„Damals waren wir beide 13 Jahre alt, wir hatten dann lange keinen Kontakt mehr. Letztes Jahr habe ich Achmad aber im Internet gesucht, als ich wusste, dass ich nach Israel komme. Ich habe ihn gefunden und bin seitdem wieder in gutem Kontakt mit ihm und seiner Familie.“
„Warum wollten seine Eltern denn nach Palästina ziehen?“
„Ursprünglich stammen sie von hier, sein Großvater ist aber irgendwann nach Argentinien ausgewandert. Ich weiß nicht so genau, warum sie plötzlich nach so langer Zeit nach Palästina zurückgegangen sind, vielleicht, weil sie hier im Gegensatz zu Argentinien eine riesengroße Verwandtschaft haben.“
Ein großes rotes Warnschild am Straßenrand tauchte auf und zog Lindas Blick auf sich. Der Bus fuhr gerade langsam genug, dass sie den Text lesen konnte: „Diese Straße führt zur Zone A unter palästinensischer Autorität. Für israelische Staatsbürger ist das Betreten verboten, lebensgefährlich und gegen das israelische Gesetz.“
Mariana, die das Schild ebenfalls gesehen hatte, sagte: „Gleich begeben wir uns sozusagen auf eigene Gefahr in Zone A.“
„Ja, und wenn wir nicht mehr rauskommen, haben wir Pech gehabt.“ Wie zwei Verschwörer blickten die beiden Freundinnen sich an und nickten, und aus allen vier Augen leuchtete freudige Aufregung. Mariana hatte mit Achmad vereinbart, dass er sie an der Bushaltestelle abholen würde, dann konnte ihr Abenteuer beginnen.
Kaum hatte der Bus den Qalandia Checkpoint passiert, kam es Linda so vor, als tauche sie in eine komplett andere Welt ein. Während sie weiterfuhren, kamen einige wunderschöne Villen in Sicht, und vor kleinen Läden mit schön geschnörkelten, arabischen Schriftzeichen an der Wand hingen Kleider und Spielsachen. Sogar Möbel standen zum Verkauf an der Straße. Händler priesen schreiend ihre Ware an, kleine Jungs schlängelten sich vorbei an hupenden Autos und Motorrädern, um Taschentücher oder Schokolade zu verkaufen, hier und da schob jemand einen voll beladenen Brot-Wagen durch die Straßen.
Kurze Zeit später hatten sie den Busbahnhof in Ramallah erreicht und stiegen aus. Achmad war nicht da. Mariana rief ihn an und erfuhr von ihm, dass er noch etwas erledigen müsse, aber bald käme. Linda, die nicht länger warten wollte, schlug vor, die Stadt schon mal auf eigene Faust zu erkunden und sich an einer anderen Stelle mit ihm zu treffen. Mariana war skeptisch. „Wir kennen uns doch gar nicht aus, wie sollen wir denn einen anderen Treffpunkt finden?“
„Mit dem Navi.“ Linda zeigte auf ihr Handy. „Wenn Achmad sich nachher meldet, kann er uns einfach sagen, wo wir hinkommen sollen.“ Damit war Mariana einverstanden, und nachdem sie Achmad mit einer WhatsApp-Nachricht Bescheid gegeben hatte, begaben sich die beiden Freundinnen in das Getümmel der belebten Straßen von Ramallah.
Autofahrer hupten, ein junger Mann mit einem Tablett Kaffeebecher lief, ohne zu schauen, über die Straße. Ein Kleinbus hielt abrupt an, die Tür flog auf und der Fahrer schimpfte wild gestikulierend. Die Luft roch nach Benzin, doch ein Stück weiter schlug Mariana und Linda der weitaus angenehmere Geruch von Ingwer und anderen Kräutern entgegen. Sie waren an einem Markt angelangt. Dort herrschte reges Treiben, und schon waren sie mittendrin im Gewusel unzähliger Menschen.
An bunten Marktständen priesen Verkäufer lauthals Kleidung, Obst, Gemüse, Spielzeug und Schmuck an, begleitet von noch lauterer Musik aus Lautsprechern. Vor einem Hauseingang saß eine alte Frau mit lila Kopftuch auf einer Treppenstufe, umringt von bunten Plastiksäcken voller Kräuter, die sie zum Verkauf anbot. Eine streunende, magere Katze schlich sich an, schnüffelte vorsichtig an einem der Säcke und war im nächsten Augenblick wieder verschwunden. Neben der Frau stand eine Karre auf drei Rädern, voll beladen mit leuchtend roten Tomaten, und ein paar Schritte weiter gackerten Hühner, eng zusammengepfercht in einem Käfig.
Fasziniert von dem reichhaltigen Warenangebot unter den farbenfrohen Schirmen merkten Mariana und Linda gar nicht, dass sie sich immer tiefer in das Gassengewirr begaben. Sie sahen sich Schmuck und Lederwaren an, sogen den Duft der Gewürze ein und staunten über die Vielfalt und Fülle an Obst und Gemüse. An einem Stand mit bunten Kopftüchern probierte Linda gerade einen Hidschab12 an, als Marianas Handy klingelte. Achmad wollte wissen, wo sie waren. Doch weder Mariana noch Linda hatten in dem Wirrwarr von Gässchen darauf geachtet, wie sie gelaufen waren, und jegliche Orientierung verloren. Linda nahm das perlenbestickte, pinkfarbene Tuch vom Kopf und legte es auf den Tisch zurück. Mit den Augen suchte sie die Häuserreihen auf beiden Seiten der Gasse nach einem Straßenschild ab, sah aber nirgendwo eins. „Keine Ahnung. Sag ihm, dass wir auf dem Markt sind und er uns eine Adresse in der Nähe nennen soll, dann kommen wir mithilfe des Navis dorthin.“ Mariana tat, wie geheißen, woraufhin sich zwischen ihr und Achmad eine längere Diskussion entspann, von der Linda aber so gut wie nichts verstand, da sie Spanisch miteinander sprachen.
Nach dem Gespräch berichtete Mariana: „Als ich Achmad gesagt habe, dass wir unser Navi benutzen wollen, hat er erst mal gelacht und gemeint, das ginge nicht, weil es hier nicht funktioniere. Aber er hat mir Name und Adresse von einem Kleiderladen gegeben, wo wir uns treffen können. Wir sollen einen Händler auf dem Markt nach dem Weg fragen.“
„Wieso sollte das Navi hier nicht funktionieren? Wir haben Empfang, und in Jerusalem benutze ich es doch auch öfters ohne Probleme. Gib mir mal die Adresse.“ Linda öffnete die Navi-App auf ihrem Handy, tippte Stadt und Straße ein und wartete darauf, dass die Route berechnet wurde. Ungläubig starrte sie auf das Ergebnis. Mariana fragte: „Was ist los? Müssen wir zu dem Kleiderladen weit laufen?“
„Keine Route gefunden.“ Linda schüttelte den Kopf. „Seltsam, die Straßen von Ramallah werden überhaupt nicht angezeigt. Also hatte Achmad doch recht.“ Sie wandte sich an den Kopftuchverkäufer, der in gebrochenem Englisch erstaunlich wortreich den Weg erklärte. Er nahm sogar Papier und Kugelschreiber und machte eine Skizze von den Gassen, die sie entlanglaufen mussten. Genau vier Minuten später standen Linda und Mariana vor dem Laden, und weil Achmad noch nicht da war, gingen sie hinein. Die Stille, die sie empfing, war wohltuend. Ein kleiner, untersetzter älterer Mann in einem dunkelblauen Kaftan aus Seide mit langen Fledermausärmeln begrüßte sie auf Englisch und fragte, womit er dienen könnte. Linda sagte ihm, dass sie sich etwas umschauen wollten, woraufhin der Verkäufer eine weit ausladende Armbewegung in den Laden hinein machte und dabei so breit lächelte, dass seine Goldzähne blitzten.
An goldfarbenen Ständern hingen teure Mäntel, elegante Abendkleider, knöchellange Röcke und aufwendig bestickte Blusen aus Satin oder Seide. Besonders angetan waren Linda und Mariana von den farbenfrohen, mit hübschen Blumenmustern bestickten langen Kleidern. Mariana hielt ein schwarzes Kleid vor sich, das vorne überreich mit kleinen roten Blumen bestickt war. „Das ist ein traditionelles Kleid in Palästina. Wie findest du das?“
„Total schön, aber etwas mehr Farbe würde dir noch besser stehen.“ Linda nahm ein ockerfarbenes Kleid mit bunter Blütenstickerei vom Bügel. „Darin siehst du bestimmt total cool aus! Probier’s doch mal an!“ Während Mariana in der Umkleidekabine verschwand, entdeckte Linda einen Ständer mit festlichen Kleidern, von denen eines schöner war als das andere. Ganz besonders gut gefiel ihr ein langes, rubinrotes Kleid, über und über mit Perlen und Glitzersteinchen bestickt. Die Ärmel aus Tüll waren mit Pailletten versehen, die in allen Regenbogenfarben schillerten, der Rock war mit einer spitzenbesetzten Rüsche gesäumt. Das Kleid war so schön, dass es locker als Hochzeitskleid durchgehen konnte. Wie sie wohl darin aussehen würde? Sie nahm es vom Bügel und hielt es sich vor dem danebenstehenden Spiegel an. Dabei sah sie Mariana in dem ockerfarbenen Kleid von hinten auf sie zukommen, gefolgt von einem jungen Mann, der sie um beinahe zwei Köpfe überragte. Das musste Achmad sein. Linda hängte das Kleid an den Ständer zurück, und als sie sich wieder umdrehte, stand sie den beiden gegenüber. Linda fand, dass Mariana in dem Kleid sehr hübsch aussah, ihr Blick wanderte jedoch sofort weiter zu dem großen, gut aussehenden Mann hinter ihr. Er war lässig und gleichzeitig elegant gekleidet, trug eine offene schwarze Lederjacke, ein weißes T-Shirt, hellblaue Jeans und weiße Markenturnschuhe. An seinem Handgelenk glänzte silbern eine Armbanduhr wie auch die großgliedrige Kette am Hals. Das schwarze, kurze Haar war akkurat geschnitten, sein Gesicht mit den kräftigen Zügen vom Kinn bis zu den Ohren von einem äußerst gepflegt aussehenden Bart eingerahmt, der seine Vollendung in Form eines perfekt getrimmten Schnurrbarts fand.
Mariana stellte vor: „Linda, das ist Achmad – Achmad das ist Linda.“ Achmad lächelte Linda charmant an, und ihre Blicke begegneten sich. Linda sah in zwei tiefbraune, ungewöhnlich geschwungene Augen, die so sanft aussahen, dass sie für einen Augenblick lang wie verzaubert daran hängen blieb. Nie zuvor war sie einem Mann begegnet, der sie so aus der Fassung gebracht hatte. Wie im Traum hörte sie sich selbst Hallo sagen und stellte dabei verärgert fest, dass ihre Stimme einem Krächzen sehr nahe war. In nahezu fließendem Englisch erwiderte Achmad: „Hallo Linda, schön, dich kennenzulernen“, und dann tat er etwas, womit Linda überhaupt nicht gerechnet hatte: Er umarmte sie spontan. Ihr wurde heiß und kalt gleichzeitig, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie spürte, dass sie errötete, und drehte sich abrupt zum Kleiderständer um. Während sie so tat, als zupfe sie das soeben zurückgehängte Kleid zurecht, wirbelten ihre Gedanken wild durcheinander. Schon so lange hatte sie keinen Mann mehr berührt. Shomer negiah – Hüter des Anfassens; bereits vor Jahren hatte sie beschlossen, sich an die Regel der orthodoxen Juden zu halten, dem anderen Geschlecht vor der Ehe nicht zu nahe zu kommen, und sie hatte seitdem peinlich genau darauf geachtet, einem Mann, der nicht mit ihr verwandt war, weder die Hände zu schütteln noch ihn zu umarmen.
Natürlich konnte Achmad das nicht wissen, und er ahnte nicht, dass er mit seiner Umarmung bei Linda einen Sturm der Gefühle ausgelöst hatte. Noch während sie das Kleid glatt strich, war ihr auf einmal, als ob tief in ihr drin eine Mauer zu bröckeln begann, und ein unbeschreiblich schönes Gefühl breitete sich in ihr aus. In dem Moment wusste sie, dass von nun an nichts mehr so sein würde wie bisher.
Bemüht darum, sich nichts von alledem anmerken zu lassen, setzte sie ein Lächeln auf, dann drehte sie sich wieder um. Mariana sah Linda prüfend an. „Du bist ja ganz rot, ist dir nicht gut?“
„Alles gut, mir ist nur ein bisschen heiß geworden, ist irgendwie stickig hier drin.“ Hoffentlich entstand nun keine peinliche Pause, weil niemand etwas zu sagen wusste. Linda war heilfroh, als Achmad das Wort ergriff und sich auf Spanisch an Mariana wandte. Die beiden diskutierten eine Weile miteinander, bis Mariana schließlich lachte. „Achmad will es sich einfach nicht nehmen lassen, mir das Kleid zu kaufen. Ich wollte es zuerst nicht annehmen, aber er besteht darauf. Er ist wirklich großzügig.“ Geistesabwesend nickte Linda, und Mariana entging nicht, dass sie noch einmal einen Blick auf den Kleiderständer warf. „Das Kleid, das du vorhin vor dem Spiegel betrachtet hast, ist übrigens total schön. Willst du es nicht mal anprobieren?“ Doch Linda schüttelte den Kopf. „Wozu? Ich kann es mir sowieso nicht kaufen, und außerdem würde ich es nie im Leben tragen.“ Sie lachte. „Du weißt doch, ich halte mich streng an die Regeln.“
„Stimmt, daran habe ich nicht gedacht. Entschuldigt mich bitte, ich ziehe mich nur schnell um.“ Anmutig rauschte Mariana zur Umkleidekabine, und Linda blieb mit Achmad allein zurück. Sie lächelten sich zu, und sofort machte ihr Herz einen Sprung. Er fragte: „Gefallen dir die arabischen Kleider?“
„Oh ja, die sind total schön, so farbenfroh und hübsch bestickt.“ Das freute Achmad offensichtlich. Nicht ohne Stolz sagte er: „Das ist echte Handarbeit, und viele Frauen hier verdienen sich Geld damit, die Kleider zu besticken. An den Blütenmustern kann man erkennen, aus welcher Gegend sie stammen. Je festlicher, desto üppiger sind sie bestickt.“
Wieder lächelte er charmant. „Der Traum einer jeden Frau ist natürlich die Dschilaye, das Brautkleid. Das ist besonders reich mit Stickereien verziert.“
Mariana kam zurück, das neue Kleid im Arm. Achmad nahm es ihr ab und ging zur Kasse, wo er sich mit dem Verkäufer einen lautstarken Wortwechsel auf Arabisch lieferte, bis dieser schließlich theatralisch die Hände nach oben warf und das Kleid in Papier einwickelte. Achmad grinste. „Ganz schön hartnäckig, der Bursche, aber sein Preis war so utopisch, dass ich ihm nur die Hälfte angeboten habe. Er wollte natürlich mehr, aber als ich ihm sagte, dass ich das Kleid dann eben gar nicht kaufen würde, war er plötzlich ganz schnell bereit, auf meinen Preis einzugehen. Dabei tat er so, als wäre er entsetzt, und meinte, ich würde ihn ruinieren.“ Ganz so verzweifelt schien der Ladenbesitzer jedoch nicht zu sein; gut gelaunt hielt er seiner Kundschaft die Tür auf und bat sie, ihn bald wieder zu beehren.
Amüsiert machten sich die drei auf den Weg in die Altstadt von Ramallah, vorbei an vielen kleinen Läden und historischen Gebäuden. Achmad zeigte auf eine alte Kirche. „Früher waren die Einwohner von Ramallah hauptsächlich arabische Christen, deshalb sieht man hier noch einige Kirchen. Heutzutage leben hier aber inzwischen viel mehr Muslime als Christen.
An einer Straßenecke entdeckte Linda einen kleinen Bücherstand. Neugierig sah sie sich die Bücher an. Mit den meisten Titeln konnte sie nichts anfangen, doch auf einem Buch erkannte sie das Wort Mossad und sagte: „Mossad – das ist der israelische Geheimdienst, das Buch will ich haben.“
„Du kannst es doch gar nicht lesen, warum willst du es dann haben?“, fragte Mariana.
„Das kann sich ja ändern, ein paar arabische Wörter kann ich schon, und ein Buch zu lesen, ist eine gute Möglichkeit, die Sprachkenntnisse zu verbessern.“ Linda wandte sich an Achmad. „Fragst du den Verkäufer bitte, was das Buch kosten soll?“ Achmad tat ihr den Gefallen.
