„Bevor Achmad damals mit seiner Familie nach Palästina gezogen ist, hat er mir viel darüber erzählt. Wir waren ja erst 13, aber ich glaube, das ist vielleicht das schwierigste Alter überhaupt für so einen Einschnitt im Leben. Alles verlassen zu müssen, was einem von Geburt an vertraut ist, das ist schon heftig. Neues Land, neue Sprache, neue Kultur. Es war wichtig für ihn, mit jemandem darüber zu reden – vielleicht auch deshalb, um sich selbst innerlich auf sein neues Leben vorzubereiten, falls das überhaupt möglich war.“ Mariana warf sich ein paar Erdnussflips in den Mund und zerkaute sie. „Als Achmad dich neulich bei eurer ersten Begegnung im Laden umarmt hat, hat er eigentlich etwas Verbotenes getan. Ist dir aufgefallen, dass in dem Moment außer uns kein Mensch im Laden war?“ Linda verneinte. Darauf hatte sie natürlich nicht geachtet. „Was war denn mit dem Ladenbesitzer, der war doch die ganze Zeit in der Nähe, oder etwa nicht?“
Ihre Freundin schüttelte den Kopf. „Der war kurz rausgegangen, um mit einem Bekannten zu reden, das hatte mich noch gewundert. Wir hätten ja den halben Laden ausräumen können. Wäre er drin gewesen, hätte Achmad dich ganz sicher nicht umarmt.“
Linda griff sich an die Stirn. „Ach, deshalb hat sich Achmad auch nicht mit mir zusammen auf die Rückbank ins Taxi gesetzt. Jetzt verstehe ich das! Und in Alis Café wollte ich meine Hand auf seine legen, aber er hat sie wie zufällig genau in dem Moment weggezogen.“
„Natürlich, das darfst du nicht machen!“
Linda dachte einen Augenblick nach, dann blickte sie Mariana ins Gesicht. „Hm, das ist ja eigentlich nicht anders als shomer negiah, oder?“
„So genau weiß ich das nicht. Ein Unterschied ist aber auf jeden Fall, dass shomer negiah sich ja nur auf die religiösen Juden beschränkt, während das Verbot des Anfassens bei Muslimen die ganze Gesellschaft betrifft.“
Linda gingen immer mehr die Augen auf. „Ist es dann für Halil und Aysha nicht auch komplett unnormal, mich überhaupt zu beherbergen?“
„Genauso ist es. Normalerweise gibt es das nicht, dass die Freundin des Sohnes bei ihm zu Hause übernachtet, und sie riskieren natürlich damit, dass die Leute über sie reden.“
Auf einmal fühlte Lindas Mund sich trocken an. Sie griff nach ihrem Glas und trank zügig. Irgendwo im Haus klingelte ein Telefon. Dann sagte sie: „Aber Achmad sieht das nicht so eng. Er hat selbst gesagt, dass er von den Traditionen nicht viel hält.“
Mariana nickte. „Das stimmt ja auch, aber mit seinem Verhalten reflektiert er gleichzeitig das seiner Familie, und er würde nie riskieren, ihre Ehre aufs Spiel zu setzen.“
Linda hatte das Gefühl, nicht länger sitzen bleiben zu können. Sie stand auf, ging zum Schreibtisch und sah aus dem Fenster. Über der Silhouette einer Palme im Garten stand der Halbmond am Nachthimmel, ab und zu kurz verdeckt von Wolken, die sich davorschoben. Nach einer langen Weile drehte Linda sich wieder um und sagte: „Ich glaube, das mit Achmad und mir wird komplizierter, als ich dachte. Doch wie mein Vater immer sagt: ‚Wo ein Wille, ist auch ein Weg.‘ Ich liebe Achmad so unendlich, und ich will alles tun, um ihm oder seiner Familie keine Schande zu machen. Das kann ja nicht so schwer sein.“
Mariana sagte nichts darauf. Linda setzte sich wieder neben sie auf die Couch, holte noch ein paar Erdnüsse aus der Tüte und erzählte weiter bis zum Schluss. „… und dann habe ich wie immer in der Straßenbahn den Rock wieder angezogen und die Haare zusammengebunden.“
Mariana stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Ich bin froh, dass alles gut gegangen ist!“
„Klar, warum sollte denn nicht alles gut gehen? Selbst die Bauchschmerzen waren letztendlich zu was gut. So konnte ich unverhofft die halbe Nacht mit Achmad zusammen verbringen.“ Linda lächelte verträumt.
Marianas Augen funkelten schelmisch: „Ich habe ja gesagt, dass ihr ein schönes Paar abgebt. Mazel tov!“
„Todah!“
Sie lachten, erhoben ihre Gläser und prosteten sich zu. Dann wurde Linda plötzlich wieder ernst. „Achmad will nicht, dass ich wegen ihm alles aufgebe, wofür ich die letzten sieben Jahre gearbeitet habe. Er sagt, dass er meinen Glauben respektiert und mir beim Konvertieren nicht im Weg stehen will. Das Problem ist nur: Wenn ich konvertiere und die israelische Staatsbürgerschaft annehme, fände ich es unmoralisch, nicht religiös zu leben. Und sollte ich irgendwann Achmad heiraten, würde das sehr wahrscheinlich so aussehen, als hätte ich scheinkonvertiert.“
Mariana nickte. „Und das könnte vielleicht als Verrat angesehen werden.“
„Ja, obwohl es natürlich nie meine Absicht war, nur zum Schein zu konvertieren. Aber jetzt ist alles anders. Ich liebe Achmad so sehr und weiß, dass er mich auch liebt, er hat es mir selbst gesagt.“ Linda dachte an ihre Gebetsblockade und die inneren Kämpfe, die sie seit Monaten mit sich selbst ausfocht. „Mit Achmad habe ich auf einmal eine ganz neue Perspektive.“
Nachdenklich schwieg sie einen Augenblick, und als sie weitersprach, war ihre Stimme leise, eher so, als rede sie zu sich selbst. „Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht, ich liebe das Judentum und Israel nach wie vor. Doch vorhin auf der Rückfahrt im Bus ist mir plötzlich klargeworden, was ich tun werde.“ Aus der Küche drang leises Geschirrklappern, irgendwo draußen bellte ein Hund. Gespannt wartete Mariana darauf, dass Linda weitersprach. Rhythmisch und gleichmäßig war das Ticken der Uhr zu hören. Dann endlich räusperte Linda sich und sah ihrer Freundin fest entschlossen in die Augen.
„Ich breche die Schule ab.“
Endlich hatte sie nicht nur eine Entscheidung getroffen, sondern sie auch ausgesprochen. Sie spürte, wie sich Erleichterung in ihr breitmachte. Wie vom Donner gerührt starrte Mariana sie mit offenem Mund an, um gleich darauf in Tränen auszubrechen. Überrascht fragte Linda: „Sind das jetzt Freudentränen oder warum weinst du?“ Ihre Freundin antwortete nicht. Linda nahm sie in den Arm. „Du wolltest Achmad und mich doch schon die ganze Zeit verkuppeln und jetzt, wo es so weit ist, weinst du, anstatt dich mit uns zu freuen. Ohne dich hätten wir uns ja gar nicht kennengelernt!“ Mariana schnäuzte sich. „Ich freu mich ja für euch, verliere aber gerade meine beste Freundin an Achmad. Und wenn du die Midrascha abbrichst, kannst du ja gar nicht in Israel bleiben.“ Bei der Vorstellung rollten schon wieder die Tränen.
„Ja klar, aber ich komme wieder. Und ich hoffe natürlich, dass ich nicht allzu oft ein- und ausreisen muss, bevor Achmad um meine Hand bittet.“ Mariana musste unwillkürlich lächeln, und schon kam Linda der nächste Gedanke. „In nächster Zeit gibt es eine Menge zu tun. Ich bin jetzt schon nervös, wenn ich daran denke, dass ich Rabbiner Rosenfeld mitteilen muss, dass ich doch nicht konvertieren will. Am besten bringe ich das so schnell wie möglich hinter mich.“
Linda holte ihr Handy aus der Rocktasche. Bisher hatte sie einfach an seine Bürotür geklopft, wenn sie mit ihm reden wollte, aber es waren kleinere Anliegen gewesen, die sie gehabt hatte. Für dieses Gespräch holte sie sich besser einen Termin bei ihm. Gut, dass sie seine Nummer hatte. Tatsächlich erreichte sie ihn, und schnell war das Gespräch erledigt, er erwartete sie morgen um 16 Uhr in seinem Büro. Mariana fragte: „Soll ich mitkommen?“
„Ja gerne, ich glaube, etwas moralische Unterstützung kann ich morgen gut gebrauchen.“ Plötzlich fiel Linda ein: „Mensch, Achmad weiß ja noch gar nichts von meiner Entscheidung, und außerdem muss ich mit meinen Eltern skypen und ihnen erzählen, dass ich die Schule abbreche und … in Achmad verliebt bin. Sie holte tief Luft, und schon flogen ihre Finger über die Handy-Tastatur.
Hallo, können wir morgen Abend um 18 Uhr skypen? Ich muss euch was sagen.
Sie schickte die WhatsApp-Nachricht an ihre Mutter und auch an ihren Vater.
Mariana kämpfte erneut mit den Tränen. „Deine Entscheidung, nicht zu konvertieren, wird dein Leben grundlegend verändern. Aber egal, was du tust, ich werde immer deine Freundin bleiben.“
„Genau das ist es, was echte Freundschaft ausmacht – danke.“ Linda umarmte Mariana, und auf einmal hatte sie es eilig, sich zu verabschieden und in die Siedlung zu fahren. „Sobald ich zu Hause bin, schreibe ich Achmad.“ Im Stehen trank sie ihr Glas leer. „Ich bin echt froh, wenn ich kein Doppelleben mehr führen muss. Mal sehen, wie Sarah und Daniel die Nachricht aufnehmen. Natürlich erzähle ich ihnen nur, dass ich die Schule abbreche. Ich hoffe, sie fragen nicht nach dem Grund und sind nicht enttäuscht von mir. Aber zuerst will ich morgen das Gespräch mit dem Rabbiner hinter mich bringen.“
Mariana holte Lindas Schulrucksack aus dem Schrank und reichte ihn ihr. „Und was machst du danach, fliegst du gleich nach Hause oder bleibst du noch hier, bis dein Visum ausläuft?“
„Das weiß ich noch nicht, kommt drauf an, was Achmad sagt. Am liebsten würde ich natürlich noch mal zu ihm fahren, aber nach dem, was du mir erzählt hast, geht das ja wahrscheinlich nicht.“ Sie schulterte den Rucksack. „Das zeigt sich dann.“ Mariana begleitete sie zur Haustür. „Komm gut heim, wir sehen uns spätestens morgen Nachmittag in der Midrascha.“ Nachdenklich sah sie Linda hinterher, bis sie in der Dunkelheit verschwunden war.
Kurz vor 16 Uhr trafen sie sich am nächsten Tag wie vereinbart vor dem Büro des Schulleiters. Sie waren sich den ganzen Tag noch nicht über den Weg gelaufen, und Mariana platzte schier vor Neugier. „Und, wie hat Achmad auf deine Entscheidung reagiert?“ Linda legte kurz ihren Zeigefinger auf die Lippen, dann nickte sie freudestrahlend und zeigte mit dem Daumen nach oben. Mariana flüsterte: „Du hast Rabbi Rosenfeld bisher aber nichts erzählt von Achmad, oder?“
„Natürlich nicht, und das werde ich auch nicht tun!“ Linda sah auf die Uhr, es war Zeit hineinzugehen, doch einen Moment lang zögerte sie. Rabbiner Rosenfeld war ein netter Mensch, dennoch war sie plötzlich nervös, noch dazu fühlte sie sich, als würde sie aufgeben. Sie atmete noch einmal tief durch, dann klopfte sie an die Tür. Der Schulleiter saß hinter seinem Schreibtisch und lud die beiden mit einer ausladenden Handbewegung ein, ihm gegenüber auf den beiden Stühlen Platz zu nehmen. Seine lebhaften braunen Augen sahen Linda freundlich an. „Nun Linda, was hast du denn auf dem Herzen?“
Linda hatte sich die Worte genau zurechtgelegt, doch auf einmal konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, was sie sagen wollte. Sie schluckte und spürte einen schmerzhaften Stich in der Magengegend. Rabbi Rosenfeld wartete geduldig und nickte ihr aufmunternd zu. Linda gab sich einen Stoß. „Ich habe mir das alles noch mal überlegt und bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich doch nicht konvertieren möchte.“ Sie senkte den Blick, und beinahe entschuldigend fügte sie hinzu: „Ich habe noch nie in meinem Leben mit etwas aufgehört, das nicht fertig war. Aber ich habe erst hier erkannt, dass das Judentum nicht das Richtige für mich ist.“
Der Schulleiter faltete die Hände wie zum Gebet und sagte erst einmal nichts. Als er zu reden begann, klang seine Stimme ruhig und bedacht. „Vor vielen Jahren studierte hier an der Schule eine junge Dame, die zu Beginn ähnlich begeistert und wissbegierig war wie du. Auch sie wollte konvertieren und arbeitete sehr fleißig daran, ihr Ziel zu erreichen. Doch dann ließ ihr Eifer zunehmend nach, bis sie eines Tages ihr Vorhaben ganz aufgab. Heute ist sie in leitender Position bei einer humanitären Organisation. Erst neulich sagte sie mir, dass sie noch immer Kraft aus ihrer Zeit an unserer Schule schöpft und aus dem, was sie hier gelernt hat.“ Er sah Linda über seinen Brillenrand väterlich wohlwollend an. „Ich bedaure es natürlich, Linda, dass du unsere Schule vorzeitig verlassen willst, doch es ist kein Problem, wenn du nicht konvertierst. Aufhören heißt ja nicht aufgeben. Du wechselst die Richtung, kannst aber auch jederzeit wieder umkehren. Und wenn nicht, ist es auch in Ordnung. Wir brauchen gute Menschen in der Welt, die nicht Juden sind.“ Der Rabbiner lächelte milde, dann wechselte er ganz unvermittelt das Thema.
„Zu Beginn einer Ehe brennt die Liebe meistens wie ein starkes Feuer. Man ist begeistert, fühlt sich extrem verliebt. Dieses Feuer wird nicht immer so stark lodern wie am Anfang. Bei vielen Paaren flackert irgendwann nur noch eine kleine Flamme oder verlöscht sogar ganz. Doch um eine gute Ehe zu führen, braucht es dieses Feuer auch gar nicht. Wahre Liebe bleibt bestehen, selbst wenn das Gefühl des Verliebtseins schwindet.“
Linda war so perplex, dass sie überhaupt nicht wusste, wie sie auf die Worte des Rabbiners reagieren sollte. Er schien jedoch auch gar keine Antwort von ihr zu erwarten. Für einen Augenblick war nur das Ticken der Uhr in seinem Büro zu hören, dann strich er sich über seinen wallenden, leicht ergrauten Vollbart und sah Linda eindringlich an. „Ich gebe dir einen Rat: Sei deinen Freunden gegenüber diskret, was deine Entscheidung angeht. Erzähle nicht alles, was dich dazu bewogen hat, nicht zu konvertieren. Und vergiss nicht, dass auch eine gesunde Selbstliebe dazugehört, wenn du eine Partnerschaft eingehst.“
Rabbi Rosenfeld sah sie eindringlich, aber freundlich an. Dann stand er auf. „Was auch immer du tust, sei besonnen! Schalom!“ Er nickte Linda noch einmal freundlich zu. Das Gespräch war beendet.
Auf dem Flur sahen Mariana und Linda sich verblüfft an, dann flüsterte Mariana: „Sag mal, wieso um alles in der Welt hat Rabbiner Rosenfeld plötzlich vom Eheleben gesprochen?“
„Keine Ahnung, das hat mich auch total überrascht. Als ob er schon wüsste, dass es bei mir einen Typ gibt.“ Linda zuckte die Schultern. „Na ja, kommt vielleicht öfters vor. Anders kann ich es mir nicht erklären. Auf jeden Fall bin ich sehr erleichtert, dass er meine Entscheidung so gut aufgenommen hat.“ Lindas Augen funkelten bereits wieder abenteuerlustig. Ab sofort würde sie nur noch nach vorne blicken. „Als Erstes rufe ich gleich Achmad an, dann gehe ich in meine Klasse und sage allen Bescheid, dass ich ab sofort nicht mehr komme. Später gehe ich ins Wohnheim rüber, um in aller Ruhe mit meinen Eltern zu skypen. Und wenn ich das erledigt habe, fahre ich zu meinen Gasteltern zurück und erzählte ihnen ebenfalls von meiner Entscheidung.“
Mariana nickte nur. Linda sah, dass ihre Freundin schon wieder mit den Tränen kämpfte, und nahm sie in den Arm. „Och Mariana, nimm’s doch nicht so schwer!“
„Ich gönne dir dein Glück von ganzem Herzen, aber es geht alles so schnell!“ Arm in Arm gingen sie die Treppe hinunter. „Ich hab auch keine Zeit zu verlieren. In drei Wochen läuft mein Visum ab, und ohne den Schulbesuch hier bekomme ich kein neues. Dann muss ich erst einmal nach Deutschland zurück. Bis dahin will ich so viel Zeit wie möglich mit Achmad verbringen.“ Linda hatte schon beinahe die Schultür erreicht, als sie sich noch einmal zu Mariana umdrehte. „Danke, dass du mitgekommen bist!“
Sobald sie das Schulgebäude verlassen hatte, holte sie ihr Handy aus der Tasche und rief Achmad an. Er hatte offensichtlich schon auf ihren Anruf gewartet, denn er meldete sich bereits nach dem ersten Klingelton. Im Hintergrund war das Kreischen einer Säge zu hören, irgendwo wurde gehämmert. „Und, wie war das Gespräch?“
„Super! Der Rabbi schien überhaupt nicht überrascht zu sein und hat total nett reagiert.“
„Das ist ja gut. Ich hatte schon befürchtet, du bekommst Probleme.“
„Nein, alles gut. Ich freue mich ja so! Jetzt können wir unsere Zukunft planen! Ich liebe dich so sehr!“ Das Kreischen der Säge wurde lauter. Achmad wartete mit seiner Antwort, bis es im Hintergrund wieder leiser wurde. „Ich liebe dich auch und kann kaum abwarten, dich wiederzusehen.“
„Am liebsten würde ich sofort in den Bus steigen und zu dir kommen, aber erst muss ich hier noch einige Dinge erledigen.“ Das Hupen eines rückwärtsfahrenden Lastwagens ertönte.
„Wenn du mit allem fertig bist, könntest du vielleicht eine Weile bei uns wohnen, solange dein Visum noch gültig ist. Ich frage heute Abend meine Eltern.“
„Meinst du? Das wäre echt super! Und ich mache nachher einen Videocall mit meinen Eltern. Die fallen bestimmt aus allen Wolken, wenn sie hören, dass ich die Schule abgebrochen und mich verliebt habe.“
„Hoffentlich nehmen sie es gut auf.“ Neben Achmad wurde laut gehämmert, und er hob die Stimme an. „Vor allem die Nachricht mit uns beiden!“ Jemand rief ihm etwas zu. „Ich muss Schluss machen, melde mich heut Abend wieder! Auf Wiedersehen, du Licht meiner Augen!“
Licht meiner Augen, klang das schön! Glücklich lächelnd sah Linda auf die Uhr. Halb fünf. In anderthalb Stunden würden ihre Eltern erfahren, dass sie sich in einen Muslim aus Palästina verliebt hatte. Schlagartig verspürte sie wieder ein schmerzhaftes Bauchkrampfen, das zum Glück so schnell wieder nachließ, wie es gekommen war. Sie ging zurück in das Schulgebäude, ihre Klasse hatte gerade Pause. Manche ihrer Kommilitoninnen plauderten in kleinen Grüppchen miteinander, andere saßen auf ihrem Platz. Niemand nahm Notiz von ihr, und um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ging sie kurzerhand nach vorne an die Tafel und kratzte mit den Fingernägeln darüber. Das unangenehme, schrille Geräusch erzeugte sofort die gewünschte Wirkung. Die Mädchen zuckten zusammen, schrien auf oder hielten sich die Ohren zu, und dann waren alle Blicke auf Linda gerichtet. Sie sah in die erstaunten, teils entsetzten Augen vor ihr, und auf einmal wurde ihr das Herz schwer. Von Anfang an hatten ihre Klassenkameradinnen sie angenommen wie eine der ihren. Jeden einzelnen Tag war sie gern hierhergekommen. Das würde nun vorbei sein, wie auch das Studieren, das sie so sehr geliebt hatte.
Sie räusperte sich und sagte: „Ich möchte euch eine Mitteilung machen. Ich werde doch nicht konvertieren und breche die Schule ab. Bevor ich gehe, wollte ich mich aber noch von euch verabschieden.“ Als trauten sie ihren Ohren nicht, starrten die Mädchen Linda ungläubig an. Einen Augenblick lang herrschte Totenstille, dann fragte Rivka fassungslos: „Warum das denn?“
Sei deinen Freunden gegenüber diskret, was deine Entscheidung angeht. Erzähle nicht alles, was dich dazu bewogen hat, nicht zu konvertieren. Doch wie sollte sie das tun, ohne zu lügen? Alle warteten gespannt auf ihre Antwort. Linda schluckte. „Ich gehe zu meiner Familie nach Deutschland zurück.“ Um weiteren Fragen zuvorzukommen, fügte sie schnell hinzu: „Aber ich halte euch über unsere WhatsApp-Gruppe auf dem Laufenden. Ich komme ganz bestimmt nach Israel zurück, dann sehen wir uns wieder!“
Beinahe wäre ihr herausgerutscht, wie sehr sie sich jetzt schon darauf freute, ihre Klassenkameradinnen zu besuchen, wenn sie dann erst einmal in Palästina wohnte, biss sich aber gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. Auch würde außer Mariana niemand erfahren, dass sie noch drei Wochen im Land bleiben würde. Gerade, als sie aus der Tür huschen wollte, fiel ihr noch etwas ein. Sie drehte sich noch einmal um und rief Rivka zu, noch nichts ihren Eltern zu erzählen, sie würde es später selbst machen.
Als sie die Schule verließ, war es bereits dunkel, der Himmel wolkenverhangen, und eisiger Wind wehte. Fröstelnd zog Linda den Reißverschluss ihrer Jacke bis ganz nach oben und steckte die Hände in die Taschen. Schnell ging sie zum Wohnheim hinüber, holte wie immer den Haustürschlüssel unter einem Blumentopf hervor und schloss die Tür auf. Von dem Versteck hatte Rivka ihr gleich in den ersten Tagen erzählt, nachdem Linda zu ihr in den hebräischen Kurs gewechselt hatte. Keine der Mitbewohnerinnen hatte ein Problem damit gehabt, dass sie gelegentlich die Küche mitbenutzt oder sich in eines ihrer Zimmer zurückgezogen hatte. Mit leichter Wehmut dachte Linda an die vielen schönen Stunden, die sie hier erlebt hatte. Oft hatte sie mit ihren Freundinnen zusammen gekocht, fröhliche Feste gefeiert und bis tief in die Nacht hinein gequatscht. Auch das würde nun vorbei sein.
Wie erwartet war niemand zu Hause. Alle waren noch im Unterricht. Linda ging in Rivkas Zimmer und setzte sich mit ihrem Handy in der Hand aufs Bett. Pünktlich um 18 Uhr startete sie den Videoanruf.
Martina saugte im Wohnzimmer den Teppichboden, dabei wanderten ihre Gedanken zum wiederholten Male zu Lindas gestriger Nachricht. „Ich muss euch was sagen“, hatte sie geschrieben. Hoffentlich war nichts passiert. Seit Linda in Israel war, hatte sie schon öfters bestätigt, dass sich an ihrem Traum nichts geändert habe. Erst neulich hatte sie wieder geschrieben, sie sei sehr glücklich und liebe Israel über alles. Dennoch waren ihre kurzen Nachrichten in letzter Zeit irgendwie anders; sie sprühten nicht mehr so vor Begeisterung wie sonst immer. Oder bildete Martina sich das vielleicht nur ein?
In dem Moment, als sie einen großen Kekskrümel aufsaugte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Linda war von ihrem Ausflug nach Hebron verändert zurückgekehrt. Martina schaltete den Staubsauger aus und sah auf ihre Armbanduhr. Genau 17 Uhr. In einer Stunde würden sie und Andreas endlich erfahren, was los war.
Das Flötensolo der Badinerie von Bach erklang aus der Küche, wo ihr Handy lag. Ein Videoanruf von Linda. Schnell schob sie das Kamerasymbol auf dem Display nach oben und sah ihre Tochter vor sich.
„Hallo, mein Schatz, du wolltest doch erst um 18 Uhr anrufen, Papa ist noch gar nicht zu Hause.“ Linda griff sich an die Stirn. „Ups, hab ganz vergessen, dass wir euch eine Stunde voraus sind!“
„Willst du mir schon sagen, worum es geht?“
„Nö, ich warte, bis Papa da ist, und rufe in einer Stunde noch mal an. Okay?“
„Ist denn alles in Ordnung bei dir?“ Die Ungewissheit war für Martina beinahe unerträglich.
„Mach dir keine Sorgen, bis nachher!“ Linda verschwand vom Bildschirm.
Nun war Martina erst recht beunruhigt, und sie spürte, wie sich ihr Puls vor Aufregung beschleunigte. Um sich abzulenken, spielte sie mit Johanna „Mensch ärgere Dich nicht“, doch in Gedanken war sie unentwegt bei Linda und blickte ständig auf die Uhr. Die Zeiger schienen sich auf einmal viel langsamer zu bewegen als sonst. Hoffentlich kam Andreas rechtzeitig nach Hause. Wie von weit her hörte sie Johanna, die sich beschwerte. „Mama! Du passt ja gar nicht auf! Dann schmeiße ich dich halt zum dritten Mal raus.“
Kurz vor 18 Uhr kam Andreas pfeifend zur Tür herein. Martina schaltete den Fernseher für Johanna ein, und als die Flötenmelodie wieder erklang, saßen Andreas und sie gemeinsam am Küchentisch vor dem Handy. Linda redet nicht lange um den heißen Brei herum. „Ich habe es mir anders überlegt. Ich will nicht mehr jüdisch werden und habe die Schule abgebrochen.“ Martinas Herz schlug wieder schneller, dieses Mal vor freudiger Aufregung. „Oh! Das sind ja mal Neuigkeiten! Wie kam es denn zu dieser Entscheidung?“
„Ich habe hier so einiges erlebt, was ich mit meinem Glauben nicht mehr vereinbaren kann. Das hat nichts mit dem Judentum an sich, der Schule oder meinen Freundinnen zu tun, sondern es ist meine ganz persönliche Entscheidung.“ Andreas nickte verständnisvoll.
„Okay. Was wirst du jetzt stattdessen machen?“
Linda wurde rot und grinste. „Das ist meine zweite Neuigkeit. Ich habe nämlich jemanden kennengelernt.“ Martina beugte sich näher ans Handy. „Sag bloß, du hast dich verliebt!“ Linda lachte auf. „Ja, Mami, genau das habe ich. Er heißt Achmad und ist total süß. Er kommt aus Argentinien und wohnt mit seiner Familie in Palästina.“
Linda holte Luft und wartete einen Moment, um ihre Worte wirken zu lassen. Die Küchenuhr tickte leise, aus dem Wohnzimmer tönte Johannas Lachen. Martina fühlte sich benommen, so als habe ihr jemand einen leichten Schlag auf den Kopf versetzt. Ein Satz aus dem Buch „Max und Moritz“ kam ihr in den Sinn: „Dieses war der erste Streich, und der zweite folgt sogleich.“ Linda fuhr fort: „Ich brauche jetzt eure Unterstützung. In drei Wochen läuft mein Visum ab, dann komme ich heim. Ich suche mir für ein paar Monate einen Job, und sobald ich etwas Geld gespart habe, ziehe ich zu Achmad. Ich kann es kaum abwarten, bis ihr ihn per Videoanruf kennenlernt. Ihr werdet ihn sofort mögen! Er ist die Liebe meines Lebens!“
Da Andreas immer noch nichts sagte, fragte Martina: „Wann habt ihr euch denn kennengelernt?“
„Im November, also schon vor fast drei Monaten!“
„Erst vor drei Monaten? Da kennt ihr euch doch kaum!“ Martina hatte lauter gesprochen als beabsichtigt.
„Och Mami, wir haben schon mehr zusammen geredet als andere Paare in zwei Jahren. Außerdem will ich die nächsten drei Wochen bei ihm und seiner Familie verbringen. Achmad muss nur noch seine Eltern fragen. Wenn sie einverstanden sind, lernen wir uns ja auf jeden Fall noch besser kennen.“
Zum ersten Mal schaltete Andreas sich in das Gespräch ein. „Du sagst, sie wohnen in Palästina. Welcher Religion gehören sie denn an?“
Linda antwortete nicht sofort und sagte dann wie beiläufig: „Sie sind Muslime.“ Wortlos starrten Martina und Andreas auf den Bildschirm, und fast schon etwas trotzig erwiderte Linda ihren Blick. Einen Augenblick lang herrschte gespannte Stille auf beiden Seiten.
Martina hörte, dass ihre Stimme schrill klang, als sie fragte: „Das heißt, du wechselst vom Judentum zum Islam über?!“
„Reg dich doch nicht so auf, Mami! Bloß, weil ich einen Muslim liebe, heißt das ja nicht gleich, dass ich zum Islam übertrete. Aber interessieren tut mich die Religion schon.“ Hilfe suchend warf Martina einen Seitenblick auf Andreas. Er blieb gelassen. „Komm erst einmal heim, dann besprechen wir alles in Ruhe. Wir freuen uns jedenfalls auf dich!“
Nachdem sie noch ein paar Worte gewechselt hatten, verabschiedete Linda sich, dann war sie vom Bildschirm verschwunden.
