»Dick sein« heißt auch, sich seiner Wirkung auf die Umwelt bewusst zu sein. Manchmal ist es zwar ganz lustig, sich in einen bereits gut gefüllten Aufzug zu quetschen und die Mitfahrer dann dabei zu beobachten, wie sie alle verzweifelt nach dem Informationsschild suchen, wo draufsteht, wie viele Personen der Aufzug denn wirklich sicher nach oben befördern kann. Lustigerweise gibt es Aufzüge, in denen ein Schild hängt:
»Max. 650 kg – oder 10 Personen.«
Wer auch nur über rudimentäre Kenntnisse in Mathe verfügt, dem fallen an dieser Gleichung mehrere Ungereimtheiten auf, und man wird beim Betreten des Aufzugs unweigerlich auf die Idee kommen, dass dieser Aufzug nicht »Made in Germany«, sondern »Made in Lilliput« sein muss, denn 650 kg auf 10 Personen verteilt würde bedeuten, dass jeder Einzelne nur vergleichsweise zwergenhaften Wuchs aufweisen dürfte. Bei voller Belegung dürfte jeder Fahrgast demnach ja nur fünfundsechzig Kilogramm wiegen – und dürfte dabei nicht mehr als eine Papiertüte am Körper tragen. Würde ich bei meiner Kreuzbreite und dem schweren Knochenbau nur 65 kg wiegen, hätte ich die eher kompakten Ausmaße eines kleinen bärtigen Kampfzwerges, der den Fahrstuhl vermutlich auf seinem Weg nach Mordor benutzt.
Nun mögen zehn nackte Zwerge im Aufzug (die Papiertüten sind aus) für den einen oder anderen ja eine recht unterhaltsame Vorstellung sein, definitiv »not amused« sind hingegen meistens die neun normalwüchsigen Personen, die sich bereits im Aufzug befinden, wenn ich noch mitfahren will. Da die versammelte Fahrstuhlcrew in der Regel eben nicht aus unbekleideten Zwergen oder Hobbits besteht, wird mein Mitfahrwunsch recht oft mit bösen, bisweilen auch sehr ängstlichen Blicken quittiert. Das Ungerechte daran ist ja, dass grundsätzlich immer ich, der Dicke, die bösen Blicke auf sich zieht – und nicht der Typ in der Ecke mit seinem riesigen Treckingrucksack oder der Familienvater mit dem Großeinkauf. Und obwohl im Rucksack mindestens zwölf nackte Zwerge inklusive gigantischer Kampfäxte Platz finden würden, käme keiner auf die Idee, den Rucksackträger mit bösen Blicken zu belegen – das macht man lieber mit dem einzigen Dicken an Bord. Aber vielleicht kommt einem das manchmal auch nur so vor. Vielleicht ist man einfach schon zu lange dick, und der ein oder andere böse Blick ist gar nicht so gemeint. Ich nenne es die Gewichtsparanoia: Ganz egal, was man macht, man hat immer das Gefühl, dass einen die Mitmenschen anstarren, weil man nicht unter die Normgewichtsgrenze fällt.
Ein weiteres Beispiel hierfür sind Rolltreppen bzw. deren unergründliche Eigenschaft, immer genau dann stehen zu bleiben, wenn ein Dicker auf ihr fährt. So eine Rolltreppe transportiert tagein, tagaus unentwegt Menschen rauf und runter. Natürlich ist es vollkommen logisch, dass sie irgendwann einmal ein Defekt zum Stehen bringen wird.
Aber hier kommt der Haken: Irgendwann ist nicht wirklich willkürlich irgendwann. In der Realität bleibt sie eigentlich immer genau in dem Moment stehen, in der ein dicker Mensch sie betritt – also ICH.
Ganz im Ernst, ich habe es selbst bereits mehrfach erlebt, dass eine tadellos funktionierende Rolltreppe genau in dem Moment den Geist aufgab, als ich die unterste Stufe betrat – Dutzende anderer Menschen auf der Treppe, direkt vor mir eine Mutti mit vier Kindern, davor ein Punk mit Bierpulle, ein Geschäftsanzug mit Handy am Ohr, Menschen wie du und ich, sie alle haben die Treppe betreten und rollern entspannt nach oben – stehen geblieben ist das Ding erst, als der Dicke kam.
Es scheint so, als ob Rolltreppen nur darauf warten, dass sich ein dicker Mensch gegen den Fußmarsch entscheidet und diese mechanischen Treppen eine unbändige Freude daran entwickeln, den Dicken blöd aussehen zu lassen. Denn was passiert, wenn die Rolltreppe stehen bleibt? Jeder, wirklich JEDER dreht sich um und schaut nach unten, um herauszufinden, wer denn nun die Treppe gekillt hat – es spielt keine Rolle, dass man absolut nichts, ich betone, absolut gar nichts mit dem Ableben des Transporttreppchens zu tun hatte. Die Blicke, die man erntet, entlarven die gesetzlich zugesicherte Unschuldsvermutung als blanke Farce, sobald es um Gewichtsfragen geht.
»Nanu? Ah … sicher … der Dicke da unten … war ja klar.«
Es ist völlig aussichtslos zu erklären, dass so eine Rolltreppe theoretisch auch in der Lage wäre, einen ausgewachsenen Blauwal am Stück nach oben zu wuchten, oder dass selbst zehn Elefanten die Mechanik einer Rolltreppe nicht nennenswert beeinträchtigen könnten. Nein, in den Gesichtern der Menschen auf der Treppe vor einem geben sich Schadenfreude, Ärger und der Unwille zur logischen Analyse fröhlich die Hand. Mit anderen Worten: Der Dicke war’s. Die einzige Möglichkeit, doch noch irgendwie halbwegs unbeschadet aus der Nummer rauszukommen wäre, wenn hinter mir noch ein Dicker stehen würde, den man dann natürlich möglichst vorwurfsvoll anstarren könnte. Aber so viel Glück ist selten.
Mein Praxistipp Nr.18:
Das Schicksal können Sie nicht besiegen – sich selbst aber schon.
Deshalb lautet der Tipp auch, nicht zu versuchen, unangenehme Situationen zu vermeiden, sondern Ihr Selbstbewusstsein dahingehend zu beeinflussen, dass Sie derlei Situationen souveräner meistern. Scheren Sie sich nicht um die Blicke der anderen, entscheidend ist einzig und allein Ihr eigener Blick. Alternativ kaufen Sie sich ein T-Shirt mit dem Aufdruck: »NEIN, ich habe die Rolltreppe NICHT kaputtgemacht.« Ich selbst habe es mir inzwischen zur Regel gemacht, bei vorhandener Alternativtreppe aus fest verbauten Materialien lieber diese zu wählen – und habe bisher gute Erfahrungen damit gemacht. Bis zum heutigen Tage ist unter mir noch keine einzige massive Steintreppe kollabiert – ich werte das als gutes Zeichen.