„35 Schekel oder 10 Dollar. Willst du verhandeln?“
„Ja klar, ich biete ihm 15 Schekel an.“ Achmad übersetzte, der Verkäufer schien entrüstet und schüttelte entschieden den Kopf. Achmad übersetzte seine Antwort: „Er meint, das ginge auf keinen Fall, aber er kommt dir entgegen und würde es dir für 25 Schekel verkaufen. Aber das sei seine unterste Grenze.“ Linda, die zunehmend Gefallen am Feilschen fand, setzte ihr liebenswürdigstes Lächeln auf. „17 Schekel.“ Achmad nannte dem Buchverkäufer die Zahl auf Arabisch, welcher daraufhin die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Kurzerhand legte Linda das Buch zurück und wandte sich zum Gehen um. Sofort rief der Verkäufer ihr hinterher, und Achmad übersetzte grinsend: „Er sagt, er macht für dich eine Ausnahme und gibt dir das Buch für 17 Schekel, aber nur, weil du so hübsch bist.“ Wie bereits der Verkäufer im Kleiderladen war auch der Buchhändler erstaunlich schnell wieder versöhnt, nahm das Geld von Linda und verabschiedete sich.
Sie bogen in eine Gasse voller kleiner Marktstände auf Rädern mit bunten Sonnenschirmen. Genüsslich sog Linda die Luft ein, es roch herrlich nach Kräutern und Mais. Gleich an der nächsten Ecke entdeckten die drei einen kleinen Marktwagen mit einem großen Topf köstlich aussehendem Mais. Achmad schlug vor, für jeden einen großen Becher Mais zu kaufen, und obwohl Lindas Magen knurrte und sie am liebsten sofort gegessen hätte, zögerte sie. „Ich weiß aber nicht, ob der Mais koscher ist.“ Mariana fragte: „Was soll denn daran nicht koscher sein? Also ich nehme auf jeden Fall einen Becher.“ Linda sah zu, wie der Verkäufer Mais aus dem großen Topf holte, mit Zitronensaft, Butter, Salz und Paprikapulver vermischte und anschließend in Becher füllte. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, doch sie blieb standhaft. „Und ich verzichte.“ Sie kramte in ihrer Umhängetasche und holte ihre mitgebrachten Snacks heraus: eine rote Packung, auf der eine Kuh abgebildet war, eine orangene Tüte sowie einige andere Päckchen. Neugierig beäugte Achmad die Sachen. „Was hast du denn da?“
„Schokolade mit Puffreis, Chips, Popcorn mit Butter und Honig, außerdem ein paar Cornflakes-Riegel.“ Linda riss die Popcorntüte auf und begann zu futtern. Achmad fragte: „Das Essen hier ist halal, ist das nicht dasselbe wie koscher?“ Darüber wusste Linda Bescheid, denn mit dieser Frage hatte sie sich schon vor langer Zeit befasst. Zwar konnte man beide Wörter mit rein oder erlaubt übersetzen, auch aßen weder Muslime noch Juden Schweinefleisch. Die Kriterien waren aber teilweise ganz anders. Koscher umfasste mehr als halal, denn laut Tora waren nur die Tiere koscher, die gleichzeitig Paarhufer und Wiederkäuer waren, wie zum Beispiel Kühe, Schafe und Ziegen. Das Fleisch von Schweinen, Pferden oder Kaninchen durfte also nicht gegessen werden. Linda zeigte auf den benachbarten Fischstand mit noch lebenden Hummern. „Meerestiere, die keine Fische sind, sind auch nicht erlaubt. Und dann achten wir noch darauf, Milch- und Fleischprodukte nicht zur selben Zeit zu essen.“
„Warum denn nicht?“
„In der Tora gibt es ein Gebot, dass man ein Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen soll. Wir sehen das als Gottes Verbot, Fleisch und Milch miteinander zu vermischen. Und damit sich das auch im Magen nicht vermischt, muss zwischen dem Verzehr von beidem eine Wartezeit von sechs Stunden eingehalten werden.“ Achmad strich sich über seinen Bart.
„Und was macht man, wenn man in den sechs Stunden Wartezeit Hunger kriegt?“
„Das ist kein Problem, dann isst man etwas, das weder milchig noch fleischig ist, wie zum Beispiel Obst oder Gemüse.“ Achmad schüttelte den Kopf. „So viele Regeln zum Essen haben wir tatsächlich nicht. Das muss ich erst mal verdauen.“ Alle lachten, dann sagte Achmad: „Dafür haben wir im Islam aber ein Alkoholverbot. Das heißt bei uns haram – verboten. Im Koran gibt es dazu vier Stellen; in Sure fünf beispielsweise heißt es: „Der Wein, das Glücksspiel, die Opfersteine, die Lospfeile sind ein Gräuel und Teufelswerk. Meidet es, auf dass es euch wohlergehe.“
„Echt? Bei uns hat der Wein sogar einen eigenen Segensspruch!“
Linda hätte dieses Gespräch gerne noch weiter vertieft, doch Mariana wurde allmählich ungeduldig und sagte: „Können wir uns vielleicht irgendwo hinsetzen? Meine Beine tun schon weh.“ Achmad antwortete: „Ja, können wir. Mein Cousin Ali hat hier ganz in der Nähe ein kleines Café, er wird sich freuen, wenn wir zu ihm kommen. Ist auch gar nicht weit von hier.“
Wenig später betraten sie ein kleines, schlichtes Café an einer Straßenecke. Es war noch ruhig, und nur an wenigen Tischen saßen ein paar Leute mit einer Tasse Kaffee oder Tee vor sich. Ein alter Mann las Zeitung, und ein paar Touristen waren in ihr Handy vertieft. Achmad und Ali schlugen sich zur Begrüßung kameradschaftlich auf die Schulter, und nachdem Achmad seine Begleitung vorgestellt hatte, führte Ali sie zu einem Tisch mit Blick auf die Straße. Kaum hatten sie sich hingesetzt, servierte er ihnen ein hellgrünes Getränk und eine warme Nachspeise. Linda zeigte auf ihr Glas. „Was ist das?“
„Limon bi Nana.“ Ali schenkte randvoll ein, und Achmad erklärte: „Das Getränk setzt sich, wie auch das Wort, zusammen aus Zitrone und Minze, lemon mit na’na’.“ Ali fügte hinzu: „Mit einem Schuss Rosenwasser verfeinert schmeckt unsere Limon bi Nana ausgezeichnet. Eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses, lasst es euch schmecken!“ Schwungvoll eilte Ali mit dem leeren Tablett davon.
„Vielleicht ist Limon bi Nana gar nicht koscher, dürft ihr das überhaupt trinken?“, fragte Achmad. Mariana nahm einen kräftigen Schluck. „Mmmh – voll lecker! Da ist doch bestimmt nichts Unkoscheres drin.“ Ohne auf die Bemerkung einzugehen, holte Linda eine Wasserflasche aus ihrer Tasche, nahm einen Schluck und blickte dann auf das orangefarbene, mit Pistazien verzierte Dessert. „Knafeh – das haben wir auch.“ Jedoch rührte sie es nicht an, sondern ließ sich genüsslich ein Stück ihrer Schokolade auf der Zunge zergehen, bevor sie Achmad fragte: „Was machst du denn so, studierst du irgendwas?“
„Auch, aber nur samstags. Ich studiere englische Literatur, will Lehrer werden. Unter der Woche arbeite ich.“
„Du arbeitest und studierst gleichzeitig?“
„Ja, ich muss Geld verdienen, damit ich studieren kann. Das machen hier viele Leute so, sie arbeiten Vollzeit und studieren nebenher. Samstags ist man dann den ganzen Tag in der Uni.“ Achmad nahm noch einen Schluck Limon bi Nana. „Ob ich das Ziel jemals erreiche, weiß ich aber nicht. Ich muss das Studium demnächst unterbrechen. Das Bauunternehmen in Jerusalem, für das ich arbeite, schickt mich auf eine Baustelle in Aschkelon.“ Linda unterbrach ihn. „Moment mal, wie kannst du denn in Jerusalem arbeiten? Ich dachte, das darf man als Palästinenser nicht.“
„Normalerweise nicht, aber mein Arbeitgeber hat eine Arbeitsgenehmigung für mich beantragt. Ich hatte Glück und habe sie erhalten.“
„Dann musst du ja jeden Tag durch den Checkpoint! Wäre es nicht einfacher für dich, hier irgendwo zu arbeiten?“
„Einfacher schon, aber ich würde etwa ein Fünftel weniger verdienen.“ Mariana fragte: „Warum kannst du nicht studieren, wenn du in Aschkelon arbeitest?“
„Ich habe keine Zeit mehr. Um rechtzeitig 8 Uhr morgens auf der Baustelle zu sein, muss ich kurz vor vier aufstehen. Eine Stunde Fahrt zum Checkpoint, zwei Stunden Wartezeit, bis man durch ist, eine reichliche Stunde nach Aschkelon – wenn’s gut läuft.“ Lindas Augen wurden groß. „Das ist ja ätzend.“
Achmad lud sich ein weiteres Stück Knafeh auf den Teller. „Ist halt so, gibt Schlimmeres. Ich bin ja froh, dass ich den Job habe.“ Er holte ein Etui aus seiner Hosentasche, dem er einen kleinen, doppelseitig gezinkten Holzkamm und einen Spiegel entnahm. Mit schnellen Zügen kämmte er zuerst seinen Vollbart, dann drehte er den Kamm um und kämmte mit den feineren Zinken sorgfältig den Oberlippenbart. Linda nippte an ihrem Wasser und sah ihm fasziniert zu. Seine samtbraunen Augen blickten konzentriert in den Spiegel und rührten sie auf eine Weise an, wie sie es noch nie erlebt hatte. Zufrieden legte er schließlich Kamm und Spiegel ins Etui zurück und steckte es wieder in seine Hosentasche. Als er aufblickte, trafen ihre Augen sich, und er lächelte Linda an. Sie lächelte zurück und war froh, dass nur sie ihren Herzschlag so laut hören konnte.
Als die Gläser und der große Teller geleert waren, begaben sich Mariana, Linda und Achmad gut gelaunt wieder in das rege Treiben der Stadt. Die warme Nachmittagssonne tauchte die Straßen in helles Licht, die milde Luft roch nach Kaffeeduft und Kräutern. Sie waren noch nicht weit gekommen, als ein Verkäufer an einem Obststand Linda etwas zurief. Achmad übersetzte: „Er sagt, du hast so schöne blonde Haare und will dir eine Frucht schenken.“ Erstaunt und neugierig zugleich ging Linda zu dem Stand. Der junge Mann mit pechschwarzem, lockigem Haar lächelte sie verzückt an und raunte ihr zu: „Inti Heluah – Du bist schön!“. Linda lachte hell auf. „Schukran! – Danke!“ Der Obstverkäufer wählte eine besonders große Scharonfrucht aus einer Kiste und reichte sie ihr. „Sahten! – Guten Appetit!“ Zu seiner Freude biss Linda sofort hinein und drückte gleich darauf ihre Begeisterung darüber aus, indem sie ihre Finger küsste und dann nach oben schnappen ließ. Mariana versuchte, ärgerlich zu klingen, was ihr aber nicht gelang. „Das ist unfair, nur weil du blond bist, kriegst du eine Frucht geschenkt.“
„Irgendeinen Vorteil muss es ja haben, blond zu sein.“ Lachend schlenderten sie weiter. In der nächsten Straße bot ein Händler lautstark bunte Kopftücher an. Interessiert ging Linda näher. „Die sind voll schön!“ Eifrig breitete der Verkäufer ein Tuch nach dem anderen vor ihr aus, und Achmad übersetzte: „Er meint, dass dir alle Farben gut stehen, so hübsch, wie du bist.“ Linda hielt ein großes, schimmerndes, königsblaues Tuch mit eingewebten Perlen hoch. „Wie cool, was kostet das?“ Achmad gab die Frage weiter und erhielt als Antwort einen kleinen Vortrag. „Er hat mir erklärt, dass das ein ganz besonders kostbares Tuch aus edlem Stoff sei und jede Perle einzeln von Hand eingenäht wurde.“
„Krass, und wie viel will er dafür haben?“
„Er meint, normalerweise koste der Hidschab 120 Schekel, aber für dich mache er einen Sonderpreis, 99 Schekel. Wenn du mich fragst, für echte Handarbeit eigentlich ein faires Angebot.“ Linda schlang sich das Tuch um den Kopf, woraufhin der Verkäufer ihr einen Spiegel vorhielt und sie mit Komplimenten überschüttete. Achmad jedoch schüttelte den Kopf. „So ist das nicht richtig. Darf ich mal?“ Linda hielt ihm bereitwillig den Kopf hin. Sie genoss es, sich von ihm helfen zu lassen und dabei seine muskulösen Arme vor sich zu sehen, seine Nähe zu spüren und seinen Duft einzuatmen. Nachdem er noch eine widerspenstige Strähne unter das Tuch gesteckt hatte, war er fertig, leider viel zu schnell, wie sie fand.
Sie schaute kurz in den Spiegel und sagte kurz entschlossen: „Ich nehme es und lasse es gleich auf.“ Erstaunt sah Mariana sie an. „Ich dachte, du hast nicht viel Geld.“ Linda reichte dem Verkäufer zwei Fünfzigschekelscheine. „Habe ich auch nicht, aber ich will das Tuch unbedingt haben. Die Schekel, die jetzt noch übrig sind, werden schon reichen für heute. Ich geh einfach ein paar Stunden mehr putzen, dann komme ich die nächsten Tage schon klar.“
Plötzlich kam ihr eine Idee. Sollte sie lebend wieder nach Hause kommen, wollte sie einen Beweis für diesen Ausflug haben. Etwas, das sie ihren Freundinnen zeigen konnte, falls sie es ihnen jemals erzählen würde. Doch was? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. An der nächsten Straßenecke stand eine kleine Karre, an der alle möglichen Getränkeflaschen mit arabischem Etikett baumelten. Soweit Linda wusste, gab es auf israelischer Seite nur Flaschen mit hebräischem Aufdruck und dem Koscher-Zeichen versehen. Sie kaufte eine Colaflasche und steckte sie in ihre Tasche.
Vorbei an Baustellen und Kirchen führte Achmad sie weiter durch die quirligen Straßen der Stadt. Viel zu schnell neigte der Nachmittag sich seinem Ende zu, und es wurde Zeit, zum Busbahnhof zurückzugehen. Die Sonne stand bereits tief und warf lange Schatten, ein leichter Wind kam auf und es wurde merklich kühler. Der Bus nach Jerusalem stand schon da, doch Linda hatte es nicht eilig, einzusteigen. Stattdessen steuerte sie auf einen kleinen Tisch zu, wo ein älterer Mann CDs verkaufte. Mariana rief ihr hinterher: „Was machst du denn jetzt?“
„Ich schaue kurz, ob ich eine CD finde, die mir gefallen könnte!“ Rasch sah sie die CDs durch, als von hinten plötzlich ein Schatten auf den Tisch fiel. „Kann ich dir helfen?“ Unweigerlich pochte ihr Herz schneller, und sie fürchtete wieder zu erröten. Ohne sich umzudrehen, antwortete sie Achmad: „Rap. Ich hätte gerne eine CD mit arabischer Rap-Musik.“
Gleich darauf biss sie sich auf die Lippen. Hatte sie jetzt völlig den Verstand verloren? Sie mochte Rap doch überhaupt nicht. Sie öffnete ihren Mund, um ihm zu sagen, dass er das mit der Rap-Musik vergessen solle, hörte ihn im selben Moment aber bereits mit dem Verkäufer sprechen. Hoffentlich hatte er keine derartige CD, sonst könnte sie ihre letzten Schekel ebenso gut dem Bus unter die Räder werfen. „Nein, Rap-Musik hat er leider nicht im Angebot.“ Achmad zuckte bedauerlich die Schultern. Linda lächelte. „Schade, aber danke fürs Fragen.“
„Komm jetzt, der Bus fährt bestimmt gleich los!“ Mariana stand einsteigebereit an der offenen Tür und winkte wild. Achmad rief gelassen zurück, der Bus würde erst losfahren, wenn er voll sei. Am Bus angekommen, sagte er zu Mariana: „Hasta luego, y gracias por presentarme Linda! – Tschüss, und danke, dass du mir Linda vorgestellt hast!“
„No hay problema, ha sido un placer. Muchas gracias por un día tan especial, hasta luego! – Kein Problem, das habe ich gerne gemacht. Danke für den schönen Tag, tschüss!“ Mariana stieg ein. Achmad wandte sich an Linda. „Nimm besser das Tuch ab, sonst denken die Soldaten am Checkpoint, du bist Araberin. War schön, dich kennenzulernen, Linda.“
Linda sah in Achmads tief liegende, rehbraune Augen und spürte einen Kloß im Hals. Sie nickte nur, dann drehte sie sich abrupt um und erklomm hastig die Stufen. Mit einem Seufzer ließ sie sich neben Mariana in den Sitz plumpsen, die sie überrascht ansah. „Ist alles gut bei dir?“ Linda streifte sich das Tuch vom Kopf und faltete es betont langsam auf ihrem Schoß zusammen, dann fingerte sie an den Perlen herum. Ohne aufzublicken, sagte sie schließlich: „Ja, alles gut, hab mich heute nur verliebt.“ Marianas Augen wurden groß. „Verliebt? In Achmad? Mensch, Linda, das geht doch nicht!“
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann hob Linda den Kopf und sah ihre Freundin an. „Ich wollte doch nur sehen, wie die Menschen hier sind. Mich dabei zu verlieben war das Letzte, woran ich gedacht hätte. Ich weiß, dass das nicht geht, aber es ist einfach passiert.“
Marianas Mundwinkel zuckten amüsiert. „Warte einfach mal ab, vielleicht ist das ja auch nur so ein Gefühl, das morgen schon wieder vorbei ist.“ Linda nickte, doch sie wusste, dass es nicht so sein würde.
