Kapitel 30

Die Bilderverschwörung, oder: »Murphy’s Law« der Fotografie

»Wenn etwas schiefgehen kann, wird es schiefgehen«. Diese simple Erkenntnis trifft Dicke mit einer signifikant höheren Wahrscheinlichkeit als Dünne – da bin ich mir ganz sicher. Und ähnlich wie bei Rolltreppen, die nur dann nicht mehr rollen, wenn ein Dicker sie betritt, gibt es ein Phänomen, das ich das »Murphy’s Law-der-Fotografie«-Phänomen nenne.

Um dieses Phänomen zu beschreiben, muss man wissen, dass meine Schwester und meine Cousins gewichtstechnisch allesamt eher unterentwickelt waren. Jahrelang habe ich mit der Last der Bilder aus unseren Familienalben gelebt, auf denen mehrere Kinder unserer Familie gemeinsam spielten, malten oder rumdölmerten. So weit, so unscheinbar, aber von den insgesamt ca. sechzig oder siebzig Bildern dieser Art ist auf der Mehrzahl immer eines der Kinder zu sehen, das etwas isst oder trinkt. Und nun raten Sie mal, welches der Kinder das grundsätzlich war. Richtig, der kleine, den kulinarischen Genüssen zugeneigte Junge war ICH.

Hierzu drei Beispiele: Ein Bild, wie es vermutlich in Millionen Fotoalben vorkommt. Ein Schnappschuss eines lustigen Kindergeburtstags, alle Kinder stehen um die große Torte herum, alle lachen, alle kichern, nur einer hat den riesigen Keks in der Hand … Wer wohl? Richtig, ICH. Der kleine dicke Junge.

Beispiel zwei: Ein bereits leicht vergilbtes Fotojuwel von einem Familienausflug im Sommer 1977: Wir Kinder spielen im hellen Sonnenschein auf einer Wiese, alle haben Spaß, alle Kinder toben wild herum – nur einer nicht. Einer steht an der Picknickdecke bei Mama und haut sich eine Riesenflasche zuckriger Limonade rein. Wer wohl? Richtig: ICH. Der kleine dicke Junge.

Beispiel drei: Die erste Klassenfahrt, eine ganze Horde Kinder auf dem Bild, alle wild durcheinander. Die meisten erkenne ich heute gar nicht mehr, und auch mich selbst kann ich auf dem Bild kaum ausmachen – dabei ist das doch ganz einfach: Hinten links, etwas verdeckt, steht die einzige Figur auf dem gesamten Wimmelbild, die ein geradezu absurd gigantisches Eis in der Hand hält. Um wen könnte es sich wohl handeln? Richtig, das bin ICH. Der kleine dicke Junge. Mit ’nem riesen Eis in der Hand. Vierzig Jahre lang habe ich mich ohne jeden Widerspruch diesem fotografisch dokumentierten Schicksal ergeben. Habe Ursache und Wirkung nie in Frage gestellt. »Dicke Kinder essen gern …« – es klingt doch alles so schlüssig. Warum sollte man das also hinterfragen?

Diese Bilder haben sich jedenfalls in mein diätisches Gedächtnis eingebrannt wie das glühende Brandzeichen auf dem prallen Hintern eines Rassepferdes. Und natürlich erinnert sich auch JEDER aus meiner Familie an genau diese Bilder: »Hey Olli, weißt du noch, dieser geile Sommer damals … es gibt da doch dieses eine Bild, wo wir da auf der Wiese … na ja … dieses Bild, wo du diese Riesenpulle Limonade in der Hand hast …« Selbst, wenn es aus dieser Zeit Bilder gäbe, auf denen im Vordergrund Marsmenschen auf der Erde gelandet wären – erinnern würde man sich in meiner Familie nur an mich im Hintergrund, wie ich dann wohl gerade einen Hot Dog esse. Das ist eine Schmach, wie sie vermutlich alle anderen fotografisch dokumentierten dicken Kinder bestens kennen.

Schicksalsergeben hätte ich nie angezweifelt, dass die Bilder schlicht und ergreifend nur zeigen, dass ich halt gern und viel gegessen habe, deshalb bin ich ja auch dick. Logisch, dass ich das also auch auf den meisten Bildern tue. Warum sollte ich das also anzweifeln? Natürlich bin ich immer davon ausgegangen, dass man sich für ein Bild meines wirklich hageren Cousins, auf dem er gerade etwas isst, vermutlich wochenlang, geduldig wie ein Großwildjäger, auf die Lauer hätte legen müssen, nur um an diesen seltenen Schnappschuss zu gelangen. Um hingegen mich beim Essen zu erwischen, reichte es offenbar, bei einem beliebigen gesellschaftlichen Ereignis etwas Essen auszulegen, und dann einfach hin und wieder auf den Auslöser zu drücken. Mit Sicherheit hat der kleine dicke Junge dann auf jedem zweiten Bild die Backen voll.