Ein stechender Schmerz durchfuhr Martinas Nacken und sie stöhnte: „Ich muss mich bei dem Gespräch gerade total verkrampft haben, ich habe einen ganz steifen Hals.“ Andreas massierte ihr den Nacken. „Du hast ja auch die ganze Zeit wie versteinert vor dem Handy gesessen. Lindas Neuigkeiten müssen erst einmal geschluckt und verdaut werden, also mir schlägt das eher auf den Magen.“
Martina wusste, dass Andreas die Situation mit Humor auflockern wollte, doch ihr war absolut nicht nach Lachen zumute. Kopfschüttelnd sagte sie: „Hoffentlich bringt Linda sich mit ihrer Entscheidung nicht in Schwierigkeiten. Sie ist oft so impulsiv. Sie kennt den jungen Mann doch kaum, und jetzt wechselt sie womöglich auch noch vom Judentum zum Islam! Ach du liebe Zeit!“ Martina schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Andreas nickte. „Das wäre allerdings eine abrupte Kehrtwende, aber mach dich deshalb nicht verrückt. Sie kommt ja erst einmal heim, dann sehen wir weiter. Aus der Entfernung betrachtet ändert sie ihre Meinung vielleicht noch.“
Martina seufzte. „Hoffentlich! Ich frage mich, was sie wohl erlebt hat, dass sie nach all den Jahren auf einmal nicht mehr jüdisch werden will. Sie war doch so überzeugt und voller Eifer. Und jetzt wechselt sie auch noch die Seiten!“
Andreas sah einen Augenblick lang zum Küchenfenster hinaus, dann nahm er seine Frau in den Arm. „Linda wollte nie wieder heimkommen, erinnerst du dich? Du hast mir damals erzählt, was sie so lässig verkündet hat, als sie gegangen ist. Und jetzt kommt sie doch wieder. Bei Gott ist nichts unmöglich, und ich bin ganz zuversichtlich, dass auch in dieser Situation noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.“
Martina fühlte sich ein wenig getröstet. „Ja, okay.“ Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: „Ich bin schon gespannt, wie es wird, wenn sie wieder bei uns einzieht.“
„Linda wird nicht mehr dasselbe junge Mädchen sein, das letztes Jahr ausgezogen ist. Sie ist selbständig geworden und hat viel erlebt. Wir werden uns erst einmal neu aufeinander einlassen müssen. Das wird vermutlich für uns alle eine Herausforderung.“ Andreas stand auf. „Doch jetzt warten wir einfach mal ab. Mehr können wir im Moment ohnehin nicht tun.“
Bevor Martina an diesem Abend ins Bett ging, notierte sie in ihr Tagebuch:
4. Februar – Linda kommt wieder heim. Sie hat uns vorhin mitgeteilt, dass sie nicht mehr zum Judentum konvertieren will, und gleich im nächsten Atemzug, dass sie sich in einen Muslim verliebt hat. Morgen zieht sie sogar zu ihm und will die nächsten drei Wochen im Haus seiner Eltern verbringen. Hoffentlich meint man es dort auch gut mit ihr …
Urplötzlich fiel ihr ein Gespräch mit ihrem Frauenarzt kurz vor Lindas Geburt ein. Verwundert darüber, dass ihr Baby beinahe pausenlos in ihrem Bauch strampelte, hatte sie damals ihren Arzt gefragt, ob es auch schon ungeborene, hyperaktive Babys gäbe. Seine belustigte Antwort lautete: „Nein, aber da kommt was auf Sie zu.“ Er hatte recht gehabt. Martina beendete ihren Tagebucheintrag mit den Worten:
Ich glaube, da kommt noch ganz schön was auf uns zu.
Noch war alles ruhig im Wohnheim, der Unterricht in der Midrascha war noch nicht zu Ende. Als Nächstes rief Linda Achmad an. Auch er hatte inzwischen mit seinen Eltern gesprochen.
Nach dem, was Mariana ihr erzählt hatte, war Linda nicht überrascht zu erfahren, dass Halil und Aysha zuerst nicht wollten, dass sie bei ihnen wohnte. Vorsichtig formulierte Achmad die Bedenken seiner Eltern: „Das bedeutet nicht, dass sie dich nicht mögen. Sie haben halt Angst, dass Gerüchte im Dorf aufkommen könnten. Letztendlich konnte ich sie aber dann doch umstimmen. Also fühl dich herzlich willkommen!“
„Super! Gleich morgen packe ich meine Sachen und komme zu euch! Nachher erzähle ich meinen Gasteltern noch, dass ich nicht mehr jüdisch werden will und bei ihnen ausziehe.“
Linda schloss die Haustür des Wohnheims ab und legte den Schlüssel wieder an seinen Platz unter dem Blumentopf. Mit dem Bus fuhr sie nach Gilo und von dort weiter per Anhalter in die Siedlung. Linda fand Sarah in der Küche beim Ausräumen der Spülmaschine und setzte sich auf einen der Barhocker am Tresen. Sie schnupperte. „Hmm, was riecht denn hier so wunderbar?“ Sarah lachte und ging zum Herd, auf dem ein großer Topf dampfender Suppe stand. Sie nahm eine Kelle, schöpfte einen Teller randvoll mit Suppe und stellte ihn vor Linda. „Das ist Linsensuppe, gewürzt mit Zwiebeln, Knoblauch, Kümmel, Chilipulver und Petersilie.“ Dazu reichte sie ihr frisch gebackenes, noch warmes Fladenbrot. Schmunzelnd sagte sie: „Du weißt ja, für Linsensuppe hat Esau damals sogar sein Erstgeburtsrecht an seinen Zwillingsbruder Jakob verkauft. Lass es dir schmecken!“
Dankbar löffelte Linda die heiße Suppe und sah Sarah dabei zu, wie sie das Besteck einzeln aus dem Korb der Spülmaschine nahm und sorgfältig jedes Teil mit einem sauberen Küchentuch polierte, ehe sie es in die Schublade legte. Ihre Blicke trafen sich, und Sarah lächelte. „Hattest du einen schönen Tag?“ Linda schluckte die Suppe herunter, die sie im Mund hatte, und wollte gerade antworten, als sie plötzlich einen Kloß im Hals spürte, der mit der Suppe ganz bestimmt nichts zu tun hatte. So nickte sie nur, dann räusperte sie sich und fragte: „Ist Daniel zu Hause? Ich muss euch was sagen.“
Ihre Gastmutter hielt eine Gabel ins Licht. „Nein, er kommt erst später heim. Möchtest du auf ihn warten und es uns beiden zusammen erzählen?“
„Ich will es lieber gleich loswerden.“ Sarah legte die Gabel in die Schublade, schwang sich das Küchentuch über die Schulter und setzte sich auf den Barhocker neben Linda. „Schieß los, ich bin ganz Ohr.“
Zum vierten Mal an diesem Tag sagte Linda: „Ich will nicht mehr konvertieren.“ Angespannt schaute sie Sarah ins Gesicht. Würde sie schockiert sein? Oder versuchen, Linda umzustimmen? Sie sagte nichts, und ihre Miene war freundlich wie immer. Weder Ärger noch Überraschung spiegelten sich darin.
Ermutigt sprach Linda weiter. „Morgen ziehe ich hier aus. Es tut mir leid, wenn ich euch enttäusche.“ Mehr brachte sie jedoch nicht heraus. Sarah legte den Arm um sie. „Mach dir wegen Daniel und mir keine Gedanken. Deine Entscheidung, nicht zu konvertieren, hat ja vermutlich nichts mit uns zu tun.“
„Nein, natürlich nicht!“, beeilte sich Linda zu bestätigen. „Viel wichtiger ist“, fuhr Sarah fort, „dass du den Weg gehst, der dir richtig erscheint.“ Sie lächelte. „Im Übrigen überrascht mich das gar nicht. Ich beobachte schon seit längerem, dass du nicht mehr betest, und habe mir schon beinahe so etwas gedacht.“
Linda fiel ein Stein vom Herzen, und auf einmal fühlte sie sich wie befreit. „Ich habe jemanden kennengelernt, den ich total nett finde.“ Kaum waren ihr die Worte entschlüpft, hätte sie sich am liebsten dafür geohrfeigt. Ärgerlich rührte sie mit dem Löffel in ihrer Suppe und rechnete damit, dass Sarah gleich alle möglichen Fragen stellen würde. Doch sie sagte nur: „Das freut mich für dich. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du glücklich wirst.“ Überrascht blickte Linda auf. Liebevoll sah Sarah ihr in die Augen. „Doch bevor du morgen gehst, gebe ich dir einen Ratschlag mit auf den Weg: Lass dir Zeit und stürze dich nicht leichtfertig in eine Ehe.“ Mit einem innerlichen Stoßseufzer der Erleichterung aß Linda einen weiteren Löffel Suppe, dann sagte sie beinahe jubilierend: „Nein, auf keinen Fall. Ich fliege ja sowieso erst mal nach Deutschland zurück und weiß noch gar nicht, wann ich wiederkomme.“ Einen Augenblick lang war sie versucht, ihrer Gastmutter anzuvertrauen, dass sie erst in drei Wochen nach Hause fliegen würde und auch, warum. Sie ließ es dann aber doch lieber bleiben.
Auf dem Weg in ihr Zimmer fiel Lindas Blick durch die geöffnete Tür ins Esszimmer. Das Licht der Straßenlaterne schien durch das Fenster und fiel direkt auf das Bild an der gegenüberliegenden Wand. Linda liebte dieses Bild und trat näher, um es sich noch einmal genau zu betrachten. Eine Frau stand an einem Tisch vor zwei entzündeten Kerzen, das Gesicht vom Schein der Flammen erleuchtet. Sie sprach einen Segen über zwei Hefezöpfe und einen Krug Wein. Daneben abgedruckt war der Text „Eschet Chayil“, das Lob der tüchtigen Hausfrau. Seit Linda diese Verse aus Sprüche 31 zum ersten Mal auf Hebräisch gelesen hatte, war sie von ihnen fasziniert. In alphabetischer Reihenfolge bildeten die Anfangsbuchstaben der Verse das gesamte hebräische Alphabet, angefangen mit „Aleph“ im ersten Vers bis hin zum letzten Buchstaben „Taw“ zu Beginn des letzten Verses. Linda kannte den Text fast auswendig, so oft hatte sie ihn schon gelesen.
Jeden Freitagabend sang Daniel vor dem Essen dieses Loblied für Sarah. Linda fand das Ritual sehr schön, womit der Mann seine Wertschätzung seiner Frau gegenüber ausdrückte. Jahrelang war es ihr Traum gewesen, eines Tages auch einen Mann zu haben, der für sie dieses Lied singen würde, und dem sie eine genauso gute Frau sein wollte, wie in den Versen beschrieben. Daraus würde nun nichts werden. Sie spürte einen leichten Stich im Herzen, wandte sich ab und ging in ihr Zimmer. Schon morgen würde sie zu Achmad fahren. Sofort schlug ihr Herz vor Freude schneller und ihre aufgekommene Wehmut war augenblicklich wieder verflogen. Sie setzte sich an den Schreibtisch und schrieb ihm eine WhatsApp-Nachricht.
Alles gut, ich komme wie besprochen morgen!
Darunter setzte sie ein rotes Herz. Prompt lachte zur Antwort ein gelbes Gesicht, dann schrieben sich die beiden bis tief in die Nacht hinein.
Als Linda am nächsten Morgen aufwachte, stand die blasse Wintersonne bereits hoch am Himmel. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Israel schlüpfte sie nicht in einen Rock, sondern holte ihre Jeans und das blaue Kopftuch aus einer Plastiktüte in der hintersten Ecke des begehbaren Kleiderschranks. Die Jeans zog sie sofort an, das Kopftuch stopfte sie nebst ihren neu gekauften Schminksachen in die Handtasche. Sie würde es später aufsetzen, wenn sie im Bus nach Ramallah saß. Dann zog sie ihren Rucksack aus dem Schrank und packte ihre Sachen. Zum Schluss ließ sie ihren Blick noch einmal prüfend durch das ganze Zimmer wandern, schaute unters Bett, in die Schreibtischschubladen und öffnete noch einmal die Lamellentür des Kleiderschranks. Sie hatte nichts vergessen. Die Röcke, die noch im Schrank am Bügel hingen, würde sie von nun an nicht mehr brauchen. Vielleicht würde Rivka sie gerne anziehen, sie hatte etwa dieselbe Größe. Außer der Jeans, die sie anhatte, besaß Linda bislang keine weitere Hose, aber sie konnte sich für die nächsten drei Wochen bestimmt welche von Achmads Schwestern ausleihen. Im Kleiderschrank von Jasmin und Nesrin lagen noch einige Hosen, die sie bei ihrem Auszug nicht mitgenommen hatten. Wenn sie nicht passten, würde sie sie einfach passend machen.
In einer Schachtel auf dem Schrankboden waren Lindas wenige Utensilien, die sie von nun an auch nicht mehr brauchen würde: Kanne, Israelflagge und ihre kleine Menora aus Bronze.
Sie wandte sich um, und ihr Blick blieb auf dem Schreibtisch hängen, wo sie ihre Bücher aus der Midrascha aufgestapelt hatte. Sie spürte einen Kloß im Hals. Seit sie hierhergezogen war, hatte sie die meiste Zeit mit dem Studium der Bücher verbracht und ihr ganzes Leben danach ausgerichtet. Einige davon waren ihr besonders ans Herz gewachsen und hatten sie tagtäglich begleitet wie ein guter Freund. Sie ging die wenigen Schritte zum Schreibtisch. Jetzt, da sie ihre Röcke nicht mitnahm, war noch etwas Platz im Rucksack, wenn auch nicht viel. Gezielt zog sie den Tanach und die Tehillim – die Psalmen – sowie ihr Gebetbuch aus dem Stapel, dann nahm noch zwei Taschenbücher und steckte alles in den Rucksack.
Zufrieden verließ Linda das Zimmer, dann drehte sie sich noch ein letztes Mal um. Hier hatte sie ein neues Zuhause gefunden, hier hatten die Menschen es gut mit ihr gemeint. Noch heute würde sie in eine neue Welt eintauchen – auf der anderen Seite der Mauer. Eine Welt, die ihr bisher fremd war. Abrupt drehte sie sich um und ging in die Küche, um zu frühstücken.
Kurz vor Mittag hievte sie ächzend ihren viel zu großen Rucksack auf den Rücken. Sarah drückte ihr ein Lunchpaket in die Hand. „Du bist Daniel und mir wie eine eigene Tochter ans Herz gewachsen. Pass gut auf dich auf, was auch immer du tun wirst. Du wirst dein Leben sicher anders gestalten, wenn du dann aus Deutschland zurückkommst, doch bitte tue nichts, das gefährlich ist. Vor allem gehe nicht in arabische Städte wie Ramallah oder Jericho!“ Linda schluckte. Hatten ihre Gasteltern etwa doch Verdacht geschöpft? Da sie keine falschen Versprechungen machen wollte, sagte sie nur: „Danke für alles! Es war richtig schön bei euch.“ Sie umarmte ihre Gastmutter, dann ging sie, leicht gebeugt unter der Last ihres Rucksacks, zur Tür hinaus. Sie war schon ein Stück die Straße hinuntergegangen, als Sarah ihr hinterherrief: „Behatzlacha – Viel Erfolg! Und lass uns wissen, wie es dir geht, ja?“ Linda drehte sich um und winkte ihr zu. „Ja, mach ich!“
Sie musste nicht lange am Straßenrand warten, bis ein Auto mit israelischem Kennzeichen angefahren kam. Der Fahrer zeigte nach rechts, und Linda ließ den Arm nach vorne schnellen, Zeige- und Mittelfinger ausgestreckt. Auf der Fahrt nach Jerusalem rief Rivka an und wollte wissen, wo sie war. Ihre Stimme klang geheimnisvoll, als sie Linda bat, noch kurz bei ihr im Wohnheim vorbeizuschauen. Neugierig geworden stimmte Linda zu. Zeit hatte sie genug, sie würde Achmad erst um 16 Uhr in Ramallah treffen, um von dort mit ihm nach Hause zu fahren. Noch einmal stieg sie in Gilo in den Bus ein, der ganz in der Nähe der Midrascha hielt.
Am Wohnheim angekommen, wartete Rivka schon an der Haustür auf sie und sagte: „Wie schön, dass wir uns vor deiner Abreise noch mal sehen können. Ich hatte schon befürchtet, dass du bereits auf dem Weg zum Flughafen bist. Komm rein!“ Linda trat ein und ließ den Rucksack auf den Boden plumpsen. „Nein, alles gut, ich habe noch viel Zeit.“ „Ich leider nicht, du weißt ja, in einer Stunde ist die Mittagspause vorbei, und ich muss wieder rüber in den Unterricht.“ Sie gingen den Flur entlang bis zu Rivkas Zimmertür. Unzählige Male war Linda dort eingetreten, hatte mit ihrer Freundin gelacht und Quatsch gemacht.
„Mach doch mal die Tür auf.“ Rivka lächelte schelmisch, und gehorsam öffnete Linda die Tür. Der Anblick, der sich ihr bot, verschlug ihr für einen Augenblick die Sprache. Auf Bett und Fußboden saßen alle ihre Kommilitoninnen aus der hebräischen Klasse und grinsten sie an. Linda schaute so verdutzt drein, dass die Mädchen in lautes Gelächter ausbrachen. Am meisten freute Rivka sich über die gelungene Überraschung und rief ausgelassen: „Hast du ein Glück, dass du noch einmal kommen konntest, sonst hättest du echt was verpasst.“ Linda stimmte in das allgemeine Gelächter ein, dann umarmte sie eine Freundin nach der anderen. Rivka kletterte auf den Schreibtischstuhl und hob theatralisch die Hände. „Seid mal bitte still!“
Als alle Augen auf sie gerichtet waren, wandte sie sich an Linda. „Du hast uns gestern ganz schön vor den Kopf gestoßen mit deiner Mitteilung, die Schule abzubrechen, und wir sind echt traurig, dass du gehst. Wir haben dann noch lange überlegt, was wir dir zum Abschied schenken könnten, als Andenken an deine Zeit hier mit uns.“ Sie stieg vom Stuhl und holte eine runde, honiggelbe Dose vom Regal, zugebunden mit rosarotem Seidenband. „Für dich, von uns allen.“
Gespannt löste Linda die Schleife und öffnete die Dose. Sie holte eine Tasse heraus, bedruckt mit einem Gruppenfoto ihrer ganzen Klasse. Daneben war zu lesen: Tamid itach – Immer mit dir, deine Freundinnen aus der Midrascha.
Gerührt schaute Linda von der Tasse auf. „Das ist echt lieb von euch, vielen Dank.“ Rivka erklärte: „Ein paar von uns sind gestern Abend nach dem Unterricht noch in die Stadt gegangen, um die Tasse für dich bedrucken zu lassen. So kannst du uns immer sehen und an uns denken.“
„Ich würde euch auch so nie vergessen, ihr seid toll!“
Eine Stunde später stand Linda mit ihrem Gepäck an der Haltestelle. Gerade, als sie in die Straßenbahn einsteigen wollte, hörte sie jemanden ihren Namen rufen. Suchend sah sie sich um und erblickte Mariana, die aus Richtung Schule angerannt kam. Keuchend stieg sie mit Linda ein und half ihr, sich des Rucksacks zu entledigen, dann ließ sie sich neben ihr auf den Sitz plumpsen. Ihre dunklen Augen blitzten abenteuerlustig. „Ich lasse dich doch an so einem besonderen Tag wie heute nicht allein. Der Tag deines Auszugs aus Jerusalem!“
„Woher wusstest du denn, dass ich jetzt hier einsteige?“
„Och, ich hab so meine Spione.“ Mariana lachte. „Nein, Rivka ist mir gerade mit allen Klassenkameradinnen im Flur begegnet und hat erzählt, sie hätten dich im Wohnheim überrascht, und du würdest vermutlich jetzt gerade an der Haltestelle stehen. Also hab ich kurz entschlossen entschieden, den Nachmittag freizunehmen.“ Belustigt schüttelte Linda den Kopf. „Ich dachte immer, ich bin die Einzige, die so spontan ist. Super, dass du mich begleitest! Achmad und ich haben vereinbart, dass wir uns bei Ali im Café treffen. Er kommt extra früher von der Arbeit zurück.“
Im Bus nach Ramallah holte Linda Schminksachen und ihren kleinen Spiegel aus der Handtasche. Mit großen Augen sah Mariana ihr dabei zu, wie sie knallroten Lippenstift auftrug. „Seit wann schminkst du dich denn?“
„Seit gerade eben.“ Linda rieb ihre Lippen aneinander und betrachtete das Ergebnis im Spiegel. „Ist dir schon mal aufgefallen, wie toll die arabischen Frauen sich schminken? Da kann ich doch nicht wie eine graue Maus dort auftauchen.“ Als der Bus vor dem Checkpoint Qalandia anhielt, achtete Linda nicht darauf. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, Mascara auf ihre Wimpern aufzutragen.
Der warme Duft frisch gebackenen Pitabrots und Gegrilltem empfing Linda und Mariana in dem kleinen Café von Ali. Ein paar alte Männer tranken Tee und spielten Backgammon, ansonsten war noch nicht viel los. Ali, der gerade einen Tisch deckte, legte das Besteck schnell ab und ging ihnen entgegen. „Willkommen, die Damen! Schön, euch wiederzusehen! Achmad müsste auch gleich kommen, er hat mich vorher angerufen und gesagt, dass ihr euch hier trefft.“ Er blickte auf Lindas Rucksack. „Gib ihn mir, ich trage ihn zu eurem Tisch.“ Erleichtert befreite Linda sich von der Last auf ihrem Rücken, und Ali ging ihnen voraus zu einem Tisch in der Nähe des Eingangs. „Nehmt Platz, ich bringe euch gleich eine kleine Stärkung.“ Mariana und Linda taten wie geheißen, und es dauerte nicht lange, bis Ali mit einem Tablett zurückkehrte. Nachdem er Teller, Tassen und eine Schüssel auf den Tisch gestellt hatte, goss er Tee ein. „Lasst es euch schmecken!“
Die Tür ging auf, ein Schwung Touristen kam ins Café und Ali eilte zu ihnen. Linda blickte auf den Inhalt der Schüssel. „Mhm, lecker, Fatteh.“ Mariana fragte: „Fatteh, was ist denn das?“
„Das ist Joghurt vermischt mit Olivenöl, Kichererbsen und gerösteten Brotstückchen. So wie es aussieht, hat Ali Pitabrot dafür verwendet.“ Mariana gab drei Löffel Zucker in ihren Tee. „Was willst du eigentlich die nächsten drei Wochen machen? Achmad arbeitet doch den ganzen Tag.“ Linda häufte sich Fatteh auf den Teller. „Ich werde Arabisch lernen. Und ich möchte von Achmads Mutter lernen, arabisch zu kochen.“ Sie blies auf ihren Tee. „Natürlich werde ich dabei pausenlos an Achmad denken, ihm tausend Nachrichten schicken und die Minuten zählen, bis er abends heimkommt.“
Versonnen lächelte sie, als die Tür erneut aufging und Achmad hereinkam. Sofort klopfte ihr Herz vor Freude schneller, und es hätte nicht viel gefehlt, dass sie vom Stuhl aufgesprungen und ihm entgegengerannt wäre, hätte Mariana sie nicht gerade noch rechtzeitig am Handgelenk festgehalten.
Achmad wechselte kurz ein paar Worte mit Ali, dann steuerte er auf ihren Tisch zu, begrüßte die beiden und setzte sich zu ihnen. Linda fiel auf, dass er auch jetzt sauber und gepflegt aussah, und fragte: „Kommst du direkt von der Baustelle?“
„Nein, ich war noch kurz bei meinen Großeltern, sie wohnen nicht weit von hier. Manchmal übernachte ich auch bei ihnen, wenn es nach der Arbeit sehr spät wird.“
Nachdem auch er eine Tasse Tee getrunken und etwas gegessen hatte, schulterte Achmad Lindas Rucksack, und die drei verabschiedeten sich von Ali. Als sie zur Tür des kleinen Cafés hinaustraten, war die Sonne bereits untergegangen. Die Dunkelheit des Abends wurde von den Lichtern der Stadt und den zahllosen Scheinwerfern der Autos erhellt, Benzingeruch lag in der Luft, vermischt mit dem Aroma von Mais und frisch gebrühtem Kaffee mit Kardamom. Vorbei an Händlern, unzähligen Fußgängern und hupenden Autos gingen sie durch das Wirrwarr der Straßen bis zum Bahnhof und dort zur Haltestelle der Busse Richtung Jerusalem. Eine Brise kam auf und ließ Lindas Hidschab, dessen Enden locker über ihre Schultern fielen, leicht wehen. In der Ferne kam der Bus in Sicht. Die Zeit des Abschieds war gekommen.
Mariana sagte: „Das hier ist echt bittersüß. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ohne dich sein wird. Ich werde dich wahnsinnig vermissen, dabei bin ich auch noch selbst schuld daran, dass du Achmad kennengelernt hast und jetzt gehst. Andererseits freue ich mich natürlich auch für dich.“ Sie schaute Achmad an. „Für euch beide.“
Achmad grinste, und Linda antwortete: „Ich werde dich auch vermissen, aber erstens bleiben wir in Kontakt, und zweitens komme ich ja so bald wie möglich wieder.“ Sie umarmte Mariana. „Und denk dran, außer dir weiß in der Midrascha niemand, dass ich die nächsten drei Wochen noch im Land bin.“ Mariana nickte.
Der Bus fuhr heran, die Türen öffneten sich, zahlreiche Menschen strömten heraus, andere stiegen ein. Mariana wechselte noch ein paar Worte auf Spanisch mit Achmad, dann stieg auch sie ein. Die Türen schlossen sich, und der Bus fuhr ab, zurück nach Jerusalem. Linda sah ihm hinterher, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Ihre Reise nach Jerusalem war zu Ende. Zu Ende? Nein, sie ging weiter, nur die Richtung hatte sich geändert. Von nun an würde Linda neue Wege gehen, auf der anderen Seite der Mauer.
Es dauerte nicht lange, bis das Sammeltaxi gefüllt war und losfuhr. Während sie Ramallah hinter sich ließen, sagte Achmad: „Ich wollte dir noch was sagen. Meine Eltern sind zwar einverstanden, dass du die nächsten drei Wochen bei uns wohnst, aber …“ Weiter kam er nicht. Linda spürte, dass er nach Worten suchte, um ihre Gefühle nicht zu verletzen, deshalb sprach sie für ihn weiter: „… aber das ist schon eine merkwürdige Situation für euch, und sie befürchten, dass schlecht über sie geredet wird.“ Achmad sah sie erstaunt an und stammelte: „Ja …, also nein, …“
„Ist schon okay, du kannst mir ruhig sagen, wie ihr euch fühlt, ich bin deswegen nicht enttäuscht oder böse.“
Achmad schien erleichtert. „Na ja, es ist halt so: Normalerweise gibt es das bei uns nicht, dass die Freundin des Sohnes bei ihm zu Hause übernachtet.“
„Das hat Mariana mir auch schon erzählt. Umso mehr weiß ich es zu schätzen, dass ich trotzdem bei euch wohnen darf.“
„Und die Leute werden sich schon daran gewöhnen.“ Achmad lächelte sie an.
Die nächsten Tage machte Linda eine ganz neue Erfahrung: Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie nicht, was sie tun sollte. Aysha hatte ihr lächelnd zu verstehen gegeben, keine Hilfe in der Küche oder bei der Hausarbeit anzunehmen, und sie freundlich, aber bestimmt, ins Wohnzimmer geschoben. Dort lief den ganzen Tag der Fernseher. Da dies jedoch viel zu langweilig war, vertrieb Linda sich die Zeit damit, Arabisch zu lernen oder Achmad kleine Nachrichten zu schicken. Oft stieg sie aufs Dach, setzte sich dort auf einen Stuhl in die Sonne oder betrachtete sich das Dorf von oben. Was sie sah, wirkte beschaulich: Katzen lagen schläfrig im Schatten eines Hauseingangs oder Baumes, ein paar streunende Hunde schlichen die engen Straßen entlang – wohl in der Hoffnung, etwas Fressbares zu finden. Weiter oben spielte eine Gruppe kleiner Kinder mit Stöckchen. Linda schätzte ihr Alter auf etwa fünf Jahre. Ein alter Mann in olivgrünem Kaftan und schwarz-weiß gemustertem Kopftuch schlenderte mit seinem Gehstock zu ihnen, holte Süßigkeiten aus seiner Tasche und gab sie ihnen. Ein anderer alter Mann ging, beide Hände auf dem Rücken verschränkt, gemächlich in Richtung Moschee. Er trug eine dunkelgraue Hose, ein blaues Hemd und auf dem Kopf ein großes, rot-weiß gemustertes Tuch, das von einem schwarzen Ring gehalten wurde. Ein kleiner Lastwagen, beladen mit Obst und Gemüse, knatterte langsam durchs Dorf. Der Fahrer hielt an beinahe jedem Haus an, stieg aus und klingelte an der Tür, woraufhin Frauen in Kopftüchern herauskamen, seine Ware besahen und das kauften, was ihnen gefiel.
Kam Achmad nach seinem langen Arbeitstag endlich nach Hause, hatte Linda nur noch Augen für ihn. Halil achtete jedoch streng darauf, dass die beiden sich nicht zu zweit allein in Achmads Zimmer zurückzogen. Noch am Abend ihrer Ankunft hatte er ihnen freundlich, aber bestimmt, zu verstehen gegeben, nichts zu dulden, worüber die Nachbarn reden könnten. Seltsamerweise schien nicht nur Halil, sondern auch Schirin beschlossen zu haben, ein Auge auf die beiden zu werfen. Kaum waren Achmad und Linda zusammen im Wohnzimmer, gesellte sie sich wie zufällig zu ihnen, beschäftigte sich mit ihrem Handy oder sah fern und stand erst wieder auf, wenn es für Achmad Zeit wurde, ins Bett zu gehen. Als Linda auch am dritten Abend keine Möglichkeit sah, ungestört und allein mit Achmad zu reden, schickte sie ihm eine WhatsApp-Nachricht, während sie ihm gegenüber auf dem Sofa saß.
Hey, Schirin sitzt jetzt schon den ganzen Abend vor dem Fernseher und tut so, als schaue sie den Film an, aber ist dir schon mal aufgefallen, dass sie uns dabei fast ständig beobachtet? Warum macht sie das? Ich würde so gerne einfach mit dir reden, aber ohne Zuhörer. Kannst du ihr nicht sagen, dass sie uns alleine lassen soll? Ich liebe dich so sehr.
Nachdem sie drei rote Herzen daruntergesetzt hatte, schickte sie die Nachricht ab. Umgehend wurden die beiden grauen Häkchen blau, und Achmad tippte auf seinem Handy.
Hey, ja, ich weiß, dass Schirin uns beobachtet. Die Antwort ist einfach. Sie ist eifersüchtig, weil sie selbst noch keinen passenden Mann gefunden hat und allmählich befürchtet, sie kriegt gar keinen mehr. Meiner Schwester passt es nicht, dass du bei uns wohnst, und wenn sie auch nur den geringsten Anlass hätte, etwas Negatives über uns zu sagen, würde sie garantiert zu meinen Eltern rennen und petzen.
Gerade, als Linda die Nachricht gelesen hatte, folgte eine weitere von Achmad:
Also küssen verboten!
Linda sah von ihrem Handy auf und begegnete Achmads Blick. Er zwinkerte ihr zu, und sie lachte, woraufhin Schirin abrupt den Blick vom Fernseher abwandte und sie misstrauisch, ja beinahe feindselig ansah.
Früh am nächsten Morgen wachte Linda plötzlich auf. Im Zimmer war es noch dunkel, und sie tastete nach ihrem Handy auf dem Nachttisch. Kurz vor fünf. In dem Moment hörte sie leise aus der Ferne melodischen Gesang und wusste, dass die Dorfbewohner zum Fadschr, dem Frühgebet, aufgerufen wurden. Über die Sprechanlage am Minarett der Dorf-Moschee wurde aus Ramallah der Gesang eines Muezzin19 übertragen. Auf diese Weise wurden die Dorfbewohner fünfmal täglich zu den vorgeschriebenen Zeiten an die Pflichtgebete erinnert. Den arabischen Gebetsruf, den Adhan, kannte Linda bereits von ihren beiden ersten Besuchen bei Achmad.