Als Linda im Schein der Straßenlaterne durch die Eingangstür der Midrascha schlüpfte, war nichts Auffälliges an ihr zu sehen. Wie immer trug sie einen knöchellangen Rock, ein langärmliges Shirt und hatte ihre langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Mit einem kurzen „Slikha – Entschuldigung“ betrat sie ihr Klassenzimmer, wo der Unterricht noch in vollem Gang war. Der Rabbiner nickte ihr freundlich zu, sie ging zu ihrem Platz in der letzten Reihe, nahm ihren Rucksack vom Stuhl und setzte sich.
Rivka, die neben ihr saß, flüsterte ihr zu: „Wo kommst du denn jetzt her?“ Linda holte Notizblock und Mäppchen aus dem Rucksack. „Och, ich war shoppen, habe mir Kleider angesehen und ein Tuch gekauft.“ Rivka schüttelte den Kopf und lächelte, sagte aber nichts weiter und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Rabbiner zu, der gerade über die Rolle der jüdischen Frau in der Familie sprach. Linda hingegen hörte nur mit halbem Ohr zu. Erfüllt von den Eindrücken des Tages wanderten ihre Gedanken immer wieder zurück nach Ramallah und zu Achmad.
Nachdem der Unterricht zu Ende war, plauderte sie wie sonst auch noch eine Weile mit ihren Freundinnen, und als sie die Schule verließ und in die Dunkelheit hinaustrat, war eigentlich alles wie immer. Doch Linda wusste, dass sie mit diesem Tag nie wieder dieselbe sein würde wie bisher.
Kaum war Linda am nächsten Morgen aufgewacht, kam ihr Achmad in den Sinn, und sie war sofort hellwach. Ich muss ihn mir aus dem Kopf schlagen. Um sich selbst abzulenken, wollte sie schnell ein morgendliches Dankgebet aufsagen, doch noch bevor sie das erste Wort aussprechen konnte, schnürte sich ihr Hals wieder zu. Abrupt setzte sie sich im Bett auf und nahm die kleine, mit Wasser gefüllte Kanne und die Schüssel vom Nachttisch, die sie wie üblich am Abend zuvor bereitgestellt hatte. Schweigend goss sie etwas Wasser zuerst über die rechte, danach über die linke Hand und wiederholte den Waschvorgang noch zweimal.
Anschließend setzte sie an, den Morgensegen zu rezitieren. Das Gebet kannte sie in- und auswendig, doch nun brachte sie keinen Ton heraus. Sie nahm Schüssel und Kanne, ging damit ins Bad und goss das Wasser ins Waschbecken. Verwirrt blickte sie sich im Spiegel selbst in die Augen. Es geht nicht mehr, ich kann nicht mehr beten.
Linda überlegte: Wenn sie in der Schule davon erzählen würde, würde man ihr vermutlich sagen, dass sie eine Glaubenskrise habe, die vorbeigehen würde. Oder man würde sogar denken, sie habe es die ganze Zeit mit dem Konvertieren nicht wirklich ernst gemeint, und dann würde sie aus dem Programm fliegen. Linda wusste nur zu genau, dass die Rabbiner in der Midrascha zwar für die Anliegen ihrer Konversions-Schülerinnen offen waren, gleichzeitig aber ein strenges Auge darauf hatten, eventuelle Scheinkonvertiten aufzudecken. Immer wieder kam es nämlich vor, dass junge Frauen aus aller Welt sich in das Konversionsprogramm einschrieben, um sich auf diese Weise die Aufenthaltserlaubnis und israelische Staatsbürgerschaft zu erschleichen. Zwar kamen sie meistens aus wirtschaftlich ärmeren Ländern in der Hoffnung auf ein besseres Leben, dennoch gab es natürlich auch Ausnahmen. Das Innenministerium hatte ebenfalls Interesse daran, Scheinkonvertiten aufzudecken und anschließend des Landes zu verweisen. Linda wusste auch, dass die Warteliste der Midrascha lang war und nur die wenigsten Bewerber überhaupt in das Konversionsprogramm aufgenommen wurden. Und sie war eine davon. Streng sah sie ihr Spiegelbild an und sagte: „Du hast sieben Jahre lang gebraucht, um bis hierher zu kommen. Du wirst mit niemandem darüber sprechen, dass du nicht mehr beten kannst, und machst wie geplant weiter.“ Hoffnungsvoll fügte sie hinzu: „Bald ist Chanukka13, das wird dich ablenken. Bestimmt geht es danach wieder.“ Doch wirklich überzeugt klang sie nicht mehr.
Mitte Dezember begann Chanukka, das acht Tage dauernde Fest der Lichter und der Tempelweihe. Nach Schulunterricht versammelte sich Linda mit ihren Freundinnen im Wohnheim der Midrascha, um zu feiern. Jeden Abend zündeten sie eine Kerze mehr am Chanukka-Leuchter an, bis am achten Festtag schließlich alle Lichter brannten. Bei Kerzenschein sangen sie Lieder und tanzten, aßen in Öl zubereitete Speisen wie Latkes14 oder Sufganijot15 und spielten mit dem Dreidel16 um Schokoladenmünzen. Dabei gab es viel Gelächter, und meistens wurde es so spät, dass Linda gleich im Wohnheim übernachtete.
Entgegen ihrer Hoffnung konnte Linda jedoch auch nach Chanukka nicht mehr beten. Das Fest und die Ablenkung hatten nichts genutzt. Jedes Mal, wenn sie es versuchte, schnürte sich ihr Hals zu, noch bevor sie das erste Wort ausgesprochen hatte.
Spät am darauffolgenden Sonntagabend lag sie im Bett. Sie konnte nicht schlafen und starrte frustriert in die Dunkelheit ihres Zimmers. Regen prasselte an die Fensterscheibe. Wenn ich nicht mehr beten kann, war’s das für mich mit dem Judentum. Dieser Gedanke kam ihr so plötzlich in den Sinn – so befremdlich und kalt –, dass sie erschrak. Wenn sie jetzt aufgeben würde, würde sie alles wegwerfen, woran sie die letzten sieben Jahre ihr Herz gehängt hatte. Sie könnte weder konvertieren noch die israelische Staatsbürgerschaft annehmen, geschweige denn in Israel bleiben. Die weiteren Konsequenzen erschreckten sie noch mehr. Sie müsste nach Deutschland zurückgehen und dort von vorne anfangen. Innerlich wehrte sich Linda mit aller Kraft gegen dieses Szenario. Auf keinen Fall! Ich wär ja blöd, meine ganze Zukunft hier aufzugeben, bloß weil ich momentan nicht mehr beten kann.
Doch – ob sie wollte oder nicht – ernsthafte Zweifel nagten mit wachsender Dringlichkeit an ihrem Lebenstraum, und die Frage, die sich ihr auf der Rückfahrt von Hebron zum ersten Mal gestellt hatte, wurde bohrender: Sollte es doch nicht richtig sein, zum Judentum zu konvertieren?
Die Melodie der „Kavallerie Attacke“, gespielt auf der Trompete, riss sie abrupt aus ihren Gedanken. Sie zuckte zusammen und griff nach ihrem Handy, das neben ihr auf dem Nachttisch lag. Gleich nachher würde sie den penetranten Benachrichtigungston endlich ändern. Eine neue Nachricht von Mariana.
Hallo Linda, Achmad möchte gerne deine Handynummer haben. Hier seine Nummer, dann kannst du selbst entscheiden, ob du ihn kontaktieren willst oder nicht.
Achmad. Sosehr Linda sich auch bemüht hatte, war es ihr nicht gelungen, ihn aus ihren Gedanken zu verdrängen. Wie schon so oft sah sie sich auch jetzt wieder in dem Kleiderladen in Ramallah stehen, blickte in seine sanften, geschwungenen Augen und spürte seine spontane Umarmung. Ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken, und am liebsten hätte sie ihm sofort geschrieben, dass sie ihn wiedersehen wollte. Sie zwang sich jedoch, ihrem ersten Impuls nicht zu folgen, sondern erst einmal ihre Gedanken zu sortieren. Bald würde sie konvertieren und irgendwann einen jüdischen Mann heiraten. War es nicht das, was sie die ganze Zeit gewollt hatte? Aber dann musste sie Achmad vergessen, und zwar schnell. Doch noch schneller wusste sie, dass sie das eigentlich gar nicht wollte. Ohne noch länger zu überlegen, fügte sie ihn als neuen Kontakt zu ihrer Liste hinzu, und schon flogen ihre Finger über die Tastatur.
Hallo Achmad, ich bin’s, Linda. Ich würde mich freuen, von dir zu hören.
Mit gelbem Lachgesicht versehen, war die Nachricht in Nullkommanichts abgeschickt. Achmads Antwort ließ nicht lange auf sich warten:
Hallo Linda, schön, dass du dich gemeldet hast. Ich hoffe, dir geht’s gut und dass dir der Tag in Ramallah gefallen hat. Du wolltest eine CD mit arabischer Rap-Musik – ich habe dir eine besorgt. Wenn du willst, besuch mich doch mal bei mir zu Hause.
Linda lachte laut auf und tippte in ihr Handy:
Cool, danke für die Musik! Klar, ich besuche dich gerne!
Gespannt wartete sie auf seine Antwort, während er schrieb, und dann las sie freudestrahlend:
Wie wärs mit dem 31. Dezember? Meine Mutter hat ein paar ihrer Freundinnen eingeladen und würde sich bestimmt freuen, wenn du mit Mariana auch kommen würdest. Sie hat nämlich schon überall erzählt, dass ich nun außer einem argentinischen auch ein deutsches Mädchen kenne und alle sind neugierig auf dich! Hast du Lust? Oder feiert ihr beide da eine deutsch-argentinische Silvesterparty?
Oh schade, am 31.12. kann ich leider nicht, da bin ich bei einer Hochzeit eingeladen. Und nein, Mariana und ich feiern natürlich kein Silvester.
Warum nicht?
Silvester ist Jahresende nach christlicher Zeitrechnung. Das jüdische Jahr hat bereits im September geendet.
Das heißt, du hast schon Silvester gefeiert?
So ähnlich. Bei uns heißt das Fest Rosch HaSchanah. Da feiern wir aber nicht das Jahresende, sondern den Beginn des neuen Jahres, und das gleich zwei Tage lang.
Achmad schien zu überlegen, denn seine Antwort ließ auf sich warten. Gerade, als Linda sich fragte, ob sie ihn mit ihrer Absage gekränkt hatte, kam eine neue Nachricht von ihm.
Ich habe gerade mit meinen Eltern gesprochen. Ihr könntet uns auch im Januar besuchen. Meine Mutter lädt ihre Freundinnen sowieso öfter ein. Sagt Bescheid, wann ihr kommen könnt. Gute Nacht, ich geh jetzt ins Bett, muss morgen früh um 5 Uhr aufstehen. Schlaf gut.
Danke, dir auch eine gute Nacht!
Linda setzte noch ein Lachgesicht darunter, dann war der erste WhatsApp-Austausch mit Achmad beendet. Sie legte das Handy weg und sank mit einem glücklichen Stoßseufzer ins Kopfkissen.
Leichter Nieselregen hüllte Jerusalem in Nebel ein. Fröstelnd stand Mariana an einem Donnerstag im Januar mit Minirock bekleidet an der Straßenbahnstation und wartete auf Linda. Als sie schließlich aus dem Nebel auftauchte, trug sie wie immer einen knöchellangen, schwarzen Rock und einen langärmligen Pullover. Ihre Haare hatte sie wie gewöhnlich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Schwungvoll drückte sie Mariana ein Küsschen auf die Wangen. „Guten Morgen! So ein grauer Tag! Könnte fast in Deutschland sein, nur dass es hier nicht so kalt ist.“
Mariana rieb sich die Hände. „In Argentinien haben wir 30 Grad im Januar, das wäre mir lieber.“ Sie blickte auf Lindas Rock. „Du hast aber nicht vor, so rüberzufahren, oder?“
„Quatsch, ich mach’s einfach wie letztes Mal.“
Die Scheinwerfer der Straßenbahn drangen durch den Nebel und kamen näher. Linda sah sich verstohlen um. „Wir müssen vorsichtig sein, hier steigen öfters Leute von der Midrascha ein, daran habe ich letztes Mal gar nicht gedacht.“ Ganz hinten entdeckten sie zwei freie Plätze. Auf dem Weg dorthin streiften ihre Blicke wie zufällig die anderen Fahrgäste. Niemand achtete auf sie, und auch eine Mitschülerin war nirgends zu sehen. Beim Hinsetzen auf den Fensterplatz streifte Linda sich flugs den Rock ab, und Mariana nahm neben ihr Platz.
„Hast du dir die Jeans wieder ausgeliehen?“ Sie betonte das Wort ausgeliehen und deutete mit ihren Zeigefingern Anführungszeichen an. Linda rollte den Rock zusammen und stopfte ihn in den Rucksack. „Nein, dieses Mal nicht. Ich habe sie mir gestern für 10 Schekel im Secondhandladen gekauft. Passt perfekt.“
Wie bei ihrer ersten Fahrt nach Ramallah stiegen sie wieder an der Haltestelle „Damaskustor“ aus und ein paar Straßen weiter in den arabischen Bus ein. Linda holte ihr blaues, perlenbesetztes Kopftuch aus ihrer Tasche und setzte es auf. „Ich bin ja so gespannt, Achmads Familie kennenzulernen! Wie cool, dass wir zwei Tage dortbleiben können. Ganz abgesehen davon, würden wir vorher sowieso nicht heimkommen.“
„Wieso denn nicht?“ Mariana begriff nicht gleich, worauf Linda hinauswollte.
„Ist doch klar. Morgen ist Freitag, da fahren die arabischen Busse nicht, also kommen wir nicht mehr weg. Und am Samstag fahren die israelischen Verkehrsmittel ja erst wieder, wenn Schabbat vorbei ist. Wir könnten zwar mit dem arabischen Bus nach Jerusalem fahren, kämen aber erst abends weiter, es sei denn, wir laufen. Also sitzen wir sozusagen bis Samstagabend bei Achmads Familie fest. Ich freue mich darauf!“
Die beiden Freundinnen lachten. Mariana fragte: „Sag mal, was hast du denn deinen Gasteltern erzählt, wie du diesen Schabbat verbringst?“
„Mit dir. Stimmt ja auch.“
„Und ich habe meinen Gasteltern gesagt, dass ich den Schabbat mit dir verbringe!“ Sie sahen sich an, prusteten los und riefen gleichzeitig: „Stimmt ja auch!“
Dieses Mal wartete Achmad bereits am Busbahnhof in Ramallah. Linda entdeckte ihn schon beim Anfahren, und sofort schlug ihr Herz bis zum Hals. Er trug schwarze Jeans, ein rotes T-Shirt, darüber seine schwarze Lederjacke und hatte eine rote Baseballkappe auf. Wie bei ihrer ersten Begegnung waren seine Barthaare makellos gestutzt, und er roch dezent nach einer leicht holzigen Duftkomposition mit einer Note aus Vanille und Mandeln. Charmant lächelnd sagte er: „Herzlich willkommen zurück in Ramallah!“ Zu Lindas Bedauern umarmte er sie dieses Mal jedoch nicht. Grinsend zeigte er auf das blaue Kopftuch: „Steht dir wirklich gut.“
Er erklärte den beiden, dass sie mit dem Taxi in sein Dorf fahren würden, da er kein eigenes Auto besitze. Nachdem sie Ramallah hinter sich gelassen hatten, fuhren sie ein Tal entlang – vorbei an kleinen Dörfern, die sich wie Nester in die Hügel schmiegten. Verträumt sah Linda zum Fenster hinaus. Sollte Achmad mit dem Taxifahrer unter einer Decke stecken und vorhaben, sie zu kidnappen, wäre dies eine sehr schöne Art, entführt zu werden.