Wären diese Alben in der heutigen Zeit entstanden, wo die Manipulation von Bildern mittels digitaler Bildbearbeitung eine Leichtigkeit ist, ich wäre vielleicht irgendwann mal misstrauisch geworden. Aber so? Nein, die Bilder waren allesamt authentisch und NICHT manipuliert. Wer meine Mutter schon mal im Umgang mit einem PC gesehen hat, wird niemals an der Echtheit aller Bilder zweifeln – so viel war sicher. Und so war es schlussendlich auch nur ein Zufallsfund im Keller meines Elternhauses, der für mich die Wahrnehmung der fotografierten Wirklichkeit mit einem Schlag geradezu vaporisierte. Ich habe Dinge ans Tageslicht gebracht, deren Tragweite die Sichtweise Millionen dicker Menschen aus der prädigitalen Foto-Ära grundlegend erschüttern wird. »Watergate« war ein Dreck gegen die schier unfassbare Dokumentation, welche in einem kleinen verstaubten Schuhkarton in einer dunklen Ecke im Heizungskeller meiner Eltern bis zu seiner spektakulären Entdeckung vor sich hin schlummerte.

Es waren Bilder. Dutzende. Hunderte. Bilder, recht ähnlich denen, wie ich sie aus den Familienalben unseres Clans kenne. Schockierendes, mich geradezu paralysierendes Bildmaterial, hervorgekramt an einem verregneten Novembertag im Jahre 2012. Der Schuhkarton war gefüllt mit ganz ähnlichen Bildern eben jener Ereignisse, welche seit Jahrzehnten meinen Werdegang als wohlgenährtes Fotomodell präzise dokumentierten. Sie ähnelten den eingeklebten Bildern mitunter bis ins Detail, mit einem einzigen, gravierenden Unterschied: Ich esse oder trinke auf den Bildern: NICHTS.

Was sich so unspektakulär anhört, ist in Wirklichkeit eine kleine Sensation, und deshalb sage ich es noch einmal mit aller Deutlichkeit: Ich esse auf den Bildern nichts. Ich trinke auch nichts.

Tatsächlich waren es Bilder, die dokumentierten, dass ich als dickes Kind ganz offenbar auch an gesellschaftlichen Ereignissen teilhaben konnte, ohne etwas in mich reinzustopfen! Eines der Fotos zeigt die gleiche Szene vom besagten Kindergeburtstag aus dem Album, vermutlich keine fünf Minuten vor oder nach dem eingeklebten Bild aufgenommen. Es zeigt die gleiche Meute inklusive meiner Wenigkeit, aber noch habe ich den verdammten Keks nicht in der Hand – oder nicht mehr – das kann ich natürlich nicht genau sagen, aber Fakt ist: Vom Keks fehlt jede Spur. Auf dem Foto sieht alles fast genauso aus, die große Torte, die vielen Kinder … nur ich, ich hab keinen Keks. Keinen Keks! Ist die Tragweite dieser Erkenntnis auch nur annähernd klar?

Ich halte KEINEN KEKS in der Hand. Diese Bilder entlasten mich von einem jahrzehntelangen zerstörerischen Selbstbildnis. Es gibt also tatsächlich keksfreies Bildmaterial von mir. Stattdessen stehe ich unschuldig wie ein Engelchen am Bildrand und lache das Geburtstagskind an (zugegebenermaßen kann es auch sein, dass ich entzückt die große Torte anstrahle, so genau ist das nicht zu sagen, aber das ist nicht der entscheidende Punkt). Die Frage ist doch: Warum verstaubt dieses tolle Bild mit einem dem Zuckergebäck entsagenden Oliver unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem muffeligen Schuhkarton, während das »Olli-mampft-Keks«-Bild den Ehrenplatz im Album bekam? Und es ging noch weiter:

Das Sommerpicknick. Mindestens zwölf weitere Bilder von unserer Familie, wie wir herumtollen und herumkaspern, inklusive meiner Wenigkeit, wie ich beschwingt wie eine Elfe über die Wiese hopple, weit entfernt von der großen Zuckerwasserpulle auf der Picknickdecke. Auf einem der Bilder scheint sogar mein hagerer Cousin nach der besagten Fanta-Flasche zu greifen, unglücklicherweise wurde hier aber der Auslöser eine Millisekunde zu früh gedrückt, als dass man dieses seltene Ereignis tatsächlich hätte fotografisch dokumentieren können. Aber auch hier stellt sich die Frage: Warum zum Henker sieht man im Fotoalbum das Bild mit mir und der Riesenpulle an den Lippen anstatt eines der zwölf anderen Bilder, auf denen ich weder esse, trinke noch sonst irgendetwas tue, was Dicke offenbar auf allen Bilder ganz automatisch tun müssen, um sich einen Platz im Album zu sichern? Ich bin überzeugt, dass es irgendwo auf dieser Welt einen Schuhkarton gibt, in welchem Bildmaterial existiert, das belegt, dass ich auf dem dritten erwähnten Foto, jenem von der ersten Klassenfahrt, das gigantische Eis vermutlich nur kurz für einen Freund gehalten habe und es in Wirklichkeit gar nicht MEIN Eis war. Oder dass ich gezwungen wurde, dieses riesige Eis in den Händen zu halten, einfach nur, damit die Welt das Foto bekommt, das sie erwartet. Ich würde sogar so weit gehen, dass in Kindergärten Eisattrappen aus Pappmaché vorhanden sind, damit man etwas hat, was man den dicken Kindern fürs Foto in die Händchen drücken kann.