Mit offenen Augen lag sie im Bett und lauschte den Tönen. Sie fand den Gebetsruf unglaublich schön, irgendwie unvergleichbar mit jeglichem Gesang, den sie bisher gehört hatte. Ihr fiel ein, wie sie an ihrem ersten Morgen in Jerusalem im Hostel von armenischen Gesängen geweckt worden war. Wie schön es doch war, dass gläubige Menschen um diese Uhrzeit bereits sangen, wohingegen bei ihr daheim im Ort morgens höchstens die Kirchenglocken läuteten.
Linda streckte sich im warmen Bett und gähnte herzhaft, da fiel ihr plötzlich ein, dass heute Freitag war und Achmad nicht zur Arbeit musste. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft würde er den ganzen Tag zu Hause sein. Der Gedanke erfüllte sie mit wohligem Glücksgefühl, und mit einem Schlag war sie hellwach, schlug die Decke zurück und schwang sich aus dem Bett. Sie würde Achmad auf der Stelle sagen, wie sehr sie ihn liebte. Wie sie war, im Nachthemd und barfuß, öffnete sie leise die Tür und tastete sich im Dunkeln an der Wand den Flur entlang bis zu Achmads Zimmertür. Sie lauschte. Im Haus war noch alles still, doch sie musste sich beeilen, denn bald würden die anderen auch alle aufstehen, um rechtzeitig vor Sonnenaufgang das Fadschr-Gebet zu verrichten.
Vorsichtig drückte sie die Türklinke herunter, schlüpfte ins Zimmer und schloss die Tür geräuschlos wieder hinter sich. Im fahlen Licht der einsetzenden Morgendämmerung schlich sie ans Bett, wo sie seine Umrisse unter der Decke ausmachte. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht im Kissen vergraben. Zärtlich fuhr sie ihm durch sein Haar und flüsterte in sein Ohr: „Ich liebe dich so sehr.“
Erschrocken fuhr Achmad hoch, knipste die Taschenlampe seines Handys an, das griffbereit neben seinem Kopfkissen lag, und leuchtete Linda ins Gesicht. Verwirrt sah er sie einen Augenblick lang an, als wäre er nicht sicher, ob er wach war oder träumte, dann sagte er: „Mensch, hast du mich erschreckt. Was um alles in der Welt machst du denn hier, hast du wieder Bauchschmerzen?“ Linda setzte sich auf die Bettkante. „Nein, mir geht’s total gut. Ich muss dir nur kurz sagen, wie sehr ich dich liebe.“ Lachend ließ Achmad sich auf das Kissen zurücksinken. „Ich liebe dich auch, Baby.“ Linda beugte sich zu ihm herunter, ihre Lippen kamen sich langsam näher.
Genau in dem Augenblick, als sie sich küssten, ging das Licht in Achmads Zimmer an. Mit weit aufgerissenen Augen stand Schirin in der Tür. Sie starrte die beiden einen Moment lang an, dann drehte sie sich, ohne ein Wort zu sagen, auf dem Absatz um und rannte davon.
Achmad setzte sich auf. „Scheiße! Sie muss dich beobachtet haben und hat die Tür so leise aufgemacht, dass wir sie nicht gehört haben. Jetzt erzählt sie bestimmt alles brühwarm meinen Eltern.“
Noch bevor Linda antworten konnte, kamen Aysha und Halil hereingestürzt, Ayshas Haar war offen und sie hatte sich offensichtlich schnell einen Morgenmantel übergeworfen, Halil war bereits bekleidet. Hysterisch schrie Aysha auf Arabisch: „Was um alles in der Welt tut ihr da?“ Halil blieb äußerlich ruhig, doch seine Stimme bebte vor Zorn, als er sich an Achmad wandte. „Du kommst sofort in unser Schlafzimmer, wir müssen reden.“ Achmad folgte seinen Eltern ins Schlafzimmer, währenddessen schrie Aysha ununterbrochen weiter.
Linda blieb alleine in Achmads Zimmer zurück. Sie sah auf das zerwühlte Kopfkissen, auf dem Achmad bis vor Kurzem geschlafen hatte, und fühlte sich elend. Warum nur musste Schirin ausgerechnet in dem Moment ins Zimmer kommen, als sie sich küssten? Wo war sie überhaupt so plötzlich hergekommen? War sie doch schon zum Beten aufgestanden und hatte etwas gehört? Oder hatte sie gar auf Linda gelauert und war ihr unbemerkt gefolgt? Linda stöhnte auf, sicherlich würden Halil und Aysha sie gleich in hohem Bogen rausschmeißen. Kaum hatte sie das gedacht, spürte sie einen stechenden Schmerz in der Magengegend. Ihren Bauch haltend schlurfte sie in Nesrins Zimmer zurück und rollte sich im Bett zusammen. Sie hörte Achmad und seine Eltern in deren Zimmer laut miteinander streiten, konnte aber nichts von den Wortfetzen, die zu ihr herüberdrangen, verstehen, außer dass Aysha immer wieder schrie: „Das jüdische Mädchen, das jüdische Mädchen.“
Irgendwann wurde es still, und nervös wartete Linda darauf, was nun kommen würde. Im Geiste sah sie sich bereits mit gepacktem Rucksack im Sammeltaxi auf dem Weg nach Ramallah. Wo sollte sie dann hin? In Jerusalem wollte sie sich nicht wieder blicken lassen, bis auf Mariana waren ja alle der Annahme, dass sie vor drei Tagen nach Hause geflogen war. Dann doch lieber weiter nach Tel Aviv und in das nächstbeste Flugzeug nach Deutschland.
Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis Achmad anklopfte. Ohne ins Zimmer zu kommen, öffnete er die Tür gerade weit genug, um seinen Kopf durch den Spalt zu stecken.
„Meine Eltern haben sich wieder beruhigt. Zum Glück konnte ich sie davon überzeugen, dass zwischen uns nichts war, nicht einmal ein Kuss.“ Er zwinkerte ihr zu. Linda war so erleichtert, dass sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre, besann sich jedoch eines Besseren und blieb liegen, wo sie war. Sie spürte, wie sich ihr Magen entkrampfte. „Danke. Ich bin ja so froh.“
„Ja, und ich erst.“ Achmad gähnte. „Ich verrichte mein Morgengebet, dann lege ich mich noch mal hin. Am besten, du ruhst dich nach der Aufregung auch noch eine Weile aus, wir haben später noch was vor.“
Linda richtete sich ein wenig auf und stützte sich auf ihren Ellenbogen. „Ja? Was denn?“
„Lass dich überraschen.“ Bevor Linda noch etwas sagen konnte, war sein Kopf verschwunden, und die Tür wurde leise wieder zugemacht.
Linda lag mit offenen Augen im Bett und überlegte, was Achmad damit meinte. Sie hatten für heute nichts ausgemacht. Ob es damit zu tun hatte, was soeben vorgefallen war? Eine böse Überraschung konnte es aber wohl nicht sein, schließlich hatten seine Eltern sich ja wieder beruhigt, und Achmad hatte gelächelt. Schläfrig grübelte Linda noch eine Weile weiter, dann fielen ihr die Augen zu.
Als sie wieder aufwachte, war es ganz hell im Zimmer, Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster und ließen die Staubteilchen in der Luft tanzen. Mit Blick auf die Uhr stellte Linda fest, dass sie bis beinahe 10 Uhr geschlafen hatte. Sofort fielen ihr die Geschehnisse des frühen Morgens wieder ein, und sie spürte noch einmal dem Gefühl der Erleichterung nach, als Achmad ihr endlich die erlösende Nachricht übermittelt hatte, dass sie wider Erwarten bleiben konnte. Wir haben später noch was vor. Lass dich überraschen. Mit einem Mal freute sie sich unbändig auf den Tag und beeilte sich aufzustehen.
Als sie kurze Zeit später fertig angezogen am Schminktisch saß, fiel ihr Blick im Spiegel auf ein Stück Papier auf dem Fußboden. Sie drehte sich um und sah, dass es ein zusammengefalteter Zettel war. Jemand musste ihn vom Flur aus unter die Tür geschoben haben. Neugierig legte sie den Kajalstift beiseite, hob den Zettel auf und faltete ihn auseinander. In krakeliger Handschrift hatte Achmad geschrieben: „Guten Morgen, mein Schatz, ich muss noch etwas Dringendes erledigen, bin um 12 Uhr zurück. Bis dahin mach dich hübsch, wir verbringen den Nachmittag in Ramallah. Ich liebe dich. PS: Mach doch gleich mal die Tür auf.“
Linda tat wie geheißen und entdeckte eine große weiße Schachtel mit roter Schleife vor der Tür. Sie blickte den Flur entlang, niemand war zu sehen. Aus der Küche drangen leise Geräusche, Wasser lief und Geschirr klapperte. Schnell holte sie die Schachtel ins Zimmer und machte mit dem Fuß die Tür wieder zu. Auf dem Bett löste sie die Schleife, wobei ihre Finger vor Aufregung leicht zitterten. Dann nahm sie den Deckel ab und holte ein dickes, in rosa Seidenpapier eingewickeltes weiches Päckchen heraus. Hastig schlug sie das Papier zurück und hatte kaum den rubinroten, seidenglänzenden Stoff erblickt, als sie erkannte, was es war. Ungläubig starrte sie einen Moment lang mit großen Augen darauf, und dann hätte sie vor Freude beinahe laut geschrien. Schnell hielt sie die Hand vor den Mund, bevor ihr ein Laut entschlüpfte. Das Kleid aus dem Laden in Ramallah, das sie in Händen gehalten hatte, als sie Achmad zum ersten Mal begegnet war! Passend dazu, in derselben Farbe und mit Glitzersteinchen besetzt, lag in der Schachtel außerdem ein neues Kopftuch.
Linda stellte sich vor den Spiegel und hielt das Kleid vor sich. Die Perlen und Glitzersteinchen funkelten im Sonnenlicht, und sie fand es noch schöner als beim ersten Mal. Sie streifte es sich über, genoss das seidige Gefühl auf ihrer Haut und konnte ihr Glück kaum fassen. Nie im Leben hätte sie auch nur im Traum daran gedacht, jemals ein solches Kleid zu besitzen. Der Saum reichte bis zum Boden. Sie würde Schuhe mit hohen Absätzen brauchen, aber ansonsten passte es wie angegossen. Das Rubinrot betonte schmeichelhaft ihre sonnengebräunte Haut, und ihre blauen Augen glänzten mit den Perlen und Pailletten um die Wette. Ihr noch offenes, langes Haar fiel sanft über den Rücken und schimmerte golden im Sonnenlicht. Schade eigentlich, dass von ihrer Haarpracht später nichts mehr zu sehen sein würde.
Bewundernd betrachtete sie sich im Spiegel. Sie erkannte sich selbst kaum wieder, beinahe war ihr, als stünde ihr eine andere Frau gegenüber – wunderschön und strahlend vor Glück.
Was hatte Achmad nur heute Nachmittag mit ihr vor?
Als er kam, um sie abzuholen, war Linda sorgfältig geschminkt und ihr Haar vollständig von dem rubinroten Tuch bedeckt. Aysha, die nicht mehr verärgert zu sein schien, hatte ihr bereitwillig beim Feststecken ihrer Kopfbedeckung geholfen und ihr anschließend sogar ein Paar hochhackige, schwarze Schuhe gebracht. Linda vermutete, dass die Schuhe von Schirin waren, da Achmads Schwester in etwa dieselbe Größe hatte wie sie. Ob Schirin wohl damit einverstanden war? Doch Linda war nicht dazu gekommen, sich weitere Gedanken darüber zu machen. Aysha hatte unentwegt geredet und war offensichtlich mit Lindas Aussehen sehr zufrieden, denn sie hatte dabei über das ganze Gesicht gestrahlt. War sie wohl in Achmads Plan eingeweiht?
Auch Achmad begann zu strahlen, als er Linda sah. „Wow, du siehst wunderschön aus, das Kleid steht dir ausgezeichnet!“ Linda drehte sich, sodass der Rock schwang. „Noch nie habe ich so ein schönes Kleid gehabt, aber das kann ich eigentlich gar nicht annehmen, es hat doch sicherlich ein Vermögen gekostet.“
„Darüber mach dir keine Gedanken, es gehört dir.“
„Wie cool! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, einfach nur ‚Danke‘ hört sich irgendwie blöd an.“
„Du brauchst gar nichts zu sagen. Dich so zu sehen, ist Dank genug.“ Wieder einmal musste Linda sich beherrschen, ihm nicht sofort um den Hals zu fallen, und wäre Aysha nicht neben ihnen gestanden, hätte sie es vermutlich getan.
Achmad sah ebenfalls umwerfend aus. Er trug nun einen schwarzen Anzug mit dunkelblauem Hemd, seine schwarzen Schuhe waren auf Hochglanz poliert. Nachdem Aysha ihm noch einen dunkelgrauen Kaschmirschal um den Hals gewickelt hatte, saßen sie kurze Zeit später im Sammeltaxi nach Ramallah. Linda hätte sich am liebsten an Achmad geschmiegt, doch wenigstens saß er auf dem Platz neben ihr und sie konnte seinen vertrauten Duft einsaugen. Von der Seite blickte sie ihn an. „Verrätst du mir jetzt, was wir in Ramallah machen?“ Achmad lächelte sein charmantes Lächeln, das sie so sehr liebte. „Ich dachte, nach der Aufregung von heute Morgen machen wir uns einen schönen Nachmittag und gehen ins Kino.“
„Und deswegen sollte ich mich so hübsch machen?“
„Lass dich überraschen.“ Achmad grinste breit und lehnte sich betont gelassen in den Sitz zurück, Linda entging jedoch nicht, dass er während der weiteren Fahrt immer wieder nervös an seinem Kaschmirschal herumzupfte.
In Ramallah war das Wetter nicht mehr so schön, ein ungewöhnlich kühler Wind hatte dunkle Wolken vor die Sonne geschoben. Nach dem Kinobesuch nieselte es, Nebel lag wie ein grauer Schleier über der Stadt. Schemenhaft schoben sich Autos und Menschen durch Straßen und Gassen. Achmad schlug vor, in einem Restaurant eine Kleinigkeit zu essen, zufällig kenne er eines in der Nähe. Linda stimmte erfreut zu. Ihr war kalt und trotz Popcorn im Kino hatte sie Hunger. Zu ihrer Überraschung war das Restaurant, in das Achmad sie führte, sehr elegant. An den Wänden aus hellem Stein hingen gerahmte Sprüche in schön geschwungener arabischer Schrift, aus riesigen Töpfen ragten zimmerhohe Palmen, auf den Tischen mit blütenweißen Decken standen Kristallgläser und weiße Kerzen in silbernen Kerzenständern. Einige Tische waren bereits besetzt. An manchen wurde so lebhaft und wild gestikulierend diskutiert, dass Linda sich fragte, ob die Leute einfach nur laut redeten oder miteinander stritten. Der Geräuschpegel war jedenfalls um einiges höher, als sie es von einem Restaurant dieser Klasse in Deutschland her kannte. Sie fragte: „Muss man hier nicht vorher reservieren?“ Achmad machte eine beiläufige Handbewegung. „Nein, ich habe noch nie irgendwo einen Tisch reserviert, das muss man hier nicht. In Ramallah gibt es so viele Restaurants, da findet man überall einen freien Tisch.“
Er bat Linda, kurz zu warten, ging an den Tresen und redete mit dem Kellner, woraufhin dieser eifrig nickte und sie an einen kleinen, für zwei Personen festlich gedeckten Tisch in der Ecke führte. Er überreichte Linda und Achmad die Speisekarte, dann zündete er mit einem Feuerzeug die Kerze an. Achmad nickte ihm zu, woraufhin der Kellner eine leichte Verbeugung andeutete und sogleich lächelnd wieder ging. Linda wunderte sich: „Wieso hat er denn gar nicht gefragt, was wir trinken wollen?“ Achmad öffnete seine Speisekarte. „Er kommt bestimmt gleich wieder.“ Doch anstelle des Kellners näherte sich nun ein freundlich aussehender, älterer Mann mit weißem Vollbart ihrem Tisch. Er war ganz in schwarz gekleidet und hatte einen türkisfarbenen Schal locker um seinen Hals geschlungen. In seinen Händen hielt er ein Musikinstrument, das Linda dem Aussehen nach an eine Mandoline erinnerte. Er begann, seinem Instrument durch Zupfen der Saiten Töne zu entlocken, die für Linda ungewöhnlich, aber schön klangen – harmonisch und zugleich irgendwie melancholisch. Sie fragte: „Was ist das für ein Instrument?“ Der Musikant, offensichtlich erfreut über ihr Interesse, antwortete breit lächelnd auf Englisch: „Das ist eine Oud.“
„Oud, was heißt das?“ Achmad schaltete sich ein: „Eigentlich nur Holz, aber es ist auch die Bezeichnung für diese Art Laute. Ansonsten habe ich leider keine Ahnung davon.“
Der Oud-Spieler beendete seine Melodie, nickte den beiden strahlend zu, dann ging er weiter zum nächsten Tisch. Während Linda die Speisekarte studierte, rutschte Achmad unruhig auf seinem Stuhl hin und her, bis er schließlich sagte: „Ich schau mal nach, wo der Kellner bleibt.“ Linda sah ihm hinterher. Irgendwie benahm er sich merkwürdig.
Jetzt zog er im Gehen eine kleine rote Schachtel aus seiner Hosentasche. Im nächsten Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Gleich darauf fühlte sie einen kurzen Stich in der Magengegend, doch dieses Mal blieb das schmerzhafte Krampfen aus. Achmad war kurz aus ihrem Blickfeld verschwunden, kam aber wenig später an den Tisch zurück und informierte sie, dass der Kellner gleich komme. Lächelnd setzte er sich und nahm die Speisekarte wieder auf. Dabei beobachtete Linda, dass er sich mehrmals verstohlen umsah, als ob er jemanden suche. Aufmerksam und mit wachsender Spannung verfolgte Linda das weitere Geschehen. Der Lautenspieler stand inzwischen an einem Tisch auf der anderen Seite des Restaurants, suchte aber während des Spielens immer wieder den Blickkontakt zu Achmad. Beinahe unmerklich nickte Achmad ihm schließlich zu, woraufhin er langsam und weiter an den Saiten zupfend, wie zufällig, zu ihnen an den Tisch zurückkehrte. Virtuos spielte er auf allen elf Saiten und machte dann laut hörbar für alle anwesenden Gäste plötzlich eine Ansage auf Arabisch, die Linda nicht verstand.
Im Restaurant wurde es mucksmäuschenstill, alle Augen waren auf Achmad und Linda gerichtet. Der Musikant begann, eine wunderschöne Melodie zu spielen, leise und voller Gefühl. Wie aus dem Nichts tauchte nun auch der Kellner wieder auf, in seinen Händen einen silbernen Teller mit einer von weißem Fondant umhüllten Torte, auf der eine brennende Wunderkerze in Herzform steckte. Er stellte die Torte vor Linda auf den Tisch. Dabei leuchtete seine feierliche Miene im Schein der Funken versprühenden Wunderkerze. Einen Augenblick lang von dem Licht geblendet, beobachtete Linda fasziniert die sternchenförmigen Funken, die nach allen Seiten flogen, während beide Herzhälften gleichzeitig von oben nach unten knisternd abbrannten. An der Herzspitze trafen die Funken aufeinander und vereinten sich zu einem kleinen Feuerball. Dann war das bezaubernde Schauspiel auch schon vorüber, und zurück blieb das schwarzverkohlte Herz aus Draht. Im selben Moment, in dem das Feuer erlosch, las Linda, was in schnörkeliger Schokoladenschrift auf Englisch auf den Fondant geschrieben war: Willst du mich heiraten?
Gleich darauf entdeckte sie auch die kleine, mit rotem Samt bezogene Schachtel, die Achmad vorhin aus seiner Hosentasche geholt hatte. Sie lag nun geöffnet neben dem Kuchen auf dem Teller. In einem kleinen, silbernen Seidenkissen steckten zwei Ringe. Der eine zierlich, weißgolden mit fünf Diamanten, der andere größer und aus Silber. Noch bevor Linda wusste, wie ihr geschah, war Achmad aufgestanden und versuchte, neben ihrem Stuhl vor sie niederzuknien, doch seine Knie zitterten so stark, dass er sich eines Besseren besann und doch lieber stehen blieb.
Er räusperte sich, dennoch krächzte seine Stimme, als er schließlich herausbrachte, was bereits auf dem Kuchen stand: „Willst du mich heiraten?“
Im Restaurant herrschte weiterhin gespannte Stille. Alle Gäste schauten zu Linda, doch sie bemerkte nichts davon. Sie war ganz und gar verloren in Achmads tiefbraunen, samtenen Augen und seinem freundlichen Gesicht mit den angespannten Zügen. Ihre Stimme war fest, als sie laut und deutlich sagte: „Ja, ich will!“ Die Gäste klatschten und jubelten, der Kellner klopfte Achmad auf die Schulter und sagte lachend auf Englisch: „Das war eine tolle Idee! Unsere Gäste werden diesen Abend nicht so schnell vergessen. Mabruk – Herzlichen Glückwunsch!“
Achmad und Linda sahen sich an und lachten, romantisch begleitet von dem Musikanten, der nun ein etwas melancholisch anmutendes Lied sang. Mit Tränen in den Augen sagte Achmad: „Jetzt weiß ich endlich, warum ich von Argentinien nach Palästina ziehen musste.“
Alle Anspannung war von ihnen abgefallen. In gelöster Stimmung zückte Linda ihr Handy und fotografierte den Kuchen mit dem Heiratsantrag sowie die Ringe in der Schachtel. Unverzüglich schickte sie die Bilder an ihre Mutter, dazu tippte sie:
Es ist passiert, wir haben uns verlobt!
Achmad nahm den Diamantring aus der Schachtel und steckte ihn an Lindas rechten Ringfinger. Er saß wie angegossen. Erstaunt fragte Linda: „Woher wusstest du denn, welche Ringgröße ich habe?“
„Deine Hände und Finger sind genauso zierlich wie die meiner Großmutter, deshalb habe ich einfach vermutet, dass du dieselbe Größe hast wie sie. Ich habe mir heimlich einen Ring von ihr ausgeliehen, bin damit zum Juwelier gegangen und habe ihm gesagt, dass ich einen Ehering in dieser Größe brauche.“
„Das war ja schlau. Wann hast du das denn gemacht?“
„An dem Abend vor zwei Wochen, als du mit Mariana nach Jerusalem zurückgefahren bist. Da hatte ich den Ring schon in der Tasche, und gleich nachdem wir uns in Ramallah verabschiedet hatten, bin ich damit zum Juwelier gegangen.“
„Du hast da schon gewusst, dass du um meine Hand anhalten willst?“
„Schon? Gewusst habe ich das bereits in dem Moment, als ich dich zum ersten Mal in dem Kleiderladen gesehen habe.“
Verblüfft und überglücklich sah Linda ihn an. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass es dir genauso ging wie mir. Ich habe mich nämlich auch auf den ersten Blick in dich verliebt.“
Bewundernd blickte sie auf die Diamanten ihres neuen Ringes, die im Schein der Kerze funkelten. „Wunderschön, ich könnte mir keinen hübscheren Ring vorstellen.“ Auf Achmads Gesicht breitete sich ein Ausdruck tiefer Zufriedenheit aus. „Die Entscheidung war nicht leicht, der Juwelier hat mir eine Menge Ringe vorgelegt, aber dieser hier schien mir für dich der schönste.“
„Mensch, Achmad, der hat doch bestimmt ein Vermögen gekostet.“
„Schon, aber du bist wertvoller als alles Gold der Erde, dagegen sind so ein paar Diamanten nichts.“ Nicht ahnend, dass er das Geld für den Ring von der Bank geborgt hatte und viele Extraschichten arbeiten müsste, um den Kredit abzuzahlen, strahlte Linda ihn verzückt an und sagte: „Vielleicht symbolisieren die fünf Diamanten ja unsere Kinder, die wir haben werden. Also ich hätte nichts dagegen!“
Achmad stimmte in ihr Lachen ein, wurde gleich darauf aber plötzlich ernst. „Bin bloß gespannt, was meine Eltern zu unserer Verlobung sagen werden. Ich habe nämlich heute komplett mit unserer Tradition gebrochen.“
„Mit der Tradition gebrochen? Was ist denn bei euch üblich?“
„In unserer Familie finden Verlobungen zu Hause statt, im Beisein der Eltern und eines Imams. Nur durch den Imam wird die Verlobung offiziell, und er bescheinigt sie auch. Erst dann dürfen sich Mann und Frau anfassen. Zusammen essen gehen dürften wir nach Tradition meiner Familie eigentlich auch dann erst.“
Nun war Linda das Lachen ebenfalls vergangen. „Oje, das wusste ich nicht. Deine Eltern werden nicht begeistert sein – vor allem nach dem, was heute Morgen los war.“ Etwas trotzig sagte Achmad: „Sie müssen sich eben langsam daran gewöhnen, dass ihr einziger Sohn nicht alles so macht, wie sie es wollen. Die ganzen Traditionen hier bedeuten mir sowieso nicht viel. In Argentinien haben wir jedes Jahr Weihnachten gefeiert, aber als wir nach Palästina gezogen sind, war dieses Fest plötzlich wie ausgelöscht in meiner Familie. Das Wort ‚Weihnachten‘ wurde nie wieder erwähnt, stattdessen wurden mir von einem Tag auf den anderen Gebräuche beigebracht, die mir völlig fremd waren.“
Bevor Achmad weitersprechen konnte, ertönte das Motiv der „Kleinen Nachtmusik“ von Mozart. Linda griff nach ihrem Handy. Eine neue Nachricht von ihrer Mutter war gekommen, ungewöhnlich knapp.
Oh, das ging aber schnell.
Keine Glückwünsche, kein freudiges Smiley dahinter.
Linda seufzte: „Meine Mutter scheint auch nicht gerade begeistert zu sein.“ Sie legte ihre Hand auf Achmads. In den Diamanten brach sich das weiße Licht der Deckenlampen in bunten Farben. „Na ja, sie wird ihre Meinung schon ändern, wenn sie dich erst einmal kennengelernt hat. Wir sollten unbedingt bald mit meinen Eltern einen Videoanruf machen.“ Abrupt zog sie die Hand zurück. „Ups, sorry. Hab vergessen, dass das nicht geht.“ Achmad griff jedoch wieder nach ihrer Hand und umschloss sie mit beiden Händen.
„Jetzt sind wir verlobt, dann ist es okay.“
Der Kellner kam mit einer großen Platte zu ihnen an den Tisch, randvoll mit dampfendem, köstlich duftendem Essen. Er schob den Kuchen ein wenig beiseite, um Platz zu machen, und während er guten Appetit wünschte, zwinkerte er Achmad grinsend zu. Linda wunderte sich: „Wir haben doch noch gar nichts bestellt, wieso bringt der Kellner uns einfach etwas?“ Achmads Augen blitzten vor Vergnügen. „All das hier hatte ich schon arrangiert, bevor wir überhaupt ins Restaurant gekommen sind!“
„Also hattest du den Tisch schon reserviert, und der Kellner wusste längst Bescheid von deinem Plan, mir einen Heiratsantrag zu machen!“ Linda griff sich an die Stirn und lachte. „Die Überraschung ist dir wirklich gelungen, ich hatte ja keine Ahnung!“ Sie besah sich das Gericht auf der Platte näher. Achmad sagte: „Das ist Mansaf, mein Lieblingsgericht.“
„Riecht lecker, was ist da alles drin?“
„Meistens besteht es aus drei Schichten. Ganz unten ist Fladenbrot, darauf kommt Reis und darüber Lammfleisch.“ Der Kellner, der gerade aus einer Glaskaraffe Wasser einschenkte, ergänzte stolz: „Unser Koch verwendet zum Würzen Baharat, Knoblauch und Mandeln, natürlich alles frisch aus der Region.“
Linda sagte: „Baharat – das habe ich schon gehört, was ist das noch mal für eine Gewürzmischung?“ Der Kellner stellte die halb volle Karaffe auf den Tisch. „Also unser Küchenchef verwendet dafür Pfeffer, Paprika, Koriander, Nelken, Kümmel, Kardamom, Muskat und Zimt.“ Linda zeigte auf die weißen Häufchen, die wie Farbkleckse über das Gericht verteilt waren. „Und was ist das?“
„Das ist Jameed, ein fester Joghurt aus Ziegenmilch, vermischt mit etwas Zitronensaft.“
Mit großem Appetit aßen Achmad und Linda genüsslich das Mansaf und zum Nachtisch jeweils zwei Stücke von ihrem Verlobungskuchen. Dazu servierte der Kellner frisch gebrühten Kaffee mit Kardamom in kleinen Porzellantassen, die in silbernen Haltern mit filigranen Mustern steckten.
Pappsatt wollten sie gerade aufstehen, als der Kellner noch einmal mit zwei großen Gläsern zu ihnen kam. Strahlend sagte er: „Zum Abschluss noch ein Geschenk des Hauses.“ An der Oberfläche des rotbräunlichen Getränks schwamm eine Mischung aus Eiswürfeln und Pinienkernen, darunter auch einige Rosinen. Linda fragte: „Da ist aber kein Alkohol drin, oder?“ Achmad schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht, das ist Dschallab!“
„Dschallab?“
„Ja, trinken wir oft. Wird aus Datteln, Traubensirup und Rosenwasser hergestellt.“
„Klingt gut!“ Fröhlich bedankten Linda und Achmad sich beim Kellner, dann hoben sie ihre Gläser und tranken auch ganz ohne Alkohol auf ihre Verlobung und ihr zukünftiges gemeinsames Leben in Palästina. Der Kellner, der die Szene amüsiert beobachtet hatte, gab Achmad plötzlich einen so kräftigen Klaps auf die Schulter, dass er sich beinahe an seinem Dschallab verschluckt hätte. „Mein Gast hat sich bei mir mit einem deutschen Mädchen verlobt, das können die wenigsten meiner Kollegen behaupten!“ Achmads Mundwinkel zogen sich nach oben und gaben den Blick auf sein ebenmäßig geformtes, blendend weißes Gebiss frei. „Mazbut – Ja, nicht wahr?“
Martina knipste die Schreibtischlampe an und schrieb in ihr Tagebuch:
12. Februar – Bevor ich schlafen gehe, muss ich kurz noch mein Herz hier ausschütten. Linda hat mich vorhin völlig mit der Nachricht überrumpelt, dass sie und Achmad sich heute Abend verlobt haben. Ich würde mich ja gerne mit ihr freuen, kann es aber nicht. Das geht mir alles viel zu schnell und macht mir große Sorgen.
Martina nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Lindas Schritt zum Judentum war eine Sache gewesen, diese plötzliche Sinneswandlung jedoch eine ganz andere. Dieses Mal stürzte Linda sich in eine auch für sie fremde Kultur, ohne zu wissen, worauf sie sich einließ. Schweren Herzens klappte Martina ihr Tagebuch zu. Liebe hin oder her, sie begriff ihre eigene Tochter nicht mehr.