Doch das hatte er offensichtlich nicht vor, denn in dem Augenblick zeigte er auf die Kuppe eines Hügels vor ihnen. Dort oben im Dorf lag das Haus seiner Eltern. Die Straße vor ihnen schlängelte sich durch die karge Landschaft zwischen Felsbrocken und Grasbüscheln hinauf. Mittlerweise hatte es aufgehört zu regnen, der Himmel klarte auf und die Sonne kam heraus. Von der Anhöhe aus hatte man einen herrlichen Rundblick auf die umliegende Landschaft, Regentropfen glänzten wie Glasperlen an Büschen und Sträuchern. Unbeirrt von Mauern und Grenzen tauchten die Sonnenstrahlen Täler und Hügel gleichermaßen in ein Wechselspiel aus Schatten und Licht.
Zypressen und Akazien säumten das Dorf, entlang den Hängen zogen sich steinige Terrassen, gespickt mit Olivenbäumen. Wie in der Siedlung ihrer Gasteltern waren die Häuser auch aus Kalkstein gebaut, hatten aber anstelle eines ziegelbedeckten Satteldaches ein Flachdach.
Linda fiel auf, dass auf jedem Dach ein großer schwarzer Tank stand. Wassertanks, erklärte Achmad, da sie im Dorf keine zentrale Wasserversorgung hätten und manchmal das Wasser knapp werden könne. Zwischen den cremefarbenen Häusern standen vereinzelt Mandel- und Orangenbäume. In einiger Entfernung ragte weithin sichtbar das Minarett einer Moschee in den Himmel. Vor einem gepflegt aussehenden, zweistöckigen Haus hielt das Taxi an. Sie stiegen aus. Die klare Luft roch noch nach Regen, erfrischend und würzig.
Im selben Augenblick öffnete eine großgewachsene, jung aussehende Frau die Haustür. Sie trug einen rosa Sportanzug und bequeme Schuhe. Ihr langes schwarzes Haar mit ein paar vereinzelten Silbersträhnen fiel wellig über Schultern und Rücken, das Gesicht war sorgfältig geschminkt. Achmad stellte vor: „Linda, meine Mutter Aysha. Mamá, das ist Linda.“ Linda blickte in die samtbraunen Augen von Achmads Mutter und mochte sie sofort. Strahlend sagte Aysha auf Arabisch: „Achmad hat uns schon viel von dem Mädchen aus Deutschland erzählt. Wir freuen uns sehr, dass du uns besuchst.“ Auch Mariana wurde freundlich begrüßt. Linda entging jedoch nicht, dass Aysha dabei kurz auf den Minirock sah und gleich darauf Achmad einen missbilligenden Blick zuwarf.
Linda streifte sich das Tuch vom Kopf und steckte es in ihren Rucksack, und nachdem sie sich im Flur die Schuhe ausgezogen hatten, führte Achmad seine Gäste in das geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer. Mariana und Linda nahmen auf dem großen, mit anthrazitfarbenem Stoff bezogenen Sofa Platz. Währenddessen ging Achmad zu einem reich verzierten gusseisernen Kaminofen auf vier geschwungenen Füßen, der zugleich altmodisch und modern anmutete. Die Fronttür aus Glas gab den Blick auf das Spiel der Flammen frei, die jedoch nur noch schwach züngelten. Achmad nahm ein paar Holzscheite aus dem danebenstehenden Korb, die er durch eine kleine Seitentür in den Ofen schob, und das Feuer flackerte auf. In der Ecke neben dem Ofen steckten langstielige, bunte Seidenblumen in einer Bodenvase aus dunkelblauem Porzellan. Lindas Blick schweifte weiter durch das Zimmer. Alles war perfekt sauber und ordentlich, die wenigen Deko-Artikel offensichtlich sorgfältig ausgewählt. Unter dem Fenster mit den weinroten Samtvorhängen stand ein großer Esstisch aus dunklem Holz, darauf eine Kristallschale mit Obst. Auf dem Glas-Couchtisch vor ihnen lag ein mit Spitzen verziertes, weißes Deckchen, gegenüber standen zwei Plüschsessel, passend zum Sofa. Links neben dem Sofa lief auf einem weißen Tisch leise der Fernseher, dem aber niemand Beachtung schenkte. An der Wand hingen keine Bilder, sondern nur eine schwarze Uhr mit silbernem Zifferblatt in der Größe eines Esstellers sowie ein gerahmter Spruch. Lindas Blick blieb auf dem Text in arabischen Buchstaben hängen. „Was für einen Spruch habt ihr denn dort an der Wand?“ Achmad entzündete ein Streichholz. „Das ist der sogenannte Thronvers aus dem Koran, auf Arabisch Ayat Al Kursi“, erklärte er, während er mit der Flamme ein Stück Papier ansteckte und es in den Ofen warf. Kurz schaute er zu, wie die Flammen daran züngelten, dann schloss er die gusseiserne Tür und rezitierte: „Gott, es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Lebendigen, dem Beständigen. Nicht überkommt Ihn Schlummer und nicht Schlaf. Ihm gehört, was in den Himmeln und was auf der Erde ist. Wer ist es, der bei Ihm Fürsprache einlegen kann, es sei denn mit Seiner Erlaubnis? Er weiß, was vor ihnen und was hinter ihnen liegt, während sie nichts von Seinem Wissen erfassen, außer was Er will. Sein Thron umfasst die Himmel und die Erde, und es fällt Ihm nicht schwer, sie zu bewahren. Er ist der Erhabene, der Majestätische.“
Aufmerksam hatte Linda zugehört. „Interessant, das meiste kenne ich auch. ‚Gott, es gibt keinen Gott außer Ihm‘ – das steht in der Tora fast genauso. Oder die Stelle ‚Sein Thron umfasst die Himmel und die Erde‘, da gibt es bei uns auch einen ähnlichen Vers: ‚Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel für meine Füße.‘“
Mariana neckte: „Na, du hast deine Hausaufgaben wohl immer gemacht, so gut, wie du dich auskennst. Also ich weiß das nicht so genau.“ Linda zuckte die Schultern. „Ist doch nichts Besonderes, ich hab den Tanach ja schon oft genug gelesen.“
Das Feuer im Ofen verbreitete wohlige Wärme im Zimmer. Aysha, die nach der Begrüßung gleich in der Küche verschwunden war, kam mit einem Tablett herein und stellte eine Kanne Saft, vier Gläser sowie eine Schüssel mit Gebäck auf den Couchtisch. Mariana sagte: „Oh, lecker, Mamoul. Das hatten wir bei meinem letzten Besuch auch!“ Linda betrachtete die kleinen, mit Puderzucker bestäubten Gebäckstückchen: „Mamoul, was ist das?“
Achmad hielt Rücksprache mit seiner Mutter, dann übersetzte er: „Das ist ein Buttergebäck, gefüllt mit Datteln und gehackten Nüssen. Meine Mutter sagt, sie nimmt am liebsten Pistazien.“ Nicht ohne Stolz fügte er hinzu: „Ihre Mamoul sind die besten, sie ist im ganzen Dorf bekannt dafür.“ Lächelnd goss Aysha Saft ein. „Und dazu gibt es frisch gepressten Granatapfelsaft, lasst es euch schmecken!“ Sie setzte sich dazu und schenkte sich ebenfalls Saft ein. Linda lief das Wasser im Mund zusammen. Nur zu gerne hätte sie von den Gebäckteilchen gegessen, doch sie waren mit Sicherheit nicht koscher. Achmad sah, dass sie zögerte, und hielt ihr den Teller unter die Nase. „Nimm dir, sie werden dir schmecken.“ Mariana nahm sich gerade ein zweites Stück Mamoul und sagte: „Och Linda, mach doch mal eine Ausnahme. Aysha hat extra für uns gebacken.“
Linda kam ins Schwitzen. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber Kaschrut, die jüdischen Speiseregeln, wollte sie auch nicht brechen. Mit einer kurzen Entschuldigung holte sie schließlich einen Schokoriegel und ihre Wasserflasche aus dem Rucksack. Lustlos biss sie in den Riegel und starrte in das lodernde Feuer im Kamin, ohne es wirklich zu sehen. Während Mariana sich angeregt mit Achmad unterhielt, fühlte Linda sich in seiner Gegenwart auf einmal innerlich zerrissen. Ich darf nicht zulassen, mich noch mehr in ihn zu verlieben.
Achmad unterbrach ihre Gedanken. „Wie wäre es, wenn ich euch den oberen Stock zeige? Seit du das letzte Mal da warst, hat sich dort einiges verändert, Mariana.“ Sie erhoben sich, und mit der Ankündigung, das Essen sei gleich fertig, eilte Aysha in die Küche.
Über eine enge Steintreppe im Haus gelangten sie nach oben. Zu Lindas Überraschung befand sich das gesamte erste Stockwerk im Rohbau. Achmad sagte: „Das wird eines Tages die Wohnung für mich und meine zukünftige Frau sein. Seitdem ich Geld verdiene, kaufe ich nach und nach Baumaterial und arbeite immer wieder daran.“ Mariana warf Linda einen kurzen Seitenblick zu.
„Ich wusste ja gar nicht, dass du eine Freundin hast.“
„Hab ich auch nicht, aber ich sorge schon mal vor.“
„Bist du denn schon sicher, dass du später auch hier wohnen wirst?“, fragte Linda erstaunt.
„Natürlich. Der Sohn bleibt im Haus seiner Eltern wohnen, das machen hier alle so. Wenn es nicht groß genug ist, wird einfach ein Stockwerk obendrauf gebaut. Meine Eltern haben ihr Haus von vorneherein so geplant, dass ich das auch eines Tages machen kann.“
Wenn ich Achmads Frau werden würde, wäre das mein neues Zuhause. Genauso schnell, wie der Gedanke gekommen war, verdrängte Linda ihn wieder. Gerade fragte Mariana: „Das heißt, wenn deine Eltern mehrere Söhne hätten, dann würde jeder sein eigenes Stockwerk hier bauen?“
„Ja, genau so wäre es.“
„Und wenn es acht Söhne wären, dann wäre das Haus irgendwann acht Stockwerke hoch?“ Achmad nickte. „Und der Sohn, der zuletzt heiratet, wohnt typischerweise am höchsten.“ Er zeigte durch das Fenster auf ein hohes Haus. „Bei unserem Nachbarn ist dies genau der Fall. Acht Söhne, acht Stockwerke.“ Mariana und Linda lachten lauthals los. Achmad lachte mit, ohne jedoch genau zu wissen, was die beiden so lustig fanden, und ihr Gelächter hallte von den kahlen Wänden der leeren Räume wider.
„Hier oben habe ich mit meinen Freunden eine kleine Party gemacht, an dem Abend, als meine Mutter ihre Freundinnen eingeladen hatte. Ich habe die ganze Zeit nur an dich gedacht.“ Linda schluckte. Achmads Worte waren so unvermittelt gekommen, dass ihr Herz vor Freude einen kleinen Sprung machte. Da sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte, lächelte sie ihn einfach an. Eine Weile sagte niemand etwas. Die plötzlich eingetretene Stille im Raum fühlte sich harmonisch an, ebenso wie das Gemecker von Ziegen, das im nächsten Moment von der Straße zu ihnen heraufscholl. Sie sahen zum Fenster hinaus. Ein alter Mann trieb seine kleine Herde am Haus vorbei in Richtung Dorfausgang und den dahinter liegenden Feldern. Vor dem Eingang des gegenüberliegenden Hauses lag eine graugetigerte Katze und sonnte sich. Sie war offensichtlich an die Ziegen gewöhnt und ließ sich von ihnen nicht aus der Ruhe bringen.
Aysha rief von unten. Das Mittagessen war fertig. Der große Esstisch im Wohnzimmer war nun gedeckt, und in der Mitte stand ein riesiger Teller, gefüllt mit einem Reisgericht in Form einer Torte. Es roch köstlich nach Hühnchen und Gewürzen. Linda fragte Achmad: „Was ist das?“
„Maqluba, das bedeutet übersetzt umgekehrt.“ Aysha ergänzte: „Man kocht Fleisch, Reis und Gemüse schichtweise zusammen in einem Topf und stürzt ihn dann auf einen Teller, sodass die unterste Schicht dann oben ist. Darüber gibt man geröstete Pinienkerne und gehackte Petersilie.“
„Das hört sich ja köstlich an, aber auch nach ganz schön viel Arbeit.“ Offensichtlich erfreut über Lindas Anerkennung zeigte Aysha auf die danebenstehenden Schüsseln. „Hier sind Gurken-Tomaten-Salat und Joghurt. Nehmt euch von allem, soviel ihr wollt.“ Mariana ließ sich dies nicht zweimal sagen und griff herzhaft zu, Linda hingegen saß da und rang mit sich selbst. Alles sah so gut aus, dass ihr der Magen knurrte. Aysha musste stundenlang in der Küche gestanden haben, um für sie und Mariana etwas Besonderes zu kochen, aber auch dieses verlockende Gericht war sicherlich nicht koscher. Linda spürte, dass alle Augen auf ihr ruhten, und unbehaglich sagte sie: „Es tut mir leid, aber ich möchte nichts essen, das nicht koscher ist.“
Aysha sah enttäuscht aus, sagte aber nichts. Achmad sah Linda an. „Vielleicht ist das Essen ja koscher, könnte das nicht sein?“
„Nein!“ Das konnte schon allein aus dem Grund nicht sein, weil der Herd von einer Nichtjüdin angeschaltet worden war, aber das traute Linda sich nicht zu sagen. Stattdessen erklärte sie: „Deine Mutter hat vermutlich denselben Herd und Backofen für milchige und fleischige Speisen verwendet.“
„Ja natürlich! Wie soll man das denn sonst machen, etwa mit zwei Öfen?“ Achmad lachte.
„Ja. In der jüdischen Küche stehen zwei Öfen – einer für Fleischgerichte, der andere für Milchspeisen –, es sei denn, der Ofen hätte eine besondere Reinigungsmethode.“
„Okay, aber dann bräuchte man ja auch getrennte Herde, getrennte Waschbecken, getrennte Spülmaschinen …“ Achmad blickte so ungläubig drein, dass nun Linda wiederum nicht anders konnte, als hellauf zu lachen. „Absolut richtig! Und außerdem trennen wir strikt das Geschirr für Fleischiges und Milchiges.“
Achmad wandte sich an seine Mutter und übersetzte, was er soeben gelernt hatte. Aysha nickte und erwiderte etwas auf Arabisch. Ihr Sohn übersetzte: „Wir respektieren deine Religion, deshalb wollen wir dich nicht dazu überreden, etwas zu essen, das nicht koscher ist.“
Erleichtert und widerstrebend zugleich stand Linda auf und holte einen Plastikbecher löslicher Nudelsuppe sowie eine Tüte Chips aus ihrem Rucksack. Während die anderen fröhlich plaudernd aßen, löffelte sie nachdenklich ihre Suppe. Aysha hatte sich mit dem Essen große Mühe für sie gemacht, und nun aß Linda nichts davon, nur weil es nicht koscher war. War das nicht undankbar und lieblos von ihr? Sollte nicht die Liebe an oberster Stelle stehen? Hielt sie sich vielleicht doch zu streng an die ganzen koscheren Regeln?
Aufgewühlt holte sie einige Chips aus der Tüte und schob sie sich in den Mund. Nie zuvor waren ihr Zweifel an den jüdischen Essensregeln gekommen, doch nun machten sie sich mit einem Mal so stark in ihr breit, dass sie sie weder ignorieren konnte noch wollte.
Am Nachmittag machten Achmad, Linda und Mariana einen Spaziergang durch das 600-Seelen-Dorf, in dem es nur einen kleinen Lebensmittelmarkt gab. Der Besitzer war gerade dabei, Holzkisten mit Gemüse aus seinem Auto zu laden. Mehrere kleine Jungs spielten Fußball auf der Straße, ein verzottelter Hund ohne Halsband schnüffelte an einem Orangenbaumstamm, dann hob er sein Bein, woraufhin ihn der Ladenbesitzer schimpfend verscheuchte. Achmad erzählte, dass hier jeder jeden kannte. Einige der Dorfbewohner hatten ebenfalls eine Zeitlang im Ausland gelebt und waren irgendwann mit amerikanischem, brasilianischem oder jordanischem Pass in ihr Heimatdorf zurückgekehrt.