Das Ganze riecht doch geradezu nach einem unfassbar riesigen Skandal, einer systematischen Bilderverschwörung, welche besagt, dass Dicke überproportional beim Essen und Trinken fotografiert werden müssen. Vermutlich gibt es ein regelrechtes Kartell der früheren Bildentwickler, die bei der Entwicklung darauf achteten, dass immer die Bilder am schärfsten wurden, auf denen der Dicke isst oder trinkt.

Ich wollte es wissen. Die ganze Wahrheit. Alles endgültig aufdecken. Den Spuren nachgehen, Zeitzeugen befragen, Indizien zusammentragen. Und ich habe da angefangen, wo es am meisten wehtut: bei meiner Mutter. An den Fotografen dieses Klassenausflugbildes konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber die Erschafferin der skandalösen Familienalben lebte nur eine Etage über dem belastenden Pappkarton.

Berauscht von den mich vollkommen entlastenden, über dreißig Jahre alten Bildbeweisen, habe ich also meine Mutter umgehend in ein strenges interfamiliäres Verhör berufen, um die ganze Wahrheit endlich ans Licht zu bringen. Ich habe zur Wahrheitsfindung extra Drogen, präziser gesagt Alkohol in Form einer Flasche Portwein besorgt, in der Hoffnung, meine Mutter notfalls auf diesem Wege redselig zu machen. Es ging hier schließlich um die Aufdeckung des größten Skandals seit der Erfindung der Fotografie.

Derart vorbereitet habe ich sie dann mit den schockierenden Indizien konfrontiert und überraschenderweise sofort ein schonungslos offenes Geständnis erhalten. Die Antwort war allerdings derart ernüchternd, dass ich den bereitgestellten Alkohol nun lieber selbst trinken musste. Die Antwort war – das muss man einfach sagen – auch entwaffnend nett: Die Bilder, auf denen ich etwas esse oder trinke, das seien eben einfach die süßesten gewesen … Mehr nicht.

Moment. So einfach sollte es sein? Und was genau soll das heißen? Ich war also nur süß, wenn ich aß? So wollte, so konnte ich das nicht stehen lassen, und so machten wir uns gemeinsam bei einem gemeinsamen Glas Portwein an eine präzise Einzelbildanalyse. Hier und da musste ich, eventuell auch unter der Einwirkung des Alkohols, einräumen, dass es vom Bildaufbau tatsächlich am stimmigsten war, wenn jemand in die Bildkomposition mit all den unruhigen Elementen eines Kindergeburtstages einen sanften Ruhepol als Kontrastelement einbrachte – und so, wie ich da stand und den Keks hielt, so ruhig, kontrolliert und in freudiger Erwartung, da wirkte das Bild eben tatsächlich einfach am besten.

Und auch das Familienidyll auf der Wiese, – das Foto, auf dem mein spargeliger Cousin die Fanta-Flasche zu greifen scheint –: Er ist leider nur im Profil zu sehen und bei seiner dürren Figur damit fast unsichtbar. Aber auf Familienbildern sollen alle gut zu erkennen sein – also doch das Foto mit mir an der Flasche und dem Cousin auf der Wiese. Das alles waren wirklich gute Argumente. Erst recht nach dem letzten Tropfen Portwein. Irgendwann habe mich dann einfach damit abgefunden. Habe meinen Frieden gemacht mit den Fotoalben aus vergangenen Zeiten. Ich habe zwar kurz überlegt, die Bilder im Album auszutauschen, aber … ganz ehrlich … das ist doch, als ob man versucht, im Internet einen Skandal zu vertuschen: So etwas kann nur nach hinten losgehen.

Ich glaube, es würde mir auch etwas fehlen, wenn ich plötzlich völlig ohne Kulinaria im Familienalbum verewigt wäre, und jeder aus der Familie würde mich vermutlich nur noch fragen: »Sag mal Olli, wo ist denn noch einmal dieses eine Bild, wo wir da im Sommer … na ja … dieses Bild, wo du diese Riesenpulle Sprudel am Hals hast …«

Mein Praxistipp Nr.19:

Bleiben Sie entspannt. Nicht nur Dicke finden sich selbst auf Fotos unvorteilhaft getroffen – das geht vielen Dünnen Gott sei Dank genauso.

Auch hier gilt: Arbeiten Sie an Ihrer eigenen Souveränität. Lachen Sie mit den anderen über das »furchtbare« Bild, Sie können es eh nicht mehr ändern, es ist bereits geknipst, und je mehr Sie sich dagegen wehren, desto mehr Anreiz besteht, es sich genauer anzuschauen. Und wenn das nicht hilft: Fuchsen Sie sich in die digitale Bildbearbeitung ein. Das optische Idealgewicht ist dann nur noch ein paar Mausklicks weit entfernt … und wenn Sie es dann schon so richtig draufhaben, verpassen Sie den schlanken Bildprotagonisten auch noch ein paar hässliche Pickel.