Als Achmad und Linda nach Hause kamen, saßen Halil und Aysha gerade im Wohnzimmer auf dem Sofa und tranken Tee. Im Ofen knisterte leise ein Feuer und verbreitete wohlige Wärme, im Fernseher lief eine türkische Serie mit arabischen Untertiteln, begleitet von dramatischer Musik.
Linda war erleichtert zu hören, dass Schirin den Abend bei den Großeltern verbrachte, denn das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war Achmads eifersüchtige Schwester. Die Ungewissheit, wie Halil und Aysha ihre Neuigkeiten gleich aufnehmen würden, machte sie auch so schon nervös genug. Aysha holte zwei weitere Tassen aus dem Schrank, während sich Achmad und Linda auf die Sessel gegenüber dem Sofa setzten. Achmad, offensichtlich ebenfalls nervös, lockerte seinen Hemdkragen, und bevor seine Eltern irgendwelche Fragen darüber stellen konnten, was sie in Ramallah gemacht hatten, brachte er hervor: „Ich muss euch was sagen. Euer Sohn wird heiraten.“
Aysha, die mit der Teekanne neben Linda stand und ihr gerade einschenken wollte, zuckte zusammen, sodass sie beinahe neben die Tasse gegossen hätte. Mit schriller Stimme fragte sie: „Was? Wen denn?“ Mit betont ruhiger Stimme antwortete Achmad: „Das Mädchen neben mir. Wir haben uns heute in Ramallah verlobt.“ Aysha goss schnell Tee in Lindas Tasse und setzte abrupt die Kanne auf dem Couchtisch ab. Wortlos blickte sie von Achmad auf Linda und wieder auf Achmad, dann stieß sie hervor: „Aber sie ist Jüdin!“ Nun ergriff auch Halil das Wort: „Ich habe kein Problem damit, dass du Linda heiraten willst, aber sie kann nicht jüdisch sein.“ Achmad wurde lauter. „Sie ist doch gar nicht jüdisch!“ Bis dahin hatte er das auf Arabisch geführte Gespräch noch für Linda übersetzt, was er aber nun völlig zu vergessen schien.
Als sei Linda gar nicht anwesend, entfachte sich auf einmal eine lautstarke Diskussion zwischen ihm und seinen Eltern. Auch wenn sie nicht viel von dem verstand, was gesagt wurde, merkte sie, dass es immer wieder um dasselbe ging. In den Augen von Aysha und Halil war sie das jüdische Mädchen, das in ihre Familie einheiraten würde. Wieder einmal fragte sie sich, warum es zwischen Muslimen und Juden so viel Hass geben musste. Auf beiden Seiten waren ihr viele freundliche Menschen begegnet, die sich eigentlich aus tiefstem Herzen doch nur nach Frieden sehnten. Sie stutzte. Einen ganz ähnlichen Gedanken hatte sie doch schon einmal. Was genau hatte sie da gedacht, und wann war das gewesen? Während um sie herum gestritten wurde, fiel es ihr schlagartig wieder ein.
Schalom – was für ein schöner Gruß, sowohl beim Kommen als auch beim Gehen. In Deutschland wünschen wir uns höchstens einen guten Tag, doch Schalom bedeutet so viel mehr. Frieden, Gesundheit, Sicherheit und Ruhe in einem. Das ist es doch, wonach wir uns alle sehnen.
Auch der Ort stand ihr wieder klar vor Augen. Es war nachts in Avrahams Hostel gewesen, an ihrem zweiten Tag in Israel. Erfüllt und glücklich war sie damit eingeschlafen. Damals ahnte sie noch nicht, von welcher Bedeutung dieser Gedanke für sie noch sein sollte, doch nun hatte er eine Tiefe ungeahnten Ausmaßes angenommen.
Inzwischen war Achmad vor lauter Aufregung aufgestanden, lief im Wohnzimmer auf und ab und blieb erst stehen, als er Lindas fragendem Blick begegnete. Er strich sich durch den Bart und schien abzuwägen, was er sagen sollte. Wie erwartet waren seine Eltern schockiert darüber, dass er einfach so um Lindas Hand angehalten und sie vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Mit einem derartigen Bruch der Tradition würde er Schande über die Familie bringen, aber beinahe noch aufgebrachter schienen sie darüber zu sein, dass ihr Sohn ein Mädchen mit jüdischem Hintergrund heiraten wollte.
Schließlich sagte er: „Meine Eltern sind halt etwas besorgt darüber, was man im Dorf reden wird, weil ich mich so unkonventionell mit dir verlobt habe. Und aus irgendeinem Grund haben meine Eltern außerdem im Kopf, du seist jüdisch, und sie befürchten, dass die Leute hier das auch denken. Keine Ahnung, wieso. Im Dorf weiß ja niemand, dass du aus Jerusalem kommst, und schon gar nicht, dass du dort auf einer Schule warst, um zu konvertieren.“ Ahmad blieb vor dem Kaminofen stehen und starrte ins Feuer. Eine Weile sagte niemand etwas. Die nun eingetretene Stille war unbehaglich, die Mienen von Achmad und seinen Eltern gleichermaßen verbissen. Nur das regelmäßige Ticken der Uhr war zu hören, jedoch schienen die Sekunden sich in Minuten zu verwandeln. Ein Motorrad knatterte am Haus vorbei.
Schließlich ergriff Linda das Wort. „Sag deinen Eltern, dass ich nicht jüdisch bin, es nie war und auch nicht mehr werde.“
Achmad lachte gequält auf. „Das habe ich ja, aber sie glauben mir nicht.“
„Dann sag ich’s ihnen jetzt selber.“ Lina nahm ihr Handy, öffnete Google und tippte ins Suchfeld: „Ich werde nicht mehr jüdisch auf Arabisch“. Einen Moment lang starrte sie auf die vorgeschlagene Übersetzung, dann las sie langsam vor: „lan ‚usbiha yahudiyan baed alan“.
Sie sah auf, blickte zuerst zu Achmad, dann über den Tisch hinweg zu Aysha und Halil. Niemand sagte etwas, alle drei sahen sie mit großen Augen erstaunt an. Hatte sie etwas Falsches gesagt und das nächste Donnerwetter würde losbrechen? Sie betrachtete noch einmal den arabischen Text. Oder hatte das Übersetzungsprogramm gar etwas Unanständiges ausgespuckt? Gerade, als sie anfing, sich über sich selbst zu ärgern, blauäugig einfach etwas abgelesen zu haben, das sie nicht verstand, fing Aysha an zu lachen. Sie lachte und lachte, und es dauerte nicht lange, bis auch Halil in ihr Lachen einstimmte.
Einen Augenblick lang sah Achmad auf seine Eltern. In seinem Blick lag eine Mischung aus Ungläubigkeit und Erleichterung, und dann lachte auch er. Die drei lachten, bis ihnen die Tränen herunterliefen, und während Linda sich den Kopf über den Grund ihrer Heiterkeit zerbrach, fühlte auch sie ihre innere Anspannung einer großen Erleichterung weichen. Es war beinahe so, als habe sich im Raum mit einem Mal ein erstaunlicher Klimawandel vollzogen. Die frostige Atmosphäre war wie weggeblasen, die Stimmung gelöst wie schon lange nicht mehr.
Als Achmad endlich wieder reden konnte, wischte er sich die Tränen von den Augen und erklärte: „Was du da gesagt hast, war zwar genau richtig, allerdings Hocharabisch. Das wird zum Beispiel in den Nachrichten gesprochen, aber untereinander reden wir nicht so.“
Er lachte erneut. „Sorry, aber das kam echt lustig rüber. Doch damit hast du es geschafft, das Eis zu brechen, ich weiß nicht, was ansonsten jetzt hier los wäre.“
Linda grinste: „Oh super, dann lerne ich am besten noch mehr Hocharabisch. Aber wie sage ich das denn richtig in eurem Dialekt?“
„Du könntest sagen: Ma bidi akun yahudiya“. An Aysha und Halil gewandt wiederholte Linda die Worte, woraufhin diese wohlwollend nickten. Dann hatte Aysha eine Frage. Achmad übersetzte: „Meine Mutter will wissen, ob du zum Islam konvertieren wirst.“ Bevor Linda etwas sagen konnte, fügte er schnell hinzu: „Das musst du aber nicht, um zu heiraten. Nur der Mann muss für eine Ehe zum Islam konvertieren, wenn er nicht muslimisch ist.“
Linda überlegte. So einfach die Religion wechseln wollte sie eigentlich nicht, dazu wusste sie zu wenig darüber. Sie sagte: „Das weiß ich noch nicht, erst mal will ich mich mit dem Islam beschäftigen und mehr darüber lernen.“ Achmad übersetzte und erhielt von Aysha eine Antwort, die klagend klang. An Linda gewandt sagte er: „Meine Mutter meint, wenn du mich wirklich liebst und mich heiraten willst, ist es für dich doch sicherlich eine Freude, der Familie zuliebe zum Islam zu konvertieren. Sie sagte, nur dann könne sie wirklich in Frieden mit uns unter einem Dach leben. Andernfalls wäre meine Mutter ärgerlich, und das wäre halt kein so guter Start. Vielleicht tust du ihr den Gefallen einfach.“
Linda fühlte sich in die Ecke gedrängt. Natürlich liebte sie Achmad wirklich, und sie wollte ihn unbedingt heiraten, doch ihr gefiel nicht, dass Aysha – wenn auch nicht direkt – nun eine Bedingung daran knüpfte. Fügte Linda sich nicht, gäbe es von Anfang an Stress. Ihr kamen die Worte ihres Vaters in den Sinn: Komm erst einmal heim, dann besprechen wir alles in Ruhe. Wir freuen uns auf dich!
Doch wenn sie zuerst nach Hause fuhr, würde die Ungewissheit vielleicht Nährstoff für mehr Zwistigkeiten geben. Sie überlegte nicht weiter. „Sag deiner Mutter, dass ich es mache.“ Ihre Eltern würden sich nicht darüber freuen, doch hoffentlich regten sie sich auch nicht zu sehr auf. Aysha und Halil lächelten und nickten zustimmend, doch ganz zufrieden schien Aysha immer noch nicht zu sein. Erneut sprach sie mit Achmad und blickte dabei auf Linda. Er errötete leicht und strich sich durch den Bart, bevor er übersetzte. „Meine Mutter will, dass du vor ihr und meinem Vater auf den Koran schwörst, dass du noch Jungfrau bist.“ Linda blickte ungläubig zuerst auf Achmad, dann auf Aysha. „Wieso das denn?“
„Na ja, meine Mutter hat gehört, dass in Europa die Mädchen fast alle schon mit einem Mann geschlafen haben, wenn sie heiraten. Meine Eltern machen sich Sorgen, dass du das auch schon getan hast.“
Lindas Magen quittierte diese Information mit einer schmerzhaften Verkrampfung. Noch nie hatte sie auf etwas geschworen. Im Judentum wurde sehr genau darauf geachtet, was man versprach. Machte man eine Zusage, fügte man meistens gleich noch die beiden Worte bli neder hinzu – ohne Schwur. Eine Art Absicherung für den Fall, dass man aus irgendwelchen Gründen sein Versprechen nicht einhalten konnte. Ganz abgesehen davon fühlte Linda sich peinlich berührt davon, was sie schwören sollte.
Sie fragte: „Was passiert, wenn ich es nicht mache?“
„Dann werden meine Eltern unserer Hochzeit nicht zustimmen. Heiraten könnten wir zwar trotzdem, aber ohne ihren Segen. Das wäre ebenfalls keine gute Voraussetzung, um zusammen unter einem Dach zu leben.“
Linda umfasste mit beiden Händen die Tasse und trank langsam einen Schluck Tee, während sie aufgewühlt überlegte, was sie tun sollte. Eigentlich wollte sie wirklich nicht auf den Koran schwören. Doch tat sie es nicht, würde nach der Hochzeit ihretwegen gleich der Haussegen schiefhängen, und auch das wollte sie auf gar keinen Fall. Es stimmte ja, dass sie noch Jungfrau war, außerdem würde sie mit dem Schwur nichts Zukünftiges versprechen, sondern nur bestätigen, was Tatsache war. Vorsichtig stellte sie die Teetasse ab. „Wenn es deinen Eltern so wichtig ist, dies zu schwören, dann mache ich es eben.“ Achmad nickte und übersetzte für seine Eltern. Sofort stand Aysha auf und holte ihren Koran, ließ Linda die rechte Hand darauflegen und schwören, noch Jungfrau zu sein. Endlich war Aysha zufrieden. Die Hochzeitsplanung konnte beginnen.
Aysha und Halil bestanden darauf, der Tradition gemäß nicht nur die gesamte Verwandtschaft, sondern auch das ganze Dorf einzuladen. Mit großen Augen überlegte Linda: „Das ganze Dorf, das sind ja locker 600 Leute, und dazu noch die ganze Verwandtschaft!“ Achmad antwortete: „Wenn wir sagen, wir laden das ganze Dorf ein, heißt das bei uns nicht, dass alle Familien komplett kommen. Weil das tatsächlich viel zu viele Leute wären, schickt jede Familie eine Person stellvertretend zur Hochzeit. Und dann ist es ja auch so, dass viele Bewohner eines Dorfes sowieso miteinander verwandt sind. Es ist nicht ungewöhnlich, dass in einem Dorf 200 Leute derselben Familie angehören. Das heißt also, Dorfbewohner und Verwandtschaft sind teilweise identisch. Aber egal, wie man es macht, auf mehrere hundert Gäste kommt man immer.“
„Wow! Und was denkst du, wie viele Leute zu unserer Hochzeit kommen werden?“ Achmad überschlug grob: „Wir haben nicht so viele Verwandte in unserem Dorf. Ich schätze mal, hier gibt es um die 100 Familien, pro Familie eine Person plus diejenigen, mit denen wir hier verwandt sind, also dürften das etwa 150 Leute sein, dazu kommen um die 300 Verwandte aus der Umgebung, somit liegen wir bei etwa 450 Gästen.“
„Moment mal, du hast meine Verwandtschaft vergessen! Meine Eltern und meine kleine Schwester. Also haben wir 453 Hochzeitsgäste.“ Sie sahen sich an und lachten.
Noch lange saßen Achmad, Linda, Halil und Aysha an diesem Abend beisammen und überlegten, an was alles gedacht werden musste. Aysha nahm Papier und Stift und schrieb auf. Zu jedem Punkt entspann sich eine längere Diskussion: Hochzeitstermin festlegen, Hochzeitshalle buchen, Gespräch mit dem Imam, Gästeliste erstellen, Einladungen verteilen, Dekorationen und Hochzeitstorte aussuchen, Henna-Abend und nicht zuletzt natürlich das Brautkleid aussuchen. Das Brautkleid! Der Gedanke daran weckte in Linda große Vorfreude, und im Geiste sah sie sich schon als strahlende Braut Achmad ihr Jawort geben. Sie wusste auch bereits genau, was sie wollte: ein weißes langes Kleid mit Stickereien und Perlen reich verziert, so wie sie es in dem Kleiderladen in Ramallah gesehen hatte. Was sie allerdings nicht wusste, war, wie so eine Hochzeit überhaupt ablief. Doch das würde sie in den nächsten Tagen schon noch herausfinden – mithilfe des Internets und vielleicht auch von Achmads Schwestern.
Es war weit nach Mitternacht, als sie sich erhoben, um schlafen zu gehen. Steif geworden vom langen Sitzen streckte Linda sich und gähnte. Nun, da es still geworden war, übermannte sie auf einmal eine bleierne Müdigkeit. Während Aysha den Tisch abräumte und Halil sich am Kamin zu schaffen machte, sagte Achmad leise zu ihr: „Von mir aus könnten wir auf die ganzen Feierlichkeiten verzichten. Eine Heirat vor dem Imam bräuchte ich auch nicht. Ich mach das nur mit, weil meine Eltern es so wollen und um unsere Familienehre nicht aufs Spiel zu setzen.“
Seine Aussage löste Befremden in Linda aus. Die Familienehre nicht aufs Spiel setzen, was meinte er damit? Würde diese Ehre ihm auch in Zukunft so wichtig sein? Und sollte die Entscheidung, wo und wie sie sich verlobten, nicht ganz allein bei Achmad und ihr liegen? Doch sie wollte nicht zulassen, dass ihr Glück von solchen Gedanken getrübt wurde. Der heutige Tag hatte doch gezeigt, dass es zerbrechlich genug war. Vermutlich war sie einfach zu müde und sah deshalb etwas schwarz. Achmad hatte ja selbst gesagt, dass er nichts darauf gab, was die Leute dachten. Lächelnd sagte sie: „Also ich hab kein Problem damit, deinen Eltern den Gefallen zu tun, ich freue mich jetzt schon auf das große Hochzeitsfest!“
„Und was ist mit deinen Eltern? Freuen die sich auch?“
„Ehrlich gesagt, vermutlich nicht so sehr, aber zur Hochzeit werden sie auf jeden Fall kommen.“
Linda dachte an eine ihrer Freundinnen in Deutschland, deren Eltern nicht zur Hochzeit gekommen waren, weil sie mit dem Bräutigam nicht einverstanden waren, und wusste, dass ihre Eltern dies niemals tun würden. „Sie haben mich noch nie hängen lassen, selbst wenn sie manchmal nicht so damit einverstanden waren, was ich gemacht habe.“
„Gut. Unvorstellbar, dass die eigenen Eltern nicht zur Hochzeit kommen. Übrigens werden sich alle freuen, deinen Vater und deine Mutter kennenzulernen. Und dass die Eheschließung vor dem Imam in unserem Fall nicht wie üblich im Haus der Brauteltern stattfinden kann, versteht natürlich jeder.“
„Das würden meine Eltern allerdings sicher auch nicht mitmachen.“ Linda gähnte wieder, dann sah sie sich verstohlen um. Aysha war in die Küche gegangen und räumte auf, Halil stand mit dem Rücken zu ihnen und legte gerade einen Holzscheit im Kamin nach. Sie schmiegte sich kurz an Achmad und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Gleich morgen sehen wir uns Hochzeitshallen an, okay? Ich bin ja so gespannt, wie die aussehen.“ Achmad schielte nach seinem Vater, der nun das Feuer schürte, strich Linda zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte mit Blick auf die Uhr: „Du meinst wohl heute. Aber ja, das können wir machen. Am besten treffen wir unsere Auswahl schon im Internet und fahren dann morgen gleich hin, um alles Weitere vor Ort zu besprechen. Davor sehen wir uns aber die Hochzeitsliste an und legen den Termin fest.“
„Hochzeitsliste? Wo gibt’s die denn?“
„Die hängt in der Nähe der Moschee aus, ich schicke dann dem zuständigen Sachbearbeiter eine Mail mit unserem Wunschtermin, er ist zufällig ein guter Freund von mir.“
Achmad erklärte, dass auf der Liste der Name des Bräutigams eingetragen wurde, um einerseits die Dorfbewohner über den Hochzeitstermin zu informieren, andererseits aber auch, um zu vermeiden, dass an einem Tag zwei Hochzeiten im Dorf stattfanden. Zwar war Linda ein wenig enttäuscht, dass ihr Name nicht auf der Liste erscheinen würde, jedoch konnte sie es kaum erwarten, ihre Hochzeit offiziell, schwarz auf weiß, angekündigt zu sehen. Spontan wollte sie Achmad umarmen, ließ es aber gerade noch rechtzeitig sein, da Halil in dem Moment die Kamintür schloss. Stattdessen sagte sie: „Wie cool! Ach, am liebsten würde ich dich gleich nächste Woche heiraten und für immer hierbleiben!“
Achmad lachte, doch innerlich war ihm nicht danach zumute. Die Hochzeit würde eine Menge Geld kosten. Er würde einen weiteren Kredit aufnehmen und diesen jahrelang abzahlen müssen, doch das erwähnte er mit keiner Silbe. Als habe Linda seine Gedanken erraten, sagte sie: „Da wir noch ein paar Monate Zeit haben, suche ich mir in Deutschland einfach einen Job und verdiene etwas Geld. Meine Eltern steuern außerdem bestimmt auch was zur Hochzeit bei.“
Sie kamen überein, dass Linda bis etwa zwei Wochen vor der Hochzeit arbeiten und dann wieder zu ihm zurückkehren würde. Verliebt sah sie ihm in die Augen. „Aber noch länger halte ich es keine Minute mehr ohne dich aus.“
In dem Moment vernahmen sie ein lautes Räuspern. Halil wollte schlafen gehen und wartete darauf, das Licht im Wohnzimmer auszumachen. Unverzüglich verabschiedete Achmad sich, und auch Linda ging in ihr Zimmer. Mit einem glücklichen Stoßseufzer ließ sie sich in ihrem rubinroten Kleid aufs Bett fallen, dabei spürte sie noch einmal dem seidigen Gefühl des glatten Stoffs auf ihrer Haut nach.
Was für ein Tag! Heute Morgen hatte sie hier gelegen und mit ihrem Rausschmiss gerechnet. Nie im Traum hätte sie daran gedacht, noch am selben Abend verlobt zu sein und Hochzeitspläne zu schmieden. Sie nahm ihr Handy und tippte eine Nachricht an Mariana:
Wir sind verlobt!!! Achmad hat mich heute gefragt, ob ich ihn heiraten will, und natürlich habe ich Ja gesagt!!! Er war so süß, hat mich total überrascht. Stell dir vor, er hat mir das superschöne Kleid gekauft, das mir in dem Laden in Ramallah so gefallen hat. Und am Nachmittag hat er mich in einem fancy Restaurant mit einem Kuchen überrascht, auf dem stand: Willst du mich heiraten? Und du musst unbedingt meinen Verlobungsring anschauen! Ich schicke dir gleich Fotos.
Sie hatte kaum Nachricht und Fotos abgeschickt, als die Häkchen blau wurden, und trotz der späten Stunde schrieb Mariana sofort zurück, um ihr zu gratulieren. Nachdem sie noch eine Weile hin- und hergeschrieben hatten, schloss Linda mit den Worten:
… und du weißt ja, wo du uns dann irgendwann nach der Hochzeit findest, nämlich im zweiten Stockwerk! (Sobald es fertiggestellt ist.)
Die Hochzeitsliste in der Nähe der Moschee war für den Sommer bereits gut gefüllt. Achmad und Linda waren übereingekommen, an einem Freitag zu heiraten, und entdeckten gerade noch eine leere Spalte am 30. Juli. Unverzüglich schickte Achmad seinem Freund eine Nachricht mit der Bitte, seinen Namen dort einzutragen.
Den Rest des Morgens verbrachten sie damit, sich im Internet verschiedene Hochzeitshallen anzusehen und herauszufinden, welche Räumlichkeiten an ihrem Wunschtermin noch verfügbar waren. Die Auswahl war nicht mehr groß, doch schließlich hatten sie einen schönen Saal gefunden und Achmad rief den Besitzer an. Sie hatten Glück und bekamen für den Nachmittag einen Besichtigungstermin.
Vor dem Eingang trafen sie Rami, den Besitzer, der sie freundlich begrüßte. Achmads Frage, ob er Englisch spreche, bejahte er und wechselte daraufhin die Sprache. Er schloss die Tür auf und ließ die beiden eintreten. Hinter dem großzügig angelegten Eingangsbereich tat sich ein großer, in hellen Tönen gestalteter Saal auf. Rami schaltete das Licht an, woraufhin unzählige kleine, eingebaute Deckenleuchten erstrahlten, die sich wie Sterne in den auf Hochglanz polierten Fliesen auf dem Fußboden widerspiegelten und diese wie eine Eisfläche glänzen ließen. Eindrucksvolle, riesige Kristall-Kronleuchter an der mit Stuck verzierten Decke sorgten zusätzlich für Beleuchtung über den vielen runden Tischen im Saal. Um jeden Tisch herum standen zehn Stühle in weißen Hussen, die hohen Lehnen mit goldenen Schleifen versehen. Große Fototapeten an den Wänden vermittelten den Eindruck, sich inmitten eines Parks zu befinden. Die Illusion, von einer mit blühenden Sträuchern und Bäumen gesäumten Rasenfläche umgeben zu sein, wurde durch echte Palmen und Grünpflanzen vor den Wänden raffiniert verstärkt. Am Ende des Saals befand sich eine von Marmorsäulen flankierte kleine Bühne. Sie war ebenfalls in weißen Stoff gehüllt, und in der Mitte stand ein mit goldenem Brokatstoff bezogener gepolsterter Diwan.
Linda, der bisher angesichts des Prunks der Mund vor Staunen offen stehen geblieben war, sagte nun mit Blick auf die Bühne: „Für eine Band ist dort aber wenig Platz.“ Achmad lachte laut auf. „Die ist ja auch nicht für die Musiker. Dort nimmt die Braut während der Feier Platz.“ Er drückte Linda einen Kuss auf die Stirn. „Du wirst die Königin sein und über allen Gästen thronen.“
„Und wo ist mein König? Sitzt der etwa nicht neben der Königin?“
„Der feiert ein Stockwerk weiter oben mit seinen Freunden und den männlichen Verwandten und tanzt mit ihnen den Dabke-Tanz.“
„Dabke? Davon habe ich noch nie gehört.“
„Dabke bedeutet so was wie „Mit-den-Füßen-auf-den-Boden-stampfen“ und ist ein alter, traditioneller Tanz in Palästina. Wird übrigens auch von Frauen getanzt.“
„Soll das heißen, ich muss meine eigene Hochzeit ohne meinen Bräutigam feiern?“
„Erst mal schon, das ist bei uns so üblich. Aber du bist unter den ganzen Frauen selbstverständlich der Mittelpunkt. Alle Augen werden auf dich gerichtet sein – vor allem, wenn du tanzt.“ Lindas Augen wurden groß. „Ich soll vor allen anderen Frauen alleine tanzen?“
„Natürlich. Aber später tanzen auch die anderen Frauen mit, so hat es mir zumindest meine Schwester erzählt.“
„Ich weiß aber nicht, ob ich das will.“
„Mach dir keine Sorgen, das wird dir Spaß machen. Und irgendwann gegen Ende der Feier komme ich zu dir runter. Dann tanzen wir zusammen und sitzen auch gemeinsam auf dem Thron.“
In dem Moment ertönte aus einem Lautsprecher langsame Tanzmusik. Achmad nahm Lindas Hand. „Darf ich bitten?“ Linda schlang ihre Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Wie von alleine schienen sie im Rhythmus der Musik zu verschmelzen, und eng umschlungen bewegten sie sich im Takt. Nachdem die Musik verklungen war, sagte Achmad: „Als meine Schwester letztes Jahr geheiratet hat, konnte ich von meiner eigenen Hochzeit nur träumen. Bevor du in mein Leben gekommen bist, war mir noch kein Mädchen begegnet, das ich heiraten wollte. Du bist die Liebe meines Lebens. Ich will dich immer glücklich machen.“ Zärtlich streichelte Linda über seine Wange: „Das tust du bereits. Ich liebe dich so sehr.“
Rami unterbrach die beiden höflich, er hatte inzwischen mehrere Fotoalben auf einem der großen, runden Tische ausgebreitet. „Wenn ihr nun bitte die Dekorationen wählen würdet. Ihr könnt alles individuell nach eurem Geschmack aussuchen, angefangen von den Farben der Tischdecken und Stuhlhussen, über den Blumenschmuck bis hin zum Rosenbogen.“
Linda und Achmad blätterten ein Album nach dem anderen durch und waren dabei so vertieft, dass sie gar nicht merkten, wie die Zeit verflog. Am Ende kamen sie überein, die Farben in weiß und rot zu halten. Weiße Tischdecken, rote Servietten, weiße Kerzen, weiße Hussen mit roten Schleifen um die Lehne, rot-weiß sollte auch der Blumenschmuck auf Tischen und Bühne sowie der große Rosenbogen am Eingang des Saals sein. Nachdem sie alles ausgewählt hatten, machte Achmad gleich eine Anzahlung, um die Hochzeitshalle zu reservieren. Als Linda den Preis hörte, schluckte sie. Noch nie hatte sie eine solche Summe für etwas bezahlt. Woher nahm er nur das ganze Geld? Als habe er ihren Gedanken gelesen, murmelte er beiläufig – und eher wie zu sich selbst –, wie gut es doch sei, einen reichen Onkel zu haben. War es Absicht, dass er es auf Englisch sagte?
Linda fühlte sich wie aus einem schönen Traum herausgerissen, als sie aus dem blendend hellen Saal in die mittlerweile eingebrochene Dunkelheit hinaustraten. Die Tür, durch die sie vor mehreren Stunden getreten waren, hatte sie in eine andere, für Linda bisher völlig fremde Welt geführt, die nun beinahe surreal anmutete. Drinnen ein Märchen aus 1001 Nacht, draußen pulsierte die moderne Welt. Der Verkehr brummte ebenso wie ihr Schädel, dennoch machte sich tiefe Zufriedenheit in ihr breit. Der Hochzeitstermin stand fest, und Saal samt Dekoration war gebucht. Sie konnte es kaum abwarten, alles Weitere zu organisieren. Das Brautkleid würde sie ausleihen, jedoch hatte Aysha ihr nahegelegt, mit dem Anprobieren bis wenige Tage vor der Hochzeit zu warten, um sicherzugehen, dass es dann auch passte. Mit dem Aussuchen wollte sie aber nicht so lange warten, das würde sie schon von Deutschland aus übers Internet machen.
Die kühle Luft auf ihrem Gesicht fühlte sich erfrischend an, und während sie in Richtung Bushaltestelle gingen, stellte sie sich vor, wie sie in ihrem wunderschönen, weißen Kleid durch den Saal schwebte und dann die Bühne betrat, um auf dem Diwan zu thronen. Auf einmal wurde sie von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl erfasst. Vor Freude hüpfte sie wie ein Kind auf und ab, doch dann ließ ein Gedanke sie abrupt stehen bleiben. Irgendwann würde sie auf die Toilette müssen – wie um alles in der Welt sollte sie in einem Hochzeitskleid mit ausladendem Rock aufs Klo gehen? Achmad, erschöpft von dem stundenlangen Aussuchen der Dekorationen, schien angesichts Lindas übersprühender Energie leicht gereizt und meinte lakonisch, sie würde das schon irgendwie hinkriegen.
Auf einmal waren die Tage mit Geschäftigkeit und Planungen ausgefüllt und vergingen für Linda wie im Flug. Sie und Achmad wählten Musik für die Hochzeitsfeier aus, bestellten in einer Bäckerei in Ramallah eine vierstöckige Hochzeitstorte – ganz in Weiß mit goldenen Essperlen und bunten Zuckerblumen verziert –, reservierten für Linda, Aysha, Malak, Jasmin, Nesrin und Schirin zum 30. Juli Termine im Beauty Salon und sprachen mit dem Imam, der die Trauung vollziehen würde. Ali und ein weiterer Cousin Achmads würden Trauzeugen sein, wenn sie sich in der Moschee das Jawort gaben.
Die Nachricht, dass sie sich verlobt hatten, verbreitete sich im Dorf wie ein Lauffeuer, Nachbarn und Verwandte gaben sich die Klinke in die Hand. Es schien, als käme das halbe Dorf zu Besuch, um herauszufinden, wer das Mädchen war, das Achmad heiraten würde.