Mariana bat Achmad: „Erzähl Linda doch mal, wie deine Eltern sich kennengelernt haben, das ist eine irre Geschichte!“ Achmad zeigte auf einen Turm am oberen Dorfrand. „Von dort hat man eine tolle Aussicht.“ Während sie zu dem Wasserturm gingen, erzählte er: Auch sein Großvater Ali war als junger Mann eines Tages ausgewandert – mit dem Schiff nach Argentinien. In Bahía Blanca ließ er sich nieder und lernte Achmads Großmutter Evita kennen, eine Argentinierin. Ihr Vater besaß mehrere Kleiderläden, und Ali stieg ins Geschäft mit ein. Er heiratete Evita, die beiden bekamen ihre Tochter Sol und drei Jahre später Halil, Achmads Vater. Halil war gerade 15 Jahre alt geworden, als seine Großeltern bei einem Bootsunfall auf dem Meer ums Leben kamen. Er brach die Schule ab, da sein Vater ihn brauchte. Mit 18 Jahren heiratete Sol einen ausgewanderten Palästinenser und zog mit ihm nach Palästina. Achmad kickte einen Stein über die unbefestigte Straße. „Bei meinen Eltern war es aber ganz anders.“ Da er nicht gleich weitersprach, fragte Linda: „Wie denn?“
„Meine Eltern wurden füreinander ausgesucht.“
„Du meinst, jemand hat über ihren Kopf hinweg entschieden, dass sie heiraten sollen? Eine arrangierte Ehe?“
„Wie man’s nimmt. Als mein Vater 20 war, lud Tante Sol ihn ein, sie in Palästina zu besuchen. Sie und ihr Mann hatten inzwischen drei Kinder, außerdem sollte er endlich einmal die restliche Verwandtschaft meines Großvaters kennenlernen, und die war riesengroß! Eines Tages wurden meinem Vater im Haus seines Onkels sieben junge Frauen vorgestellt. Sie waren alle die unverheirateten Töchter einer befreundeten Familie. Mein Vater saß auf der Couch, dann wurde eine Schwester nach der anderen zu ihm geführt, und er sollte sich eine aussuchen.“ Mariana brach in Gelächter aus. „Das finde ich immer wieder zu komisch, einfach unglaublich.“
„So war es halt. Man wurde erst mal nicht gefragt.“ In seinen Augen funkelte Humor. „Meinem Vater wurde gesagt, er solle sich die aussuchen, die ihm am besten gefalle. Aber er konnte sich nicht gleich entscheiden, da alle sieben Schwestern so hübsch waren.“ Linda sagte: „Das muss doch für beide Seiten unangenehm gewesen sein. Sowohl jemanden auswählen zu müssen als auch ausgesucht zu werden.“
„So schlimm war es gar nicht. Nachdem mein Vater schließlich meine Mutter gewählt hatte, durfte sie selbst entscheiden, ob sie ihn heiraten wollte oder nicht. Wie sie beteuert, wollte sie wirklich, und ein paar Wochen später wurde groß Hochzeit gefeiert. Gleich danach ist sie mit meinem Vater nach Argentinien gegangen.“
Mariana sagte: „Das war echt mutig von deiner Mutter! Sie hatte ja keine Ahnung, worauf sie sich einließ.“
„Ja, sie war noch nie zuvor aus ihrem Dorf herausgekommen, und dann gleich nach Argentinien zu ziehen, war bestimmt nicht leicht. Heute würde das so schnell gar nicht mehr gehen, aber damals gab es ja die Mauern noch nicht.“
Linda fragte: „Wie haben sich deine Eltern denn unterhalten, konnte dein Vater Arabisch?“
Achmad schüttelte den Kopf. Seine Großeltern hatten mit ihren Kindern immer nur Spanisch gesprochen, sodass sein Vater sich am Anfang außer mit ein paar Brocken Englisch kaum mit Aysha unterhalten konnte. Sie lernte in Argentinien aber schnell Spanisch und arbeitete in einer Näherei, bis Achmads älteste Schwester Malak geboren wurde. Innerhalb weniger Jahre folgten Jasmin, Nesrin und Schirin, und zu guter Letzt wurde er geboren, der einzige Sohn. Bis auf Schirin waren mittlerweile alle Schwestern verheiratet und lebten mit ihren Männern in deren Heimatdörfern. Malak und Jasmin hatten jeweils drei Kinder, Nesrin erwartete im Herbst ihr erstes Baby. Schirin war bis vor Kurzem verlobt gewesen, hatte sich aber nach kurzer Kennenlernphase dazu entschieden, ihren Verlobten doch nicht zu heiraten. Sie arbeitete in einem Nagelstudio in Ramallah und wohnte noch zu Hause.
Mittlerweile hatten die drei den Turm erreicht und erklommen die Stufen. Achmad hatte nicht zu viel versprochen. Die Aussicht, die sich ihnen oben eröffnete, war atemberaubend. Sie blickten weit über das Dorf hinaus auf das umliegende Land mit seinem sanften Wechselspiel aus Hügeln und Tälern – bis hin zur Küste, dem glitzernden Mittelmeer am Gazastreifen und nach Tel Aviv. Inzwischen stand die Sonne schon tief und tauchte die Hügel in goldenes Licht, während das Tal bereits im Schatten lag. Achmad zeigte auf ein Dorf zwei Hügel weiter. „Dort wohnt übrigens Malak mit ihrem Mann, im vierten Stockwerk seines Elternhauses.“
„Das bedeutet, in den drei Stockwerken unter ihnen wohnen die Brüder ihres Mannes, oder?“ fragte Linda.
„Ja genau, mit ihren Familien. Und die Eltern wohnen im Erdgeschoss.“
„Wie alt sind deine Schwestern?“
„Oh, da muss ich überlegen … Malak ist sechs Jahre älter als ich, also 26, Jasmin ist 25, Nesrin 23 und Schirin 21.“ Eine Weile sagte niemand etwas. Das Schauspiel der untergehenden Sonne war beeindruckend. Wie von Meisterhand gemalt, glühte der Himmel am Horizont in wunderschönen Tönen von orange über lachsfarben bis rosa.
Achmad unterbrach die Stille. „Meine Mutter würde gerne mal wieder ans Meer gehen, so wie früher in Argentinien. Obwohl sie es von hier aus jeden Tag sehen kann, ist es für sie unerreichbar.“ In seiner Stimme lag Entschlossenheit. „Eines Tages will ich dieses Land wieder verlassen, weg von den unsinnigen Mauern und endlich wieder in Freiheit leben.“ Linda hörte die Sehnsucht in seiner Stimme, und er tat ihr leid. Sanft fragte sie: „Warum seid ihr denn überhaupt von Argentinien nach Palästina gezogen?“
„Aus der Not heraus. Mein Großvater ist überraschend gestorben, da war ich elf. Nach seinem Tod hat sich herausgestellt, dass seine vermeintlich gut laufenden Kleidergeschäfte hoch verschuldet waren, und er über Jahre hinweg seine Ware auf Kredit gekauft hatte. Nicht mal mein Vater hat davon gewusst. In die Buchführung hat mein Großvater sich nämlich nie reingucken lassen.“ Achmads Züge verhärteten sich. „Er hat meiner Großmutter ein schönes Erbe hinterlassen, nämlich einen Riesenberg Schulden! Die hätte sie nie im Leben bezahlen können. Mein Vater sah keine andere Möglichkeit, als alles zu verkaufen – unsere Wohnung, die Möbel, das Auto, einfach alles.“
Während die drei ihre Blicke über die beeindruckende Landschaft schweifen ließen, die sich im Abendlicht vor ihnen ausbreitete, erzählte Achmad seine Familiengeschichte weiter. Zwei Jahre später, nach dem Tod des Großvaters, war auch seine Frau Evita gestorben, gebrochen und bettelarm. Achmad konnte sich noch gut daran erinnern, wie sein Vater verzweifelt versuchte, finanziell wieder auf die Beine zu kommen, um sich und seine Familie über Wasser halten zu können, es aber nicht schaffte. Hinzu kam, dass mit Evitas Tod das letzte Familienmitglied aus der argentinischen Verwandtschaft ausgelöscht wurde. Und die ganze arabische Verwandtschaft war in Palästina. Schließlich sahen Achmads Eltern nur noch eine Möglichkeit: nämlich in ihre Heimat zurückzugehen und dort noch einmal ganz neu anzufangen. Sie verkauften das Häuschen der Großmutter, zahlten mit dem Geld die restlichen Schulden ab, kauften Flugtickets nach Israel und zogen zu Sol und ihrem Mann in deren Haus mit ein.
„… mit 1000 Dollar in der Tasche und ein paar Koffern kamen wir dann hier an.“ Achmad strich sich durch den Bart, die Stirn gerunzelt. Nach kurzer Pause sagte Mariana: „Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem du dich in der Schule von uns verabschiedet hast. Wir wussten nicht einmal, wo Palästina überhaupt liegt.“
Am Horizont war mittlerweile nur noch ein schmaler, orangener Streifen zu sehen, dann war es dunkel, weit im Osten war die schmale Sichel des Mondes sichtbar. Wind kam auf, und es wurde empfindlich kalt. Sie stiegen den Turm hinunter und machten sich auf den Heimweg. Linda fragte: „Dein Vater und ihr Kinder, wie habt ihr das denn damals ohne Arabischkenntnisse gemacht, als ihr hierhergezogen seid?“
„Meine Mutter hat mit uns Arabisch gelernt und oft für uns übersetzt, und am Anfang hat Tante Sol sogar einen Privatlehrer angeheuert, der uns zu Hause unterrichtet hat.“
„Und hat dein Vater hier eine Arbeit gefunden?“
„Ja, er hatte großes Glück. Mit seinem argentinischen Pass konnte er problemlos nach Jerusalem rüber, wo er einen Job bei einem Food-Catering-Unternehmen bekam. Dafür reichten seine Englischkenntnisse, und seinem Boss war es egal, dass er kein Hebräisch konnte.“
Halil arbeitete fünf Tage die Woche, verließ morgens um 4 Uhr das Haus und war vor 20 Uhr eigentlich nie daheim. Oft machte er Überstunden, um so viel Geld wie möglich für ein eigenes Haus beiseitezulegen. Nach fünf Jahren hatte er genug angespart, kaufte das Grundstück und fing mit dem Hausbau an. Jede freie Minute verbrachte er auf der Baustelle, und als das Haus endlich fertig war, bekam Halil Herzprobleme. Ständig erschöpft, musste er schließlich seinen Job aufgeben. Er schaffte die langen Arbeitstage einfach nicht mehr. Mitfühlend fragte Linda: „Und was hat dein Vater dann gemacht?“
„Erst war er wochenlang zu Hause, und als es ihm endlich besser ging, hat er in Ramallah bei einer Bäckerei angefangen. Er verdient dort zwar viel weniger, muss dafür aber morgens nicht ganz so früh aufstehen und kommt abends nicht so spät heim.“
Achmad sah auf die Uhr. „Er müsste gleich nach Hause kommen, und Schirin ist wahrscheinlich schon da.“
Als sie das Haus betraten, empfing sie köstlicher Duft nach Kräutern und Gewürzen, und Linda merkte auf einmal, dass sie sehr hungrig war. Sie fanden Aysha und Schirin in der Küche. Schirin trug kein Kopftuch. Ihr langes, schwarzes Haar war mit einem Haarreif gebändigt, das schmale Gesicht perfekt geschminkt, die langen Nägel rot lackiert. Sie trug verwaschene Jeans und einen hellblauen Pullover. An ihren Ohrläppchen baumelten blaue Glasperlen an langen, silbernen Kettchen. Sie begrüßte Mariana und Linda mit einer Umarmung und ein paar englischen Worten, und Aysha bat ihre Gäste, am Esstisch im Wohnzimmer Platz zu nehmen, der bereits für das Abendessen gedeckt war. Sie hatten sich kaum hingesetzt, als Halil hereinkam. Er war einen Kopf kleiner als Achmad, hatte schütteres, ergrautes Haar und einen grau melierten Schnurrbart. Seine blauen Augen unter den buschigen Brauen sahen Linda freundlich an, und Achmad machte die beiden miteinander bekannt.
Aysha kam mit einer großen Platte Pizza herein und wandte sich freudestrahlend an Linda. „Ich habe extra für dich vegetarische Pizza gebacken, damit du sie essen kannst.“ Linda schluckte. Sie blickte zuerst auf die Pizza mit dem noch brutzelnden Käse, dann in Ayshas Augen, die sie erwartungsvoll anschauten. Mariana raunte ihr ins Ohr: „Das kannst du jetzt echt nicht bringen, Linda.“ Gespannte Stille lag im Raum, alle Blicke ruhten auf Linda. Sie griff zu.
Zum Nachtisch servierte Aysha frisch gebackenen Schokoladenkuchen, dazu reichte sie dampfend heißen Mokka mit Kardamom. Der würzige Geschmack erinnerte Linda an Nelken und Zimt und an die Plätzchen, die ihre Mutter jedes Jahr zu Weihnachten buk.
Total lecker! Die Gastfreundschaft, die sie hier erlebte, war genauso herzlich wie die auf jüdischer Seite. Hier wie dort waren ihr viele freundliche Menschen begegnet.
Der nächste Gedanke überfiel sie wieder einmal wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Was, wenn nicht die Tora, sondern der Koran stimmte? Auf einmal kam sie ins Schwitzen und wusste, dass es nicht am Kaffee lag. Nur mit Mühe konnte sie sich noch darauf konzentrieren, was die anderen sagten. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Geistesabwesend rührte sie in ihrem Kaffee, das fröhliche Geplauder um sie herum vermischte sich zu einem einzigen Stimmengewirr.
„Was ist los, fühlst du dich nicht gut? Du bist ja ganz blass.“ Ayshas Stimme klang besorgt. Augenblicklich wurde es still am Tisch, und alle Augen waren wieder auf Linda gerichtet. Sie nahm die Kaffeetasse an den Mund, trank langsam einen Schluck. Koran oder Tora?
„Doch, mir geht’s gut, danke. Ich glaube, ich habe nur ein bisschen zu viel gegessen.“ Sie rieb sich den Bauch und brachte ein Lächeln zustande.
Nachdem die Tafel aufgehoben war, wollten Aysha und Schirin nichts davon wissen, sich von Linda und Mariana in der Küche helfen zu lassen. Halil, erschöpft von der langen Arbeitswoche, zog sich zurück und auch Mariana war müde und wollte schlafen gehen. Linda und Achmad blieben allein im Wohnzimmer zurück, und er schlug vor, aufs Dach zu gehen. Linda war einverstanden. Dort würden sie ungestört reden können.
Vom Balkon im ersten Stock aus gelangten sie über eine Leiter auf das mit einer etwa anderthalb Meter hohen Mauer umrandete Flachdach. Die Arme auf die Brüstung gestützt, atmete Linda die kühle, erfrischende Abendluft ein und spürte nach, wie ihre Lungen sich damit füllten. Der Nachthimmel war sternenklar, über ihnen stand, endlos weit entfernt, blassgelb die Mondsichel. Irgendwo heulte ein Hund, von dem achtstöckigen Nachbarhaus wehte Musik herüber. Eine Weile sagte niemand etwas, dann fragte Achmad: „Woran denkst du?“ Linda spürte seinen Blick auf sich ruhen. Sie starrte zu den Sternen, ohne sie wirklich zu sehen. „Jahrelang habe ich die jüdischen Regeln befolgt, und auf einmal habe ich Zweifel, ob sie überhaupt Sinn ergeben.“ Würde er sie nun auslachen? Oder ihr sagen, dass selbstverständlich nur der Koran richtig war?
Achmad sagte gar nichts, stattdessen nahm er Linda einfach in den Arm. Die Wärme seiner Umarmung gab ihr ein wohliges Gefühl von Geborgenheit, und auf einmal brach es aus ihr heraus. „Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.“ Sie schmiegte sich an ihn und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Linda hatte keine Ahnung, wie lange sie so auf dem Dach gestanden hatten. Irgendwann löste Achmad seine Umarmung und sagte sanft: „Wir gehen jetzt besser wieder rein, es ist zu kalt.“ Im Haus war alles still, die Küche war dunkel, und nichts rührte sich mehr. Im Flüsterton schlug Achmad vor, noch einen Tee zu trinken. Linda stimmte zu. Nach ihrem Gefühlsausbruch war sie hellwach und hatte noch keine Lust, ins Bett zu gehen. Während Achmad in der Küche hantierte, setzte sie sich im Wohnzimmer auf das Sofa und zog die Beine hoch. Die Geräusche aus der Küche waren irgendwie tröstlich: Wasser kochte, scheppernd fiel etwas zu Boden, eine Schranktür klappte.
Achmad kam mit einem Tablett herein, darauf eine Teekanne, ein Teller Schokopralinen und eine Tüte Kartoffelchips. Er stellte das Tablett vor ihr auf dem Wohnzimmertisch ab. Dann holte er zwei mit Gold verzierte Glastassen, kleine goldfarbene Löffel und eine Zuckerdose aus der Vitrine. Würziger Duft breitete sich aus, als er den Schwarztee mit Salbei einschenkte. Linda nahm ihre Tasse in beide Hände und sog genüsslich den heißen, aromatischen Dampf ein. Ihre kalten Finger erwärmten sich, und sie fühlte, wie sie sich entspannte. Achmad legte ein Holzscheit im Kaminofen nach. Das Feuer flackerte auf und knisterte gemütlich. Er nahm auf dem Sessel ihr gegenüber Platz, häufte drei Löffel Zucker in seinen Tee, dann riss er die Tüte mit den Kartoffelchips auf und hielt sie Linda hin. Sie nahm sich eine Handvoll, und Achmad begann zu erzählen: von seiner Kindheit in Argentinien und davon, wie schwer es für ihn war, seine geliebte Heimat zu verlassen und in das fremde Palästina zu ziehen. In Argentinien hatte er nach sechs Jahren Grundschule gerade die erste Klasse der weiterführenden Schule begonnen, wurde aber hier zurück in die 5. Klasse gesteckt, weil sein Arabisch so schlecht war.
