von damals über diese Geburtstagsparty, erinnert sich wirklich kein Schwein daran, wie die Party eigentlich war. Dass Jürgen zum Beispiel einen knallroten Golf von den Eltern bekommen hatte, oder dass der Plattenspieler nachts um eins den Geist aufgegeben hatte, oder dass es zu einem heftigen Streit zwischen Markus und Sabine gekommen war – KEINE SAU erinnert sich an diese Details, aber JEDER erinnert sich an das Sitzsack-Massaker vom dicken Beerhenke! Einige von den Partybesuchern können sich noch nicht einmal mehr an den Namen des Gastgebers erinnern, aber sobald du eine Explosionsgeste machst und mit weit aufgerissenen Augen ein »PUFFFFFF« raushaust, erinnert sich schlagartig jeder sofort daran, wie ich als putziges Styropormännchen mit einem erschlafften Jutesack ums Überleben kämpfte. Einzig die Tatsache, dass damals noch nicht jeder mit einer Kamera im Telefon rumlief, hat mich davor bewahrt, dank sozialer Netzwerke vermutlich zum Vollhonk des Millenniums gekürt zu werden. »Star Wars Kid« wäre ein Witz gewesen gegenüber »The Exploding Snowman«.

Ich habe meine Lehren daraus gezogen. Sitzsäcke werden von mir seither grundsätzlich vor der Benutzung erst einem intensiven und ausgiebigen Materialcheck unterzogen, der jede TÜV-Prüfung locker in den Schatten stellt. Von nicht minder großer Bedeutung ist die Fähigkeit, Materialien schnell auf ihre spezifischen Eigenschaften einzuschätzen, wenn man sein gewohntes Habitat verlässt und sich auf das Abenteuer Kirmes einlässt. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube nicht, dass sich Normalgewichtige beim Besteigen eines Kirmeskarussells in gleicher Weise mit den sie umgebenden und sichernden Materialien beschäftigen wie ich. Inzwischen kann ich in Sekundenbruchteilen, nur durch kurzes Mustern der Haltebolzen beim Schließmechanismus, berechnen, wo die wahrscheinliche Bruchgrenze des Bolzens liegt und ob mein Körpergewicht für eben jenen Normbolzen eine noch vertretbare Belastung darstellen würde – und nicht immer komme ich zu dem gleichen Schluss wie der TÜV, der das Karussell sicherlich nach bestem Wissen und Gewissen durchgeprüft hat … Da ich davon ausgehen muss, dass der prüfende TÜV-Mitarbeiter vermutlich normalgewichtig war, ist Kontrolle eben besser als schlichtes Vertrauen.

Denn – damit sind wir wieder am Anfang – den scheiß Klappstuhl hatte ja schließlich auch mal irgendwann ein TÜV-Prüfer durchgewunken, und dennoch ist er unter mir kollabiert – bei der Hochzeit zwar peinlich, aber nicht so lebensbedrohend wie beim Kirmeskarussell auf dem Jahrmarkt. Ganz im Ernst: Ich habe mir in den Dingern schon so oft detailliert ausgemalt, wie es wäre, wenn die (Normgewichts-)Verankerung unter mir bei voller Fahrt die Bruchgrenze überschreitet – und ich dann mit Mach 4 über den Frittenimbiss an der Losbude vorbei Richtung Riesenrad sause, um dann mit der Karussellgondel krachend in der Geisterbahn einzuschlagen – Matsch und tot durch unvorteilhafte Materialermüdung. Derlei plastische Fantasien verleiden einem dann doch ein wenig den ungetrübten Spaß an spektakulären Fahrgeschäften. Ich wage mal die These, dass jeder Dicke, der ein solches Fahrgeschäft besteigt, einfach grundsätzlich immer ein bisschen mehr Chuzpe und Lebensmut hat als diese ganzen Hungerhaken, deren einzige Sorge es sein könnte, nicht unter dem Bügel durchzurutschen. Wobei eben jene Leichtgewichte für mich durchaus einen essenziellen Mehrwert bei Kirmes-Fahrgeschäften haben und ich die »Freude am Fahren« mitunter einzig und allein solchen Mitreisenden zu verdanken habe. Es sind eben jene Momente, die mich die Angst vor brechenden Haltebolzen vergessen lassen, wenn ich mich in einer klassischen Zweiergondel neben einen besonders dünnen Zeitgenossen setze und sich der gemeinsam um unsere Körper schmiegende Sicherungsbügel schließt.

Wenn eben jener Bügel dann sehr dicht an meiner Plauze knarzend einrastet, hat Kollege Windhund neben mir dann meistens noch einen erklecklichen Spielraum schrecklich dünne Luft zwischen sich und dem Bügel – die aufkeimende Panik in seinen Augen ist unbezahlbar und zaubert mir dann immer ein mitfühlendes Lächeln ins Gesicht.

So kann auch ich die schnell rotierenden Fahrten genießen, wenn ich meinen Mitfahrer genüsslich dabei beobachten kann, wie er sich verzweifelt an alles klammert, was greifbar ist. Und während seine Gelenkknöchelchen schon ganz weiß und blutleer werden, weil sie sich so fest um die Chromhaltestangen klammern, überlege ich insgeheim, wo denn wohl die Bruchgrenze für Mittelhandknochen liegen könnte, und wie es wohl aussähe, wenn der Mitfahrer in der nächsten Runde mit Schwung unter dem Haltebügel hindurch Richtung Frittenbude schießt, während sich seine dürren Händchen noch an die blutverschmierten Haltegriffe klammern. Ein Blick ins panische Gesicht des Kollegen lässt mich dann vermuten, dass der in diesem Moment etwas sehr Ähnliches denkt.

So macht der Jahrmarkt dann doch wieder Spaß. Am Ende haben wir alle etwas davon: Ich hatte endlich wieder unbesorgten Spaß im Karussell, und mein leichtgewichtiger Fahrtabschnittsgefährte kann sich das Geld für die Geisterbahn sparen – bleicher wird er definitiv nicht mehr.

Mein Praxistipp Nr.17:

Tatsächlich können Sie die ein oder andere Peinlichkeit vermeiden, wenn Sie bei der Sichtung Ihrer Umgebung nicht nur auf passende Farbauswahl und schicke Designfeinheiten achten, sondern sich ein bisschen intensiver mit den verarbeiteten Materialien auseinandersetzen.

Als Basistipp: Meiden Sie Plastik, wo immer sie nur können. Plastik ist vermutlich von einem sehr schlanken Zeitgenossen erfunden worden, und wenn ich mich nicht allzu sehr irre, dann hatte dieser Weichmacherfreak einen geradezu sadistischen Hass auf alle Übergewichtigen – anders kann ich mir die Brucheigenschaften dieses Materials nicht erklären.