Für eine Unterhaltung mit Linda reichten die Englischkenntnisse bei vielen zwar nicht, doch alle waren freundlich zu ihr, und sie fühlte sich in deren Gesellschaft wohl. Während die Besucher kamen und gingen, war Aysha pausenlos damit beschäftigt, Tee und Kaffee einzuschenken und dafür zu sorgen, dass die Teller gefüllt waren.
Waren gerade mal keine Besucher im Haus, übte Linda sich unter Ayshas fachkundiger Anleitung im Schminken. Da sie auf ihrer Hochzeit High Heels tragen würde, aber noch nie zuvor in hochhackigen Schuhen gelaufen war, geschweige denn getanzt hatte, erteilte Schirin ihr unter viel Gekicher Geh- und Tanzunterricht in ihren eigenen Schuhen, die Linda genauso perfekt passten wie der Ring, den ihr Bräutigam für sie ausgesucht hatte.
Merkwürdigerweise war Schirin wie verwandelt, seitdem feststand, dass Achmad und Linda heiraten würden. Ihre Feindseligkeit Linda gegenüber war einer ungewöhnlichen Freundlichkeit gewichen. Linda wunderte sich über ihr Verhalten und sprach Achmad darauf an. Er erklärte, dass Schirin zusätzlich zu ihrer Eifersucht noch befürchtet hatte, ihr Bruder würde nach Deutschland ziehen. „Wenn ich das machen würde, wäre die Schande perfekt, und ich würde als treuloser Sohn angesehen, der seine Eltern verlässt. Doch jetzt, wo klar ist, dass wir hier heiraten und du zu mir ziehst, ist sie anscheinend beruhigt und endlich zufrieden.“
Aysha beäugte Lindas staksige Gehversuche in High Heels mit kritischem Blick und schärfte ihr ein, zu Hause in Deutschland jeden Tag eine Stunde damit zu laufen, um sich und die Familie an der Hochzeitsfeier ja nicht vor allen Gästen zu blamieren. Überrascht fragte Linda sich, was daran so schlimm wäre, nicht perfekt mit hohen Schuhen laufen zu können – schließlich war sie ja kein Model. Warum war es Aysha nur so wichtig, was die Leute über sie dachten?
Hallo Ima, bei mir ist so viel los, dass ich kaum noch dazu komme, dir zu schreiben. Ehrlich gesagt habe ich seit meiner letzten Nachricht auch gar nicht daran gedacht. Seit wir uns verlobt haben, sind Achmad und ich pausenlos am Organisieren für die Hochzeit. Was es da alles zu tun gibt! Du hättest mal die Hochzeitshalle sehen sollen! Stell dir vor, die haben da eine Bühne für die Braut mit einem komischen kleinen Sofa drauf. Dort soll ich dann sitzen und mich feiern lassen, aber das wird bestimmt schön. Du könntest langsam schon mal anfangen, nach einem neuen Kleid für dich zu schauen. Es muss aber sehr festlich sein, so in der Art wie die Kleider, die meine Klassenkameradinnen auf dem Abi-Ball anhatten, ein Foto hatte ich dir ja gezeigt. Und natürlich braucht Johanna auch so ein Kleid. Oder wir gehen in Ramallah zusammen shoppen, wenn ihr dann kommt. Apropos, ich übe jetzt mit Achmads Schwester, auf High Heels zu laufen, damit ich an der Hochzeit elegant damit gehen kann. Aysha meint, ich solle zu Hause jeden Tag eine Stunde Gehübungen machen, weil sie Angst hat, dass ich ihre Familie blamieren könnte.
Die Zeit rast nur so, in ein paar Tagen sitze ich schon im Flieger. Ich freu mich schon darauf, euch alles über unsere Hochzeitspläne zu erzählen, und schicke dir gleich noch ein Filmchen von mir, wie ich in Stöckelschuhen meine Gehübungen mache.
Liebe Grüße, auch an Papa und Johanna!
Martina nahm die Brille ab und schob nachdenklich einen Bügel in den Mund. Lindas Euphorie war deutlich aus ihren Zeilen herauszulesen. Sie gönnte ihrer Tochter dieses Glück von ganzem Herzen, und dennoch sträubte sich innerlich etwas in ihr. Der erwähnte Abi-Ball an einem Freitagabend vor knapp einem Jahr hatte ohne Linda stattgefunden, weil es ihr wichtiger war, den beginnenden Schabbat einzuhalten. Nun preschte sie in die genau entgegengesetzte Richtung – mit derselben felsenfesten Überzeugung, das Richtige zu tun.
Ihre neuen Ziele und Pläne, die Abkehr von ihren bisherigen Träumen, die bevorstehende Hochzeit mit einem Mann aus einer völlig anderen Kultur – das ging doch alles viel zu schnell! Hoffentlich war Linda bereit, auf die Bedenken ihrer Eltern zu hören und sich alles noch einmal gründlich zu überlegen, wenn sie bald nach Hause kam.
Gehübungen machen … Aufgewühlt setzte Martina ihre Brille wieder auf. Was hatte Linda da geschrieben? Noch einmal las sie den Satz:
Aysha meint, ich solle zu Hause jeden Tag eine Stunde Gehübungen machen, weil sie Angst hat, dass ich ihre Familie blamieren könnte.
Eine tiefe innere Unruhe breitete sich in Martina aus. Worauf hatte sich Linda da nur eingelassen? Unbehaglich legte sie das Handy beiseite. Ehrlich gesagt, freute sie sich überhaupt nicht auf die Hochzeit ihrer Tochter; auch verspürte sie nicht die geringste Lust, sich für diesen Anlass ein neues Kleid auszusuchen.
Martina seufzte. Wenn sie doch nur mit jemandem reden könnte, der sich in der arabischen Kultur auskannte. Doch wen könnte sie fragen? Ohne sich wirklich Antwort zu erhoffen, griff sie wieder zu ihrem Handy und scrollte die Kontaktliste langsam von oben nach unten. Am vorletzten Namen blieb ihr Blick hängen. Susanne. Natürlich! Ihre Freundin aus der Schulzeit wusste bestimmt Bescheid! Als Reiseleiterin hatte Susanne fast alle arabischen Länder gesehen, hatte sogar ein Jahr lang im Orient gelebt. Martina schrieb ihr sofort eine Nachricht.
Unaufhaltsam rückte Lindas Abreise näher, und viel zu schnell war der letzte Tag ihres Visums angebrochen. Sie und Achmad hatten noch einmal die ganze Nacht lang miteinander geredet, da an Schlaf ohnehin nicht zu denken gewesen war. Sollten Halil und Aysha etwas bemerkt haben, hatten sie ein Auge zugedrückt und nichts gesagt.
Lindas Gepäck war dieses Mal leicht. Die wenigen Sachen, die sie in Deutschland brauchen würde, hatten in ihrem kleinen Rucksack und der schwarzen Umhängetasche Platz gefunden. Bevor Linda in aller Frühe die Tür hinter sich zumachte, ließ sie ihren Blick noch einmal prüfend durch das Zimmer schweifen, das sie in den letzten drei Wochen bewohnt hatte. Der große Rucksack lag in einer Ecke, vollgestopft mit Klamotten, dem größten Teil ihrer Schminkutensilien und allem anderen, was bis zu ihrer Rückkehr hierbleiben konnte. Das rubinrote Kleid hing noch genauso im Schrank, wie sie es in der Nacht nach ihrer Verlobung hineingehängt hatte.
In Deutschland würde sie nun warme Kleidung benötigen. Dicke Pullis hatte sie noch genug zu Hause, und die wenigen Hosen, die sie noch brauchte, würde sie einfach kaufen. In dem Moment, als sie die Tür zuziehen wollte, fielen ihr die jüdischen Bücher ein, die sie gleich zu Anfang unter das Bett geschoben und seitdem vergessen hatte. Sie wusste selbst nicht, warum, aber plötzlich war es ihr wichtig, diese mitzunehmen. Sie verteilte die Bücher auf ihr Gepäck. Gebetbuch und Tehillim kamen in die Umhängetasche, den Tanach und die beiden Taschenbücher schob sie in den Rucksack. Beide Gepäckstücke waren jetzt so voll, dass Linda sie nur mit Mühe zumachen konnte, doch nun war alles eingepackt, was sie mitnehmen wollte. Zufrieden ging sie aus dem Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Sie fand Aysha, Halil und Schirin im Wohnzimmer versammelt, sie waren extra früh aufgestanden, um sich von ihr zu verabschieden. Zu Lindas Überraschung fing Schirin an zu schluchzen. Sollte ausgerechnet ihr der Abschied schwerfallen, oder warum weinte sie?
Linda ging auf sie zu, umarmte sie und sagte ihr, dass sie ja bald wiederkäme. Doch anscheinend war dies kein Trost, als Antwort heulte Schirin nämlich nur noch lauter.
In dem Moment kam Achmad herein. Mit vor Müdigkeit schweren Augenlidern blickte er von seiner Schwester auf Linda und zuckte die Schultern, als wolle er sagen, er wüsste auch nicht, weshalb Schirin so traurig war.
Aysha hingegen schien bester Laune zu sein. Sie drückte Linda einen Thermosbecher in die Hand und erklärte, darin sei frisch gekochter Schwarztee für die Autofahrt, extrastark und süß, so wie Linda ihn am liebsten mochte. Gleich darauf eilte sie aus dem Wohnzimmer und kam mit einem Paar hochhackiger Sandaletten zurück, die schwarzen Lacklederriemchen mit Glitzersteinchen verziert. Achmad übersetzte, dass seine Mutter die Schuhe extra für Linda gekauft hatte, damit sie zu Hause keine Zeit verlieren würde, ihre Gehübungen zu machen. Linda lachte, Aysha hatte es sich offensichtlich gut gemerkt, als sie ihr erzählte, dass sie keine High Heels besaß und daheim erst welche kaufen müsse. Doch wohin damit? Der kleine Rucksack und die Umhängetasche platzten so schon fast aus allen Nähten, und eine zusätzliche Plastiktüte wollte Linda auf keinen Fall auch noch tragen. Kurzerhand zog sie Turnschuhe und Socken aus und die Sandaletten an. Sie würde die Turnschuhe einfach hierlassen. Kritisch beäugte Achmad ihre Füße. „Bist du sicher, dass du in diesen Schuhen nach Deutschland reisen willst? Du wirst kalte Füße kriegen und bequem kann das auch nicht sein.“
„Och, das geht schon, ich schreibe nachher meiner Mutter, dass sie mir beim Abholen meine Winterstiefel an den Flughafen mitbringen soll. Kann sein, ich krieg ein paar Blasen, aber was soll’s.“ Achmad runzelte die Stirn. „Vielleicht ist es gar nicht erlaubt, mit solchen Schuhen zu fliegen. Was, wenn die Stewardess dich damit nicht ins Flugzeug lässt?“
Linda lachte Achmads Bedenken einfach weg. „Dann zieh ich sie halt vor dem Einsteigen aus und nach dem Aussteigen wieder an.“
Achmad schüttelte den Kopf. Er schien verärgert, sagte aber nichts mehr. Aysha hingegen nickte zustimmend mit Blick auf die eleganten High-Heel-Sandaletten an Lindas Füßen.
Nachdem Linda sich verabschiedet hatte, ging sie mit Achmad nach draußen, wo sein Onkel Hassan bereits mit dem Auto auf sie wartete, um sie zum Qalandia Checkpoint mitzunehmen. Hassan wohnte mit seiner Frau und sieben Kindern im selben Dorf, war ebenfalls im Besitz einer israelischen Arbeitsgenehmigung und arbeitete in Jerusalem. Am Checkpoint würden sich ihre Wege trennen: Linda würde mit dem Bus zum Flughafen Ben Gurion fahren, für Achmad ging es in einem Kleinbus mit einigen Kollegen weiter nach Aschkelon. Bevor Linda einstieg, holte sie noch einmal tief Luft, sie roch wunderbar blumig und würzig zugleich. Noch war es dunkel, am Himmel glitzerten unzählige Sterne, die schmale Mondsichel schien silbern.
Während der Fahrt lehnte sie sich, den Thermosbecher mit beiden Händen haltend, eng an Achmad und sagte: „Wenn du doch nur mit mir nach Deutschland kommen könntest! Ich weiß gar nicht, wie ich die nächsten Monate ohne dich aushalten soll.“ Achmad drückte einen Kuss auf ihr Kopftuch. „Das würde ich gerne, aber wir telefonieren, und abends sehen wir uns per Videoanruf.“ Er sah zum Fenster hinaus in die Dunkelheit und sagte, ohne den Blick abzuwenden: „Eines Tages werden wir die Welt bereisen. Ich werde dir Argentinien zeigen und Bahía Blanca, wo ich geboren wurde. Du wirst Land und Leute genauso lieben wie ich.“
Linda nippte am Tee. „Das klingt wunderbar. Vielleicht haben wir bis dahin ja schon ein paar Kinder.“ Achmad antwortete nicht sofort darauf. Nach einer Weile wandte er seinen Blick vom Fenster ab und sah ihr in die Augen. „Mal sehn. Die nächsten Monate werde ich erst mal arbeiten wie ein Pferd. Ich will so schnell wie möglich unsere Wohnung fertigstellen. Wenn alles gut läuft, können wir schon bald nach unserer Hochzeit einziehen.“
„Unsere eigene Wohnung, wie cool!“ Linda seufzte glücklich. „Bis zur Hochzeit werde ich jede Sekunde an dich denken und dir täglich tausend Nachrichten schicken.“
Sie hatten einen Parkplatz in der Nähe des Checkpoints erreicht. Linda stellte den Becher in den Getränkehalter zwischen den beiden vorderen Sitzen und bedankte sich bei Hassan fürs Mitnehmen. Nachdem Achmad Lindas Gepäck aus dem Kofferraum geholte hatte, verriegelte sein Onkel das Auto und verabschiedete sich, um ihnen vorauszugehen. Während sie sich dem von Scheinwerfern hell erleuchteten Checkpoint näherten, raunte Achmad: „Mir wäre es lieber, wenn du nicht Hebräisch sprichst, bevor du auf der anderen Seite bist.“ Linda nickte. Sie sah auf die Uhr ihres Handys, es war halb sechs. Vor ihnen standen dicht gedrängt Hunderte von Menschen, hauptsächlich Männer jeden Alters, die wie Achmad mit Genehmigung auf der israelischen Seite arbeiteten und darauf warteten, zu Fuß den Checkpoint passieren zu dürfen. An einem kleinen Stand verkaufte ein Mann Lebensmittel: ringförmiges Brot, Eier, Avocados. Entlang einer Mauer waren zahlreiche Männer im Begriff, ihr Morgengebet zu verrichten. Das Menschenknäuel vor den Drehkreuzen bewegte sich nur langsam vorwärts. Irgendwann zog Achmad plötzlich eine kleine, verschließbare Plastiktüte aus seiner Jackentasche und sagte: „Das hätte ich jetzt fast vergessen, ich habe dir zu Hause noch ein Sandwich gemacht. Wer weiß, wann du etwas zu essen bekommst.“ Linda nahm die Tüte entgegen. Das belegte Brot darin war zerquetscht, was sie aber überhaupt nicht störte. Sie wollte Achmad sagen, wie süß sie das von ihm fand, brachte jedoch keinen Ton heraus.
Bis sie die andere Seite des Checkpoints erreicht hatten, war Linda mit ihren neuen Schuhen dreimal umgeknickt, verbiss jedoch tapfer ihren Schmerz. Die Wartezeit hatte anderthalb Stunden gedauert – für Lindas Empfinden viel zu kurz. Der Moment des Abschieds war gekommen. Wortlos warf sie sich in Achmads Arme und ließ sich einfach von ihm halten. Wie von selbst fanden sich ihre Lippen, doch schon kurz darauf schob er sie sanft, aber bestimmt von sich. Der Kleinbus nach Aschkelon würde nicht auf ihn warten.
Widerstrebend stöckelte Linda in Richtung Haltestelle los, die Sandwichtüte wie einen wertvollen Schatz fest umklammert. Im Morgengrauen der aufgehenden Sonne verfärbte sich der dunkle Himmel vom Osten her orangerot, heute würde das Wetter schön werden. Sie blickte noch einmal zurück, doch Achmad war nirgends mehr zu sehen. So laut sie konnte, rief sie in die Richtung, in die er gegangen war: „Ich liebe dich so sehr!“ Unzählige Leute drehten sich verwundert nach ihr um, doch das war ihr egal.
Susanne legte ein großes Stück Apfelkuchen auf Martinas Teller. Lächelnd sagte sie: „Wurde höchste Zeit, dass du dich mal wieder gemeldet hast. Ich dachte schon, du lässt gar nichts mehr von dir hören.“
„Ich weiß, tut mir leid.“ Martina blickte in das vertraute, offensichtlich sonnenverwöhnte Gesicht ihrer langjährigen Freundin. Die blauen Augen blitzten lebhaft wie immer, und nur vereinzelt durchzogen ein paar graue Haare wie Silberfäden die kastanienbraunen Locken, die wie eh und je kurz geschnitten waren. Im weißen T-Shirt, den hellblauen Jeans und weißen Sneakers wirkte Susanne noch genauso jugendlich wie vor dreißig Jahren.
Die Freundinnen kannten sich schon seit der fünften Klasse und hatten sich seitdem nie aus den Augen verloren, obwohl sie nach dem Abitur völlig verschiedene Wege gegangen waren. Susanne war unverheiratet geblieben, wegen ihrer Tätigkeit als Reiseleiterin selten zu Hause und hatte schätzungsweise die halbe Welt bereist. Martina hingegen war seit Lindas Geburt mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter glücklich und zufrieden.
„Den Kuchen habe ich heute Morgen frisch gebacken, lass ihn dir schmecken!“ Susanne schob eine Schüssel Schlagsahne über den Gartentisch. Für April war es an diesem Nachmittag ungewöhnlich warm, sodass sie im Schatten der gelb-weiß gestreiften Markise auf der Terrasse des kleinen Reihenhauses sitzen konnten.
„Lecker, danke. Ich bin echt froh, dass du momentan im Land bist.“ Martina häufte sich zwei Löffel Schlagsahne auf ihr Kuchenstück, dann ließ sie ihren Blick über Susannes Garten schweifen. Drei Sandsteinstufen führten von der Terrasse hinunter zu einer frisch gemähten, sanft abfallenden Rasenfläche, zu beiden Seiten begrenzt von einem weiß gestrichenen Lattenzaun. Vor der dichten Eibenhecke am unteren Ende blühten Tulpen, Narzissen und Hyazinthen, links in der Ecke leuchtete das gelbe Blütenmeer einer Forsythie.
„Schön hast du’s hier, so richtig zum Wohlfühlen.“
„Danke, zum Glück habe ich einen Nachbarn, der sich liebend gern um meinen Garten kümmert, wenn ich nicht da bin.“ Susanne ließ einen Löffel Zucker in ihren Kaffee rieseln. „Jetzt erzähl aber mal. Deine Nachricht neulich klang ja ziemlich bedrückt. Tut mir leid, dass du nun noch so lange warten musstest, aber wie du weißt, bin ich halt erst gestern aus Japan zurückgekommen. Linda ist jetzt auch wieder hier, oder?“
„Ja, sie ist schon vor vier Wochen heimgekommen und sucht einen Job, bisher leider erfolglos. Die meiste Zeit sitzt sie zu Hause und denkt nur an Achmad.“ Susanne schob sich ein Stück Kuchen in den Mund, während Martina weitererzählte. „Ich hatte ja ein bisschen die Hoffnung, dass sie es sich anders überlegt, wenn sie ihre Beziehung zu Achmad mit Abstand betrachten kann, aber das Gegenteil ist der Fall. Sie hat nur noch Augen und Ohren für ihn, hängt pausenlos am Handy, redet Tag und Nacht mit ihm. Sogar wenn er auf der Arbeit ist, sind die beiden per Videocall verbunden, damit sie ihm zuschauen kann. “
„Da scheint sie ja voll auf Wolke sieben zu schweben.“
„Ja, sie ist kaum noch ansprechbar. Und wenn Achmad anruft, während ich gerade mit ihr rede, rennt sie sofort an ihr Handy, selbst wenn ich mitten im Satz bin.“
„Also lässt sie dich sozusagen wie eine heiße Kartoffel fallen.“
„So drastisch hätte ich es jetzt nicht ausgedrückt, aber ja, eigentlich schon.“
Martina nahm einen Schluck Kaffee, dann sagte sie: „Die Hochzeitsvorbereitungen in Palästina sind in vollem Gange, wie sie mir erzählt.“ Sie holte ihr Handy aus der Handtasche und öffnete den Chatverlauf mit Linda auf WhatsApp. „Sieh dir mal die Hochzeitshalle an! Linda hat mir Fotos geschickt, als sie und Achmad dort waren, um die Reservierung zu machen. Sie erwarten mehr als 400 Gäste.“ Susanne betrachtete die Bilder und nickte. „Ja, das ist dort nicht ungewöhnlich.“ Eine Weile schien sie tief in Gedanken versunken, dann blickte sie auf und sah Martina direkt in die Augen. „Mir scheint, deine Linda hat die berühmt-berüchtigte rosarote Brille auf.“
Martina schluckte. „Die rosarote Brille, wie meinst du das?“
„Ich meine damit, dass sie anscheinend keine Bedenken hat, in die muslimische Kultur einzuheiraten. Vermutlich ist ihr überhaupt nicht klar, was das bedeutet. Du machst dir doch auch Gedanken, hast du denn mal mit ihr darüber gesprochen?“
„Versucht habe ich es zwar, und Andreas natürlich auch, aber sie schlägt jegliche Bedenken rigoros in den Wind und meint, wir seien altmodisch und hätten Vorurteile. Achmad scheint ja auch tatsächlich ein netter Kerl zu sein. Andreas und ich haben schon zweimal mit ihm geskypt. Er spricht fließend Englisch, arbeitet fleißig und ist uns gegenüber äußerst höflich und respektvoll.“
Martina blickte einem Eichhörnchen hinterher, das über den Rasen huschte und in der Hecke verschwand. „Trotzdem habe ich kein gutes Gefühl. Noch dazu geht mir das alles viel zu schnell, die beiden kennen sich ja erst seit November.“
„Was hat Linda denn nach ihrer Hochzeit vor?“
„Sie will an der Uni in Ramallah studieren. Sie sagt, Achmad wolle sie dabei unterstützen. Ich finde, das hört sich ja eigentlich gut an. Die jungen Leute dort sind heutzutage sicher auch weltoffen und modern.“ Martina aß ein Stück von ihrem Kuchen und hoffte darauf, dass Susanne ihre Vermutung gleich bestätigen würde.
Doch ihre Freundin sagte erst einmal nichts. Stattdessen trank sie gemächlich einen Schluck Kaffee und sah einer Amsel zu, die auf dem Rasen nach Würmern pickte. Nach einer langen Weile wanderten ihre Augen zu Martina zurück. „Martina, ich fürchte, Linda hat nicht nur die rosarote Brille auf, sondern ist vor Liebe völlig blind. Warte mal ab, wenn sie dann in Palästina verheiratet ist, wendet sich das Blatt ganz schnell. Es tut mir leid, das so knallhart sagen zu müssen, aber ich kenne genug Fälle …“
„Was für Fälle?“, unterbrach Martina alarmiert. Susanne setzte ihre Kaffeetasse ab. „Achmad mag ja wirklich ein netter Mann sein, und er ist vielleicht auch modern und aufgeschlossen, doch der gesellschaftliche Druck in seiner Kultur ist enorm hoch. Das darf man nicht unterschätzen. Linda wird sehr wahrscheinlich Kinder kriegen, so wie es von ihr erwartet wird. Dann wirst du ja sehen, ob sie studieren geht oder nicht. Und sollten wider Erwarten keine Kinder kommen, halte ich es dennoch für sehr fraglich, ob sie tun darf, was sie will. Meiner Meinung nach wird es ihr eher so ergehen wie im Erlkönig von Goethe: Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“
Martinas Augen weiteten sich vor Schreck. „Jetzt übertreibst du aber, oder?“
Susanne zuckte die Achseln. „Wir werden ja sehen.“ Unbehaglich hakte Martina nach: „Das muss ja aber nicht so kommen, oder? Bestimmt sind dort nicht alle so traditionell, vor allem nicht die jüngere Generation.“ Susanne widersprach nicht, stimmte ihr aber auch nicht zu, und Martina spürte, wie Angst in ihr aufstieg.
Die Nachmittagssonne strahlte vom hellblauen Himmel, hier und da trieben gemächlich ein paar harmlose Quellwolken, eine leichte Brise bewegte sanft die blühenden Zweige der Forsythie. Susanne legte Martina ein zweites Stück Kuchen auf den Teller und beendete die unangenehme Stille, indem sie von ihrer Reise nach Japan erzählte. Martina, von Susannes Prognose für Lindas Zukunft wie vor den Kopf geschlagen, hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Der Apfelkuchen schien auf einmal zäh wie Leder, und sie brachte kaum noch einen Bissen herunter. Die eindringlichen Worte ihrer Freundin ließen sie nicht mehr los. Sobald sie zu Hause war, würde sie noch einmal mit Linda reden. Vielleicht hörte sie ja auf Susannes Einwände mehr als auf die ihrer Mutter.
Aber Linda wollte nichts davon hören. Aufgebracht sagte sie: „Immer bist du so negativ. Du kennst die Menschen dort doch überhaupt nicht! Du hast keine Ahnung, wovon du redest! Was deine Freundin dir da erzählt hat, sind alles Vorurteile, das ist so typisch deutsch! Und mit dem blöden Zitat von Goethe braucht sie mir gar nicht erst zu kommen. In welchem Jahrhundert lebt die Frau eigentlich?“ Noch bevor Martina etwas sagen konnte, sah Linda ihr triumphierend ins Gesicht. „Im Übrigen habe ich alles schon mit Achmad besprochen. Er will gar nicht, dass ich wie seine Mutter nur zu Hause rumhocke. Natürlich kann ich studieren! Es gibt viele junge muslimische Frauen, die zur Uni gehen. Sag deiner Susanne das mal, ich glaub, die lebt echt hinterm Mond.“
Martina kam ins Schwanken. Die Worte ihrer Tochter klangen tatsächlich auch überzeugend. Wenn es stimmte, was sie da sagte, wäre ja eigentlich nichts zu befürchten, oder? Doch war es möglich, dass Susanne sich so irrte? Mir scheint, deine Linda hat die berühmt-berüchtigte rosarote Brille auf. Martina bohrte weiter: „Was wird denn sein, wenn du feststellst, dass der Islam doch nichts für dich ist? Oder was, wenn du nicht mehr fünfmal am Tag beten willst?“
„Mami, niemand will mir etwas vorschreiben. Weder Achmad noch seine Familie erwarten, dass ich irgendwas tue. Auch darüber habe ich mit ihm gesprochen. Er sagt, die Entscheidung, ob ich Muslimin werde, sei eine Sache zwischen mir und Allah.“
„Zwischen dir und Allah?“ Martina hörte den scharfen Ton in ihrer eigenen Stimme.
„Jetzt reg dich bloß nicht gleich wieder auf. Warum denn nicht? Allah ist doch nur ein andrer Name für Gott, an den Muslime ja genauso glauben wie Juden und Christen.“
Martina wollte gerade den Mund öffnen, um zu widersprechen, doch sie kam nicht mehr dazu. In diesem Moment gab Lindas Handy einen Laut von sich, der wie das Blöken eines Schafs klang, womit die Diskussion schlagartig beendet war. Nach kurzem Blick auf die neue Nachricht lächelte Linda und hielt Martina das Handy vor die Nase. „Schau mal, Achmad hat endlich ein Foto von der Hochzeitsliste geschickt, die in seinem Dorf aushängt.“ Mit einem Wisch über das Foto vergrößerte sie die Liste und tippte freudestrahlend auf eine Spalte. „Seit letztem Monat steht sein Name auch drauf.“ Martina betrachtete die arabische Schrift auf der Liste und spürte einen Kloß im Hals. Sie fragte: „Und was ist mit deinem Namen, steht der auch auf der Liste?“
„Nein, nur der Vor- und Nachname vom Mann wird eingetragen und außerdem, wie viele Tage man feiert. Achmad hat für unsere Hochzeitsfeier vier Tage vorgesehen.“
„Man erfährt gar nicht, welche Frau er heiratet?“
„Nö, aber ich kriege einen Henna-Abend am Tag vor der Hochzeit.“ Täuschte Martina sich, oder war Linda tatsächlich ihrer Frage ausgewichen?
„Henna-Abend, was ist denn das?“
„Da werden die Hände und Füße der Braut mit hübschen Mustern bemalt, mit Farbstoff aus der Hennapflanze. Das soll Glück bringen, und natürlich gibt es an der Feier auch leckeres Essen und Musik. Der Brauch ist doch viel schöner als das blödsinnige Kaputtschlagen von Geschirr am Polterabend.“ Linda geriet ins Schwärmen. „Und warte mal, bis du erst das Fest in der Hochzeitshalle erlebst! Du wirst dir vorkommen wie in einem der orientalischen Märchen, die du mir früher so gern vorgelesen hast. ‚Ali Baba und die vierzig Räuber‘, ‚Der kleine Muck‘ und ‚Aladin und die Wunderlampe‘ habe ich am liebsten gehört.“
Mit strahlenden Augen berichtete Linda ihrer Mutter nun in allen Einzelheiten von den Farben der Tischdecken und Servietten, Hussen und Blumengestecke, die sie und Achmad ausgesucht hatten. Am Ende ihrer Ausführungen sagte sie euphorisch: „So langsam solltet ihr mal eure Flugtickets kaufen, sonst verpasst ihr noch meine Hochzeit.“
Martina wusste, dass Linda eigentlich recht hatte, doch irgendetwas hielt sie davon ab, mit Andreas über die bevorstehende Reise nach Israel zu sprechen, geschweige denn, Flüge zu buchen. Eigenartigerweise hatte auch ihr Mann darüber noch kein Wort verloren. Waren es ihre Bedenken oder – wie Linda es nannte – Vorurteile? Martina wusste es nicht genau, doch allein bei dem Gedanken daran sträubte sich alles in ihr.
Nachdem Martina am Abend Johanna eine Gutenachtgeschichte vorgelesen und mit ihr gebetet hatte, setzte sie sich an ihren Schreibtisch, schlug ihr Tagebuch auf und nahm den Füller zur Hand.
12. April – Heute Nachmittag war ich endlich mal wieder bei Susanne. Das Wetter war so schön, dass wir draußen auf ihrer Terrasse sitzen konnten. Wir haben über Linda gesprochen, und wie üblich hat Susanne kein Blatt vor den Mund genommen. Was sie mir da so unverblümt gesagt hat, macht mir Angst. Was, wenn sie mit ihrer Annahme recht hat, dass Linda nach ihrer Hochzeit eine ganz andere Seite von Achmad und seiner Familie kennenlernt? Und wenn sie tatsächlich ein Kind nach dem anderen bekommen sollte, kann sie vielleicht gar keine Ausbildung machen. Als ich Linda vorhin darauf angesprochen habe, wollte sie nichts davon hören. Sie ist absolut davon überzeugt, dass das alles nur Vorurteile sind. Hoffentlich täuscht sie sich nicht.