„Meine Klassenkameraden haben mich ausgelacht, weil ich schon 13 war, und ich wurde gehänselt, weil ich mich kaum mit ihnen unterhalten konnte. Anfangs hatte ich nur schlechte Noten, aber meine Lehrer haben mich zum Glück unterstützt, was mich motiviert hat, die Sprache zu lernen und nicht aufzugeben. Nach und nach wurden meine Noten dann endlich besser.“ Achmad grinste. „Irgendwann haben auch meine Klassenkameraden mich akzeptiert, und weil ich gut Fußball spielen konnte, wollte mich jeder in seinem Team haben.“ Linda lächelte. Behaglich nippte sie an ihrem Tee und nahm eine Schokopraline vom Teller. „Letztes Jahr habe ich die Schule dann mit einem guten Zeugnis abgeschlossen. Eigentlich würde ich das Studium ja gern fertig machen, aber wenn man erst einmal eigenes Geld verdient, will man nicht mehr darauf verzichten. Und jetzt, wo ich in Aschkelon arbeite, kann ich das Studium sowieso vergessen.“
„Du kannst ja später immer noch studieren. Vielleicht findest du eines Tages doch einen gut bezahlten Job in der Nähe.“ Linda nahm eine weitere Praline, während Achmad Tee nachgoss. „Vielleicht, aber das ist eher unwahrscheinlich. Als ich angefangen habe, meine Wohnung zu bauen, hat mein Onkel mich gefragt, warum ich das mache. Er meinte, ich würde doch sowieso nicht in Palästina bleiben. Aber ganz ehrlich, eine andere Perspektive sehe ich nicht. Außerdem verlassen sich meine Eltern darauf, dass ich als ihr einziger Sohn für sie sorgen werde, wenn sie alt sind. Sie sind abhängig davon, dass ich mitverdiene.“
Achmad sah Linda an. „Aber jetzt habe ich genug von mir geredet. Erzähl mir von dir! Wie war deine Kindheit? Und wieso bist du nach Israel gekommen?“ Linda lehnte sich im Sofa zurück, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.
Erst als sie hörten, dass Achmads Vater aufstand, bemerkten sie, dass der Morgen bereits graute. Achmad gähnte, dann sagte er: „Mein Vater darf uns hier nicht sehen, wir gehen jetzt besser schlafen. Ein Glück ist heute Freitag und ich habe frei.“ Steif geworden vom langen Sitzen, standen sie ächzend auf. Linda lächelte Achmad an, und er lächelte zurück. Sie zögerte nur einen Augenblick, dann schlang sie ihre Arme um ihn, als wolle sie ihn nie wieder loslassen, und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Nach einer Weile beugte er sich zu ihr herunter. Wie selbstverständlich fanden sich ihre Lippen und verschmolzen zu einem Kuss.
Mariana rüttelte leicht an Lindas Schulter: „Linda, wach auf. Es ist schon 10 Uhr.“ Schlaftrunken blinzelte Linda in das sonnendurchflutete Zimmer, das Malak und Jasmin sich früher geteilt hatten. Sie streckte sich und gähnte herzhaft. Mariana setzte sich zu ihr. „Sag mal, wann bist du denn ins Bett?“ Lächelnd kuschelte Linda sich in ihr Kopfkissen. „Achmad und ich haben die ganze Nacht lang geredet, bis wir gehört haben, dass Halil aufgestanden ist.“
„Wow, ich habe zwar schon manche Nacht durchgetanzt, aber die ganze Nacht lang zu reden, habe ich noch nicht geschafft. Kommst du gleich frühstücken? Aysha und Achmad erwarten uns am Esstisch.“
Als Linda ins Wohnzimmer kam, stand Achmad auf und zog den Stuhl für sie zurück, damit sie Platz nehmen konnte. Ihre Blicke trafen sich, und sie lächelten sich an. Achmad roch frisch und sauber, trug ein hellblaues Oberhemd und eine schwarze Hose. Aysha brachte ihr eine frisch gefüllte Tasse Schwarztee, dann reichte sie ihr einen Teller Fladenbrot. Achmad informierte seine Gäste: „Das Brot hat meine Mutter heute Morgen frisch gebacken.“ Aysha zeigte auf zwei bis zum Rand gefüllte Schälchen. „Wir tunken es zuerst in Olivenöl und danach in Zaatar.“ Linda besah sich das Schälchen mit der Gewürzmischung. „Zaatar, was ist das?“
„Eine Mischung aus Thymian, Sumach, geröstetem Sesam und Salz.“ Aysha zeigte auf eine Schüssel Joghurt aus Schafsmilch, dann nahm sie einen Käse und zeigt Linda freudestrahlend, dass er einen Koscher-Stempel hatte. Linda musste lächeln. Der Käse war zwar koscher, nicht aber der Teller, auf dem er lag. Sie blickte auf eine Suppenschüssel. „Und was ist das?“
„Das ist Foul, Bohnen in einer Joghurt-Tahini-Soße.“ Eifrig zeigte Aysha auf eine Schüssel Humus und einen Teller gekochter Eier, und forderte Linda auf, von allem zu nehmen. Dieses Mal ließ Linda es sich nicht zweimal sagen.
Nach dem Essen zog Aysha sich in ihr Schlafzimmer zurück, um sich für die Moschee umzuziehen, und Achmad fragte seine Gäste, ob sie zum Jummua, dem Freitagsgebet, mitkommen wollten. Mariana hatte keine Lust, Linda hingegen stimmte sofort zu. Sie wollte wissen, wie so ein Moscheebesuch ablief. Gerade, als sie sich fragte, ob sie in Jeans überhaupt reindurfte, kam Aysha wieder. Sie trug nun einen Dschilbab – ein zweiteiliges Set, bestehend aus Kopftuch und langem Rock. Das kupferfarbene, mit Blütenmuster bestickte Tuch bedeckte weich fließend Schultern und Oberkörper. Als sie hörte, dass Linda mitkommen würde, winkte sie ihr zu, sie solle mit ins Schlafzimmer kommen. Einen Moment lang fühlte Linda sich wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. In der Mitte stand ein großes schwarzes Bett mit hohem Kopfende, geschwungen und mit Schnörkeln verziert, bedeckt mit einer roten Tagesdecke aus Satin und vielen roten Kissen. Darüber spannte sich ein elfenbeinfarbener Baldachin aus glänzendem Chiffonstoff. Zu beiden Seiten standen kleine, schwarze Nachttischchen im Rokoko-Stil, dazu passend links an der Wand eine Spiegelkommode, die mit zahlreichen Schminkutensilien bestückt war. Der Kleiderschrank nahm die gesamte rechte Wand ein. Vier der sechs Türen waren von oben bis unten verspiegelt und bildeten die Form einer riesigen Rosette. Aysha öffnete eine Tür und holte einen dunkelgrünen Dschilbab heraus. Sie nahm den langen Rock vom Bügel, reichte ihn Linda und sagte etwas auf Arabisch. Dazu machte sie eine Handbewegung, die andeutete, Linda solle sich den Rock anziehen. Linda stieg mit den Füßen zuerst hinein und streifte ihn über die Jeans nach oben bis zur Taille. Er war viel zu lang, der Saum reichte bis auf den Fußboden und schlug sogar noch Falten. Kurzerhand fasste Aysha den Rock mit beiden Händen am Gummibund und zog ihn hoch bis unter Lindas Achseln. Perfekt! Die beiden lachten, dann sah Linda im Spiegel dabei zu, wie Aysha ihr mit gekonnten Handgriffen das Tuch auf den Kopf legte, sodass von ihrem Haar nichts mehr zu sehen war und es in der Verlängerung ihren gesamten Oberkörper bedeckte. Linda erkannte ihr eigenes Spiegelbild kaum wieder, doch ihre blauen Augen strahlten sie an, und ihr gefiel, was sie sah.
Gemeinsam machten Achmad, Aysha und Linda sich auf den Weg zur Moschee, während Schirin mit Mariana zu Hause blieb. Achmad erklärte, dass es nur für Männer Pflicht war, zum Freitagsgebet zu gehen, und sein Vater, der heute arbeiten musste, in Ramallah zur Moschee gehen würde.
Im Vorraum des kleinen, zweistöckigen Gebäudes mit Minarett sagte Achmad: „Ab hier trennen sich unsere Wege, ihr Frauen bleibt unten, die Männer gehen nach oben. Meine Mutter zeigt dir, wie der Wudu, also die rituelle Waschung, gemacht wird. Wir sehen uns später.“ Er lächelte Linda zu und ging die Treppe hoch.
Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen und in die dafür vorgesehenen Regale gestellt hatten, gingen die Frauen in den Waschraum, wo sie Hände und Unterarme, Gesicht und Füße wuschen. Der Fußboden im Gebetsraum war mit einem großen Teppich bedeckt. Das Muster zeigte Säulen und viele rote, nischenähnliche Innenfelder. Darauf verteilt standen bereits mehrere Frauen. Aysha schob Linda auf ein leeres Feld und stellte sich neben sie auf die benachbarte Nische. Über einen Lautsprecher hörten sie die Stimme des Imam17, der oben bei den Männern war, und das Freitagsgebet nahm seinen Lauf.
Am Nachmittag herrschte reges Kommen und Gehen im Haus von Achmads Eltern. Linda wurde vielen Tanten, Onkeln, Cousinen und Cousins vorgestellt, lernte Achmads Schwestern Malak und Jasmin mit ihren Familien sowie seine Großeltern kennen. Sein Großvater war ein stattlicher, Respekt einflößender Mann und beinahe genauso groß wie Achmad. Die Großmutter war jedoch wesentlich kleiner. Ihren zierlichen Händen war anzusehen, dass sie in ihrem Leben viel gearbeitet hatte, doch sie wirkte keineswegs alt. Ihre Stimme und ihr Lachen schienen jugendlich geblieben, und ihre Bewegungen waren graziös. Es wurde laut geredet, gelacht und bisweilen heftig miteinander diskutiert. Währenddessen sorgte Aysha pausenlos dafür, dass Gläser und Teller stets gefüllt waren.
Als spät am Abend die letzten Gäste gegangen waren, brummte Linda der Kopf, und sie fragte Achmad: „Sind deine Verwandten etwa heute alle wegen mir gekommen?“
„Die meisten wären auch so gekommen, das ist ganz normal bei uns. Man kommt einfach auf einen Sprung vorbei, manche bleiben auch etwas länger, wie du gesehen hast. Aber natürlich waren heute alle neugierig auf dich, und du hast mit deinem Charme ihre Herzen im Sturm erobert.“
Darüber freute sich Linda, und sie überschlug kurz, wie viele Gäste Aysha heute bewirtet haben mochte. Sie kam auf mindestens 32 und sagte: „Ihr habt ja echt eine große Verwandtschaft.“ Achmad zuckte die Schultern. „Das waren längst noch nicht alle. Meine Mutter hat zwölf Geschwister, alle verheiratet und mit Kindern.“
„Zwölf Geschwister! Da muss deine Oma beim ersten Kind ja noch sehr jung gewesen sein.“
„Das war sie zwar, aber nicht alle 13 Kinder sind von ihr. Mein Großvater hat insgesamt drei Frauen.“ Linda schluckte. Die Vorstellung, sich den eigenen Mann mit anderen Frauen teilen zu müssen, fand sie schrecklich. Sie sah Achmad direkt in die Augen. „Würdest du das auch wollen, mehrere Frauen?“
„Auf keinen Fall. Mein Herz soll nur einer Frau gehören. Das habe ich schon beschlossen, als ich damals nach Palästina gekommen bin. Für meine Großmutter ist es auch nicht so toll, dass sie sich meinen Großvater mit anderen Frauen teilen muss.“ Achmad erhob sich vom Sofa. „Zeit für mich, ins Bett zu gehen, morgen muss ich wieder arbeiten. Schade, ich würde mich gerne noch länger mit dir unterhalten, so wie letzte Nacht.“ Seine Stimme wurde zärtlich. „Schlaf gut, ich freue mich schon darauf, dich morgen Abend wiederzusehen.“
Als Linda und Mariana am nächsten Morgen am Frühstückstisch erschienen, hatte Achmad das Haus längst verlassen, doch auf ihrem Teller fand Linda einen großen Briefumschlag mit ihrem Namen darauf. Neugierig riss sie ihn auf und zog eine CD heraus. Linda lächelte, es war die Rap-Musik, die Achmad ihr extra besorgt hatte. Auf der Hülle klebte ein kleiner gelber Zettel, darauf war ein rotes Herz gemalt. Eine Welle der Glückseligkeit erfasste Linda, und sie spürte, wie sie vor Freude errötete. Mariana, die sie beobachtet hatte, meinte belustigt: „Du musst ja wirklich ein großer Fan von Rap-Musik sein.“ Die beiden Freundinnen sahen sich an und lachten.
Den Nachmittag verbrachten sie mit einem ausgedehnten Spaziergang in den umliegenden Hügeln. Einmal scheuchten sie dabei versehentlich ein riesengroßes Wildschwein auf, das in erstaunlicher Geschwindigkeit die Flucht ergriff. Die Temperatur war angenehm mild, nur dort, wo die Sonne nicht hinkam, wurde es etwas kühl. Die Hügel waren wunderschön in goldenes Licht getaucht, leichter Dunst lag über den Tälern. Linda beschattete sich mit der Hand die Augen und betrachtete lange das friedliche Bild, das sich ihr bot. Dann machte sie mit ihrem Handy ein Foto und schickte es, versehen mit einer knappen Nachricht, an ihre Mutter.
Hi Ima, mache gerade mit meiner Freundin einen Ausflug in die Umgebung. Hier würde es dir bestimmt gut gefallen.
Grüße auch an Papa und Johanna!
Noch einmal blickte sie auf die weite Landschaft. Im Tal verdichtete sich der Nebel, bis er schließlich den Blick auf alles, was darunterlag, verdeckte. Wie traurig es doch war zu wissen, dass es in diesem Moment unter der Nebeldecke vielerorts alles andere als friedlich zuging. Die Ankündigung einer neuen Nachricht ließ sie auf ihr Handy blicken. Ihre Mutter hatte geantwortet:
Liebe Linda, das sieht ja wirklich sehr schön aus. Irgendwann kommen wir dich bestimmt besuchen, und dann kannst du uns alles zeigen! Bei uns hat es heute geschneit, aber darauf kannst du ja getrost verzichten, gell?
Dir noch viel Spaß heute, pass auf dich auf!
Liebe Grüße von uns allen!
Als Linda und Mariana nach Hause zurückkamen, fanden sie Aysha und drei weitere Frauen aus dem Dorf im Wohnzimmer sitzend, alle mit einer Stickarbeit in der Hand. Während sie fröhlich miteinander plauderten, bestickten sie Kleider mit bunten Blütenmustern, die denen ähnlich sahen, die Linda im Laden in Ramallah gesehen hatte. Später kam ein Mann vorbei und holte einen ganzen Stapel fertig bestickter Kleider ab, die Aysha schon für ihn in eine Kiste gepackt hatte. Er drückte ihr einige Geldscheine in die Hand, dann war er wieder fort. Linda fand, dass dies eine schöne Art war, Geld zu verdienen – zu Hause und doch nicht allein.
Am Abend kam Achmad etwas früher als sonst nach Hause, um Mariana und Linda im Taxi nach Ramallah zu begleiten. Nachdem Linda sich schweren Herzens von Aysha, Halil und Schirin verabschiedet hatte, saß sie so wortkarg im Taxi, dass Achmad fragte, ob bei ihr alles gut sei. Sie schüttelte den Kopf. „Ich will nicht weg von hier.“
„Ich will auch nicht, dass du gehst. Aber wir sehen uns im Videocall, und du kommst uns bald wieder besuchen, okay?“ Linda nickte, dann nahm sie Achmads Hand und ließ sie erst wieder los, als das Taxi am Bahnhof hielt und sie aussteigen mussten. Sie war verliebt über beide Ohren und hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
Als Linda kurz vor 23 Uhr die Haustür aufschloss, wehten ihr Rock und ihre zusammengebundenen Haare leicht im kühlen Wind. Daniel und Sarah waren noch auf und begrüßten sie herzlich. Sarah fragte: „Hattest du ein schönes Wochenende mit deiner Freundin?“
„Oh ja, es war richtig schön. Wir hatten viel Spaß.“ Gelogen war es zwar nicht, dennoch regte sich in Linda das schlechte Gewissen. Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, sagte sie: „Ich bin ganz schön müde, entschuldigt mich bitte, ich gehe besser ins Bett.“ Ihre Gasteltern nickten verständnisvoll und wünschten ihr eine gute Nacht. Linda eilte auf ihr Zimmer, warf ihre Tasche aufs Bett und tippte in ihr Handy:
Lieber Achmad, ich wünschte, ich könnte bei dir sein oder wenigstens jetzt sofort mit dir facetimen. Aber das kann ich nur, wenn mich niemand hört.
