In den neunziger Jahren hatte ich einmal eine Zeit lang einen klassischen Bürojob in einem Großraumbüro. Alles war bestens, tolle Kollegen, netter Chef und ein ruhiger Job am Computer. Ich war wirklich sehr zufrieden mit der Arbeit, nur eines habe ich nie hinbekommen: Die betrieblich geförderte Gleichstellung des Schokoriegels mit der Zigarette.
Unsere Gesellschaft hat sich wunderbar darauf verständigt, Zigaretten als gesellschaftsfähige Suchtmittel anzuerkennen, das Suchtpotenzial von Schokokeksen aber weiterhin zu leugnen – kein Mensch wird merkwürdig angeguckt, wenn er mitten im intensivsten Meeting mal in die Runde fragt: »Boah … ich brauch jetzt unbedingt ’ne Kippe – kommt jemand mit auf eine kurze Zigarettenpause?« In der Regel marschieren dann drei, vier Kollegen mit vor die Tür, stecken sich eine Zigarette in den Mund und machen ein gemütliches Nikotinpäuschen.
Tatsächlich ist es so, das Zigarettenpausen gesellschaftlich so gut verankert sind, dass ein Aufschrei des Entsetzens und des Protestes durch die Büroflure hallte, als der Arbeitgeberverband im Zuge der rauchfreien Arbeitsplätze einmal verlangte, die Zigarettenpausen zu verbieten. Durchgekommen sind sie damit freilich nicht, die Zigarettenpause ist so fest in uns zementiert wie das Grundgesetz.
Ich hingegen wurde immer etwas komisch angeguckt, wenn ich mal aufsprang und rief: »Boah … ich brauch jetzt echt unbedingt was Süßes. Kommt jemand mit auf eine kurze Kekspause?« Unnötig zu erwähnen, dass ich meist allein draußen vor der Tür stand, um meinen Knusperkeks zu verdrücken. Aus irgendeinem Grund sieht es aber sehr komisch aus, wenn ein einsamer Dicker vor der Tür während der Arbeitszeit einen Schokokeks mampft, während die quarzenden Kollegen hingegen quasi natürlich und vollintegrativ zur Bürodeko zu gehören scheinen. In meiner gesamten Bürozeit habe ich es nicht ein einziges Mal erlebt, dass der Chef über die paffenden Kollegen vor der Tür meckerte, während meine harmlosen Schokoladentafel-Pausen für durchdringende, missbilligende Blicke sorgten. Ich nenne dies »das Zigarettenpausenparadoxon«. Lustigerweise wurde mein Verhalten umso mehr toleriert, je mehr Raucher ich als Beisteher zur Kurzpause für meinen Snack gewinnen konnte – irgendwie scheinen rauchende Menschen für Vorgesetzte immer noch mit der Arbeit beschäftigt zu sein, während der essende Angestellte sich ganz offensichtlich auf Kosten der Firma vor der Arbeit drückt – das verstehe, wer will, ich nicht.
Noch absurder wird es, wenn man anfängt, Schokolade einfach so zu umschreiben, wie es Weinliebhaber mit ihrem Lieblingsgetränk tun. Weinkenner versuchen sich ja ganz offenbar gegenseitig mit den beklopptesten Umschreibungen ihres vergorenen Traubensaftes zu überbieten, anders kann ich mir die ein oder andere Formulierung nicht mehr erklären.
Jede noch so versteckte Eigenschaft eines guten Tropfens wird in so absurd blumige Worte verpackt, dass ich allein schon deshalb gerne auf Weinverkostungen gehe, weil ich dort in kürzester Zeit so viele Ideen für eine Comedy-Nummer bekomme wie in keinem kreativen Brainstorming der Welt.
»Ahhh ….was für ein Bouquet … Die Farbe ist zartgelb, gelegentlich mit goldgelben Reflexen. Im Aroma zeigt sich ein fruchtiger Duft, der zarte würzige Komponenten enthält. Weine aus guten Mostgradationen können extrareich, vollmundig, bisweilen mandelartig schmecken … er passt gut zu Teigwaren, Reisgerichten und leicht zubereitetem Fisch.«
In guten Weinhandlungen sind derlei erquickende Gespräche keine Seltenheit, aber gehen Sie mal in einen Süßwarenladen, beißen Sie herzhaft in eine Tafel Schokolade Ihrer Wahl und schwärmen Sie dann vor der Verkäuferin mit leuchtenden Augen:
»Ahhh …. was für ein Bouquet … die Farbe ist rehbraun, gelegentlich mit tiefschwarzen Reflexen. Im Aroma zeigt sich ein vanilliger Duft, der zarte sahnige Komponenten enthält. Schokoladen aus guter Fermentierung können extrareich, vollmundig, bisweilen nussig schmecken … passt eigentlich immer und zu allem, am besten als Nachtisch oder abends auf dem Sofa.«
Wenn Sie dazu noch herzhaft laut schmatzen, gurgelnd und lautstark viel Luft einsaugen und am Ende die halb zerkaute Schokolade in den Regenschirmständer spucken, haben Sie zwar im Wesentlichen nichts anderes gemacht als ein angesehener Weinfachmann, dürften aber noch nicht einmal im Ansatz mit einer vergleichbaren Anerkennung rechnen, sondern viel eher recht schnell in der geschlossenen Psychiatrie enden.
Wer vergorene Traubensäfte beschreibt wie Prinzessin Lillifee auf Koks, darf sich in unserer Gesellschaft Weinexperte oder gar Sommelier nennen und genießt die Anerkennung in den höchsten Kreisen. Wer sich aber im Schokorausch zu schwurbeligen Lobeshymnen der Kakaoverehrung hinreißen lässt, muss aufpassen, nicht als kompletter Vollidiot dazustehen.
Mein Praxistipp Nr.22:
Akzeptieren Sie das Zigarettenpausenparadoxon als vom Universum gegeben. Versuchen Sie nicht, eine Akzeptanz für Ihre Schokosucht bei Ihren Kollegen zu erreichen, Sie werden scheitern. Fehlt Ihnen das Selbstbewusstsein, mit dem Schokoriegel in der Hand vor die Tür zu gehen, oder fehlt Ihnen der Kommunikationsanteil der Raucherpause, empfehle ich Ihnen schlicht und ergreifend Schokozigaretten. Sie werden sehen, viele Kollegen werden es noch nicht einmal bemerken, dass sie Ihre Zigarette essen, statt sie zu rauchen. Und was die Schokoladenverköstigung angeht: Schwelgen Sie besser im Stillen – die Welt ist einfach noch nicht reif genug für echte Schokoladensommeliers.