Martina blickte auf und sah aus dem Fenster. Die Sonne war beinahe untergegangen und verabschiedete sich mit einem beeindruckenden Farbenspiel am Himmel. Meiner Meinung nach wird es ihr eher so ergehen wie im Erlkönig von Goethe: Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt. Der Gedanke an Susannes Worte ließ Martina erschauern.
Zutiefst beunruhigt legte sie den Füller beiseite und klappte das Tagebuch zu. Dann faltete sie die Hände und betete: „Lieber Vater im Himmel, bitte öffne Lindas Augen für die möglichen Gefahren, in die sie sich vielleicht begibt. Ich habe solche Angst um sie. Hilf, dass sie ihre Meinung noch ändert, bevor sie wieder nach Israel fliegt.“
Doch Linda änderte ihre Meinung nicht, im Gegenteil. Sie fand weiterhin keinen Job, vermisste Achmad von Tag zu Tag mehr und sehnte sich nach dem milden Klima Israels. Der warme, sonnige Tag im April war eine Eintagsfliege gewesen. Bereits am nächsten Tag hatte es zu regnen begonnen, und sogar ein paar Schneeflocken hatten sich darunter gemischt. Das Flugticket nach Tel Aviv, das Achmad ihr bereits gekauft hatte, war auf den 17. Juli ausgestellt. Für Lindas Empfinden viel zu spät.
„Guten Morgen!“ Verschlafen kam Linda in die Küche geschlurft, wo sie sich zu Martina an den Frühstückstisch setzte und ihr Handy neben dem Teller ablegte.
„Guten Morgen.“ Missbilligend blickte Martina auf das Handy, dann nahm sie die Thermoskanne und goss Kaffee in Lindas Tasse. „Hast du gut geschlafen?“ Linda gähnte laut. „Gut schon, aber zu kurz. Ich habe die halbe Nacht mit Achmad geredet.“
Sie nahm ein Brötchen aus dem Brotkorb und bestrich es mit Butter. Wie nebenbei sagte sie: „Ich fliege morgen zu ihm zurück.“
Martina, die gerade ihre Kaffeetasse zum Mund führen wollte, erstarrte in ihrer Bewegung. Wortlos sah sie einen Augenblick lang in das gleichmütige Gesicht ihrer Tochter, die ihrem Blick standhielt. Martina fühlte sich so überrumpelt, dass es ihr beinahe unwirklich vorkam, was Linda da soeben gesagt hatte. Schockiert und ratlos hörte sie sich sagen: „Das glaube ich aber nicht.“
Lindas Augen funkelten sie böse an. „Was soll das heißen: Das glaubst du nicht? Du kannst es mir nicht verbieten, und außerdem habe ich den Flug bereits umgebucht.“
„Ja, aber …“, stammelte Martina, „du wolltest doch bis Juli hierbleiben, einen Job suchen und Geld verdienen.“
„Na toll, habe ich etwa einen Job? Verdiene ich Geld? Seit Wochen hocke ich hier dumm herum, mir ist langweilig und ich hasse diese Kälte.“
„Du würdest sicher bald was finden, manchmal muss man halt etwas Geduld haben. Und wärmer wird es auch demnächst, wir haben ja fast schon Mai.“
„Und wenn schon, du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich Achmad vermisse.“
Die Küchenuhr tickte gleichmäßig im Sekundenrhythmus, während Martina um Fassung rang. „Und was ist mit Johanna? Sie ist so froh, dass du wieder da bist, und denkt doch auch, dass du noch bis Juli bleibst. Sie wird fürchterlich traurig sein.“
„Sie gewöhnt sich schon dran, außerdem sieht sie mich ja wieder, wenn ihr zur Hochzeit kommt.“ In aller Ruhe griff Linda nach dem Glas Erdbeermarmelade, bestrich ihr Brötchen und biss hinein. Martina wurde schlagartig klar, dass sie nichts mehr ausrichten konnte. Nichts, was sie jetzt noch sagen würde, könnte ihre Tochter von ihrem Vorhaben abhalten.
Diese plötzliche Erkenntnis war so schmerzlich, dass in ihrem Inneren Angst, Wut, Trauer und Ratlosigkeit gleichzeitig zu toben begannen. Zitternd setzte sie die Kaffeetasse ab, die sie bis dahin in der Hand gehalten hatte. Sie musste sich bemühen, die Beherrschung nicht zu verlieren, denn sie wusste, dass sie damit alles nur schlimmer machen würde. Linda hatte inzwischen ihr Handy wieder in der Hand und tippte eine Nachricht ein, dann lächelte sie und sagte versöhnlich: „Tut mir leid, Mami, aber ich halte es ohne Achmad einfach nicht mehr aus.“
Nach dem Frühstück rief Martina Andreas im Büro an und erzählte ihm aufgewühlt von Lindas Entscheidung. Ihr Mann schien nicht sonderlich überrascht zu sein und blieb gelassen. „Die Zeit ist also gekommen. Ich dachte mir schon, dass sie nicht bis zum Sommer bei uns bleibt.“
Seine Ruhe regte Martina noch mehr auf. „Willst du sie denn einfach so gehen lassen? Meinst du nicht, du solltest ihr endlich mal die Leviten lesen?“
„Schatz, das würde überhaupt nichts nützen. Wir können sie nicht daran hindern, so verliebt, wie sie ist. Du kennst doch unsere Tochter! Auch wenn ich genauso überzeugt davon bin wie du, dass sie nicht die klügste Entscheidung trifft, könnte ich sie nicht umstimmen. Ihr irgendwelche Steine in den Weg zu legen, würde sie erst recht von uns wegtreiben, und dann würde sie ihr Ding eben ohne uns durchziehen. Wenn wir sie jetzt nicht ganz verlieren wollen, müssen wir sie gehen lassen.“
Den restlichen Tag verbrachte Linda mit Reisevorbereitungen. Dabei war sie so aufgekratzt und gut gelaunt wie schon lange nicht mehr. Sie schrieb mit Achmad, kaufte Geschenke für ihn und seine Familie und sprach über Videocall lange mit Mariana. Weil Achmad arbeiten musste und nicht zum Flughafen kommen konnte, bot Mariana ihr spontan an, sie mit einem Mietauto in Tel Aviv abzuholen und von dort direkt zu Achmad nach Hause zu fahren. Mariana kannte in Jerusalem eine Verleihfirma, die es erlaubte, mit ihren Autos in die palästinensischen Autonomiebehörden zu fahren.
Glücklich und zufrieden packte Linda am Abend die Geschenke und ihre wenigen Habseligkeiten, die sie mitnehmen wollte, in einen Koffer. In Gedanken war sie bereits bei Achmad zu Hause. Voller Vorfreude sah sie auf die Uhr und rechnete. In genau siebzehn Stunden und vierzig Minuten würde ihr Flugzeug in Tel Aviv landen, vorausgesetzt, es war pünktlich. Passkontrolle und Gepäckabholung würden vermutlich etwas mehr Zeit als bei ihrer letzten Einreise nach Israel beanspruchen, da sie dieses Mal wie eine gewöhnliche Touristin gekleidet war. Anschließend noch die Fahrt zu Achmad, die bestenfalls knapp zwei Stunden dauerte. Hoffentlich war er bereits daheim, wenn sie ankam. Linda atmete tief ein und wieder aus, schloss dabei glücklich die Augen. In weniger als 24 Stunden würde sie aller Voraussicht nach in seinen Armen liegen, und keine zehn Pferde würden sie davon abhalten. Bei der Vorstellung machte ihr Herz einen Sprung, und sie konnte es kaum noch erwarten, am nächsten Morgen die Reise anzutreten.
Unruhig wälzte Martina sich im Bett hin und her, während Andreas neben ihr mit regelmäßigen Atemzügen schon lange tief und fest schlief. Schließlich stand sie auf, ging leise aus dem Schlafzimmer und setzte sich an den Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer. Im Schein der Lampe öffnete sie ihr Tagebuch und blätterte in den Seiten, bis sie ihren Eintrag vom 8. April des Vorjahres gefunden hatte, dem Tag, als Linda nach Jerusalem gezogen war. Martina erinnerte sich genau, welche Gedanken ihr dabei durch den Kopf gegangen waren:
Alles Reden hätte nichts genützt, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Was Linda sich einmal in den Kopf gesetzt hat, zieht sie durch. Jetzt kann ich nur noch für sie beten.
Martina blickte auf den Satz, den sie damals traurig niedergeschrieben hatte: Sie sagte, dass sie nie wieder heimkommen würde. Doch dann stutzte sie. Der kleine Fleck, verursacht von einer Träne, die ihr dabei die Wange heruntergerollt war, hatte das Wörtchen „nie“ unleserlich gemacht. Zwar hatte sie dies damals gleich gesehen und mit einem Taschentuch abgetupft, doch erst jetzt wurde ihr bewusst, dass diese drei kleinen, unleserlich gewordenen Buchstaben die Bedeutung des Satzes ins Gegenteil verwandelt hatten. Beinahe wie eine Prophezeiung. Unwillkürlich musste Martina schmunzeln. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, wie sich der so veränderte Satz fast auf den Tag genau ein Jahr später bewahrheiten würde. Linda war doch zurückgekommen, aber sie musste erst ihre eigenen Erfahrungen vor Ort in Israel machen, um zu erkennen, dass dies nicht der richtige Weg für sie war. Und morgen machte sie sich wieder auf den Weg, doch dieses Mal, um in die muslimische statt in die jüdische Welt einzutauchen. Martinas Lächeln erstarb. Was, wenn es mit dem Islam für Linda auch so sein würde und sie in einigen Monaten merkte, dass dies doch nicht der richtige Weg für sie war? Und bis dahin war sie verheiratet …
Mami, niemand will mir etwas vorschreiben. Weder Achmad noch seine Familie erwarten, dass ich irgendwas tue. Auch darüber habe ich mit ihm gesprochen. Er sagt, die Entscheidung, ob ich Muslimin werde, sei eine Sache zwischen mir und Allah.
Linda hatte ihr die Worte mit inbrünstiger Überzeugung an den Kopf geworden.
Martinas Herz krampfte sich zusammen. Zwischen Linda und Allah? Und wenn es die Familie von Achmad dann doch anders sehen sollte? Wie schon so oft kamen ihr Susannes Worte wieder in den Sinn: Warte mal ab, wenn Linda dann in Palästina verheiratet ist, wendet sich das Blatt ganz schnell.
Der Gedanke, dass es Linda nach ihrer Hochzeit schlecht gehen könnte, war unerträglich. Was Susanne dir da erzählt hat, sind alles Vorurteile. Doch was, wenn nicht? Würde Linda dann auch so einfach wieder nach Hause kommen können? „Dann wäre sie dort ganz allein, und wir könnten ihr nicht helfen.“ Unbewusst hatte Martina ihren Gedanken laut ausgesprochen. Die Worte hingen in ihrem kleinen Zimmer und legten sich auf ihre Seele, schwer wie Blei. Sie spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Fürchterliche Angst kroch in ihr hoch und griff wie eine eisige Hand um ihr Herz. Sie schlug eine neue Seite in ihrem Tagebuch auf, nahm ihren Füller und schrieb:
25. April – Linda hat uns heute aus heiterem Himmel eröffnet, dass sie morgen nach Israel zurückfliegt. Sie sagt, sie hält es ohne Achmad nicht mehr aus. Das kam so unerwartet für mich, dass ich gar nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte. Sie wollte doch bis zum Sommer hierbleiben und Geld verdienen. Ich hatte so gehofft, dass sie sich bis dahin noch umstimmen lässt. Und gebetet habe ich doch auch, aber nichts ist passiert. Und jetzt ist es zu spät – es sei denn, es geschieht ein Wunder.
Martina legte den Füller beiseite und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Verzweifelt betete sie: „Allmächtiger Vater im Himmel, wir können Linda nicht mehr aufhalten. Du siehst, was auf sie zukommt und ob es ihr bei Achmad und seiner Familie gut gehen wird.“ Innerlich schrie sie auf: „Wenn nicht, greif du ein!“
In Hochstimmung umarmte Linda am nächsten Morgen ihre Mutter. „Tschüss, Mami, ich melde mich heute Abend, wenn ich bei Achmad bin.“ Sie blickte auf ihr Handy. „Also in spätestens neun Stunden.“
„Okay. Pass auf dich auf.“ Mehr brachte Martina nicht heraus, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Linda beugte sich zu ihrer kleinen Schwester hinunter. „Tschüss, Johanna! Sei schön fleißig in der Schule!“ Johanna klammerte sich an sie und schluchzte. „Du sollst nicht wieder weggehen!“ Linda drückte Johanna einen Kuss auf die Wange. „Du kommst mich doch bald mit Mami und Papa besuchen! Dann feiern wir die schönste Hochzeit überhaupt! Achmad wird dir auch ein richtiges Prinzessinnenkleid kaufen!“ Johannas Augen leuchteten auf, und ihre weinerlich nach unten gezogenen Mundwinkel verwandelten sich in Sekundenschnelle zu einem strahlenden Lächeln. „Au ja, es soll hellblau sein und ganz doll glitzern, mit einem weiten Rock, und Puffärmel soll es auch haben.“ Linda versicherte ihr lachend, dass sie genau so ein Kleid bekommen würde, woraufhin ihre kleine Schwester vor Freude juchzte und ihren Abschiedsschmerz völlig vergaß.
Andreas nahm Lindas Gepäck und verstaute es im Auto, er würde Linda auf dem Weg zur Arbeit an der Bushaltestelle absetzen. Bevor Linda einstieg, drehte sie sich noch einmal um und rief Martina ausgelassen zu: „Und vergesst nicht, Flüge zu buchen!“
Gespannt blickte Linda zum Fenster hinaus, sah jedoch nichts als graue Wolken unter sich. Das Flugzeug befand sich bereits im Sinkflug. In dem Moment ertönte über ihr ein Gong und das Zeichen zum Anschnallen leuchtete auf. Gleich darauf meldete sich der Pilot. „Sehr geehrte Fluggäste, bitte begeben Sie sich auf Ihre Sitze zurück und schnallen Sie sich an. Wir erwarten leichte Turbulenzen, bevor wir mit dem Landeanflug auf Ben Gurion International Airport beginnen.“
Linda schnallte sich an und sah auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zur Ankunft. Ihr Herz pochte wild vor freudiger Aufregung. Das Wiedersehen mit Achmad rückte immer mehr in greifbare Nähe. In ein paar Stunden würde sie endlich wieder vor ihm stehen. So oft hatte sie sich diesen Moment in den letzten Wochen ausgemalt, dass sie sogar davon geträumt hatte. Selig lächelnd holte sie ihren kleinen Kosmetikspiegel und dunkelroten Lippenstift aus der Handtasche. Mit schwungvollen Zügen bemalte sie gerade ihre Lippen, als plötzlich das Flugzeug ruckte und mit einem Mal absackte. Einige Passagiere schrien auf, Gegenstände flogen durch die Kabine, doch zum Glück waren die Turbulenzen gleich darauf auch schon wieder vorbei, und das Flugzeug flog ruhig weiter. Linda betrachtete ihr Gesicht im Spiegel und hätte beinahe laut aufgelacht. Ein dunkelroter Strich zog sich von der Oberlippe die rechte Backe hinauf bis zur Schläfe. Sie musste mit dem Lippenstift abgerutscht sein, als das Flugzeug in das Luftloch gefallen war, was sie in der Schrecksekunde gar nicht bemerkt hatte. Doch was tun? Sie hatte nichts dabei, womit sie sich abwischen konnte, und zur Toilette konnte sie jetzt auch nicht gehen. Das Anschnallzeichen leuchtete nach wie vor auf. Kurzerhand drückte sie die Ruftaste über ihrem Sitz, und als die Stewardess kam, erklärte sie ihr, was passiert war. Die Stewardess lachte und bat Linda, kurz zu warten. Gleich darauf kam sie mit einem warmen Waschlappen und einem Schüsselchen Olivenöl zurück, reichte ihr beides und meinte freundlich, dass Linda nicht die Erste sei, der so etwas passierte.
Linda hatte gerade ihr Gesicht gereinigt, da ertönte erneut die Stimme des Piloten. „Sehr geehrte Fluggäste, wir beginnen nun den Landeanflug auf Ben Gurion International Airport und werden planmäßig um 17 Uhr Ortszeit ankommen. Leichter Nieselschauer erwartet Sie heute Abend bei etwas kühlen 16 Grad Celsius. Bitte denken Sie daran, Ihre Uhr eine Stunde vorzustellen! Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und hoffen, Sie bald wieder bei uns an Bord begrüßen zu dürfen.“
Kaum hatte Linda sich in eine der Warteschlangen vor den Einreiseschaltern für Ausländer eingereiht, rief sie Achmad an. „Hallo, ich bin gut gelandet, muss nur noch durch die Passkontrolle und danach meinen Koffer abholen. Das kann allerdings ein bisschen dauern, heute sind hier echt viele Leute. Mariana hat mir gerade geschrieben, sie wartet schon in der Empfangshalle auf mich. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich auf dich freue!“
Achmad, der gerade im Bus saß und auf der Heimfahrt war, lachte ins Handy. „Super! Ich freue mich auch! Meine Eltern waren zwar ganz schön überrascht, dass du schon so schnell wiederkommst, doch sie freuen sich auch total. Meine Mutter hat mich vorhin angerufen; sie steht schon seit Stunden in der Küche und bereitet ein wahres Festmahl zu deinem Empfang vor. Mariana ist selbstverständlich auch eingeladen!“ Er schwieg kurz, dann fragte er: „Sag mal, du hast aber kein Kopftuch auf, oder?“
„Aber nein, natürlich nicht. Ich mache einen auf Tourist, habe Jeans an und bin auch ansonsten ganz gewöhnlich gekleidet.“
„Dann ist ja gut. Sprich an der Passkontrolle auch kein Hebräisch, sonst stellen sie dir womöglich zu viele Fragen.“
„Du machst dir zu viele Sorgen, aber okay, ich spreche Englisch. Dann bis nachher, ich liebe dich!“
Langsam, aber sicher bewegte sich die Warteschlange nach vorne, einer nach dem anderen erhielt die Einreisegenehmigung in Form des kleinen blau-weißen Zettels, und schneller als erwartet stand auch Linda eine halbe Stunde später bereits vor dem Einreiseschalter. Lächelnd schob sie ihren Pass unter der Scheibe durch. „Good evening!“ Die Beamtin, selbst nicht viel älter als Linda, nahm den Pass entgegen und sah sie freundlich über ihren Brillenrand an. „Good evening!“ Während sie den Pass durchblätterte, fragte sie: „Warum reisen Sie nach Israel?“
„Ich besuche Freundinnen.“ Irgendwann würde sie ihre Freundinnen aus der Midrascha ja wirklich besuchen.
„Wo sind Ihre Freundinnen?“
„In Jerusalem.“
Die junge Beamtin nickte, blickte vom Pass in den Computer und vom Computer in den Pass, ohne weitere Fragen zu stellen. Linda frohlockte, gleich wurde sicher ihre Eintrittskarte nach Israel ausgedruckt. Doch sie täuschte sich. Die Kontrolleurin starrte eine Zeit lang angestrengt auf den Bildschirm ihres Computers, dann winkte sie eine Kollegin zu sich. Linda wurde stutzig. Nicht ahnend, dass Linda jedes Wort verstand, zeigte die junge Beamtin auf den Bildschirm und sagte trocken zu ihrer Kollegin: „Die ist gefährlich.“
Linda wurde heiß und kalt. Was hatte das zu bedeuten? Mit klopfendem Herzen hörte sie mit an, wie die Beamtinnen sich beratschlagten, was zu tun sei. Schließlich sagte die jüngere der beiden mit Blick auf Linda: „Lass sie doch rein.“ Ihre Kollegin aber schüttelte energisch den Kopf. „Auf gar keinen Fall. Sie könnte zu einer Bedrohung für unser Land werden.“ Sie forderte Linda auf, zur Seite zu treten und zu warten, dann griff sie zum Telefon. Panisch holte Linda ihr Handy aus der Tasche und rief Mariana an. „Die lassen mich nicht einreisen, ich hab keine Ahnung, warum.“
„Um Himmels willen, und jetzt?“
„Ich weiß nicht, was hier gerade passiert.“ Mariana hörte die Panik in Lindas Stimme. „Beruhige dich, bestimmt handelt es sich nur um ein Missverständnis. Du wirst vermutlich gleich befragt, und alles wird sich klären. Vielleicht verwechseln die dich mit jemandem. Melde dich wieder, sobald du was Neues weißt. Ich warte hier natürlich solange auf dich.“
Linda hatte kaum aufgelegt, als ein weiterer Beamter kam und sie auf Englisch bat, mit ihm zu kommen. Während sie ihm folgte, rasten ihre Gedanken wild durcheinander. Warum wurde sie für gefährlich gehalten? Was hatte sie getan, um als Bedrohung für Israel zu gelten? Oder hatte Mariana recht und alles war nur ein schreckliches Missverständnis? Nachdem der Mann sie an unzähligen Touristen und Geschäftsreisenden vorbeigelotst hatte, waren sie an einer Tür angelangt. Er öffnete und ließ Linda eintreten. Neben der Tür stand eine Soldatin mit Maschinengewehr an der Wand, und außer einem Schreibtisch und ein paar Stühlen befand sich nichts weiter in dem kleinen Raum. Der Beamte forderte Linda auf, Platz zu nehmen, setzte sich ihr gegenüber auf die andere Seite des Schreibtisches und blickte in seinen Computer. Kalter Schweiß bildete sich auf Lindas Händen. Angespannt wartete sie darauf, was er sagen würde, und meinte, die Blicke der bewaffneten Soldatin auf ihrem Rücken zu spüren. Endlich hob er den Kopf und sagte auf Hebräisch: „Da Sie fließend Hebräisch sprechen, brauchen wir uns nicht auf Englisch zu unterhalten.“ Linda schluckte. Wieso wusste er das?
„Haben Sie vor, demnächst zu heiraten?“ Worauf wollte er hinaus?
Ehrlich antwortete sie: „Ja.“
„Wie haben Sie Achmad kennengelernt?“ Sie zuckte zusammen. Woher wusste der Beamte, dass sie Achmad kannte? Und wieso war ihm sein Name bekannt?
Lindas Mund wurde so trocken, dass ihr beinahe die Zunge am Gaumen kleben blieb, als sie antwortete. „Bei einem Ausflug mit einer Freundin nach Ramallah.“
Der Beamte nickte und tippte ihre Aussage in den Computer ein. Dann las er vor, was er den Informationen auf seinem Bildschirm sonst noch entnehmen konnte: die Namen von Achmads Dorf, seinen Eltern und Schwestern, wo Achmad arbeitete, wie sein Arbeitgeber hieß und sogar die Nummer seines Ausweises. Seine Worte hagelten auf Linda ein wie Peitschenhiebe. Dabei kam sie sich vor wie in einem schlechten Traum. Dann ging der Mann dazu über, ihr Details aus ihrem eigenen Leben vorzulesen. Als er sie darauf ansprach, dass sie auf der Midrascha gewesen war, um zum Judentum zu konvertieren, überrollte sie ein unbeschreibliches Gefühl, gemischt aus Verzweiflung, Fassungslosigkeit und Ausgeliefertsein, und sie fragte sich, welche Informationen über sie und Achmad noch im Computersystem gespeichert waren.
Nachdem der Beamte mit seinem Bericht fertig war, herrschte einen Augenblick lang eine für Linda beklemmende Stille im Raum. Was würde nun kommen?
Schließlich sah der Beamte sie über seinen Bildschirm hinweg an und fragte: „Warum wollen Sie einen Muslim heiraten?“
In Lindas Kopf begann es schmerzhaft zu pochen, und wie aus der Ferne hörte sie sich sagen: „Weil ich ihn liebe.“
Ohne darauf einzugehen, informierte er in nüchternem Ton, dass ausländische Ehefrauen von Palästinensern keine Aufenthaltsgenehmigung von den israelischen Behörden erhielten und deswegen die Gefahr bestünde, dass Linda illegal im Land bleiben würde. Linda stammelte: „Das würde ich aber nie tun.“ Der Beamte sah sie an, in seinen Augen spiegelte sich beinahe so etwas wie Verständnis. Seine Stimme klang freundlich, als er lächelnd sagte: „Das glaube ich Ihnen ja gern, aber haben Sie sich schon einmal Gedanken über die Alternative gemacht?“ Linda schluckte, dann schüttelte sie den Kopf.
„Sie müssten alle drei Monate aus- und wieder einreisen. Und weil das auf Dauer keine praktische Lösung ist, bleiben viele ausländische Frauen von muslimischen Palästinensern einfach illegal im Land.“
Sein Lächeln verschwand. „Hinzu kommt, dass Sie durch Ihren zehnmonatigen Aufenthalt und dem Studium an der Midrascha beträchtliches Wissen über unser Land erworben haben. Dieses Wissen könnte dafür verwendet werden, dem jüdischen Volk zu schaden.“
Lindas Augen weiteten sich vor Entsetzen, und sie sagte mit matter Stimme: „Die Juden waren immer sehr freundlich zu mir, wieso sollte ich ihnen etwas antun wollen? Ich liebe Israel.“
Der Beamte nahm seine Brille ab, hielt sie kurz ans Licht, dann wischte er mit seinem Ärmel über die Gläser. „Sie wahrscheinlich nicht, aber vielleicht Ihr Verlobter oder seine Familie.“
In dem Moment wusste Linda, dass sie keine Chance hatte. Nichts, was sie sagen würde, könnte den Beamten umstimmen. Entsetzt erkannte sie, dass sie sich völlig blauäugig verdächtig gemacht hatte. Sie hatte eine 180-Grad-Wende hingelegt, war von Jerusalem auf die andere Seite der Mauer gewechselt – weg vom Judentum und hin zum Islam.
Ein Gedanke durchzuckte wie ein Blitz ihren Kopf, sodass sie unweigerlich zusammenzuckte. War es möglich, dass sie etwa auch noch der Spionage beschuldigt würde? Siedend heiß fiel ihr wieder ein, was Mariana neulich gesagt hatte: Aysha habe Angst, die Dorfbewohner könnten denken, Linda sei eine Spionin. So absurd war ihr der Gedanke vorgekommen, dass sie darüber gelacht hatte, und nie im Leben wäre ihr in den Sinn gekommen, dass sich Marianas Mutmaßung womöglich auf ganz andere Weise bewahrheiten könnte, auch wenn der Beamte bislang kein Wort darüber verloren hatte. Ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, und ihr Kopf fühlte sich an, als würde er zerspringen, als sie das Ausmaß ihres Handelns zu realisieren begann.
Die Worte des Beamten rissen sie aus ihren Gedanken: „Sie werden noch heute Nacht aus unserem Land ausgewiesen.“
Im Anschluss an die Befragung wurde Linda von einer Sicherheitsbeamtin in einen anderen Raum gebracht. Wie in einem Wartezimmer saßen dort bereits mehrere Leute. Einige dösten vor sich hin, andere starrten stumpfen Blickes auf den Boden oder aufs Handy. Die Luft war stickig, und es roch nach Schweiß. Lindas Kopfschmerzen steigerten sich ins Unerträgliche, ihr Mund war wie ausgetrocknet. Da sie in ihrem Handgepäck nichts zu trinken dabeihatte, bat sie eine Beamtin um ein Glas Wasser, das diese ihr bereitwillig brachte. Dann holte sie zwei Schmerztabletten aus ihrem Rucksack, spülte sie mit einem kräftigen Schluck Wasser hinunter und leerte anschließend das Glas in wenigen Zügen. Sie schloss eine Weile die Augen, bevor sie Achmad anrief. Während sie darauf wartete, dass er sich meldete, zitterte sie so sehr, dass sie das Handy mit beiden Händen festhalten musste. Kaum hörte sie seine Stimme, schluchzte sie laut auf. „Ich werde abgeschoben.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte sekundenlange Stille. Achmads Stimme klang rau, als er fragte: „Was ist passiert?“ Stockend, immer wieder von Weinkrämpfen unterbrochen, erzählte sie ihm alles von der Passkontrolle bis zur Befragung. „Ich verstehe das einfach nicht. Hätte ich schon konvertiert und die israelische Staatsbürgerschaft angenommen, könnte ich das ja noch nachvollziehen, aber ich habe die Schule doch extra vorher abgebrochen, um nicht in den Verdacht einer Scheinkonvertierung zu geraten. Und woher wissen die überhaupt alles über uns?“ In Tränen aufgelöst schlug Linda die Hände vors Gesicht.
Nur noch wenige Kilometer trennten sie von Achmad, und dennoch war er plötzlich unerreichbar fern. Verstörung und Wut schwangen in seiner Stimme, als er versuchte, sie zu beruhigen. Vielleicht dürfte sie ja schon bald wieder einreisen, sie war schließlich keine Verbrecherin. Leise Hoffnung keimte in ihr auf, und sie versprach ihm, sofort Bescheid zu geben, sobald sie etwas Neues erfuhr.
Kaum hatte sie aufgelegt, fiel ihr ein, dass Mariana ja in der Empfangshalle noch auf sie wartete, und rief sie an. Total geknickt von den unerwarteten Nachrichten sagte Mariana: „Es tut mir so leid, aber vielleicht hat Achmad recht, und du darfst schon bald wieder einreisen.“
„Und wenn nicht?“ Linda schrie ihre Frage beinahe in den Raum, sodass einige der Anwesenden sie verwundert ansahen, doch sie kümmerte sich nicht darum. Marianas Antwort war pragmatisch. „Dann muss Achmad eben zu dir kommen.“
Linda wusste nicht, wie lange sie gewartet hatte, bis auch sie an die Reihe kam, durchsucht zu werden. In einer Kabine tastete eine Sicherheitsbeamtin sie von oben bis unten ab, dann wurde ihr Koffer hereingebracht. Zwei Beamte leerten den gesamten Inhalt aus, durchsuchten jedes einzelne Teil und tasteten die verpackten Geschenke für Achmad und seine Familie mit einem Metalldetektor ab. Nachdem sie alles wieder eingepackt hatten, informierte einer der Beamten Linda, dass sie später zum Flugzeug gebracht und über die Türkei nach Deutschland zurückfliegen würde. Mit einem Anflug von Hoffnung erkundigte sich Linda danach, wann sie wieder nach Israel einreisen dürfe. Die knappe Antwort war zwar höflich, aber so niederschmetternd, dass sich ihre Augen vor Entsetzen weiteten: „Sie haben eine Einreisesperre von zehn Jahren.“
Martina sah auf die Uhr: kurz vor fünf. Am frühen Nachmittag war nach vielen Regentagen endlich die Sonne herausgekommen und tauchte Garten und Haus in freundliches Licht. Sie hingegen fühlte sich, als habe sich eine dunkle Wolke auf ihr Gemüt gelegt.