Achmads Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Ist schon okay, wir können ja auch schreiben. War echt schön mit dir.
Lindas Herz war voller Sehnsucht nach ihm. Sie schrieb zurück:
Ich vermisse dich jetzt schon. Ich liebe dich.
Sie schickte die Nachricht ab, noch bevor ihr wirklich klar wurde, was sie da geschrieben hatte. Prompt wurden die beiden Häkchen blau und Linda sah, dass Achmad eine Antwort schrieb. Herzklopfend und ohne die Augen vom Handy abzuwenden, wartete sie ungeduldig, dann hatte sie es schwarz auf weiß.
Ich liebe dich auch und denke die ganze Zeit nur noch an dich.
Linda seufzte glücklich und schickte selig lächelnd ein gelbes Gesicht umgeben von drei Herzen als Antwort.
Knapp zwei Wochen später, an einem Donnerstagmorgen Anfang Februar, hielt Linda es nicht länger aus. Bis dahin hatte sie mit Achmad in jeder freien Minute Nachrichten ausgetauscht und sich, wann immer möglich, von der Midrascha fortgestohlen, um im Wohnheim in einem leer stehenden Zimmer ungestört telefonieren oder einen Videocall machen zu können. Spätabends, wenn sie zu Hause war, hatten sie oft bis in die Nacht hinein einander so lange geschrieben, bis ihnen die Augen zugefallen waren.
Achmad ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie musste ihn wiedersehen, und zwar noch heute! Und plötzlich wusste Linda, was sie tun würde. Sie stopfte ihr blaues Kopftuch, ein paar Kleider zum Wechseln und andere Utensilien in ihre Tasche, dann nahm sie ihren Schulrucksack und sagte zu Sarah: „Ich gehe nach der Midrascha zu einer Freundin und bleibe über Schabbat dort. Mozasch18 bin ich zurück.“ Sarah nickte. „Okay, pass auf dich auf. Schabbat Schalom!“ Linda fühlte einen Stich in ihrem Herzen. Ihre Gastmutter anzulügen, tat ihr weh, doch sie sah keinen anderen Weg.
In der Mittagspause zog Linda Mariana beiseite. „Ich fahre nachher zu Achmad. Nimmst du bitte meinen Rucksack mit zu dir nach Hause? Ich hole ihn Samstagabend bei dir ab.“ Mariana sah Linda mit großen Augen an. „Hast du dir das auch gut überlegt? Weiß Achmad überhaupt, dass du kommst?“
„Nein, ich will ihn überraschen.“
„Mensch Linda, das ist gefährlich so alleine. Außerdem sprichst du kaum Arabisch, wie willst du denn von Ramallah in Achmads Dorf kommen?“ Mariana war plötzlich ganz aufgebracht und musste sich bemühen, nicht laut zu werden. Linda zuckte die Schultern. „Ich komm schon irgendwie hin. Aber jetzt muss ich los, damit ich es schaffe, bevor es dunkel wird.“
Mariana suchte nach Worten, um ihre Freundin irgendwie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Linda jedoch hatte ihr bereits den Schulrucksack in die Arme gedrückt und eilte, ohne sich noch einmal umzudrehen, zur Tür hinaus.
Wie sie war, in Rock und mit zusammengebundenen Haaren, stieg sie in die Straßenbahn, fuhr bis zur Haltestelle „Damaskustor“ und kaufte bei einem nahegelegenen Kiosk eine Flasche Wasser mit arabischem Aufdruck. Dann wickelte sie sich das blaue Tuch um den Kopf. Kurze Zeit später saß sie in ihren hellblauen Jeans im Bus nach Ramallah, zückte ihr Handy und machte ein Selfie. Bevor sie das Foto an Achmad schickte, schrieb sie darunter:
Rate mal, wohin ich gerade fahre!
Seine Antwort kam postwendend.
Das kannst du doch nicht einfach so machen! Du weißt ja gar nicht, wie du zu mir nach Hause kommst! Ich bin noch in Aschkelon, kann frühestens in drei Stunden in Ramallah sein!
Verdutzt blickte Linda auf die Nachricht. Achmad schien alles andere als erfreut. Vielleicht hätte sie doch vorher Bescheid sagen sollen? Im selben Moment kam eine neue Nachricht von ihm.
Entschuldige bitte, du bist natürlich herzlich willkommen bei uns, ich mach mir nur einfach Sorgen um dich.
Linda atmete erleichtert auf und schrieb zurück:
Ich pass schon auf mich auf, du brauchst dir keine Gedanken zu machen.
Doch anscheinend machte Achmad sich sogar große Gedanken, denn nun schrieb er:
Wenn du in Ramallah ankommst, rühr dich nicht von der Stelle. Nimm auch ja kein Taxi alleine! Ich rufe Ali an, dass er dich abholt und in das richtige Sammeltaxi setzt.
Am Busbahnhof erwartete Ali sie bereits. In gebrochenem Englisch sagte er: „Achmad ist ganz außer sich vor Sorge um dich. Er hat mir regelrecht befohlen, dich nicht aus den Augen zu lassen, bis du im richtigen Taxi sitzt. Also habe ich kurzerhand mein Café vorübergehend geschlossen, um zu kommen.“ Er zeigte auf die gegenüberliegende Seite, wo mehrere Kleinbusse aufgereiht waren. „Das sind die Sammeltaxis, die in die umliegenden Dörfer fahren. Feste Abfahrtzeiten gibt es nicht. Man wartet, bis der Bus voll ist.“
Linda folgte Ali über die Straße zu einem der Kleinbusse. Ali redete mit dem Mann am Steuer, dann reichte er ihm einen Geldschein und sagte: „Du kannst einsteigen. Der Fahrer bringt dich bis vor die Haustür.“ Einige Plätze waren schon besetzt, und kaum hatte Linda sich in die letzte Reihe gesetzt, klingelte ihr Handy. Achmad wollte wissen, wo sie war. Als er hörte, dass sie bereits im Taxi saß, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. „Gut, da bin ich ja beruhigt. Meine Eltern habe ich inzwischen verständigt, meine Mutter ist daheim und erwartet dich. Der Fahrer bringt dich bis an die Haustür. Du weißt ja, die Fahrt dauert etwa 45 Minuten.“
Nicht lange danach war das Sammeltaxi voll besetzt und fuhr los. Der kleine Bus hatte Ramallah jedoch noch nicht lange verlassen, als er plötzlich wieder anhielt. Linda sah, dass die Straße vor ihnen abgesperrt war. Der Busfahrer schimpfte wild gestikulierend auf Arabisch und begann, den Bus zu wenden. Sein Wendemanöver wurde von dem Hupen wütender Autofahrer hinter ihnen begleitet. Manche machten ihrem Ärger über die Straßensperre lauthals Luft, andere hatten ihr Fenster heruntergekurbelt und fuchtelten mit den Armen. Linda versuchte, Achmad anzurufen, musste jedoch feststellen, dass ihr Handy keinen Empfang mehr hatte. In dem Moment rief der Fahrer seinen Passagieren etwas zu, das sie nicht verstand, und ihr Sitznachbar erklärte ihr, dass sie einen Umweg fahren mussten. Linda wurde unruhig. Es war wohl doch keine so gute Idee gewesen, einfach aufs Geratewohl loszufahren. Immer wieder klingelte das Handy des Fahrers, und während er mit einer Hand das Lenkrad betätigte, nahm er mit der anderen die Gespräche an. Die Fahrt ging über zahlreiche Hügel und durch viele Dörfer, die Linda noch nie gesehen hatte.
Inzwischen waren sie schon seit zwei Stunden unterwegs. Gerade als sie dachte, sie würde heute nicht mehr ankommen, tauchte Achmads Dorf vor ihnen auf, und der Taxifahrer fuhr wie ausgemacht bis zum Haus von Halil und Aysha. Linda war kaum ausgestiegen, als auch schon die Haustür geöffnet wurde. Mit einer hastigen Handbewegung deutete Aysha ihr an, schnell hereinzukommen. Überrascht rief Linda dem Taxifahrer noch rasch ein Dankeschön zu und eilte ins Haus. Sofort machte Aysha die Tür hinter ihr zu, dann erst begrüßte sie Linda mit einer Umarmung und einem herzlichen Lächeln. Linda konnte sich keinen Reim darauf machen, doch weder ihre Arabisch- noch Spanischkenntnisse reichten aus, um nachzufragen, was los war. Im selben Moment, als sie ihr blaues Tuch vom Kopf streifte, klingelte ihr Handy. Froh darüber, wieder Empfang zu haben, nahm sie das Gespräch an, doch noch bevor sie etwas sagen konnte, schallte ihr Achmads Stimme entgegen. „Dank sei Allah, dass du gut angekommen bist!“ Er berichtete, dass seine Mutter ihn besorgt angerufen hatte, da Linda so lange nicht kam. Und weil er Linda nicht erreichen konnte, erfragte er beim Taxi-Unternehmen die Handy-Nummer ihres Fahrers, der ihm dann mitteilte, dass er wegen einer Straßenblockade auf Umwegen fahren musste. „Das hat mir keine Ruhe gelassen, deshalb habe ich ihn dann noch mehrmals angerufen, bis ich sicher sein konnte, dass du auch tatsächlich zu Hause ankommst.“ Linda lachte ins Telefon. „Ach du warst das. Die Fahrt hat zwar länger gedauert als gedacht, aber alles ist gut! Ich verstehe gar nicht, warum ihr euch so aufregt.“
„Niemand regt sich auf, wir wollen nur, dass es dir gut geht. Ich fahre jetzt los, bin in etwa drei Stunden daheim.“ Seine Stimme wurde weicher. „Ich freue mich auf dich.“ Lindas Herz machte einen kleinen Sprung. Wenn es nur schon Abend wäre und sie Achmad endlich wiedersehen würde.
Den restlichen Nachmittag konnte sie nichts weiter tun, als zu warten, da Aysha jegliche Hilfe bei den Vorbereitungen fürs Abendessen ablehnte. Gelangweilt saß sie bei Tee und Dattelkeksen auf der Couch vor dem laufenden Fernseher, in Gedanken unentwegt bei Achmad. Gegen Abend strömte der köstliche Duft gebratenen Hühnchens aus der Küche zu ihr herüber, und dann endlich hörte sie die Haustür klappen. Voller Vorfreude schlug ihr Herz höher. Gleich würde Achmad mit seinem entwaffnenden Lächeln vor ihr stehen und sie mit seinen samtbraunen Augen ansehen. Doch Achmad kam nicht. Stattdessen hörte Linda die eiligen Schritte von Aysha im Flur und gleich darauf ihre gedämpfte Stimme. Sie schien aufgebracht. Zwischendurch sprach Achmad in ruhigem Ton, als versuche er, seine Mutter zu beschwichtigen. Obwohl Linda nichts verstand, wusste sie, dass es um sie ging, und wartete angespannt darauf, was als Nächstes passieren würde. Die Stimmen im Flur wurden lauter, dann herrschte einen Moment lang Stille. Ayshas Schritte entfernten sich wieder, die Küchentür klappte zu.
Endlich wurde die Wohnzimmertür geöffnet und Achmad kam herein. Er lächelte sein strahlendes Lächeln, das Linda so liebte. „Hallo, und herzlich willkommen zurück! Wir freuen uns, dass du da bist.“ Ihr fiel ein Stein vom Herzen. „Danke, ich dachte schon, deine Mutter hat sich irgendwie über mein Kommen geärgert.“
„Quatsch, dein Besuch erfüllt unser Haus mit Licht, meine Mutter freut sich natürlich sehr.“ Linda hatte die Hoffnung, Achmad würde sie nun umarmen, sie sehnte sich danach, sich an ihn zu klammern und den Geruch seines Parfüms einzuatmen, das so wunderbar an Vanille und Mandeln erinnerte. Doch er tat nichts dergleichen. Stattdessen setzte er sich ihr gegenüber auf den Sessel und begann, über belanglose Dinge zu plaudern.
Als wenig später auch Halil nach Hause kam, versammelten sich alle am gedeckten Esstisch, und Aysha trug eine Schüssel nach der anderen auf – allesamt gefüllt mit dampfend heißen, nach Gewürzen duftenden Speisen. Linda ließ es sich schmecken, ohne weiter darüber nachzudenken, ob das Essen koscher war oder nicht. Nachdem sie fertig waren, saßen sie noch lange am Tisch und redeten. Aysha und Halil fragten Linda nach ihrer Familie in Deutschland und ihrem Zuhause. Linda erzählte von ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester, dabei zeigte sie Fotos, die sie auf ihrem Handy hatte. Dann sprach Aysha von ihrer Familie und den vielen Geschwistern, mit denen sie aufgewachsen war. Sie erzählte davon, wie sie und ihre Schwestern im Sommer nebeneinander auf dem flachen Dach ihres Elternhauses geschlafen hatten, weil die Nächte zu heiß waren und an eine Klimaanlage nicht zu denken war.
Irgendwann beschloss Linda, ins Bett zu gehen, um die Gastfreundschaft von Achmads Familie nicht zu sehr zu strapazieren. Doch sie war überhaupt nicht müde. Hellwach lag sie im Bett und ließ den Tag in Gedanken noch einmal Revue passieren. Allmählich wurde sie dabei doch schläfrig, und beinahe wie im Traum hörte sie Aysha wieder mit gedämpfter Stimme auf Achmad einreden, spürte der Erleichterung nach, als sie vor ihrem inneren Auge sah, wie die Wohnzimmertür aufging und Achmad endlich hereinkam – sein Lächeln genauso strahlend, wie sie es sich erhofft hatte. Schade nur, dass er sie nicht umarmt hatte. Wenn er es nicht bald tat, dann würde sie eben ihn umarmen. Mit geschlossenen Augen lächelte sie unwillkürlich, dann war sie eingeschlafen.
Am nächsten Tag musste Achmad nicht arbeiten. Nach dem Freitagsgebet in der Moschee fuhren er und Linda mit dem Sammeltaxi nach Ramallah, wo sie in einem kleinen Restaurant zu Mittag aßen und anschließend im Kino einen Film anschauten. Als sie aus dem Kino kamen, dämmerte es bereits, doch keiner von beiden wollte schon nach Hause fahren. Achmad schlug vor, zu Ali ins Café zu gehen. Freudig überrascht begrüßte Ali sie, dann führte er sie an einen kleinen Tisch für zwei Personen. Im Café herrschte eine heimelige Atmosphäre. Kleine Schirmlampen an den Wänden verbreiteten gemütliches Licht, aus einem Lautsprecher kam leise Musik, die Luft im Raum roch nach gebratenem Fleisch und Gewürzen. Ali zündete mit einem Streichholz die Kerze auf ihrem Tisch an. Linda sah ihm zu, glücklich und entspannt wie schon lange nicht mehr. Sie sagte: „Am liebsten würde ich die Zeit anhalten!“ Achmads Augen funkelten im Schein der Kerze. „Alle Mädchen, die ich bisher kennengelernt habe, waren einfach nur langweilig. Du bist so ganz anders, das habe ich auf den ersten Blick gewusst.“ Linda lachte, reichte über den Tisch und wollte ihre Hand auf Achmads legen, doch ehe sie dazu kam, hatte er sie bereits zurückgezogen. Verdutzt sah sie ihn an, doch er sagte nichts und lächelte nur.
Ali war die kurze Szene nicht entgangen, und er zwinkerte ihnen zu. „Wartet kurz, bin gleich wieder zurück.“ Als er wiederkam, balancierte er ein Tablett mit zwei dampfenden, randvoll mit Milch gefüllten Gläsern in der einen Hand, in der anderen einen Teller Manakish, die für Linda aussahen wie kleine, verschieden belegte Pizzen. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Ali stellte alles auf ihrem Tisch ab und ließ das Tablett auf seiner Hand herumwirbeln, bevor er gut gelaunt zu seinen anderen Gästen eilte. Die heiße Milch verströmte aromatischen Zimtgeruch: Sahlab. Linda liebte dieses typische Wintergetränk und hatte es schon öfters an gemütlichen Abenden mit ihren Freundinnen aus der Midrascha selbst zubereitet. Das aus Orchideenknollen gewonnene Sahlab-Pulver kochte man mit Zucker und Milch auf, wodurch die Milch zähflüssig wurde. Zum Schluss streute man Zimt darüber. Gelegentlich hatten sie das Sahlab noch mit etwas Rosenwasser verfeinert und mit einer Zimtstange dekoriert.