Drinnen war alles still, Johanna war bei ihrer Freundin zum Spielen, Andreas würde sie nachher auf dem Weg von der Arbeit mit nach Hause bringen. Zeit genug, um Lindas Bett abzuziehen, bevor das Abendessen gerichtet werden musste. Schweren Herzens ging sie in Lindas Zimmer, das sie den ganzen Tag noch nicht betreten hatte. Der Rollladen war halb geschlossen. Als sie ihn hochzog, fiel ihr Blick auf das Fensterbrett. Neben einigen Schminkutensilien lagen dort fünf Bücher aufeinandergestapelt. Martina besah sie sich näher, drei trugen hebräische Titel, die sie nicht lesen konnte, die anderen beiden hatten sowohl hebräische als auch englische Namen. Achselzuckend legte sie die Bücher zurück, sie würde Linda fragen, ob sie diese noch behalten wollte.
Auf einmal erhob sich draußen lautes Gezeter, eine Amsel saß auf der Birke im Garten und schimpfte über die Katze des Nachbarn, die in aller Ruhe auf der Terrasse lag und sich sonnte. Martina wandte sich vom Fenster ab und ging zum Bett, wo Linda am Morgen Decke und Kopfkissen zerknüllt zurückgelassen hatte. In Gedanken versunken knöpfte Martina die Bezüge auf, zog sie ab und warf sie auf den Fußboden. Inzwischen war Linda vermutlich schon fast bei Achmad zu Hause angekommen und meldete sich bald. Martina hatte gerade das Spannbettlaken von der Matratze abgezogen, als sie von Weitem die Töne des Flötenkonzerts hörte. Sie rannte in die Küche und erkannte die Vorwahlnummer von Israel auf ihrem Handy, doch Lindas Nummer war es nicht. Sofort stieg Unruhe in ihr auf. Mit klopfendem Herzen nahm sie den Anruf an und nannte ihren Namen. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine fremde, weibliche Stimme in gebrochenem Englisch:
„Hallo, hier spricht Mariana, ich bin eine Freundin von Linda, sie hat mich gebeten, bei Ihnen anzurufen.“ Nun klopfte Martina das Herz bis zum Hals. Warum rief Linda nicht selbst an? In Bruchteilen von Sekunden jagte ein Gedanke den anderen. Es muss etwas passiert sein. Ist das Flugzeug abgestürzt und Linda ist tot? Oder ist sie auf dem Weg zu Achmad verunglückt und liegt im Krankenhaus? Bitte nicht, lieber Gott!
Mariana kam ohne Umschweife auf den Punkt. „Linda kommt morgen wieder heim.“
„Was?“ Martina erfasste die Bedeutung der Worte nicht gleich. „Linda kommt morgen wieder heim?“
„Ja, sie darf nicht mehr nach Israel einreisen. Jetzt ist sie noch in Tel Aviv am Flughafen, aber sie muss heute Nacht nach Deutschland zurückfliegen.“ Martina war von der unerwarteten Nachricht so überrumpelt, dass sie einen Augenblick lang sprachlos war. Linda durfte Israel nicht betreten? Was hatte das zu bedeuten? Da Martina nicht gleich antwortete, fügte Mariana hinzu: „Das Einreiseverbot gilt für die nächsten zehn Jahre.“
Ihre Stimme brach und auch sie verstummte, offensichtlich um Fassung ringend. Die nun eintretende Stille an beiden Enden der Leitung fühlte sich auf sonderbare Weise einvernehmlich an und unterstrich die Fassungslosigkeit beider Frauen über die so unerwartet eingetretene Wende für Linda.
Schließlich räusperte Mariana sich und meinte, alles andere würde Linda ihr dann persönlich berichten. Martina bedankte sich für den Anruf, und die beiden verabschiedeten sich. Verdattert blickte sie zum Küchenfenster hinaus, ohne wirklich etwas zu sehen. Linda kam morgen wieder heim!
Plötzlich geschah etwas Seltsames. Auf einmal war Martina, als ob eine schwere Last von ihr abfiel. Gleich darauf durchflutete unendliche Erleichterung ihren Körper, und im nächsten Moment wusste sie: Gott hatte ihr verzweifeltes Gebet erhört und mächtig eingegriffen. Von Freude und Dankbarkeit überwältigt jubelte sie: „Halleluja!“
Auf dem Weg in ihr Arbeitszimmer warf Martina einen Blick durch die angelehnte Tür in Johannas Zimmer. Im Schein der kleinen Nachtlampe betrachtete sie das friedliche Gesicht ihrer schlafenden Tochter, dann fiel ihr Blick auf das Buch mit Vorlesegeschichten auf dem Nachttisch. Sie lächelte ein wenig wehmütig. Eigentlich war es noch gar nicht so lange her, als Linda klein gewesen war. Jeden Abend hatte auch sie ihr eine Gutenachtgeschichte vorgelesen und zum Einschlafen Lindas Lieblingslied „Der Mond ist aufgegangen“ vorgesungen. Wie schnell doch die Zeit verging …
In ihrem kleinen Büro angekommen, knipste sie die Schreibtischlampe an, setzte sich hin und schlug eine neue Seite in ihrem Tagebuch auf. Gedankenverloren blickte sie lange Zeit auf das noch unbeschriebene Blatt vor ihr, dabei kam ihr auf einmal das alte Kinderspiel „Die Reise nach Jerusalem“ in den Sinn. Zu jeder Geburtstagsfeier von Linda hatte es ebenso dazugehört wie die mit Kerzen bestückte Schokoladentorte. Flink und wendig, wie sie war, hatte Linda es oft bis zur letzten Runde geschafft, und meistens dann auch noch den letzten Stuhl ergattert. Doch jetzt war für Linda auf einmal kein Stuhl mehr frei. Dieser plötzliche Gedanke erschreckte und erleichterte Martina zugleich. Sie nahm den Füller zur Hand und notierte:
28. April – Linda ist am Boden zerstört. Seit ich sie vorgestern vom Flughafen abgeholt habe, sitzt sie fast den ganzen Tag in ihrem Zimmer und hängt am Handy mit Achmad. Sie tut mir wirklich leid. Die Ausweisung aus Israel und dass sie so völlig unerwartet nicht zu Achmad konnte und dann noch der Rückflug nach Deutschland … – das muss alles schrecklich für sie gewesen sein. Bis wir schließlich zu Hause waren, hatte sie über 30 Stunden lang nicht geschlafen und so gut wie nichts gegessen.
Martina blickte vom Tagebuch auf. Nieselregen prasselte sanft aufs Dachfenster. In Gedanken ließ sie die Ereignisse der letzten Tage noch einmal Revue passieren, bevor sie weiterschrieb:
Ob Linda wohl eines Tages erkennen kann, dass dieser für sie so schmerzliche Einschnitt in ihrem Leben zu ihrem Besten war? Ich weiß es nicht. Aber eins weiß ich: Andreas und ich haben gebetet, dass Linda vor einem großen Fehler bewahrt wird. Wenn man betet, dann muss man auch glauben, dass Gott handelt. Und das hat er meiner Ansicht nach sehr eindrücklich getan. Auch wenn Linda dies im Moment weder hören noch glauben will: Gott meint es gut mit ihr. Und so will ich nun auch alles Weitere in seine Hand legen. Mal sehen, wie das noch weitergeht.
Martina pustete sachte auf die frisch beschriebene Tagebuchseite, dann schraubte sie nachdenklich den Deckel auf den Füller. Eine Windbö rüttelte am Rollladen. Nun setzte Linda ihre ganze Hoffnung darauf, dass Achmad so schnell wie möglich nach Deutschland kommen würde. Martina seufzte, denn auch diese Vorstellung bereitete ihrem Mutterherzen Unbehagen.
Drei Wochen waren seit Lindas unfreiwilliger Rückkehr vergangen. Wie jeden Abend hatte sie auch heute per Videoanruf mit Achmad gesprochen, doch im Gegensatz zu sonst hatte er zu ihrer Verwunderung das Gespräch schon bald wieder beendet. Aufgewühlt tippte Linda eine WhatsApp-Nachricht an Mariana:
Hast du kurz Zeit? Können wir reden?
Den Rücken an die Wand gelehnt, saß sie auf ihrem Bett und hoffte inständig auf schnelle Antwort. Tatsächlich musste sie nicht lange warten. Kaum waren die beiden Häkchen am Ende ihrer abgeschickten Nachricht blau geworden, rief Mariana per Videocall an und fragte: „Hallo Linda, alles klar bei dir?“
Linda blickte auf den Bildschirm in das leicht besorgte Gesicht ihrer Freundin. „Ich weiß nicht. Achmad war heute irgendwie gar nicht gut drauf. Als ich ihn gefragt habe, was los sei, hat er sich richtig genervt angehört, meinte aber, alles sei gut, er sei nur müde.“
„Er muss halt viel arbeiten, ist doch klar, dass er müde ist.“
„Ja, aber ich habe das Gefühl, dass da noch was ist. Er kam mir die letzten Tage schon anders vor, irgendwie bedrückt oder fast schon abweisend. Aber jedes Mal, wenn ich ihn darauf angesprochen habe, sagte er, das würde ich mir nur einbilden. Du warst doch letzten Freitag bei ihm zu Besuch, ist dir da was aufgefallen oder hat er dir was erzählt?“
Mariana räusperte sich. „Na ja, er hat gesagt, dass im Dorf alle Leute über ihn reden, seit sich herumgesprochen hat, dass er nach Deutschland ziehen will. Anscheinend stört ihn das aber nicht weiter, er hat sogar darüber gelacht.“
„Das hat er mir auch erzählt, und ebenfalls mit einem Lachen. Somit kann es ja nicht am Gerede der Leute liegen, dass er so frustriert ist.“
Mariana setzte sich auf ihr Sofa und lehnte das Handy an einen Stapel Bücher auf dem Couchtisch. Linda sah ihr dabei zu, wie sie sich einige Erdnüsse in den Mund steckte. Nachdem sie diese gekaut und runtergeschluckt hatte, meinte sie schließlich: „Okay, du hast recht. Gesagt hat Achmad es mir zwar nicht, aber ich hab mitbekommen, dass er von allen Seiten großen Druck bekommt. Er hat in der Küche mit seiner Mutter darüber gesprochen. Ich habe es zufällig im Vorbeigehen gehört, als ich nach oben auf die Dachterrasse gehen wollte. Du weißt ja, dass er sich oft auf Spanisch mit ihr unterhält. Na ja, dann war ich halt neugierig und habe an der Tür gelauscht. Er erzählte seiner Mutter gerade, dass eine alte Frau im Dorf zu ihm gesagt habe, er solle sich schämen, seine Eltern wegen eines Mädchens zu verlassen.“
„Ach du meine Güte, das ist ja übel.“
„Ja, aber das ist noch längst nicht alles. Er erzählte weiter, dass ein Freund von ihm so wütend auf ihn sei, dass er nicht mehr mit ihm spreche, und …“ Mariana schien es sich plötzlich anders überlegt zu haben, denn sie brach mitten im Satz ab.
„Und was?“ Linda wurde ungeduldig. „Sag’s mir doch bitte einfach.“
Mariana blickte unschlüssig drein. Sie beugte sich erneut nach vorne und erschien mit einem Glas Wasser in der Hand wieder auf dem Bildschirm. Sie trank einen Schluck, dann sagte sie: „Also gut. Dann hat er erzählt, dass eine seiner Tanten ihm jeden Tag bitterböse Nachrichten per SMS schicke, sie sei enttäuscht von ihm, er würde die Ehre seiner ganzen Familie beschmutzen, vor allem aber die seiner Eltern. Wenn er sie verließe, würde er seine Mutter krank machen, aber er würde ja sowieso nur an sich denken. Außerdem sei es eine Riesenschande, als einziger Sohn seine Eltern zu verlassen, ein guter Sohn würde so etwas nicht tun und so weiter …“ Mariana räusperte sich erneut. „Und an dem Tag hatte seine Tante anscheinend gerade geschrieben, dass ihn alle in der Familie schnell vergessen würden, wenn er dann fort sei, woran ganz allein nur er schuld sei. Und wenn es ihm dann leidtäte, sei es zu spät.“
Mit wachsendem Entsetzen hatte Linda zugehört, und betretenes Schweigen auf beiden Seiten folgte. Nach einer Weile fügte Mariana leise hinzu: „Tut mir leid, Linda, eigentlich wollte ich dir das alles gar nicht sagen. Aber vielleicht ist es besser, du weißt Bescheid.“
Linda traute sich kaum zu fragen. Sie fürchtete sich vor der Antwort, die sie dennoch wissen musste. „Was hat denn Aysha zu allem gesagt, hast du das auch gehört?“ Als Mariana nicht gleich antwortete, schob Linda hinterher: „Sie hat Achmad doch hoffentlich dazu ermutigt, nicht auf das dumme Gerede zu hören, sondern das zu tun, was ihn glücklich macht?“
Ihren Blick fest auf Mariana geheftet, hoffte sie inständig, dies von ihr bestätigt zu bekommen. Ihre Freundin zögerte. „Na ja, zuerst hat sie ihm tatsächlich gesagt, sie wolle seinem Glück nicht im Weg stehen und dass sie und sein Vater ihn niemals vergessen würden, aber dann …“ Mariana rieb sich die Nase und wich Lindas Blick aus.
„Aber dann was?“ Der Ton in Lindas Stimme war scharf. Mariana holte tief Luft.
„Dann hat Aysha laut zu heulen angefangen und meinte schluchzend, wenn er jedoch wirklich ginge, würde sie einen Nervenzusammenbruch kriegen und mit Sicherheit ins Krankenhaus müssen.“
„Das ist ja megaschlimm.“ Lindas Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Fast gleichzeitig begann es, in ihrem Kopf heftig zu pochen, während sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. „Ich verstehe nicht, warum Achmad mir kein Wort davon erzählt hat! Das geht uns doch beide was an, und es wäre so wichtig, dass wir das gemeinsam durchstehen. Ich will doch alles tun, um ihm zu helfen.“
Mariana griff erneut zum Tisch, dann war zu sehen, wie sie mit dem Fingernagel die Schale einer Orange aufschlitzte. „Das würde er aber niemals tun, das müsstest du eigentlich inzwischen wissen. Er würde nichts sagen, was ein schlechtes Licht auf seine Familie werfen könnte. Nach außen hin gibt es nur die heile Welt.“
Linda begann zu begreifen, dass Achmad sich in einem für sie unvorstellbaren Dilemma befinden musste. „Wenn er von niemandem Unterstützung bekommt, aber mir nichts davon erzählt, muss er das ja alles ganz allein mit sich ausmachen. Was macht das nur mit ihm?“
Mariana zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, aber gut geht es ihm vermutlich nicht dabei. Mir hat er ja auch nichts gesagt. Als er dann später zu mir auf die Dachterrasse kam, hat er gelächelt, als ob nichts gewesen wäre. Das war schon krass, ich wusste ja genau, dass er innerlich total aufgebracht sein musste. Also ich könnte mich nicht so schnell wieder einkriegen.“ Mariana hielt im Schälen inne und blickte nachdenklich ins Leere, dann sagte sie: „Es war fast ein bisschen unheimlich, so als habe er eine Maske oder ein zweites Gesicht aufgesetzt.“ Sie schälte die Orange fertig, brach sie in zwei Hälften, riss einen Schnitz ab und steckte ihn sich in den Mund. Linda fragte: „Was hat er denn gesagt?“ Mariana wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Er hat mich gefragt, was ich davon halten würde, wenn er für seine Mutter einen großen Topf mit einer Palme auf die Dachterrasse stellen würde. Gerade, als ich antworten wollte, dass ich das schön fände, hat sein Handy geklingelt, und sein Großvater war dran.“
„Woher hast du gewusst, dass es sein Großvater war? Mit dem spricht er doch Arabisch.“
„Weil er ihn mit sidi begrüßt hat, das arabische Wort für Großvater. Von seinem sidi hat er mir schon damals in Argentinien erzählt, von daher kenne ich das Wort schon lange. Sein Großvater schien ziemlich aufgebracht. Er hat so laut gesprochen, dass ich jedes Wort verstanden hätte, wenn ich Arabisch könnte. Achmad hat dann anscheinend ganz vergessen, dass ich danebenstand. Er wurde auch laut, und eine Weile haben die beiden sich fast angeschrien, bis Achmad wohl eingelenkt hat. Zum Schluss sagte er: ‚Tamam – okay.‘ Anschließend hat er sich bei mir für das heftige Wortgefecht entschuldigt und meinte, sein Großvater sei halt etwas besorgt, weil er seine Eltern verlassen wolle.“
„Etwas besorgt? Deswegen hätten sie aber kaum so aufgeregt miteinander gesprochen. Hat Achmad sonst nichts erzählt?“
„Er hat nur noch gesagt, das Wort seines Großvaters sei in seiner Familie so gut wie heilig, und er wolle wirklich nicht auch noch seinen Zorn erregen.“ Mariana zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, was er damit meinte. Ich hatte den Eindruck, dass es ihm gleich darauf schon leidgetan hat, dass er das überhaupt zu mir gesagt hat. Er hat nämlich sofort das Thema gewechselt und mir auf seinem Handy Fotos von seinen Nichten und Neffen gezeigt.“
Auch Mariana wechselte nun das Thema, und sie redeten noch eine Weile über andere Dinge, auf die Linda sich jedoch nur noch mit Mühe konzentrieren konnte. Ausnahmsweise war sie froh darüber, dass es in Israel eine Stunde später war und Mariana sich bald darauf verabschiedete, um schlafen zu gehen. Das Display auf ihrem Handy zeigte an, dass es kurz nach 23 Uhr war.
Steif geworden vom langen Sitzen stand Linda auf, öffnete das Fenster und atmete tief ein. Die Luft war überraschend mild, und der Duft von Maiglöckchen stieg ihr in die Nase. Am klaren Nachthimmel funkelten unzählige Sterne, irgendwo rief mit langgezogenem Heulen ein Käuzchen. Ein Maikäfer, angelockt vom Licht in ihrem Zimmer, flog brummend vor ihr Gesicht. Sie zuckte erschrocken zusammen und machte das Fenster schnell wieder zu. Nachdem sie noch den Rollladen heruntergelassen hatte, ging sie in die Küche, goss sich ein Glas Limonade ein und trank es in einem Zug leer. Im Haus war es dunkel, und außer dem gleichmäßigen Ticken der altmodischen Großvateruhr im Wohnzimmer war alles still. Johanna schlief bereits seit mehreren Stunden, und auch ihre Eltern waren im Bett. Nach einem Abstecher ins Bad ging Linda in ihr Zimmer zurück, legte sich ins Bett und zog die Decke bis unter ihr Kinn. Sie schaltete die Nachttischlampe aus, doch an Schlaf war nicht zu denken. Hellwach, als hätte sie am Abend noch Kaffee getrunken, lag sie auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit. Das Gespräch mit Mariana war so ganz anders verlaufen, als sie es sich erhofft hatte.
Nichts war bei Achmad okay. Also hatte sie sich doch nicht getäuscht. Er war nicht nur einfach müde gewesen, wie er behauptet hatte. Und dennoch hatte er ihr gerade heute Abend noch überzeugend versichert, alles sei in bester Ordnung. Auch hatte er in den letzten drei Wochen kein einziges Mal durchblicken lassen, dass er ihretwegen von seiner Familie solchen Druck bekam. Linda spürte einen Stich im Herzen. Warum ließ Achmad sie nicht daran teilhaben, was ihn bewegte? Ganz bestimmt waren die andauernden Vorwürfe doch eine riesengroße Belastung für ihn. Wieso nur versteckte er seine wahren Gefühle vor ihr?
Es war fast ein bisschen unheimlich, so als habe er eine Maske oder ein zweites Gesicht aufgesetzt. Marianas Worte hingen schwer im stillen Dunkel von Lindas Zimmer, und dann stand ihr auf einmal klar vor Augen, was sie selbst am helllichten Tag nicht besser hätte sehen können: Achmad setzte oft eine Maske auf. Er wechselte nach Bedarf das Gesicht wie ein Chamäleon die Farbe, um sich selbst im besten Licht darzustellen. Und nicht nur er, mit ihm auch seine ganze Familie.
Die plötzliche Erkenntnis traf sie so unerwartet, dass Linda erschauerte. Warum war ihr das nicht schon längst aufgefallen? Die Antwort fiel ihr ebenfalls wie Schuppen von den Augen: Es war ihr sehr wohl aufgefallen, sie hatte es bloß nicht wahrhaben wollen. In der Euphorie ihres Verliebtseins hatte sie jeglichen Anflug von Bedenken sofort abperlen lassen wie Wassertropfen auf einem Lotusblatt.
Auf einmal hatte Linda das Gefühl, dass sich zwischen ihr und Achmad ein tiefer Graben aufgetan hatte. Wenn man sich wirklich liebte, sollte man doch offen und ehrlich miteinander sein, und nicht nur Freude, sondern auch Leid miteinander teilen! Anders kannte sie es von ihren Eltern gar nicht. Wie konnte man sich denn sonst gegenseitig unterstützen? Doch anstatt sie an sich heranzulassen, baute Achmad eine Mauer um sich herum und machte einen auf „heile Welt“. Linda fühlte sich verletzt und ausgegrenzt. Warum nur verhielt er sich ihr gegenüber so?
Aber bestimmt würde er sich ändern, wenn er dann endlich zu ihr nach Deutschland kommen würde. Und war er erst einmal weg von zu Hause, würde seine Familie sich schon daran gewöhnen. Noch dazu könnte er seine Eltern ja vielleicht sogar noch besser unterstützen, wenn er dann hier einen Job hatte und Geld verdiente.
Das Essen stand bereits auf dem Tisch, als Linda am nächsten Tag gegen Mittag aus ihrem Zimmer kam. Martina, die gerade ein Fischstäbchen auf Johannas Teller legte, sagte: „Hallo Linda, ich wollte schon an deine Tür klopfen, aber Johanna hatte solchen Hunger nach der Schule, dass sie keinen Augenblick länger warten wollte.“ Linda nickte. Sie wusste, dass mit ihrer kleinen Schwester nicht zu spaßen war, wenn sie Hunger hatte. Ihr selbst war auch überhaupt nicht nach Spaßen zumute. Sie fühlte sich unausgeschlafen, hatte schlechte Laune und keinerlei Appetit auf Fischstäbchen mit Kartoffelbrei und Karottengemüse. Sowieso fand sie das deutsche Essen meistens viel zu fad. Immer dieselben langweiligen Gewürze wie Pfeffer, Salz und Paprika. Mürrisch und ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich an ihren Platz. Martina tat, als bemerke sie das griesgrämige Gesicht ihrer großen Tochter nicht, und sagte: „Vorhin hat Susanne angerufen, sie ist heute Nachmittag in unserer Nähe und kommt auf einen Kaffee vorbei.“ Lindas Miene wurde noch finsterer. „Na toll, da kann deine Freundin ja wieder ihren Pessimismus verbreiten. Vielleicht kommt sie dieses Mal mit einem passenden Zitat von Schiller. Ich hab echt keinen Bock, noch mehr von diesen Sprüchen zu hören.“
Martina goss mit einem Kännchen etwas Buttersoße über den Kartoffelbrei von Johanna. „Och Linda, Susanne ist halt manchmal etwas direkt, aber sie hat doch immer wieder recht mit dem, was sie sagt. Sie meint es nur gut, außerdem hat sie wirklich viel Erfahrung durch ihre Arbeit als Reiseleiterin.“ Lustlos häufte Linda ein paar Karotten auf ihren Teller. „Du meinst Erfahrung mit Muslimen, oder was?“
„Auch, ja. Sie hat den halben Orient bereist und natürlich dort viele Menschen kennengelernt, so kontaktfreudig, wie sie ist. Sie hat sogar ein Jahr lang in Jordanien gelebt – kann auch sein, es war Ägypten … Auf jeden Fall irgendwo in der Ecke da unten. Weißt du was? Mach dir doch am besten selbst ein Bild von Susanne. Das letzte Mal, als du sie gesehen hast, warst du ja nicht viel älter als Johanna. Ich hol uns leckeren Kuchen und wir machen es uns im Garten gemütlich, ist ja herrliches Wetter heute.“
Damit war Linda einverstanden. Sie hatte ohnehin keine sonstigen Pläne für den Tag, und die Aussicht auf Kuchen ließ ihre Stimmung etwas steigen. Was ihre Mutter da über ihre Freundin erzählte, klang ja eigentlich ganz interessant. Und wer weiß: Vielleicht hätte Susanne ja sogar doch etwas Hilfreiches zu sagen und könnte ihr ein paar gute Tipps geben, sollte das Gespräch auf Achmad und seine Familie kommen. Falls nicht, würde sie sich einfach schnell wieder in ihr Zimmer zurückziehen und Achmad per Videocall beim Arbeiten zuschauen.
Martina hatte den runden Gartentisch in den Schatten der zartgrünen Blätter des Kirschbaums gestellt und mit einer rot-weiß karierten Tischdecke und ihrem roten Keramikgeschirr gedeckt. Da keine Zeit mehr zum Backen gewesen war, hatte sie beim Konditor mehrere Stücke Kuchen und für Johanna einen Schokoladenmuffin mit bunten Schokolinsen geholt. Nachdem Johanna jede Schokolinse einzeln von der Kuvertüre abgepflückt und in den Mund geschoben hatte, wollte sie erst einmal spielen und den Muffin später essen. Nun saß sie im Sandkasten, wo sie mit einer kleinen Gießkanne den Sand befeuchtete und in alle möglichen Förmchen schaufelte, um ihre eigenen Kuchen zu backen.
Susanne verscheuchte mit dem Handrücken eine neugierige Fliege, dabei klimperten die zahlreichen kleinen Anhänger an ihrem goldfarbenen Armband. Sie trug eine smaragdgrüne Bluse und eine bunte Perlenkette. Von ihren Ohrläppchen baumelten an Goldkettchen jeweils drei dunkelgrüne Glaskugeln, und eine Haarspange mit smaragdgrüner Seidenblüte über ihrem linken Ohr zierte ihr kurz gelocktes Haar. Sie sagte: „Ist schon verrückt, gestern hätte man sich noch nicht vorstellen können, heute bei sommerlichen Temperaturen im Garten Kaffee zu trinken. Wurde auch höchste Zeit. Seitdem du neulich bei mir warst, war es ja nur einmal sonnig und warm.“ Martina lachte. „Wir müssen uns einfach öfters treffen.“
Sie nahm die Thermoskanne und schenkte ihrer Freundin Kaffee ein. „Ich freue mich wirklich sehr, dass du so spontan vorbeigekommen bist. Eigentlich schade, dass man das kaum noch macht. Ohne Terminkalender geht heutzutage ja fast nichts mehr.“ Susanne nahm das rote Milchkännchen und goss reichlich Milch in ihren Kaffee. „Na ja, ich dachte mir, mehr als Nein sagen kannst du nicht. Wenn es nicht gepasst hätte, hätte es halt nicht gepasst.“ Sie griff zur Zuckerdose, gab zwei Teelöffel Zucker in ihren Kaffee, und während sie umrührte, ließ sie ihren Blick durch den großen Garten schweifen. Der frisch gemähte Rasen erstreckte sich bis zu einer hohen Thuja-Hecke, welche das rechteckige Grundstück rundherum einsäumte. Links in der Ecke stand eine kleine, schwedenrote Gartenhütte, rechts entlang der Hecke blühten Tulpen in allen Farben. Eine Blaumeise mit Wurm im Schnabel verschwand gerade im buschigen Geäst einer Thuja.
Susanne sagte: „Tut halt auch gut, ab und zu mal wieder im eigenen Land zu sein. Vorgestern war ich noch in Tunesien, nächste Woche fliege ich nach Finnland.“ Sie wandte sich an Linda: „Israel ist aber auch ein tolles Land, nicht wahr?“
Linda, die sich gerade ein Stückchen von ihrer Sachertorte auf die Gabel gespießt hatte, blickte Susanne überrascht an. „Warst du schon in Israel?“
„Na klar, schon oft. Das letzte Mal vor zwei Jahren, das war eine ganz besondere Reise, weil ich ausnahmsweise mal keine Gruppe geleitet habe, sondern selbst Touristin war.“ Sie umfasste ihre Kaffeetasse mit beiden Händen. „Ich bin auf den Spuren der Bibel gewandelt.“ Interessiert hörte Linda dem Bericht von Susanne zu. Ein Reiseleiter hatte sie und die anderen Teilnehmer der geführten Reise am Flughafen Ben-Gurion abgeholt und zu einem Kibbuz-Gästehaus in der Wüste Negev gefahren, wo sie die erste Nacht verbrachten. Eine Woche lang besuchten sie zahlreiche historische Orte, wanderten durch Schluchten, übernachteten in einem Beduinenlager, badeten im Toten Meer, fuhren mit einem Boot auf dem See Genezareth, sahen die Golanhöhen und die Quelle des Banias, einer der drei Quellflüsse des Jordan. Sie besichtigten Haifa und Cäsarea Maritima mit der Ausgrabungsstätte des römischen Theaters und des Palastes von Herodes.
Susanne schloss ihren Bericht mit den Worten: „Die letzten beiden Tage waren wir dann noch in Bethlehem und Jerusalem. Allein schon der Blick vom Ölberg auf Jerusalem ist ja sagenhaft.“
Linda, die Susannes Schilderungen fasziniert zugehört hatte, nickte zustimmend, dann seufzte sie. „Da, wo ich hinziehen wollte, ist es auch wunderschön. Eigentlich wollte ich für immer in Palästina leben, aber jetzt darf ich die nächsten zehn Jahre nicht mehr nach Israel einreisen.“ Linda seufzte noch einmal, dann führte sie die Kuchengabel zum Mund. Susanne klang mitfühlend. „Deine Mutter hat mir erzählt, was passiert ist. Ich kann mir gut vorstellen, wie hart das für dich sein muss. Theoretisch könntest du ja von Jordanien aus über die König-Hussein-Brücke direkt ins Westjordanland gelangen, nur wird dieser Grenzübergang natürlich auch von den Israelis kontrolliert.“ Linda nickte, Susannes Verständnis tat ihr gut. Die Freundin ihrer Mutter sah sie an, in den Augen echtes Interesse. „Hast du denn inzwischen schon einen Plan B?“
„Ja. Achmad wird nach Deutschland kommen, dann heiraten wir so bald wie möglich.“ Gespannt blickte Linda zu Susanne. Wie würde sie reagieren? Susanne sagte erst einmal gar nichts, sondern betrachtete ihren Kaffee und fingerte dabei an ihrer Perlenkette. Nach einer Weile sah sie auf und erwiderte Lindas Blick. „Und Achmad ist wirklich dazu bereit, die Ehre seiner Familie aufs Spiel zu setzen?“ Linda schluckte. Wie kam Susanne darauf? Doch bevor sie etwas erwidern konnte, fragte ihre Mutter: „Wieso setzt Achmad die Ehre seiner Familie aufs Spiel, wenn er nach Deutschland zieht, um seine Verlobte zu heiraten?“
Susanne sah von Linda auf Martina. „Du hast wirklich keine Ahnung, nicht wahr? Aber hier weiß man das ja auch nicht einfach, zumindest noch nicht.“ Johannas zufriedenes Singen wehte vom Sandkasten herüber, eine Amsel zwitscherte. Susanne sagte: „In islamisch geprägten Ländern spielen Kinder auch heute noch eine wichtige Rolle für den Lebensunterhalt und die Altersversorgung der Eltern, vor allem die Söhne. Natürlich ist das nicht in allen Familien so, aber doch in sehr vielen. Besonders in den Dörfern wird einfach noch erwartet, dass der Sohn sich um seine Eltern kümmert, wenn sie alt sind. Deswegen bleiben die meisten Söhne zu Hause wohnen, indem sie einfach ein Stockwerk obendrauf bauen.“
Martina nickte, davon hatte Linda ihr erzählt und auch Fotos gezeigt. Susanne fuhr fort: „Erfüllt der Sohn diese Erwartung nicht, bedeutet das häufig eine Schande für die ganze Familie.“ Martinas Augen wurden groß. „Also könnte es sein, dass Achmad sozusagen seine Familie beschämt, wenn er wegen seiner Liebe zu Linda wegzieht?“
„Genau so sieht es aus. Er könnte als schlechter, verantwortungsloser Sohn hingestellt werden. Und es würde mich ehrlich gesagt nicht wundern, wenn er deswegen jetzt schon jede Menge Druck von seiner Verwandtschaft bekäme.“
Susannes Blick heftete sich forschend auf Linda, sie stellte ihr jedoch keine Fragen. Linda versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt sie innerlich war. Gestern noch hätte sie aufs Heftigste protestiert oder wutentbrannt den Tisch verlassen und kein Wort von dem geglaubt, was Susanne soeben gesagt hatte. Doch nun sah alles anders aus. Ohne es zu wissen, hatte Susanne genau das bestätigt, was Mariana gestern Nacht erzählt hatte. Linda erinnerte sich an jedes einzelne Wort.