Die Stunden in Alis Café verflogen wie im Nu. Linda und Achmad fanden immer wieder neue Gesprächsthemen, und als sie sich schließlich auf den Heimweg machten, war es weit nach Mitternacht.
Linda hatte noch nicht lange geschlafen, als sie wieder aufwachte. Sie hatte auf einmal starke Bauchschmerzen. Irgendetwas, das sie bei Ali gegessen hatte, war ihr wohl nicht bekommen. Sie legte die Hände auf ihren Bauch, atmete tief ein und aus und hoffte, dass die Schmerzen bald nachlassen würden. Die steigerten sich jedoch zu immer stärker werdenden Krämpfen, die sich anfühlten wie Messerstiche. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie tastete nach ihrem Handy auf dem Nachttisch. Zwei Uhr. Sie kroch aus dem Bett, und gekrümmt vor Schmerzen tastete sie sich durch die Dunkelheit aus dem Zimmer hinaus und weiter den Flur entlang bis zu Achmads Zimmer. Sie öffnete die Tür und schleppte sich an sein Bett, dann rüttelte sie an seiner Schulter. „Tut mir leid, dich zu wecken, aber ich habe schreckliche Bauchschmerzen.“ Erschrocken fuhr Achmad hoch. „Leg dich aufs Sofa, ich mach dir eine Wärmflasche.“ Fünf Minuten später kam er mit einer „Wärmflasche“ aus der Küche zurück. Offenbar schien er den Begriff wortwörtlich zu verstehen, denn er hatte eine Plastikflasche mit heißem Wasser befüllt und ein Handtuch darumgewickelt. Allem Anschein nach hatte er kochendes Wasser benutzt, denn die Flasche war sonderbar verformt. Normalerweise hätte Linda dies lustig gefunden, doch ihr war gerade nicht nach Lachen zumute. Die Krämpfe ließen nicht nach, kalter Schweiß hatte sich auf ihrer Stirn gebildet, und sie wand sich vor Schmerzen auf dem Sofa. Besorgt und ratlos entschied Achmad schließlich, entgegen Lindas Protest seine Mutter zu wecken.
Zehn Minuten später kam Aysha mit einer Tasse Kräutertee ins Wohnzimmer geeilt, die Linda widerwilig trank. Eigentlich liebte sie diesen würzigen Tee, doch nun wurde ihr beinahe schlecht davon. Zu allem Übel half auch das nichts, im Gegenteil. Die Bauchschmerzen wurden immer schlimmer, und stöhnend wälzte Linda sich auf dem Sofa hin und her. Alarmiert beratschlagten Achmad und seine Mutter, was sie tun sollten, bis er schließlich sein Handy nahm und ein Taxi anrief, um Linda ins Krankenhaus nach Ramallah zu bringen. „Ich will aber nicht ins Krankenhaus.“ Ihre Stimme klang matt. „Und ich will euch doch auch keine Umstände machen.“ Achmad schüttelte den Kopf. „Du machst uns keine Umstände, wir wollen ja, dass dir geholfen wird.“
In der Notaufnahme des städtischen Krankenhauses herrschte nicht viel Betrieb, als Achmad und Linda gegen vier Uhr morgens ankamen. Im Wartebereich ließ Linda sich auf einen Stuhl fallen, während Achmad zur Anmeldung ging. Kurz darauf kam er zurück. „Die wollen deinen Pass haben, um deine Personalien aufzunehmen.“ Ein messerscharfer Schmerz durchbohrte Lindas Bauch, sie stöhnte auf und presste hervor: „Auf keinen Fall! Wenn die meinen richtigen Namen in den Computer eingeben und irgendwie rauskommt, dass ich ein Doppelleben führe, wird es für mich gefährlich. Das könnte mein Konvertieren und meine Aufenthaltserlaubnis aufs Spiel setzen.“
„Ich sage einfach, du hast deinen Pass vergessen. Wie soll ich dich nennen?“
Linda war alles egal, sie wollte nur noch den Arzt sehen. Der erstbeste Nachname, der ihr einfiel, war der ihrer Tante in Kanada. „Johnson. Nenne mich Linda Johnson.“ Aus den Augenwinkeln heraus sah Linda ihm zu, wie er zur Anmeldung zurückging, dort eine Weile mit der zuständigen Person diskutierte und auf einmal einen Geldschein über die Theke schob.
Danach ging alles ganz schnell, und nachdem die Personalien aufgenommen waren, führte ein Krankenpfleger Linda und Achmad zu einem Bett, das durch Vorhänge vom Nachbarbett abgetrennt war, und sagte etwas auf Arabisch. Während er den Vorhang zuzog, übersetzte Achmad, dass Linda sich hinlegen solle und der Doktor gleich käme. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis ein Arzt mittleren Alters in weißem Kittel und mit Stethoskop um den Hals eintrat. Er war klein und gedrungen und hatte kurz geschnittene schwarze Haare. Sein Gesicht war glatt rasiert und er trug eine runde Brille. Er blickte zuerst auf Linda, dann wandte er sich auf Arabisch an Achmad. Hörte sie Skepsis in seiner Stimme oder bildete Linda sich das nur ein?
Schließlich erklärte Achmad: „Ich habe ihm erklärt, dass du heftige Bauchkrämpfe und starke Schmerzen hast. Der Doktor wollte wissen, ob wir verheiratet sind.“ Linda stöhnte auf. „Was soll die blöde Frage, er soll mir endlich helfen!“ Achmad errötete ein wenig. „Außerdem hat er gefragt, ob du noch Jungfrau bist, was ich natürlich bejaht habe.“ Wütend zischte Linda zwischen zusammengebissenen Zähnen: „Das geht den gar nichts an!“
Der Arzt blickte Linda über den Rand seiner Brille an. Ruhig sagte er in fließendem Englisch: „Ich untersuche Sie erst einmal, dann sehen wir, was ich für Sie tun kann.“ Linda vergaß für eine Sekunde ihren Schmerz und warf Achmad einen vorwurfsvollen Blick zu, der unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. In dem Moment klingelte das Handy des Arztes, und während er telefonierte, flüsterte Linda: „Warum hast du mir nicht gesagt, dass er Englisch spricht?“ Ebenfalls im Flüsterton antwortete Achmad: „Woher sollte ich das denn wissen? Ich habe ihn doch auch noch nie zuvor gesehen, und er hat ja nur Arabisch mit mir gesprochen.“
Als der Arzt sein Gespräch beendet hatte, hörte er Herz und Lunge ab, fühlte Lindas Puls und tastete vorsichtig ihren Bauch ab. Nachdem er auch in Hals und Ohren geschaut hatte, sagte er: „Ich kann nichts Auffälliges finden, außer dass Sie viel Luft im Bauch haben. Zur Sicherheit gebe ich Ihnen aber eine Infusion und Medizin gegen die Bauchkrämpfe.“
Der Krankenpfleger kam, gab ihr eine Tablette und legte Linda an den Tropf. Währenddessen machte Achmad sich auf die Suche nach etwas Essbarem und kam wenig später mit Croissants und Traubensaft wieder. Tatsächlich ließen Lindas Schmerzen bald nach, und schon während die Infusion durchlief, fühlte sie sich besser. Erleichtert biss sie in ihr Croissant und trank einen großen Schluck Traubensaft, und da gerade niemand in der Nähe war, zeigte sie auf das Rezept, das der Arzt ihr ausgestellt hatte, und sagte leise: „Das Zeug brauche ich gar nicht holen. Mit einem arabischen Medikament kann ich nicht in die jüdische Siedlung zurückkommen.“
Froh darüber, dass es ihr besser ging, flüsterte Achmad zurück: „Vielleicht war es ja gar nicht Alis Essen, das die Bauchschmerzen verursacht hat, sondern die Aufregung, ganz allein zu uns zu fahren.“ Linda wischte sich einen Krümel vom Mund. „Ich war aber überhaupt nicht aufgeregt.“ Achmad gähnte. „Hauptsache, dir geht’s besser. Sobald du hier fertig bist, fahren wir heim.“
„Das hört sich gut an. Vielleicht war der Tag ja doch ein bisschen stressig für mich, obwohl ich eigentlich nicht das Gefühl hatte. Aber jetzt, wo du es sagst, fällt mir ein, dass ich früher bei Stress auch schon ab und zu Bauchweh hatte.“ Linda schmunzelte. „Vor allem bei meinem vierten Versuch, die praktische Fahrprüfung zu bestehen.“
„Was für eine Prüfung? Hä?“ Achmad hatte offensichtlich keine Ahnung, wovon sie sprach, also erklärte sie ihm, wie man in Deutschland einen Führerschein macht, wobei er immer wieder erstaunt den Kopf schüttelte. „Bei der dritten Prüfung bin ich aus Versehen vor lauter Aufregung über eine rote Ampel gefahren. Vor der vierten Prüfung habe ich mehrere Beruhigungspillen geschluckt, und zum Glück hat es dann endlich geklappt. Ein fünftes Mal hätte ich es nämlich nicht versucht.“ Sie kicherte. „Wahrscheinlich war der Prüfer mindestens genauso nervös wie ich und heilfroh, lebend wieder aus dem Auto zu kommen. Er war wirklich sehr nett.“
Bester Laune verließen sie das Krankenhaus und fanden das Taxi wieder, in dem sie gekommen waren. Achmad hatte mit dem Fahrer abgemacht, dass er auf sie warten würde. Als er die beiden kommen sah, sprang er aus dem Auto, hielt ihnen zuvorkommend die Tür auf und sagte vergnügt: „Ich dachte mir schon, dass es eine Weile dauert, bis ihr wiederkommt, deshalb bin ich zwischendurch kurz in die Moschee um die Ecke gegangen, um zu beten.“
Etwas enttäuscht musste Linda feststellen, dass Achmad vorne auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Zu gerne hätte sie sich an ihn gekuschelt und sich an seine Schulter gelehnt. Stattdessen musste sie sich damit begnügen, durch den Schlitz zwischen Vordersitz und Kopfstütze seinen Nacken zu sehen. Doch er war da, saß in greifbarer Nähe auf kleinstem Raum vor ihr. Mitten in ihre Gedanken hinein drehte er sich zu ihr um und sagte: „Ist schon verrückt. Hier sitzt du mitten in der Nacht im Taxi in Palästina, und außer Mariana weiß drüben kein Mensch, wo du bist.“ Linda, einfach nur froh, dass ihre Bauchschmerzen endlich nachgelassen hatten, versank mit ihrem Blick in seinen Augen und lächelte versonnen. „Ich bin genau da, wo ich sein will.“
Als Mariana am Samstagabend die Haustür öffnete, stand Linda mit Rock bekleidet und zusammengebundenen Haaren vor ihr. Vor Freude, ihre Freundin wohlbehalten vor sich zu sehen, fiel sie ihr spontan um den Hals. Durch einen breiten, hell gefliesten Flur gelangten sie in Marianas gemütlich eingerichtetes Zimmer. Die Wände waren zartgelb gestrichen, ein hellblauer Orientteppich bedeckte fast den gesamten Fußboden. Auf dem Bett lag eine bunt gemusterte Alpakadecke. Unter dem großen Fenster stand ein Schreibtisch und an der Wand gegenüber eine kleine, dunkelblau gepolsterte Couch, daneben ein Regal mit Büchern und einer altmodischen Uhr. Linda setzte sich auf das Sofa, während Mariana in die Küche ging, um Gläser und Orangensaft zu holen. In einiger Entfernung klappte eine Schranktür, Gläser klirrten, dann kam Mariana zurück. „Ich kann dir auch gerne einen Matetee machen, möchtest du?“
Linda schüttelte den Kopf. „Nein danke, Saft ist gut.“ Mariana reichte ihr ein Glas und schenkte ein, holte noch eine Packung Bamba-Erdnussflips und setzte sich dann im Schneidersitz neben Linda auf die Couch. „Ich bin ja so gespannt! Wie war’s denn?“ Linda berichtete. Von ihrem Selfie-Foto im Bus mit der Nachricht, Achmad solle raten, wo sie sei, und seiner besorgten Antwort, der abenteuerlichen Busfahrt ins Dorf und dem herzlichen, wenn auch etwas seltsamen Empfang, den Aysha ihr bereitet hatte. „Sie war total freundlich, wollte aber, dass ich sofort ins Haus komme, und hat die Tür hinter mir zugemacht, kaum dass ich drin war. Das hat mich schon gewundert.“ Mariana griff nach der Packung Erdnussflips und riss sie auf. „Mich wundert das überhaupt nicht. Aysha wollte vermeiden, dass dich die Leute aus dem Dorf sehen.“
„Wieso das denn?“
„Weil sie Angst hat, sie könnten denken, du seist eine Spionin.“
Lindas Augen wurden weit. „Was? Wie kommst du denn auf so eine Idee?“
„Na ja, es könnte schon so aussehen. Überleg doch mal, du tauchst da einfach auf, und niemand weiß wirklich, woher du kommst. So was verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Dorf und weckt natürlich Neugier bei den Leuten. Sie werden wissen wollen, warum Aysha und Halil dich beherbergen.“
„Ja, aber ich war doch vor zwei Wochen erst mit dir dort, bin durchs Dorf gelaufen, war in der Moschee …“ Mariana unterbrach Linda. „Das war was anderes, da wussten sie vorher, dass wir kommen würden, und Aysha konnte den Leuten erzählen, dass sie Gäste erwarteten. Offiziell waren wir Touristen, die zu Besuch gekommen sind. Aber jetzt bist du wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht. Das könnte ganz leicht anders verstanden werden. Im Dorf weiß ja niemand etwas davon, dass wir in Jerusalem wohnen und die Midrascha besuchen.“ Linda war vor Staunen sprachlos, also redete Mariana weiter. „Ich hab’s letztes Jahr schon mitbekommen, als ich Achmad besucht habe. Aysha wollte nicht, dass im Dorf bekannt wird, dass ich nach Jerusalem ziehen würde, um auf der Midrascha zu studieren – aus Angst davor, was die Leute über sie reden würden. Und als wir vor zwei Wochen bei ihnen waren, habe ich gehört, wie Achmad seinen Eltern versprechen musste, nichts davon zu erzählen, dass du konvertieren willst. Die Dorfbewohner sollten wie gesagt denken, du seist eine ganz normale Touristin aus Deutschland.“
„Ich hatte ja keine Ahnung, dass mein Überraschungsbesuch ein Problem sein könnte.“ Plötzlich lachte Linda. „Aber ganz ehrlich, das mit der Spionin glaube ich nicht, da hast du eine etwas zu blühende Fantasie.“
Mariana zuckte die Schultern. „Wäre doch aber eine plausible Erklärung für Ayshas Verhalten. Na ja, vielleicht interpretiere ich da tatsächlich ein bisschen viel rein.“
„Achmad hätte mir ja ansonsten bestimmt auch was gesagt.“
Mariana nahm einen Schluck Orangensaft und schüttelte den Kopf. „Nein, gesagt hätte er trotzdem nichts, das würden weder er noch seine Eltern jemals tun. Sie wollen, dass du dich bei ihnen wohlfühlst, und würden nichts sagen, was dich betrüben könnte. Du sollst uneingeschränkt den besten Eindruck von ihnen haben.“
„Ich finde, das ist sehr rücksichtsvoll, nicht so wie in Deutschland. Da knallen einem die Leute öfter mal was um die Ohren, ohne Rücksicht darauf, Gefühle zu verletzen. Dann ist mir dies hier doch viel lieber.“
Eine lange Weile sagte niemand etwas. Nachdenklich nahm Linda ein paar Nüsse und schob sie sich in den Mund. Die Uhr auf dem Regal tickte leise. Irgendwann stupste Mariana Linda leicht in die Seite und bat sie weiterzuerzählen.
Als sie von ihrem Abenteuer im Krankenhaus hörte, lachte Mariana hellauf. Sie nahm ihr Glas Orangensaft und tat so, als proste sie Linda zu. „Nice to meet you, Linda Johnson!“ Linda stimmte in ihr Lachen ein, dann erzählte sie leicht errötend von dem Arzt. „Stell dir vor, anstatt mich zu untersuchen, wollte er erst mal wissen, ob Achmad und ich verheiratet sind und ob ich noch Jungfrau bin!“
„Ach du meine Güte, wie peinlich ist das denn? Aber eigentlich verständlich.“
„Wieso?“ Die Uhr schlug neun Mal, dann sagte Mariana: „Dort ist es sehr ungewöhnlich, dass ein Mann eine Frau ins Krankenhaus bringt, ohne mit ihr verheiratet zu sein.“
„Ach so, das wusste ich nicht.“
„Ja, die Kultur ist eben ganz anders, nicht so wie bei euch in Deutschland oder bei uns in Argentinien.“
„Und woher weißt du das?“