Gesagt hat Achmad es mir zwar nicht, aber ich hab mitbekommen, dass er von allen Seiten großen Druck hat. Dann hat er erzählt, dass eine seiner Tanten ihm jeden Tag bitterböse Nachrichten per SMS schicke, sie sei enttäuscht von ihm, er würde die ganze Familie beschämen, vor allem aber seine Eltern. Wenn er sie verließe, würde er seine Mutter krank machen, aber er würde ja nur an sich denken. Es sei eine Riesenschande, als einziger Sohn seine Eltern zu verlassen, ein guter Sohn würde so etwas nicht tun.
Susanne trank ihren Kaffee leer und stellte die Tasse ab. Fast wie nebenbei sagte sie: „Aber von diesem Dilemma würde Achmad dir natürlich nichts erzählen, und sollte er tatsächlich mit der Tradition seiner Familie gebrochen haben, würde er es mit keinem Sterbenswörtchen erwähnen.“
Linda schwitzte plötzlich, und sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Sie nahm ihre Serviette und fächelte sich Luft zu. Schweigen breitete sich um den Tisch herum aus. Martina stand auf und schenkte Susanne Kaffee nach. Ein Amselmännchen kam auf den Kirschbaum geflogen, überlegte es sich aber gleich darauf wieder anders und flog weiter auf das Dach der Gartenhütte, um dort seinen flötenden Gesang anzustimmen.
Susannes deutliche Worte hingen wie eine graue Wolke in der Luft, und Linda hatte das dringende Gefühl, Achmad verteidigen zu müssen. Sie wollte vehement widersprechen, brachte aber kein Wort heraus.
Martina unterbrach die unangenehme Stille, indem sie fragte: „Woher weißt du denn das alles?“ Susanne lächelte, griff nach dem Milchkännchen und goss schwungvoll einen Schuss Milch in ihren Kaffee. „Es könnte sein, dass ich einmal ganz ähnliche Erfahrungen gemacht habe.“ Martina riss erstaunt die Augen auf, doch zu weiteren Erklärungen schien ihre einstige Schulfreundin offensichtlich nicht bereit, denn nun sagte sie in aller Ruhe an Linda gewandt: „Und es könnte auch gut sein, dass Achmad am Ende gar nicht kommt.“
Linda zuckte zusammen, und schon meldete sich auch der verhasste Magenschmerz wieder. Susanne hatte gerade ausgesprochen, was sie selbst seit gestern Nacht befürchtete. Was, wenn Achmad dem Druck nicht gewachsen wäre und doch nicht zu ihr kommen würde? Sie wurde schlagartig wütend auf Susanne, die diesen unerträglichen Gedanken so seelenruhig ausgesprochen hatte, als wäre es völlig unbedeutend, wenn Linda die Liebe ihres Lebens verlieren würde. Mit zusammengekniffenen Augen zischte sie: „Natürlich kommt er! Wir lieben uns so was von, aber das kannst du ja nicht verstehen. Offensichtlich hast du keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man total verliebt ist.“
Erschrocken über die heftige Reaktion von Linda blickte Martina zu Susanne. Wie würde ihre Freundin auf diese scharfen Worte reagieren? Doch wieder sagte Susanne erst einmal nichts. Geistesabwesend sah sie Johanna eine Weile dabei zu, wie sie Löwenzahn und Gänseblümchen pflückte und dann ihre Sandkuchen damit dekorierte.
Als sie sich schließlich wieder an Linda wandte, klang ihre Stimme genauso ruhig wie sonst auch. „Manchmal wünschen wir uns etwas so sehr, dass wir meinen, wir könnten nur dann noch glücklich sein, wenn wir es auch bekommen. Das Wunschdenken kann so mächtig werden, dass wir alles andere um uns herum, was uns eigentlich lieb und wichtig ist, nicht mehr sehen. Doch wenn wir dann bekommen haben, was wir unbedingt wollten, merken wir oft, dass es gar nicht der Schlüssel zu unserem Glück ist. Und dann kann sich ganz schnell Enttäuschung oder Frust breitmachen. Aber wir haben in den meisten Fällen die Wahl: entweder wir versinken in Selbstmitleid oder wir orientieren uns neu und blicken nach vorne.“
In Lindas Augen spiegelten sich Trotz und Verzweiflung. „Achmad ist aber der Schlüssel zu meinem Glück. Wie soll ich nur ohne ihn leben, wenn er nicht kommt?“
„Die Frage ist, wie du mit ihm leben würdest.“ Susanne legte ihre Hand auf Lindas Arm und sah ihr in die Augen. „Linda, ich wünsche dir von Herzen alles Glück der Erde, doch sollte Achmad tatsächlich kommen, muss dir eins klar sein: Er wird zwar körperlich anwesend sein, doch ein Teil seiner Seele und seiner Gedanken werden in Palästina bleiben, ob er es will oder nicht. Dafür werden allein schon seine Verwandten sorgen. Seine Kultur und Vergangenheit werden ihn begleiten und ihm folgen wie ein Schatten, den er nicht einfach abschütteln kann, sollte er dies überhaupt wollen. Alles, was Achmad geprägt hat, wird mit bei euch einziehen und auf unsere für ihn völlig fremde Kultur und Gegenwart prallen. Das geht nicht ohne Kratzer ab, und allzu oft gibt es dabei leider auch Scherben.“
Lindas Herz hatte begonnen, wild zu pochen. Noch nie zuvor hatte jemand so deutlich mit ihr gesprochen. Und obwohl sich Widerstand gegen Susannes Worte in ihr regte, wusste sie im Grunde ihres Herzens, dass die Freundin ihrer Mutter auch hierbei recht hatte. Auf einmal spürte sie, dass die aufgekommene Wut sich wieder legte und einem anderen Gefühl zu weichen begann, das sie seit ihrer Ausweisung aus Israel nur allzu gut kannte: Trauer.
Nach wie vor konnte sie sich nicht damit abfinden, nicht mehr nach Israel reisen zu dürfen. Sollte sie nun Achmad womöglich auch noch verlieren?
Sie schüttelte energisch den Kopf. Achmad würde ganz bestimmt kommen, und an eine neue Kultur konnte er sich sehr wohl gewöhnen. Schließlich hatte er dies ja bereits schon einmal getan, als er mit seiner Familie von Argentinien nach Palästina gezogen war. Er liebte sie und sie liebte ihn, das war die Hauptsache. Die Liebe stand doch über allem, und zusammen würden sie es schon schaffen. Selbst wenn man mal Stress miteinander hatte, hörte man ja nicht einfach auf, sich zu lieben.
In dem Moment rief Johanna mit ihrer hellen Stimme, Linda solle kommen und ihre Sandkuchen anschauen. Froh über die Ablenkung stand Linda auf und ging über den Kiesweg durch den Garten zu ihrer kleinen Schwester.
Martina sah ihr hinterher, dann blickte sie auf Susanne. „Ich habe schon immer an dir bewundert, wie du Dinge auf den Punkt bringen kannst. Manchmal wünschte ich, ich könnte das auch. Mir fällt meistens erst hinterher ein, was ich besser gesagt oder nicht gesagt hätte. Oder ich trau mich nicht, etwas auszusprechen.“
Susanne lachte, was dazu führte, dass die grünen Glaskugeln an ihren Ohrläppchen hin- und herschaukelten. „Entschuldige, dass ich lache, aber ich musste gerade daran denken, wie ich neulich erst mit meiner Unverblümtheit mal wieder ins Fettnäpfchen getreten bin.“ Sie erzählte: „Das war bei einer Städtereise nach Wien. Aus meiner Reisegruppe saß ein nettes junges Pärchen bei Kaffee und Sachertorte mit mir am Tisch. Die Frau war ziemlich rundlich, und irgendwann habe ich ihr gesagt, wie schön ich es finde, dass sie schwanger ist. Der Frau ist daraufhin beinahe die Gabel aus der Hand gefallen. Dann meinte sie, sie sei nicht schwanger, nur leider etwas dick. Ach, war mir das peinlich! Zum Glück hat sie mir diesen Fauxpas nicht übel genommen. Aber in dem Moment habe ich mir geschworen, dass mir so was nie wieder passiert.“
Martina goss Milch in ihren Kaffee und rührte nachdenklich um. „Wenn Achmad wie geplant kommt und er und Linda heiraten, könnte es für die beiden aber auch gut gehen, oder?“ Susanne zuckte die Schultern. „Ja, könnte es. Aber wie heißt es so schön: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Martinas Augen weiteten sich. „Was soll das denn nun schon wieder heißen?“
Susanne blickte kurz zum Sandkasten, wo Linda gerade so tat, als probiere sie ein Stück Sandkuchen, dann beugte sie sich näher zu Martina und raunte: „Das, was ich dir jetzt sage, würde Linda nicht hören wollen, und es wäre auch nicht der richtige Zeitpunkt, um es vor ihr auszusprechen. Aber, ganz ehrlich, ich sehe es eher so: Falls Achmad sich dem Willen seiner Familie fügt und bei seinen Eltern bleibt, wird Linda natürlich sehr unglücklich sein, doch nur für eine Weile. Sie ist jung, das ganze Leben liegt noch vor ihr. Sie wird sich neu orientieren, einen anderen Weg gehen und den Schmerz überwinden. Das wäre in ihrem Fall die Variante ,Ende mit Schrecken‘.“ Mehr sagte Susanne nicht dazu. Ihre Version von einem „Schrecken ohne Ende“ blieb unausgesprochen zwischen den beiden Freundinnen hängen wie eine Seifenblase, die einen Moment lang lautlos in der Luft schwebt, bevor sie zerplatzt. Vom Sandkasten wehte Johannas fröhliches Geplapper herüber. Eine neugierige Biene kam angesummt, kreiste über Johannas Muffin und flog weiter.
Plötzlich fröstelte Martina trotz der warmen Frühlingsluft. Sie umfasste mit beiden Händen ihre heiße Kaffeetasse und starrte einen Augenblick lang in den Kaffee, bevor sie kaum hörbar flüsterte: „Oh Gott!“
Leises Knirschen war auf dem Kiesweg zu hören, dann fiel ein Schatten auf den Kaffeetisch, und Linda verkündete, dass Johanna die Sandkuchen als Nächstes ihrer Mutter zeigen wollte. Während Martina aufstand, um zum Sandkasten zu gehen, setzte Linda sich wieder an ihren Platz und schenkte sich Kaffee nach. Sie sagte: „Ist schon niedlich, wie kleine Kinder spielen, total im Hier und Jetzt. Johanna verschwendet keinen Gedanken mehr daran, was sie noch vor einer Stunde getan hat, und überlegt auch nicht, was sie nachher machen wird. Sie ist völlig auf ihre Sandkuchen konzentriert.“
Susanne lächelte. „Ja, da könnten wir Großen uns manchmal eine Scheibe von den Kleinen abschneiden. Wie oft trauern wir Vergangenem hinterher oder machen uns unnötig Sorgen um die Zukunft. Wir haben schon fast verlernt, den Augenblick wahrzunehmen.“ Sie griff nach der Mineralwasserflasche und füllte ihr Glas. „Als ich dich vorher nach einem Plan B gefragt habe, meinte ich eigentlich, was du jetzt in Bezug auf deine Ausbildung so vorhast. Du willst ja sicher nicht nur heiraten und dann zu Hause rumhocken, oder?“
Linda schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Ich will studieren, weiß aber noch nicht genau, was. Zum Glück ist ja noch Zeit bis zum Herbst. Ich habe mir überlegt, zur Überbrückung irgendwo zu jobben.“ Sie seufzte. „Aber wahrscheinlich find ich eh wieder nichts.“
„Klar findest du einen Job, man darf nur nicht so schnell aufgeben. Manchmal dauert es einfach etwas länger. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt, für welches Studium du dich entscheiden wirst. Deine Mutter kann mir ja dann berichten.“
Susanne trank einen Schluck Wasser. „Und lass dich von niemandem davon abbringen, eine Ausbildung zu machen, denn nur so kannst du irgendwann auf eigenen Füßen stehen.“ Dabei beließ sie es. Mit keiner Silbe mehr erwähnte sie Achmad oder wen auch immer sie mit niemandem meinte.
Mit dem Füller in der Hand saß Martina an ihrem Schreibtisch, vor ihr das offene Tagebuch. Goldgelb und riesengroß stand der Vollmond am klaren Nachthimmel direkt über dem Dachfenster und tauchte ihr kleines Büro in fahles Licht. In der Ferne war das Motorengeräusch eines Autos zu hören. Es kam näher, fuhr am Haus vorbei, und kurz darauf war alles wieder still. Martina blickte auf die noch leere Seite und setzte den Füller an, doch dann hielt sie inne und blätterte ein paar Seiten zurück. Noch einmal las sie die letzten Sätze ihres Eintrags vom 28. April:
Auch wenn Linda dies im Moment weder hören noch glauben will – Gott meint es gut mit ihr. Und so will ich nun auch alles Weitere in seine Hand legen. Mal sehn, wie das noch weitergeht.
Martina blätterte weiter vor, vorbei an dem Bericht über ihr gemeinsames Kaffeetrinken mit Susanne bis zu ihrer Notiz nur wenige Tage danach.
24. Mai – Heute ist die Bombe geplatzt: Achmad kommt nicht! Mit einer WhatsApp-Nachricht hat er Linda mitgeteilt, dass seine Situation es nicht zulasse, Palästina zu verlassen. Mehr nicht. Nur noch, dass es ihm sehr leidtäte und er ihr alles Gute für die Zukunft wünsche.
Es ist seltsam, aber irgendwie scheint Linda sogar damit gerechnet zu haben. Sie war erstaunlich gefasst, als sie mir vorhin die Nachricht von Achmad gezeigt hat. Aber vielleicht steht sie auch unter Schock, denn nun ist ja genau das eingetreten, wovor sie sich am meisten gefürchtet hat. Doch wie hat Susanne gesagt? Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Ich glaube nach wie vor fest daran, dass Gott es gut mit Linda meint, auch wenn es für sie jetzt sehr schmerzhaft ist.
Martina unterbrach das Lesen ihres Eintrags und seufzte. Tatsächlich hatte Achmads Nachricht in den darauffolgenden Tagen und Wochen bei Linda heftige Gefühlsausbrüche nach sich gezogen, die schließlich darin gegipfelt hatten, dass mehrere Porzellanteller zu Bruch gegangen waren. Doch allmählich hatte sich der Sturm wieder gelegt, was größtenteils Susanne zu verdanken war.
Nach ihrem Besuch im Mai hatte sie erst einmal nichts mehr von sich hören lassen. Anfang August hatte sie sich plötzlich mit der Frage wieder gemeldet, ob Linda sie auf eine dreiwöchige Rundreise durch die USA begleiten würde, sie suche dringend eine Assistentin, um eine geführte Tour für den Herbst vorzubereiten. Selbstverständlich würde der Job entlohnt und sämtliche Reisekosten bezahlt. Linda hatte keine Sekunde lang gezögert und sofort zugesagt. Martina hätte ihre Freundin am liebsten auf der Stelle umarmt, und auch jetzt noch empfand sie tiefe Dankbarkeit. Susanne hatte sich genau zum richtigen Zeitpunkt als Retterin in der Not erwiesen; noch dazu war ihre freundlich-direkte Art genau das gewesen, worauf Linda angesprochen hatte.
Während der stundenlangen Fahrten auf den endlosen US-Highways redete Linda sich vieles von der Seele, neben sich Susanne als stets geduldige und einfühlsame Zuhörerin. Die drei Wochen in den USA taten ihr gut. Sie gewann nicht nur Abstand, sondern auch eine neue Perspektive für ihr Leben und kehrte, erfüllt von den vielen neuen Eindrücken, voller Tatendrang und mit Blick nach vorne wieder heim.
Nach intensiven Recherchen im Internet und einigen Informationsgesprächen war ihr Entschluss dann schnell gefallen, Tourismusmanagement zu studieren. Besonders begeisterten sie die in diesem Studiengang angebotenen Sprachen Chinesisch, Spanisch und Arabisch. Linda wollte sie alle lernen. Sie hatte sich zum Wintersemester eingeschrieben und freute sich nun darauf, in wenigen Wochen mit dem Studium beginnen zu können. Auch ein Zimmer im Studentenwohnheim hatte sie ergattert, und sie wollte das Studentenleben in vollen Zügen genießen.
Eine plötzliche Serie von Pfeiftönen riss Martina aus ihren Gedanken. Sie sah auf und lauschte. Zuerst wusste sie nicht, woher und von wem die Töne kamen. Sie klangen wehmütig und beinahe so, als würde jemand schluchzen. Dann, auf einmal, erkannte sie den Gesang der Nachtigall wieder. Als Kind war sie oft mit ihrem Großvater in den Wald gegangen und hatte von ihm gelernt, Vogelstimmen zu erkennen.
Martina merkte, wie ein Lächeln über ihr Gesicht huschte, für einen Moment war sie wieder das kleine Mädchen, das mit ihrem Opa durch den Wald spazierte und sich mit ihm am Gesang der Vögel erfreute. Beinahe konnte sie den frischen Tannenduft und die klare, würzige Luft wieder riechen. Schon damals hatte ihr der Gesang der Nachtigall besonders gut gefallen, sie hatte diese wunderschöne Harmonie seitdem jedoch nie wieder gehört. Der Vogel auf dem Dach trällerte eine Strophe nach der anderen, und erst, als es abrupt wieder still wurde, besann sich Martina darauf, warum sie eigentlich vor ihrem Tagebuch saß. Sie blätterte weiter nach vorne zu der leeren Seite, die sie vorhin schon einmal aufgeschlagen hatte, und notierte:
17. September – Heute hat Linda von ihrer Freundin Mariana erfahren, dass Achmad eine seiner zahlreichen Cousinen geheiratet hat. Höchstwahrscheinlich haben seine Eltern dabei etwas nachgeholfen, aber genau wusste Mariana es auch nicht. Sie meinte nur, dass ihm nun endlich keiner mehr sagen könne, dass er ein schlechter Sohn sei. Er wohne bereits mit seiner Frau in seiner neuen Wohnung im zweiten Stock bei seinen Eltern im Haus. Die halbe Verwandtschaft habe ihm dabei geholfen, den Rohbau so schnell wie möglich fertigzustellen.
Bei dem Gedanken daran schüttelte Martina den Kopf, während sie weiterschrieb:
Ich hoffe sehr, dass diese Neuigkeit bei Linda die soeben verheilten Wunden nicht wieder aufgerissen hat. Susanne hat ihr den klugen Rat gegeben, die neue Situation anzunehmen und loszulassen, was sie nicht mehr ändern kann. Das hat Linda inzwischen auch sehr gut geschafft, doch hoffentlich holt die Vergangenheit sie jetzt nicht noch einmal ein.
„Mami?“ Linda steckte ihren Kopf durch die angelehnte Tür. Überrascht blickte Martina auf und lächelte. „Komm rein.“ Sie klappte das Tagebuch zu und legte den Füller beiseite. Linda setzte sich auf die kleine Couch, die dem Schreibtisch gegenüberstand. Sie zog die Beine an und schlang ihre Arme um die Knie. Nach einer Weile sagte sie: „Ich habe ihn so geliebt.“ Martina blickte in die vertrauten Augen ihrer Tochter und schluckte. „Ich weiß.“
Lange Zeit herrschte Stille in dem kleinen Raum. Der Mond schien hell durch das Dachfenster und ließ den Schatten der Birke an der Wand tanzen. Schließlich sagte Linda: „Ich habe ihm geglaubt, dass er mich auch wirklich liebt. Und er wollte mit mir doch die Welt bereisen, mir Argentinien zeigen und Bahía Blanca, wo er geboren wurde.“ Sie verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. „Ich dachte sogar, dass wir bis dahin vielleicht schon ein paar Kinder hätten.“
Martina wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, doch Linda schien auch gar keine Antwort zu erwarten und sprach weiter: „Als Mariana mir heute erzählt hat, dass Achmad geheiratet hat, hat es sich für mich zuerst wie eine Ohrfeige angefühlt, und alles ist noch mal hochgekommen. Er wollte die Wohnung für uns einrichten, ich sollte seine Frau sein, wir wollten heiraten und gemeinsam im zweiten Stock wohnen. Wir hatten doch schon alles für die Hochzeit organisiert.“ Mit dem Finger fuhr sie eine Naht auf dem Sofa nach.
Sanft hakte Martina nach: „Du sagst, zuerst hat es sich wie eine Ohrfeige angefühlt, und was war dann?“
Linda blickte auf und sah ihr in die Augen. „Dann habe ich daran gedacht, was mir meine Gastmutter Sarah gesagt hat, am Abend, bevor ich zu Achmad gegangen bin. Sie meinte, ich solle mich nicht leichtfertig in eine Ehe stürzen. Aber genau das hätte ich getan. Das habe ich heute plötzlich erkannt. Ich war so sicher, Achmad mindestens genauso gut zu kennen, wie ihn seine eigene Mutter kennt. Wir haben so viel miteinander geredet, und er hat mir so viel von sich erzählt. Aber irgendwie war ein Teil von meinem Gehirn ausgeschaltet; vor lauter Verliebtsein wollte ich nicht wahrhaben, dass ich ihn und seine Kultur in der kurzen Zeit unmöglich richtig kennenlernen konnte. Ich hoffe wirklich, dass mir das nie wieder passiert. Jetzt weiß ich, was es bedeutet, vor Liebe blind zu sein.“ Linda dachte noch einmal kurz über dieses Phänomen nach, dann fragte sie: „Ist dir das eigentlich auch mal passiert?“
Martina schüttelte den Kopf. „Nein, das kenne ich nicht.“
So schwer verliebt war sie bis auf ein einziges Mal nie gewesen, und selbst das war nur eine Schwärmerei, die damals zu ihrem Leidwesen nur auf Einseitigkeit beruht hatte. Bei Andreas war es zwar nicht Liebe auf den ersten Blick gewesen, doch im Laufe der Zeit war tiefe Zuneigung gewachsen und gereift, die auch dann noch Bestand hatte, wenn das Gefühl der Liebe mal nicht so vorhanden war. Und selbst wenn sie am Anfang total verliebt in Andreas gewesen wäre, konnte sie sich nicht wirklich vorstellen, dass es ihr so ergangen wäre wie ihrer Tochter. Dazu waren sie beide einfach viel zu verschieden.
In dem kleinen Büro breitete sich friedliche Stimmung aus, während Mutter und Tochter ihren Gedanken nachhingen.
Linda sah sich plötzlich noch einmal im Büro von Rabbi Rosenfeld sitzen, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie die Schule abbrechen würde. Wie eigenartig es doch war, dass er so unvermittelt auf die Ehe zu sprechen gekommen war. Klar und deutlich erinnerte sie sich an seine Worte: Zu Beginn einer Ehe brennt die Liebe meistens wie ein starkes Feuer. Man ist begeistert, fühlt sich extrem verliebt. Dieses Feuer wird nicht immer so stark lodern wie am Anfang. Bei vielen Paaren flackert irgendwann nur noch eine kleine Flamme oder verlöscht sogar ganz. Doch um eine gute Ehe zu führen, braucht es dieses Feuer auch gar nicht. Wahre Liebe bleibt bestehen, selbst wenn das Gefühl des Verliebtseins schwindet.
Wahre Liebe bleibt bestehen, selbst wenn das Gefühl des Verliebtseins schwindet. Linda schluckte. Sollte Achmad sie womöglich nie wirklich geliebt haben? In der Nacht, als es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen war, dass er ihr gegenüber nicht sein wahres Gesicht zeigte, war ihr dieser Verdacht schon einmal gekommen, jedoch hatte sie ihn sofort wieder verscheucht wie eine lästige Fliege. Wer zeigte denn schon immer sein wahres Gesicht? Schließlich setzte doch jeder ständig Masken auf. Da war einem zum Heulen zumute, doch nach außen hin lächelte man tapfer. Man begegnete jemandem, auf den man überhaupt keine Lust hatte, gab aber vor, sich darüber zu freuen. Und wie oft sagte man, es gehe einem blendend, obwohl man sich hundeelend fühlte …
Das Motiv der Kleinen Nachtmusik ertönte in die Stille hinein. Martina zuckte erschrocken zusammen. Wer rief um diese Zeit noch an? Linda zog ihr Handy aus der Hosentasche und sah auf das Display, dann wischte sie mit dem Finger darüber und nahm das Gespräch an. Martina stand auf und ging nach unten ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Anschließend entdeckte sie im Vorübergehen einen Korb Wäsche im Wohnzimmer und faltete diese. Nachdem sie in der Küche noch ein Glas gespült hatte, schloss sie die Haustür ab, schaltete das Flurlicht aus und ging wieder nach oben in ihr Büro.
Linda hatte sich gerade von dem Anrufer verabschiedet. Ihre Augen strahlten, als sie Martina ansah. „Das war Joseph. Der ist genauso eine Nachteule wie ich. Stell dir vor, er hat meinen Davidstern!“
„Deinen Davidstern? Du meinst den silbernen Kettenanhänger, den du immer getragen hast?“
„Ja! Das ist eine krasse Geschichte! Der Anhänger ist mir damals gleich am ersten Morgen im Hostel in Jerusalem im Bad runtergefallen, und ich habe ihn nicht mehr gefunden. Das war echt heftig, er war einfach weg. Zuerst wollte ich mir eigentlich einen neuen kaufen, aber dann hatte ich nie genug Geld übrig. Na ja, und später wollte ich ja eh keinen mehr.“
„Und wie kommt Joseph jetzt zu deinem Davidstern?“
„Er sagte, dass Avi, der Chef vom Hostel, ihn beim Putzen in der Spalte einer zerbrochenen Kachel entdeckt habe, in der Ecke neben der Dusche. Und weil Avi sicher war, dass dort vor meinem Aufenthalt nichts in der Spalte lag, aber meine Nummer nicht hatte, hat er Joseph informiert. Die beiden kennen sich schon lange. Und gestern ist Joseph gerade vom Urlaub aus Israel zurückgekommen. Er hat auch wieder ein paar Tage bei Avi im Hostel gewohnt und meinen Davidstern mitgebracht!“
Linda fuhr fort, ihrer Mutter zu erklären, woher sie Joseph kannte und dass sie ihn das letzte Mal gesprochen hatte, kurz nachdem sie nach Israel gezogen war. Nun hatte er nach langer Zeit wieder angerufen, um ihr von dem wiedergefundenen Davidstern zu berichten. Außerdem wollte er sich erkundigen, ob sie mittlerweile konvertiert hatte, und wie ihr Leben in Israel so war. Natürlich war er aus allen Wolken gefallen, als Linda ihm gerade erzählt hatte, dass sie seit fast fünf Monaten schon wieder in Deutschland wohnte. Auf einmal grinste Linda und errötete leicht. „Joseph hat mich spontan eingeladen, zusammen mit ihm und der Jugendgruppe Sukkot zu feiern. Inzwischen ist er der Leiter der Gruppe.“
Martina kramte in ihrem Gedächtnis, kam aber nicht mehr darauf, in welchem Zusammenhang sie das Wort schon gehört hatte. „Was ist Sukkot noch mal?“
„Das ist das siebentägige Laubhüttenfest, das jedes Jahr im Herbst gefeiert wird. Du kannst dich doch bestimmt daran erinnern, wie gerne ich früher im Garten eine Laubhütte gebaut hätte, wenn es bei uns nicht immer zu kalt dafür gewesen wäre.“
Martina lachte. „Ach ja, stimmt, das weiß ich noch gut. Und? Was hast du Joseph geantwortet?“
Lindas Stimme klang vergnügt. „Ich habe zugesagt. Könnte zeitlich nicht besser passen, dieses Jahr endet Sukkot nämlich genau in der Woche, bevor ich an der Uni loslege.“ Sie grinste: „Außerdem will ich meinen Davidstern wiederhaben.“
Martina sah ihre Tochter lächelnd an. Lange hatte sie nicht mehr so voller Lebensfreude geklungen. Ob dieser Anruf eine neue Wende in ihrem Leben bedeutete? Und wohin würde Lindas Weg sie wohl noch führen?
Auf einmal fiel Martina die erste Strophe eines alten Liedes ein, das ihre Großeltern ihr manchmal vorgesungen hatten, als sie noch ein Kind war: „Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl; das macht die Seele still und friedevoll. Ist’s doch umsonst, dass ich mich sorgend müh, dass ängstlich schlägt das Herz, sei’s spät, sei’s früh.“
In Zeiten großer Not, als sie oft nicht wussten, wie es weitergehen sollte, hatten ihre Großeltern den Text zu ihrem Gebet gemacht. Viel später, im hohen Alter von über 80 Jahren, konnten sie rückblickend dankbar sagen, dass Gott sie nie in die Irre geführt hatte, auch wenn sie manchmal Wege gehen mussten, die sie selbst nie gewählt hätten.
Martina zögerte kurz. Wie würde Linda reagieren? Doch dann gab sie sich einen Ruck und sagte: „Möge Gott dich segnen!“
Einen Augenblick lang herrschte Stille in dem nur vom Mondlicht erhellten kleinen Raum. Ein paar gelbe Birkenblätter landeten lautlos auf dem Dachfenster. Aus dem nahe gelegenen Wald ertönte erneut der lang gezogene Ruf eines Käuzchens. Lindas Antwort wärmte Martinas Herz: „Danke, Mami.“